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SWP-Studie Paweł Tokarski Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Ursprünge, Merkmale und Folgen der begrenzten Konvergenz Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 25 Dezember 2018
Kurzfassung Als in Europa eine gemeinsame Währung eingeführt wurde, war dies mit der Annahme verbunden, unter den beteiligten Staaten werde sich eine zunehmende wirtschaftliche Konvergenz einstellen. Die Erwartung wurde enttäuscht. Statt sich ökonomisch allmählich anzunähern, haben die Länder des Euroraums sich in ihrer wirtschaftlichen Leistung deutlich auseinander- entwickelt. Das größte Problem einer solchen Divergenz besteht darin, dass sie zu sozialen Unterschieden und zu Diskrepanzen bei den politischen Interessen im Bereich der wirtschaftlichen und monetären Integration führt. Langfristig droht so das bestehende Integrationsmodell des Euroraums in Frage gestellt zu werden. Bisherige Analysen, die sich wirtschaftlichen Unterschieden im Euroraum widmen, konzentrieren sich meist auf bestimmte Gruppen von Ländern, etwa Südeuropa gegenüber Nordeuropa oder Zentrum versus Peripherie. Die vorliegende Studie folgt einem anderen Untersuchungsansatz für das Konvergenzproblem. Sie richtet den Blick auf die drei größten Volkswirt- schaften im Euro-Währungsgebiet: Deutschland, Frankreich und Italien.
SWP-Studie Paweł Tokarski Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Ursprünge, Merkmale und Folgen der begrenzten Konvergenz Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 25 Dezember 2018
Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Verfahren der Begut- achtung durch Fachkolle- ginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review), sie werden zudem einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https:// www.swp-berlin.org/ueber- uns/qualitaetssicherung/. SWP-Studien geben die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2018 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-200 www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org ISSN 1611-6372
Inhalt 5 Problemstellung und Empfehlungen 7 Vielfalt der Wirtschaftsmodelle als Hauptursache mangelnder Konvergenz 7 Konvergenz und Vielfalt in der Währungsunion 9 Grundlegende Unterschiede der Wirtschaftsmodelle 11 Rolle des Staates und des sozialen Dialogs 12 Effizienz der öffentlichen Institutionen 13 Wirtschaftsstrukturen: Unterschiede und Verbindungen 15 Konvergenz oder Divergenz in der Währungsunion? 15 Wettbewerbsfähigkeit 19 Öffentliche Finanzen 21 Einkommensentwicklung 22 Arbeitsmarktsituation 25 Zukunft des Euroraums mit begrenzter Konvergenz 25 Konvergenz durch Desintegration oder Aufspaltung der Währungsunion? 28 Stabilisierung der Währungsunion mit begrenzter Konvergenz 39 Schlussfolgerungen 41 Abkürzungsverzeichnis
Problemstellung und Empfehlungen Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum. Ursprünge, Merkmale und Folgen der begrenzten Konvergenz Als in Europa eine gemeinsame Währung eingeführt wurde, war dies mit der Annahme verbunden, unter den beteiligten Staaten werde sich eine zunehmende wirtschaftliche Konvergenz einstellen. Die Erwartung wurde enttäuscht. Statt sich ökonomisch allmählich anzunähern, haben die Länder des Euroraums sich in ihrer wirtschaftlichen Leistung deutlich auseinander- entwickelt. Das größte Problem einer solchen Diver- genz besteht darin, dass sie zu sozialen Unterschieden und zu Diskrepanzen bei den politischen Interessen im Bereich der wirtschaftlichen und monetären Inte- gration führt. Langfristig droht so das bestehende Integrationsmodell des Euroraums in Frage gestellt zu werden. Die verfügbaren Analysen, die sich wirtschaft- lichen Unterschieden im Euroraum widmen, konzen- trieren sich meist auf bestimmte Gruppen von Län- dern, etwa Südeuropa gegenüber Nordeuropa oder Zentrum versus Peripherie. Die vorliegende Studie folgt einem anderen Untersuchungsansatz für das Konvergenzproblem. Sie richtet den Blick auf die drei größten Volkswirtschaften im Euro-Währungsgebiet: Deutschland, Frankreich und Italien. Es gibt gute Gründe dafür, die Analyse der Euroraum-Stabilität auf diese Länder zu fokussieren. Erstens erwirtschaf- ten sie zusammen rund 66 Prozent des Bruttoinlands- produktes (BIP) der Eurozone, und sie stellen inner- halb der EU-19 rund 210 Millionen von insgesamt 341 Millionen Bürgern. Alle drei gehören zu den wichtigsten Volkswirtschaften der Welt. Und sie sind die einzigen Staaten des Euroraums, die zu den For- maten G7 und G20 gehören. Zweitens ist die Stabilität Deutschlands, Frankreichs und Italiens für den Euro- raum essentiell. Ein massives Hilfspaket für eines dieser Länder – im Falle Deutschlands ohnehin un- vorstellbar – würde die Kapazitäten des Europäi- schen Stabilitätsmechanismus (ESM) überschreiten. Und drittens bestehen die wichtigsten Herausforde- rungen des Euroraums in diesen drei Volkswirtschaf- ten. So bilden die wirtschaftlichen und sozialen Prob- leme Italiens (Risiken im Bankensektor, übermäßige Staatschulden, Arbeitslosigkeit) ein Systemrisiko für den Währungsraum. Ähnlich hat auch Frankreich SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 5
Problemstellung und Empfehlungen umfassende Strukturreformen zu bestehen. Auf der lich über dem Mittelwert liegt. Dabei unterscheiden anderen Seite ist die Stabilität des Euroraums stark sich die Wirtschaftsmodelle und -strukturen Deutsch- von der Nachhaltigkeit des deutschen Wirtschafts- lands, Frankreichs und Italiens so stark voneinander, modells abhängig. Die Bundesrepublik bildet heute dass es unmöglich ist, einen nachhaltigen Konver- einen Stabilitätsfaktor für den Euroraum, während genzpfad einzuschlagen. Reformen im Euroraum sie noch Ende der 1990er Jahre als »kranker Mann müssen daher vor allem der Frage gerecht werden, Europas« bezeichnet wurde und als Risiko für den wie sich die gemeinsame Währung unter Bedingun- Start der monetären Integration galt. gen einer begrenzten Konvergenz ihrer größten Die Leitfrage der Studie gilt der ungleichen Ent- Volkswirtschaften stabilisieren lässt. wicklung dieser drei Staaten. Dabei soll nicht geklärt Alles weist darauf hin, dass es keine einfachen werden, ob und auf welche Weise sich eine nachhal- Lösungen gibt, um den Euroraum weiter zu stabilisie- tige Konvergenz in der Währungsunion fördern ließe. ren. Weder die Rückkehr zu nationalen Währungen Von Interesse ist vielmehr, wie mit einer begrenzten noch eine Föderalisierung der Eurozone bieten einen Konvergenz im Euroraum umgegangen werden kann. entsprechenden Ausweg. Konvergenz und Struktur- In diesem Rahmen sollen einige Schlüsselfragen zur wandel werden stark von unabhängigen Faktoren Zukunft der Eurozone beantwortet werden. Was ist wie positiven konjunkturellen Rahmenbedingungen der Ursprung der großen volkswirtschaftlichen Unter- abhängen, ebenso von einer günstigen politischen schiede zwischen den drei Ländern? Wo zeigen sich Situation in den größten Euro-Mitgliedstaaten. Die Divergenz-Prozesse am deutlichsten? Könnte eine Stabilisierung des Euroraums erfordert vor allem, die Rückkehr zu nationalen Währungen die nötigen strukturellen Veränderungen auf Ebene der Mitglied- Strukturreformen und die Konvergenz unterstützen? staaten fortzusetzen. Insbesondere ist die Effizienz Und welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der staatlicher Institutionen zu steigern, die – wie Wirtschaftsleistung der drei Länder für aktuelle Dis- jüngste Forschungsergebnisse zeigen – großen kussionen über eine Reform des Euroraums ziehen? Einfluss auf die reale Konvergenz hat. Die größten Im Folgenden werden zunächst die bestehenden Euro-Staaten sollten im Rahmen des Europäischen Konzepte von Konvergenz skizziert, bevor die Wirt- Semesters auf Dauer intensiver überwacht werden. schaftssysteme der drei Staaten in ihrer Unterschied- Dafür sprechen ihre Bedeutung für die Stabilität der lichkeit betrachtet werden. Anhand der Befunde wer- Währungsunion und die Schwierigkeiten, mit denen den dann verschiedene Optionen untersucht, die sich strukturelle Veränderungen einhergehen. Notwendig anbieten, um die Stabilität des Euroraums zu stärken. ist außerdem, die Geldpolitik weiterhin deutlich an Die Ursachen der Divergenz lassen sich nicht aus- der Stabilisierung zu beteiligen und Risiken stärker reichend bewerten, ohne die strukturellen Probleme zu teilen, wozu auch eine gemeinsame Ausgabe von der Euro-Mitgliedstaaten zu analysieren, deren Wirt- Schuldverschreibungen gehört. Der ESM sollte ge- schaftsmodelle untereinander sehr heterogen sind. stärkt werden, vor allem in seiner Rolle als Letztsiche- Die Abweichungen betreffen etwa die Rolle des Staa- rung der Bankenunion. Dabei ist aber auch die Dar- tes, die Qualität der Institutionen und die jeweiligen lehenskapazität des ESM zu erhöhen. Letztlich kann sektoralen Wirtschaftsstrukturen. Entsprechende der Euro nicht existieren, wenn er von der öffent- Unterschiede sind dafür verantwortlich, dass die Mit- lichen Meinung nicht getragen wird; daher muss die gliedschaft in einem gemeinsamen Währungsraum Säule der sozialen Integration im Euroraum weiter nicht zur erhofften Konvergenz geführt hat. Statt- gestärkt werden. dessen haben die Finanz- und die Eurokrise die Diver- genzen noch verschärft. Das belegen sowohl die nominalen als auch die realen Konvergenz-Indikato- ren, mit denen die wirtschaftliche und soziale Diver- genz der drei größten Euro-Länder erfasst wird. Die gravierendsten Unterschiede gibt es in den Bereichen Wettbewerbsfähigkeit, Leistungsbilanz-Salden, öffent- liche Verschuldung sowie Arbeitsmarkt. Vergleicht man die realen Wachstumsraten des Pro-Kopf-BIP der zwölf Euroraum-Gründungsmitglieder seit 1999, so zeigt sich, dass die Abweichung im Falle Italiens deut- SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 6
Konvergenz und Vielfalt in der Währungsunion Vielfalt der Wirtschafts- modelle als Hauptursache mangelnder Konvergenz Konvergenz und Vielfalt in auf Rolle, Effizienz und Besonderheiten der nationa- der Währungsunion len Institutionen. In der geschichtlichen Entwicklung der Währungs- Unter dem Begriff Konvergenz versteht man im EU- union spielte das Anliegen, die Konvergenz zu för- Kontext eine Angleichung der Wirtschaftsleistung dern, seit jeher eine zentrale Rolle. Der Rat der Euro- einzelner Mitgliedstaaten. Nachhaltige Konvergenz päischen Gemeinschaften stellte schon 1974 klar, das bedeutet, dass sich wirtschaftlich weniger starke Projekt einer Wirtschafts- und Währungsunion könne Länder in Richtung des Niveaus bessergestellter Öko- nicht angegangen werden, solange sich in der Wirt- nomien entwickeln.1 Der Begriff Divergenz beschreibt schaftspolitik der Mitgliedstaaten keine Konvergenz das Gegenteil – ein Auseinanderdriften der Wirt- erreichen und aufrechterhalten lasse.3 Der Delors- schaftsleistung von Staaten. Es gibt verschiedene Bericht von 1989 – benannt nach dem damaligen Arten der Konvergenz, die sich anhand spezifischer Präsidenten der Europäischen Kommission – machte Indikatoren messen lassen. Nominale Konvergenz geltend, eine Währungsunion ohne ausreichende beschreibt eine Annäherung gemäß nominalen Konvergenz der nationalen Wirtschaftspolitiken wäre Variablen wie Inflation, Zinssätzen, Haushaltsdefizit auf Dauer nicht überlebensfähig und könnte der oder Staatsschulden. Sie ist seit Beginn der Währungs- Gemeinschaft schaden.4 union eine Aufnahmebedingung für die Eurozone. Die heutigen EU-Verträge enthalten Verweise auf Reale Konvergenz hingegen wird danach bemessen, reale und nominale Konvergenz. Artikel 3 EUV for- wie sehr sich in einem Land – verglichen mit besser muliert als Ziel, das Wohlergehen der Mitgliedsländer aufgestellten – der allgemeine Lebensstandard, die und sowie den »wirtschaftlichen, sozialen und terri- Arbeitsbedingungen sowie wirtschaftliche Institutio- torialen Zusammenhalt« zwischen ihnen zu fördern. nen und Strukturen zum Positiven verändern.2 In der Nach Artikel 121 Absatz 3 AEUV überwacht der Rat vorliegenden Studie werden die wichtigsten Aspekte die wirtschaftliche Entwicklung in jedem Mitglied- realer und nominaler Konvergenz anhand konkreter staat und in der Union, um so »eine engere Koordi- Beispiele analysiert, die sich auf Wettbewerbsfähig- nierung der Wirtschaftspolitik und eine dauerhafte keit, öffentliche Finanzen, Einkommensniveau und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen der Mitglied- Arbeitsmarkt beziehen. Ein Schwerpunkt liegt dabei staaten zu gewährleisten«. Die einzige konkrete Definition von Konvergenz liefert das EU-Recht in 1 Juan Luiz Diaz del Hoyo/Ettore Dorrucci/Frigyes Ferdi- 3 Rat der Europäischen Gemeinschaften, Entscheidung des nand Heinz/Sona Muzikarova, Real Convergence in the Euro Rates vom 18. Februar 1974 zur Erreichung eines hohen Grades an Area: A Long-term Perspective, Frankfurt a.M.: European Central Konvergenz der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der Europäi- Bank (ECB), Dezember 2017 (ECB Occasional Paper Series, schen Wirtschaftsgemeinschaft, Brüssel, 18.2.1974 (74/120/EWG), Nr. 203), S. 10. (Zugriff am 3.7.2018). economic Convergence in Europe: Achievements and Pros- 4 Committee for the Study of Economic and Monetary pects«, in: Ray Barrell (Hg.), Economic Convergence and Monetary Union, Report on Economic Monetary Union in the European Union in Europe, London: SAGE Publications, 1991, S. 2ff. Community [»Delors Report«], Luxemburg, 12.4.1989, S. 28. SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 7
Vielfalt der Wirtschaftsmodelle als Hauptursache mangelnder Konvergenz Artikel 140 Absatz 1 AEUV. Hier sind die nominalen rungsunion notwendig ist und wie viel Divergenz es Konvergenzkriterien für Beitrittskandidaten der Wäh- aushalten kann. Generell aber ist klar, dass divergen- rungsunion vorgegeben.5 Allerdings wurden davon in te Wirtschaftsleistungen von Staaten die Stabilität des der Praxis schon Ausnahmen zugelassen. So akzep- Wirtschaftsraumes auf zweierlei Art unterminieren tierte man Italien als Mitglied der Währungsunion, können. Erstens bedeutet die übermäßige Staatsver- obwohl es das Staatsschuldenkriterium verletzte. All- schuldung einzelner Volkswirtschaften ein erhöhtes gemein wurde angenommen, dass die Mitgliedschaft Risiko für die gesamte Währungsunion. Die EZB oder in der einheitlichen Währungszone einen starken der ESM können in solchen Fällen dazu beitragen, Impuls zugunsten nationaler Wirtschaftsreformen den Druck der Finanzmärkte auf die betroffenen Staa- geben würde, weil die jeweiligen Länder nicht mehr ten zu mindern. Dazu bedarf es allerdings einer Kon- auf das Instrument der Wechselkursanpassung vergenz politischer Interessen auf der Euro-Ebene, zurückgreifen konnten.6 Diese Erwartung hat sich denn die anderen Staaten müssen sich bereiterklären, jedoch nicht erfüllt. Stattdessen vernachlässigte ein Kosten und Risiken der Finanzhilfe zu tragen. Zwei- beträchtlicher Teil der Währungsunion-Mitglieder tens entsteht ein Risiko für die Stabilität des Wäh- dringend notwendige Strukturreformen, nachdem rungsraumes, wenn es an politischer Integration der Euro eingeführt worden war. und einer Konvergenz der Interessen mangelt. Unter- schiedliche Wirtschaftsleistungen führen zu unter- Das Hauptproblem für ein schiedlichen sozialen Lagen; daraus wiederum er- reibungsloses Funktionieren der geben sich differierende politische Ziele im Bereich Währungsunion ist die Vielfalt der der europäischen Integration.9 Daher rücken die Mitgliedstaaten. sozialen Aspekte der wirtschaftlichen Divergenz seit Beginn der Eurokrise zunehmend in den Fokus. Dabei hat Konvergenz eine zentrale Bedeutung Wenn die politischen Ziele der größten Volkswirt- für das Funktionieren der Währungsunion. Durch schaften erheblich voneinander abweichen und nachhaltige Konvergenz wird sich der Euroraum mög- immer schwerer zu vereinbaren sind, könnte dies licherweise einem optimalen Währungsraum an- zur Desintegration der Währungsunion führen. nähern, was seine Stabilität stärken würde. Dies ließe Das Format der EU-19 bündelt Volkswirtschaften, sich unter anderem dadurch erreichen, dass Arbeit- die unterschiedlich groß sind, ungleichen Wirt- nehmermobilität und Fiskaltransfers gefördert wer- schaftsmodellen folgen und sich in verschiedenen den.7 Eine große Rolle spielt auch die Konvergenz der Stadien der ökonomischen Entwicklung befinden. Pro-Kopf-Einkommen innerhalb der Währungsunion. Die gemeinsame Geldpolitik und die strikte Fiskal- Sie ist nicht nur ein wichtiges Ziel der wirtschaft- politik schaffen deshalb schwierige wirtschaftspoliti- lichen Integration, sondern trägt auch zur allgemei- sche Rahmenbedingungen. Einigen Ländern des nen Kohäsion der Eurozone bei.8 Währungsraumes fiel es leichter, mit den Folgen der Es gibt keine Studien, die aufzeigen würden, wel- globalen Finanzkrise und der Eurokrise umzugehen, ches Maß an Konvergenz für das System der Wäh- während andere noch immer mit den wirtschaft- lichen, finanziellen, politischen und sozialen Kon- sequenzen zu kämpfen haben. Die große Bandbreite 5 Artikel 140 enthält vier Konvergenzkriterien: Preisstabili- und das Ausmaß dieser Probleme zeigen sich beson- tät, stabile Situation der öffentlichen Finanzen, stabile Teil- nahme am Wechselkursmechanismus des Europäischen ders deutlich im Fall der drei größten Euro-Volkswirt- Währungssystems für mindestens zwei Jahre, stabiles Niveau schaften. der langfristigen Zinssätze. Genaue Werte finden sich in Pro- Das Hauptproblem für ein reibungsloses Funktio- tokoll Nr. 13 über die Konvergenzkriterien vom 7.12.1992. nieren der Währungsunion ist die Vielfalt der Mit- 6 Siehe zum Beispiel Marco Buti/Andre Sapir, Economic Policy gliedstaaten. Sie unterscheiden sich in Traditionen, in EMU, Oxford: Clarendon Press, 1998. Institutionen sowie Mustern wirtschaftlichen Den- 7 Diaz del Hoyo u.a., Real Convergence in the Euro Area kens und Handelns. Dass ihre ökonomischen Institu- [wie Fn. 1], S. 14ff. 8 Jeffrey Franks/Bergljot Barkbu/Rodolphe Blavy/William Oman/Hanni Schoelermann, Economic Convergence in the Euro 9 Peter Becker, »Die soziale Dimension fortentwickeln«, Area: Coming Together or Drifting Apart?, Washington, D.C.: in: Alexander Schellinger/Philip Steinberg (Hg.), Die Zukunft International Monetary Fund (IMF), 2018 (IMF Working der Eurozone. Wie wir den Euro retten und Europa zusammenhalten, Paper, WP/18/10), S. 7f. Bielefeld: Transcript, 2016, S. 176. SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 8
Grundlegende Unterschiede der Wirtschaftsmodelle tionen, etwa der Arbeitsmarkt, nicht gleich effizient reich, Belgien und Finnland. Sie verfolgen ein export- und flexibel sind, trug während der Krise unmittelbar orientiertes Wachstumsmodell und werden als »Coor- zu unterschiedlichen Wirtschaftsleistungen der ein- dinated Market Economies« (CME) bezeichnet. Solche zelnen Länder bei. Solche Eigenheiten lassen sich nur Marktwirtschaften bevorzugen es, ihre Beziehungen schwer unter einem gemeinsamen Dach von Einheits- zu anderen Wirtschaftsakteuren zu koordinieren, währung, einheitlichen Fiskalregeln und einheitli- statt sich auf das Wirken reiner Marktkräfte zu ver- cher Geldpolitik zusammenführen. Ein wichtiger lassen. Als »Mediterranean Market Economies« (MME) Faktor ist zudem, dass die Geldpolitik zwar zentral gelten die südeuropäischen Staaten: Spanien, Portu- durch die EZB geregelt wird, die Wirtschaftspolitik gal, Griechenland und Italien.13 Diese Länder haben aber immer noch im Kompetenzbereich der Mitglied- eine begrenzte institutionelle Fähigkeit, um Löhne staaten liegt. Es gibt gewisse Fiskalregeln, an die sich zu koordinieren und langfristige Wachstumsstrate- alle Staaten halten müssen; doch weiterhin obliegt gien umzusetzen. So nutzten sie vor dem Beitritt zur es den nationalen Institutionen, die jeweilige Politik Währungsunion periodische Abwertungen ihrer auszugestalten. Unterschiede in der Qualität der staat- jeweiligen Währung als Instrument, um die eigene lichen und wirtschaftlichen Institutionen sowie in Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.14 den Wirtschafts- und Sozialmodellen sind demnach In dieser Typologie wird das französische Modell konstitutiv dafür, dass die ökonomischen Entwick- zwischen CME und MME eingeordnet, obwohl es lungen der Mitgliedstaaten voneinander abweichen. mehr Ähnlichkeiten mit der südeuropäischen Varian- te aufweist.15 Auch bei Italien fallen einige spezifi- sche Merkmale des Wirtschaftsmodells auf, insbeson- Grundlegende Unterschiede der dere die Bedeutung von Korrelationen zwischen zent- Wirtschaftsmodelle ralen und regionalen Institutionen (regionaler Kapita- lismus).16 Den Wirtschaftsmodellen der CME-Euro- Unter den EU-Staaten gibt es verschiedene Wirt- staaten wird zugutegehalten, anpassungsfähiger zu schaftsmodelle; sie unterscheiden sich in der Funk- sein gegenüber sich wandelnden Außenbedingungen, tionsweise von Produkt- und Arbeitsmärkten, in weil ihre Wachstumsstrategien »extern« orientiert Wohlfahrts- und Bildungssystemen, in Politik, Kultur sind und sie über ausgeprägte innere Kooperations- und sogar der zugrunde liegenden Ideologie.10 Im kulturen verfügen. Dies ist besonders wichtig bei Falle großer Volkswirtschaften, die oft komplexe starken externen Schocks wie der globalen Finanz- Wirtschaftssysteme darstellen, ist es nicht immer krise. Die Art des Wirtschaftsmodells spielt also eine möglich, eine allgemeingültige Klassifizierung zu entscheidende Rolle für die wirtschaftliche Entwick- finden. Deshalb werden die Wirtschaftsmodelle auch lung eines Landes. Mit der Währungsintegration unterschiedlich eingeordnet. Bei Deutschland und verloren die Eurostaaten einen konstitutiven Bestand- Frankreich wird vielfach vom kontinentalen Modell, teil ihrer wirtschaftspolitischen Steuerungsmöglich- bei Italien wiederum vom Mittelmeer-Modell gespro- keiten. Dies traf vor allem jene Ökonomien, deren chen.11 Manchmal stuft man Deutschland und Frank- Wettbewerbsstrategie darauf beruht hatte, im Rah- reich auch als »nordwestliche« Modelle ein.12 men einer autonomen Geldpolitik die eigene Wäh- Innerhalb der Währungsunion werden teils noch rung periodisch abzuwerten. weitere Kategorien gebildet. Eine erste Gruppe besteht demnach aus Deutschland, den Niederlanden, Öster- 10 Siehe zum Beispiel B. Steven Rosefielde, Comparative Economic Systems. Culture, Wealth, and Power in the 21st Century, 13 Peter A. Hall/David Soskice, Varieties of Capitalism: Malden, Mass.: Blackwell, 2002; Bruno Amable, The Diversity The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford: of Modern Capitalism, Oxford/New York: Oxford University Oxford Scholarship Online, 2003. Press, 2003; Beáta Farkas, Models of Capitalism in the European 14 Peter A. Hall, »Varieties of Capitalism in Light of the Union. Post-crisis Perspectives, Basingstoke: Palgrave Macmillan, Euro Crisis«, in: Journal of European Public Policy, 25 (2018) 1, 2016. S. 7–30 (11ff). 11 Amable, The Diversity of Modern Capitalism [wie Fn. 10], 15 Ebd. S. 92. 16 Carlo Trigilia/Luigi Burroni, »Italy: Rise, Decline and 12 Farkas, Models of Capitalism in the European Union Restructuring of a Regionalized Capitalism«, in: Economy and [wie Fn. 10], S. 146–170. Society, 38 (2009) 4, S. 630–653. SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 9
Vielfalt der Wirtschaftsmodelle als Hauptursache mangelnder Konvergenz Tabelle 1 Die Wirtschaftsmodelle Deutschlands, Frankreichs und Italiens Deutschland Frankreich Italien Staatsmodell Föderalismus zentralistischer Einheits- regionaler Einheitsstaat staat Modell des »Managed Capitalism« Staatskapitalismus dysfunktionaler Staats- Kapitalismus kapitalismus, regionali- sierter Kapitalismus Staat-Wirtschaft-Bezie- Staat als Garant des Staat als Lenker, Regie- Staat klientelismus- und hungen freien Wettbewerbs, rungskontrolle subventionsorientiert Staat als Regulierer Dominante Wirtschafts- Ordoliberalismus (Neo-)Keynesianismus Elemente von beidem, philosophie bei Dominanz des (Neo-) Keynesianismus Wachstumsmodell exportbasiert auf Binnennachfrage gemischtes Modell basierend Orientierung der Wirt- Angebotspolitik Nachfragepolitik Nachfragepolitik schaftspolitik Vorrangige Ziele der Preisstabilität, Wirt- Wirtschaftswachstum, Wirtschaftswachstum, Wirtschaftspolitik schaftswachstum, Beschäftigung Beschäftigung Beschäftigung, Gleich- gewicht Eigene Ausarbeitung basierend auf: Sinah Schnells, Deutschland und Frankreich im Krisenmanagement der Eurozone. Kompromisse trotz unterschiedlicher Präferenzen?, Freie Universität Berlin 2016, S. 45; Markus K. Brunnermeier/ Harold James/Jean-Pierre Landau, The Euro and the Battle of Ideas, Princeton, NJ: Princeton University Press 2016; Vincent Della Sala, »The Italian Model of Capitalism: On the Road between Globalization and Europeanization?«, in: Journal of European Public Policy, 11 (2004) 6, S. 1041–1057; Carlo Trigilia/Luigi Burroni, »Italy: Rise, Decline and Restructuring of a Regionalized Capitalism«, in: Economy and Society, 38 (2009) 4. Der Überblick zu den drei großen Volkswirtschaften kens. Hier stehen vor allem der deutsche Ordolibera- in Tabelle 1 zeigt, dass es zwischen ihnen erhebliche lismus und Frankreichs neo-keynesianische Richtung Unterschiede gibt – in territorialer Gestaltung, der häufig in Opposition zueinander. Das deutsche und Rolle des Staates und seinem Verhältnis zur Wirt- das französische Wirtschaftsdenken differieren unter schaft, aber auch bei der Wirtschaftsphilosophie anderem in Bezug auf vorherrschende Regeln, die und den Zielen der Wirtschaftspolitik. Die Merkmale Freiheit der Regierung bei der Kreditaufnahme, die des italienischen Modells sind in einigen Kategorien Rolle von Geldpolitik und Inflation sowie die Han- schwer zu erfassen, meist kann es jedoch zwischen dels- und Wettbewerbsfreiheit.17 Die wichtigsten dem deutschen und dem französischen verortet wer- Faktoren im deutschen Wirtschaftsdenken sind Eigen- den. Außerdem repräsentiert der italienische Süden verantwortung, Disziplinarfunktion der Finanzmärk- ein anderes Modell als der Norden, für den Industrie- te, niedrige Inflation, stabile Finanzen und Unabhän- produktion und Dienstleistungen eine viel wichtigere Rolle spielen. 17 Siehe Markus K. Brunnermeier/Harold James/Jean-Pierre Die drei Länder unterscheiden sich auch in den Landau, The Euro and the Battle of Ideas, Princeton University jeweils dominanten Schulen wirtschaftlichen Den- Press, 2016 (Kindle edition), S. 1236–1496. SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 10
Rolle des Staates und des sozialen Dialogs gigkeit der Zentralbank.18 Das italienische Wirtschafts- Wirtschaftsmodells sind die hohen Staatsausgaben im denken wiederum wurde durch jenes beider anderen Verhältnis zur allgemeinen Wirtschaftsleistung. Laut Länder stark beeinflusst. Italiens und Frankreichs OECD betrug in Frankreich 2015 die Staatsausgaben- Wirtschaft ähneln sich in ihrer nachfrageorientierten, Quote 56,7 Prozent des BIP. Unter allen OECD-Ländern keynesianisch inspirierten Wirtschaftspolitik.19 Sol- liegt Frankreich hier nach Finnland (57,1 Prozent) auf che Abweichungen bei Interessen und theoretischen dem zweiten Platz. Im Falle Italiens ist dieser Indika- Ansätzen erschweren es, unter den Mitgliedern der tor mit 50,2 Prozent zwar niedriger als bei Frank- Eurozone wirtschaftspolitisch eine gemeinsame Rich- reich. Doch unterscheidet die starke wirtschaftliche tung zu vereinbaren. Die Divergenz der Wirtschafts- Einbindung des Staates beide Modelle deutlich von politik, die hauptsächlich in der Zuständigkeit der der deutschen Variante, wo das Niveau der Staats- Mitgliedstaaten liegt, wird dadurch erhöht. ausgaben gegenüber dem BIP nur bei 43,9 Prozent liegt.21 In Frankreich engagiert sich der Staat stark als Anteilseigner großer Unternehmen. Das ist insofern Rolle des Staates und des sozialen Dialogs problematisch, als die Regierung eine Mitverantwor- tung für die finanzielle Lage der Firmen trägt, ebenso Ein wichtiges Merkmal, in dem sich die drei großen für deren Schutz vor ausländischer Übernahme.22 Volkswirtschaften unterscheiden, ist die Rolle des Wie das Beispiel der nordischen Länder zeigt, müs- Staates. Relevant sind die Ungleichheiten in diesem sen eine stärkere Rolle des Staates in der Wirtschaft Bereich sowohl bei der Entstehung von Divergenzen und hohe steuerliche Belastungen nicht zwangsläufig als auch bei den notwendigen Anpassungsmechanis- zu geringerer Wirtschaftsleistung führen. Die nordi- men. Denn für nachhaltige Konvergenz sind in erster schen Wirtschaftsmodelle haben jedoch besondere Linie die nationalen Regierungen verantwortlich.20 Merkmale – wie effiziente staatliche Institutionen, In Frankreich spielt der Staat eine besondere Rolle. leichte Geschäftstätigkeit, hohe Wettbewerbsfähigkeit Verglichen mit Deutschland und Italien hat das Land dank Innovationen, geringe Produktmarkt-Regulie- eine sehr lange Tradition der Staatszentralisierung; rung, effizienter Sozialschutz, ein hohes Maß an begründet wurde sie bereits von König Ludwig XIV. Medienfreiheit, wenig Korruption, wirksame Tarif- (1638–1715). Die italienischen Erfahrungen mit verhandlungen und eine qualitativ hochwertige Staatlichkeit sind dagegen weniger kontinuierlich. Bildung mit breitem Zugang. Fehlt es hingegen an Bis zur Gründung des Königreichs im Jahr 1861 war diesen Merkmalen, hat ein hohes Niveau an Staats- Italien im Grunde nur ein geographischer Begriff. ausgaben erhebliche Negativfolgen. Erstens steigt das Trotz der regionalen Vielfalt des Landes wurde das Risiko einer Fehlzuweisung von Ressourcen, da der Modell des Einheitsstaates gewählt, um einen kom- Staat in den Allokationsprozess eingreift und dieser pakten Nationalstaat aufzubauen. Damit begann der nicht mehr von marktwirtschaftlichen Mechanismen Konflikt zwischen Zentralregierung und Regionen, geleitet wird. Zweitens vervielfachen sich dadurch die der sich besonders stark gegenüber Süditalien mani- sozialen Gruppen, die »Rent seeking« betreiben, was festiert. Ein wichtiges Merkmal, das Italien von zur Politisierung von Transfers führt. Übt der Staat Deutschland und Frankreich unterscheidet, ist das eine stärkere Umverteilungsrolle aus, gibt es in der Nord-Süd-Gefälle in der wirtschaftlichen Entwicklung. Regel eine große Zahl inländischer Akteure, die nicht Die Abweichungen bei der Rolle des Staates wer- daran interessiert sind, dass sich am Status quo etwas den sichtbar, wenn man etwa den jeweiligen Anteil ändert. der öffentlichen Ausgaben am BIP betrachtet. Ein Politische Institutionen sollen vor allem die Stabili- historisch gewachsenes Merkmal des französischen tät eines Landes bewahren und zugleich in der Lage sein, Reformen einzuleiten. In Italien ist politische 18 Franz-Josef Meiers, Germany’s Role in the Euro Crisis. Berlin’s Instabilität, die sich in häufigen Regierungswechseln Quest for a More Perfect Monetary Union, Cham: Springer 2015, widerspiegelt, ein wesentliches Hindernis für eine S. 11–15. 19 Bruno Amable/Elvire Guillaud/Stefano Palombarini, L’économie politique de néolibéralisme, le cas de la France et de 21 Organisation for Economic Co-operation and Develop- I’Italie, Paris: Éditions Rue d’Ulm/Presses de l’École normale ment (OECD), General Government Spending (indicator), 2018, supérieure, 2012. doi: 10.1787/a31cbf4d-en (Zugriff am 26.4.2018). 20 Diaz del Hoyo u.a., Real Convergence in the Euro Area 22 Michael Stothard, »France: The Politics of State Owner- [wie Fn. 1], S. 5. ship«, in: Financial Times, 13.11.2016. SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 11
Vielfalt der Wirtschaftsmodelle als Hauptursache mangelnder Konvergenz kohärente Wirtschaftspolitik. Ständige Regierungs- werkschaften vielschichtiger. Der Mitgliederanteil ist wechsel stehen langfristigen Strategien im Weg, wie dort mit 35,7 Prozent (2013) noch einmal wesentlich sie etwa zur Entwicklung Süditaliens erforderlich höher als in Deutschland. Allerdings variiert der Ein- wären. In Italien gibt es die Tradition der technokra- fluss der italienischen Gewerkschaften von Sektor tischen Regierung (governo tecnico), mit der die Un- zu Sektor und von Region zu Region. Zudem gibt es fähigkeit der politischen Parteien, stabile Koalitionen in Italien eine große Zahl kleiner Unternehmen mit zu bilden, ausgeglichen werden soll. Solche Regie- wenigen Arbeitnehmern sowie ein hohes Maß an rungen übernehmen normalerweise die schwierige irregulärer Beschäftigung. Aufgabe, Reformen durchzuführen, die in der Gesellschaft unpopulär sind.23 In Frankreich sind die politischen Zyklen zwar viel stabiler als in Italien, Effizienz der öffentlichen Institutionen doch führen hier oftmals innerparteiliche Konflikte zu Reformblockaden. Um solche Situationen zu über- Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen winden, kann die Pariser Regierung auf das Rechts- den Wirtschaftsinstitutionen eines Staates und seiner instrument des Dekrets oder auf Artikel 49.3 der ökonomischen Leistung. Die Qualität von Institutio- französischen Verfassung zurückgreifen. Letzterer nen wird mitunter als entscheidend für Erfolg oder erlaubt der Regierung, die Verabschiedung eines Misserfolg ganzer Nationen dargestellt.24 Jüngere Gesetzentwurfs zu erzwingen, sofern nicht das Parla- Analysen zeigen wiederum, dass Institutionen ein ment ein Misstrauensvotum gegen die Regierung wichtiger Faktor sind, um die wirtschaftliche Diver- ausspricht. Dieses Verfahren wurde zwischen 2015 genz zwischen Mitgliedern der Währungsunion zu und 2017 mehrmals angewendet, um Arbeitsmarkt- erklären.25 Nachweisen lässt sich etwa eine direkte reformen durchzusetzen. Das politische System der Verbindung zwischen Institutionen und Staats- Bundesrepublik verändert sich derzeit, weil die poli- verschuldung auf der einen und dem Wirtschafts- tische Szene im Land zunehmend zersplittert; dies wachstum auf der anderen Seite.26 Außerdem zeigt erschwert die Bildung von Regierungskoalitionen. die Institutionen-Ökonomie, dass die Grundvoraus- Eine wichtige Rolle spielt auch die Verhandlungs- setzung für eine bessere Wirtschaftspolitik darin be- fähigkeit zwischen den wichtigsten Akteuren des steht, die sozialen und politischen Institutionen zu Wirtschaftssystems, darunter Gewerkschaften, über reformieren, die diese Politik gestalten. wirtschaftspolitische Veränderungen. Frankreich hat Die institutionelle Perspektive muss also miteinbe- in der OECD eine der niedrigsten Quoten an Gewerk- zogen werden, damit sich die Krise des Euro erklären schaftszugehörigkeit (7,7 Prozent im Jahr 2013) und lässt. Den »nördlichen« Volkswirtschaften Europas, zugleich den höchsten Prozentsatz an Arbeitneh- einschließlich Deutschland, standen mehr institutio- mern, für die Tarifverträge gelten (98,5 Prozent 2014). nelle Kapazitäten als den »südlichen« zur Verfügung, Das heißt, dass die französischen Gewerkschaften nicht nur für ihre eigenen Mitglieder verhandeln, sondern jeweils für den gesamten Sektor; daher sind 24 Daron Acemoglu/James A. Robinson, Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity, and Poverty, London 2012. Die sie viel mächtiger als die Gewerkschaften in Deutsch- Rolle von Institutionen in der Wirtschaft hat unter anderem land. Hier ist der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder Douglass North analysiert. Er unterstreicht die Bedeutung deutlich höher als in Frankreich; 2016 lag er bei von Hindernissen, etwa Ideologien und kulturellen Normen, 16 Prozent – ohne dass sich dies in einem stärkeren bei der Herausbildung effizienter Institutionen, Douglass C. Einfluss niederschlagen würde. Was die Verhand- North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance. lungskultur angeht, lässt sich beobachten, dass fran- Political Economy of Institutions and Decisions, Cambridge 1990, zösische Gewerkschaften stärker politisiert sind als S. 3–10. deutsche. In Italien wiederum ist die Rolle der Ge- 25 ECB, »Real Convergence in the Euro Area: Evidence, Theory and Policy Implications«, in: ECB Economic Bulletin, (2015) 5, S. 30–45; Elias Papaioannou, »EZ Original Sin? 23 Beispiele für solche – kurzlebigen – Regierungen sind Nominal Rather than Institutional Convergence«, VOX CEPR’s die von Lamberto Dini (1995/1996), Carlo Azeglio Ciampi Policy Portal, 7.9.2015, (Zugriff am 3.7.2018). Cencig, Italy’s Economy in the Euro Zone Crisis and Monti’s Reform 26 Klaus Masuch/Edmund Moshammer/Beatrice Pierluigi, Agenda, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, September Institutions, Public Debt and Growth in Europe, Frankfurt a.M., 2012 (Working Paper FG 1, 2012/05), S. 31. September 2016 (ECB Working Paper Series, Nr. 1963). SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 12
Wirtschaftsstrukturen: Unterschiede und Verbindungen um exportorientierte Wachstumsstrategien zu ver- Eine offene Wirtschaft ist für die Wettbewerbs- folgen. Solche Strategien erfordern eine Koordinie- fähigkeit eines Landes und die Konvergenz gegenüber rung zwischen den Produzenten, abgestimmte Lohn- leistungsfähigeren Volkswirtschaften in mancher verhandlungen und eine Zusammenarbeit in der Hinsicht von Vorteil. So erweitert sie die Märkte für beruflichen Bildung mit Schwerpunkt auf Kompe- inländische Firmen und setzt diese dem internationa- tenz- und Innovationsförderung.27 len Wettbewerb aus. Ob eine Volkswirtschaft im Die Effizienz staatlicher Institutionen und staatli- internationalen Wettbewerb erfolgreich bestehen cher Regulierung hat direkten Einfluss auf die Wirt- kann, ist unmittelbar abhängig von der Qualität schaftstätigkeit eines Landes. Sie ist eine Vorausset- staatlicher Institutionen und Regulierungspraktiken, zung für Innovationen und Produktivität. Einen von Produktivität, Infrastruktur und Humankapital entsprechenden Zusammenhang lassen die »Doing des Landes.32 Die deutsche Wirtschaft hat ein höheres Business«-Analysen der Weltbank erkennen.28 Darin Maß an Offenheit als die italienische und die franzö- werden etwa juristische Hindernisse in Italien iden- sische. Sie ist stark auf den Export ausgerichtet; 2016 tifiziert, die sich unter anderem in einer geringen machte er 46 Prozent des deutschen BIP aus.33 Im Rückgewinnungsrate und hohen Kosten von Insol- selben Jahr erwirtschaftete Deutschland den größten venzen niederschlagen. Zudem haben diese Hürden Handelsüberschuss weltweit. Allerdings gibt es in einen negativen Einfluss auf aktuelle Bemühungen, Italien mittlerweile auch viele wettbewerbsfähige den Bankensektor des Landes zu sanieren, der an Unternehmen, die erfolgreich auf ausländischen notleidenden Krediten krankt. Regionale Daten wie- Märkten expandieren. derum zeigen, dass es zwischen dem Norden und Die Volkswirtschaften der drei untersuchten dem Süden Italiens erhebliche Unterschiede gibt, was Länder sind eng miteinander verbunden. Dabei gibt die Effizienz öffentlicher Institutionen angeht.29 es zwischen der französischen und der deutschen Wirtschaft mehr Interdependenzen als im Verhältnis der beiden zur italienischen. Wie sich die wechsel- Wirtschaftsstrukturen: seitigen Wirtschaftsbeziehungen entwickelten, hat Unterschiede und Verbindungen auch damit zu tun, in welchem Maße die drei Länder nach dem Zweiten Weltkrieg politisch kooperierten. Zu den Ursachen der Krise im gemeinsamen Euro- Frankreich und die Bundesrepublik betrieben eine raum gehört auch, dass es dort verschiedene Wirt- enge Zusammenarbeit, was zu einem starken ökono- schaftsstrukturen gibt; teils sind sie nachfrage-, teils mischen Austausch und gegenseitigen Abhängigkei- angebotsorientiert.30 Derzeit weisen die drei größten ten der beiden Volkswirtschaften führte. Für Frank- Volkswirtschaften des Euroraums deutliche Unter- reich wie auch für Italien hat die deutsche Wirtschaft schiede auf.31 enormes Gewicht.34 Sie erzielt in beiden Fällen des bilateralen Handels einen bedeutenden Überschuss.35 Alle drei Länder sind darüber hinaus wichtige Quel- 27 Hall, »Varieties of Capitalism in Light of the Euro Crisis« [wie Fn. 14]. 28 The World Bank, Doing Business 2018. Reforming to Create Intelligence Agency (CIA), World Factbook. GDP – Composition, Jobs, Washington, D.C., 2018, (Zugriff am 3.7.2018). 29 Siehe z.B. Annamaria Nifo/Gaetano Vecchione, »Measur- 32 World Economic Forum, The Case for Trade and Competi- ing Institutional Quality in Italy«, in: Rivista economica del tiveness. Global Agenda Councils on Competitiveness and Trade and Mezzogiorno, 1/2 (2015), S. 157–182. FDI, Genf, September 2015, (Zugriff am 3.7.2018). Integration and the Incompatibility of National Varieties of 33 OECD, Trade in Goods and Services [Datenbank], (Zugriff am 6.3.2018). S. 318–336. 34 The Observatory of Economic Complexity (OEC), France 31 In Deutschland hat die Industrie einen hohen Anteil am [Datenbank], (Zugriff am 16.12.2017). (0,6 Prozent). Dagegen trägt in Frankreich die Industrie nur 35 Im Verhältnis zu Frankreich beträgt er rund 35 Milliar- zu 19,4 Prozent zum BIP bei, die Landwirtschaft zu 1,6 Pro- den Euro, bei Italien sind es rund 9,5 Milliarden Euro. zent. In Italien liegen diese Werte bei 24 Prozent für die In- Statistisches Bundesamt, Foreign Trade. Ranking of Germany’s dustrie und 2,1 Prozent für die Landwirtschaft. Siehe Central Trading Partners in Foreign Trade 2017, Wiesbaden, 24.10.2018. SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 13
Vielfalt der Wirtschaftsmodelle als Hauptursache mangelnder Konvergenz len und Ziele gegenseitiger Direktinvestitionen. Ihre Finanzsektoren werden zwar jeweils von inländischen Institutionen dominiert, sind aber dennoch stark mit- einander verflochten.36 Deutsche Banken hielten im Dezember 2017 finanzielle Forderungen gegenüber Frankreich in Höhe von etwa 180 Milliarden Euro. Italien hat der Bundesrepublik eine Gesamtsumme von 67 Milliarden Euro zurückzuzahlen.37 Hier zeigt sich eine wesentliche Verbindung zwischen den drei Volkswirtschaften; sie bildet auch einen potentiellen Übertragungskanal für Risiken. 36 ECB, Report on Financial Structures, Frankfurt a.M., Okto- ber 2017, S. 15. 37 Deutsche Bundesbank. Zahlungsbilanzstatistik Januar 2018 (Statistisches Beiheft 3 zum Monatsbericht), S. 62, (Zugriff am 28.8.2018). SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 14
Wettbewerbsfähigkeit Konvergenz oder Divergenz in der Währungsunion? Das jeweilige Wirtschaftsmodell und die Effizienz der Wettbewerbsfähigkeit nationalen Wirtschaftsinstitutionen haben direkten Einfluss auf die ökonomische Leistungsfähigkeit der Der reale effektive Wechselkurs (Real Effective Ex- drei großen Eurostaaten. Zu Beginn der Währungs- change Rate – REER) ist einer der aussagekräftigsten union sah die wirtschaftliche und politische Lage in Indikatoren für die Wettbewerbsfähigkeit eines Euro- Europa noch ganz anders aus als heute. Nachdem 1999 Mitgliedslandes; er liefert Informationen über die die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion Preisentwicklung der im betreffenden Land produ- umgesetzt worden war, erfuhren Italien und Frank- zierten Güter im Verhältnis zu dessen wichtigsten reich eine ausgeprägtere BIP-Wachstumsdynamik als Handelspartnern.38 Allgemein gilt der Verlust an Deutschland. Die Bundesrepublik galt als »kranker Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Handelspartnern, Mann des Euro«, und es wurde befürchtet, ihre der durch Inflationsunterschiede erzeugt wird, als wirtschaftlichen Probleme könnten sich negativ auf einer der Hauptgründe für eine schwache Wirt- die Stabilität der gemeinsamen Währung auswirken. schaftsleistung einzelner Euro-Staaten. Eine niedrige Bis 2005 waren die Konjunkturzyklen Deutschlands, Inflationsrate ist, wie erwähnt, eines der nominalen Frankreichs und Italiens relativ ähnlich; danach ver- Konvergenzkriterien für den Beitritt zum Euro- langsamte sich das Wachstum in Italien deutlich. In Währungsgebiet. Eine stärkere Inflation in einem der den Jahren der globalen Finanzkrise ab 2007 und der Mitgliedstaaten kann bewirken, dass die Exporte aus Krise im Euro-Währungsgebiet ab 2010 erfasste alle diesem Land teurer sind als jene der anderen, wäh- drei Volkswirtschaften eine tiefe Rezession. Dass der rend importierte Produkte gleichzeitig billiger werden Rückgang in Frankreich vergleichsweise schwächer als einheimische Erzeugnisse. Dieser Mechanismus ist ausfiel, ist zurückzuführen auf die Besonderheiten bekannt als Aufwertung des realen effektiven Wech- des französischen Wirtschaftsmodells bzw. auf die ge- selkurses. Falls dagegen die Entwicklung des REER ringere Bedeutung des Außenhandels für das Land. negativ ist, gewinnt die Binnenwirtschaft im Vergleich Die italienische Wirtschaft hingegen war von der Krise zu den Handelspartnern an Wettbewerbsfähigkeit. stark betroffen, die von der darauffolgenden Haus- Graphik 1 (S. 16) zeigt, wie sich der REER zwischen haltskonsolidierung noch verschärft wurde. Dass 1999 und 2016 in den drei großen Eurostaaten und in Italiens BIP seit 2015 sichtlich ansteigt, ist hauptsäch- der Eurozone insgesamt entwickelt hat. Sichtbar wird, lich dem Wachstum der Weltwirtschaft und der ent- dass sich im Falle Italiens die Mitgliedschaft in der gegenkommenden EZB-Geldpolitik geschuldet. Währungsunion negativ auf die eigenen Exporte aus- Im folgenden Teil der Studie wird die unterschied- gewirkt hat, weil der hohe REER die externe Wett- liche Funktionsweise der Wirtschaftsinstitutionen der bewerbsfähigkeit der italienischen Wirtschaft min- drei Länder untersucht, insbesondere mit Blick auf die Flexibilität des Arbeitsmarktes. Die nominale Kon- 38 Der reale effektive Wechselkurs bezieht sich auf den vergenz wird dabei vor allem im Zusammenhang mit nominalen effektiven Wechselkurs, der normalerweise Wettbewerbsfähigkeit und öffentlichen Finanzen durch relative Preis- oder Kostenkennzahlen deflationiert analysiert. Dadurch soll geklärt werden, weshalb sich wird. Der REER erfasst jedoch keine Faktoren, welche sich die drei Volkswirtschaften so unterschiedlich ent- auf die nichtpreisliche Wettbewerbsfähigkeit beziehen, etwa wickelt haben. Die reale Konvergenz wird auf Basis die Produktqualität oder das Ansehen eines Herstellers. Der von Einkommensentwicklung und Arbeitsbedingun- REER-Indikator misst sowohl die nominale als auch die reale gen erfasst. Konvergenz. SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 15
Konvergenz oder Divergenz in der Währungsunion? Graphik 1 Realer effektiver Wechselkurs (REER) Deutschlands, Frankreichs und Italiens, 1999–2016 Quelle: UNCTAD. derte. Auch wenn sich nach 2010 die preisliche Wett- verhandlungen dezentralisieren und auf die Unter- bewerbsfähigkeit Frankreichs und Italiens verbessert nehmens- und Branchenebene verlagern.39 hat, liegt Deutschlands realer effektiver Wechselkurs Deutschland als eine »nördliche« Volkswirtschaft weiterhin deutlich unter jenem der beiden anderen genießt so dank seiner starken Institutionen einen Länder. Die deutsche Wirtschaft ist wesentlich wett- erheblichen Wettbewerbsvorteil, der zur Akkumula- bewerbsfähiger geblieben als die französische oder tion von Leistungsbilanzüberschüssen führt. Dies die italienische, weil sie in der Lage war, ihre Arbeits- geschieht vor allem durch Lohnzurückhaltung, aber kosten niedrig zu halten. Graphik 2 zeigt die Ent- auch andere Faktoren, die eine optimale Produkt- wicklung dieses Faktors in Deutschland, Frankreich palette für Importe der BRICS-Staaten (Brasilien, Russ- und Italien von 1999 bis 2017. Deutlich erkennbar ist, land, Indien, China, Südafrika) gewährleisten oder dass der Trend zwischen den drei Ländern abweicht. Kosteneffizienz sichern, indem Lieferketten hin zu Nach 2001 haben sich die Arbeitskosten in Frankreich Volkswirtschaften mit niedrigen Arbeitskosten ge- und Italien ganz anders entwickelt als in Deutsch- nutzt werden. Die Dynamik der relativen Preise spie- land. Die Eurokrise hat dabei keine deutliche Konver- gelt nicht nur Veränderungen bei Arbeitskosten und genz bewirkt; zwar gingen nun die Arbeitskosten anderen Produktionsfaktoren wider, sondern ebenso auch in Frankreich und Italien zurück, doch dieselbe Produktivitätswachstum und Qualitätsverbesserun- Tendenz galt auch für Deutschland. Die wichtigste gen. Die qualitativen Verbesserungen fielen in den Erklärung für die differierenden Werte der Bundes- drei großen Eurostaaten ähnlich aus. Geringe Produk- republik ist die Funktionsweise der deutschen Arbeitsmarktinstitutionen. Sie beruht auf flexiblen Verträgen und wechselseitigen Vereinbarungen zwi- schen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. 39 Matteo Bugamelli/Silvia Fabiani/Stefano Federico/Alberto Felettigh/Claire Giordano/Andrea Linarello, Back on Track? Durch Nutzung solcher Instrumente ließen sich Lohn- A Macro-micro Narrative of Italian Exports, Rom: Banca d’Italia, Oktober 2017 (Questioni di Economia e Finanza, Nr. 399), S. 35ff. SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 16
Wettbewerbsfähigkeit Graphik 2 Relative Arbeitskosten Deutschlands, Frankreichs und Italiens, 1999–2017 Quelle: OECD. tivität jedoch war ein charakteristisches Merkmal der ren Euro-Länder.42 Der Handelsbilanzüberschuss der italienischen Wirtschaft. Bundesrepublik wird auf unterschiedliche Weise Wichtig ist auch, die Leistungsbilanzen Frank- interpretiert; in jedem Fall ergibt er sich aus mehre- reichs, Deutschlands und Italiens miteinander zu ver- ren internen und externen Faktoren. Eine Erklärung gleichen. Bei diesem Indikator divergieren die drei liegt in den Grunddeterminanten von Import und Ex- Länder zunehmend, seit die Währungsunion geschaf- port, wie der Produktivität der deutschen Wirtschaft fen wurde. Die Leistungsbilanz offenbart gleichzeitig und der Qualität ihrer Erzeugnisse. Eine andere Deu- die Besonderheiten der französischen Wirtschaft. Sie tung zielt darauf, dass im Falle eines Überschusses basiert vor allem auf Inlandsverbrauch, wird stark nationaler Ersparnisse gegenüber nationalen Investi- von Staatsausgaben angetrieben und besitzt nur eine tionen – wie im Falle Deutschlands – die Erspar- schwache externe Wettbewerbsfähigkeit. nisse als Kapitalexporte ins Ausland fließen und dort Der Kern der Leistungsbilanz ist die Handelsbilanz. den Import deutscher Produkte fördern.43 Nach einer Eines der am hitzigsten erörterten Themen in Debat- ten über Ungleichgewichte im Euroraum ist der 42 Elisabeth Behrmann, »France’s Macron Says German massive Handelsüberschuss Deutschlands. Zwar wird Trade Surplus Harmful to EU Economy«, Bloomberg, der Großteil davon mit Ländern außerhalb der Wäh- 17.4.2017, (Zugriff am 4.7.2018). mit Frankreich (41,4 Milliarden Euro) und Italien 43 Jan Priewe, Understanding Germany’s Current Account Sur- (10 Milliarden Euro).41 In Frankreich wird oft argu- plus, Paper Presented to the FMM Annual Conference, Berlin mentiert, das deutsche Plus gehe auf Kosten der ande- 2017; Robert Kollmann/Marco Ratto/Werner Roeger/Jan in ’t Veld/Lukas Vogel, What Drives the German Current Account? And How Does It Affect Other EU Member States?, Brüssel: European Commission, April 2014 (Economic Papers 516); Mathilde le 40 Statistisches Bundesamt, Foreign Trade [wie Fn. 35]. Moigne/Xavier Ragot, »France et Allemagne: une histoire du 41 Ebd. désajustement européen«, in: Revue de l’OFCE, (2015/6) 142, SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 17
Konvergenz oder Divergenz in der Währungsunion? Graphik 3 Entwicklung der Rendite zehnjähriger Staatsanleihen Deutschlands, Frankreichs und Italiens Quelle: EZB. weiteren Interpretation sind der niedrige deutsche politik erforderlich machen – wie niedrige Inlands- REER und die geringe Binnennachfrage in der Bun- nachfrage, demographische Alterung, hohe Besteue- desrepublik für den Überschuss verantwortlich. Dies rung von Arbeit, unzureichende Investitionen oder stelle eine Gefahr für die Eurozone dar, da andere niedrige Löhne. Generell lässt sich sagen, dass der Staaten aufgrund des deutschen Preisvorteils nicht deutsche Handelsüberschuss sowohl strukturell als mithalten könnten. Auch die entstehenden deflatio- auch wirtschaftspolitisch bedingt ist – und dass er nären Tendenzen wirkten sich negativ auf die Schul- angegangen werden sollte. Zu den möglichen Lösun- denstände einiger Staaten aus.44 gen auf deutscher Seite gehören die Stärkung der Zudem besteht ein Risiko für Deutschland selbst. Binnennachfrage durch Lohnsteigerungen und eine Wie erwähnt, exportiert die Bundesrepublik sehr viel expansivere Fiskalpolitik.45 Diese Mittel würden Kapital, wodurch sie zu einem wichtigen Gläubiger- jedoch nicht notwendigerweise bewirken, dass der staat wird. Überdies kann es wirtschaftliche Entschei- interne Verbrauch steigt oder Importe von anderen dungsträger beunruhigen, wenn eine exportgetriebe- Euro-Ländern, inklusive Frankreich oder Italien, ne Leistungsbilanz massive Überschüsse enthält, denn zunehmen. Höhere Löhne können auch zu höheren darin spiegeln sich oftmals ökonomische Probleme. Ersparnissen führen. Um mehr Konvergenz zu Es kann sich dabei um strukturelle Schwächen han- erreichen, müssen auch in den anderen Ländern des deln, die eine Änderung der Wirtschafts- und Sozial- Euroraums entsprechende Strukturanpassungen vorangetrieben werden. S. 177–231; Philip Steinberg, »Global Imbalances – Coordi- nating with Different Script Books«, in : Thorsten Beck/ 45 Heribert Dieter, Stubbornly Germany First: Options for Reduc- Hans-Helmut Kotz, Ordoliberalism: A German Oddity?, London: ing the World’s Largest Current Account Surplus, Berlin: Stiftung VoxEU, CEPR Press, 2017, S. 168. Wissenschaft und Politik, November 2018 (SWP Comment 44 John Springford/Simon Tilford, Why Germany’s Trade 48/2018); Jan Prieve, A Time Bomb for the Euro? Understanding Surplus Is Bad for the Eurozone, London: Centre for European Germany’s Current Account Surplus, Düsseldorf: Hans-Böckler- Reform, Dezember 2013/Januar 2014 (CER Bulletin 93), S. 3f. Stiftung, 2018 (IMK Studies Nr. 59), S. 28. SWP Berlin Deutschland, Frankreich und Italien im Euroraum Dezember 2018 18
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