DGAPanalyse Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich: Eine symbiotische Beziehung - DGAP eV
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DGAPanalyse Nr. 4 / März 2017 Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich: Eine symbiotische Beziehung Corentin Brustlein Zusammenfassung Als eine der offiziellen Nuklearmächte hält Frankreich auch lange nach Ende des Kalten Krieges an seinem Arsenal zur nuklearen Abschre- ckung fest – um sich gegen größere Bedrohungen zu wappnen und um die ei- gene Unabhängigkeit zu bewahren. Kernwaffen haben eine politisch-strategische Bedeutung, d. h. sie werden in Friedenzeiten dazu eingesetzt, jede direkte und bedrohliche Aggression eines anderen Staates zu unterbinden. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist das Arsenal an Kernwaffen in Frankreich aufgrund unilatera- ler und unwiderruflicher Entscheidungen von über 500 auf heute weniger als 300 Köpfe geschrumpft. Ebenso wurden eine größere Bandbreite an Reaktionsmög- lichkeiten und Maßnahmen geschaffen, welche die A bschreckungsstrategie ergän- zen. Momentan sind Frankreich und Europa direkt mit einer vermutlich d auerhaften Verschlechterung ihrer Sicherheitslage konfrontiert, weshalb sich eine Kürzung des Verteidigungsetats derzeit schwierig gestaltet. Zugleich scheint ein größerer Realismus hinsichtlich der Art und Ausprägungen der bestehenden Bedrohungen wie auch des Umfangs der erforderlichen Mittel geboten, um auf diese Bedrohun- gen angemessen reagieren zu können. Das Kommando über die Kernwaffen ist in Frankreich direkt an das Amt des Präsidenten gebunden, der ebenfalls eine zentra- le Rolle bei der Gestaltung und Ausübung der Außenpolitik des Landes einnimmt.
DGAPanalyse / Nr. 4 / März 2017
Inhalt 3 Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich: Eine symbiotische Beziehung Corentin Brustlein 3 Ein zentraler Aspekt der nationalen strategischen Kultur 4 Prinzipien und Realität der Selbstgenügsamkeit nach dem Kalten Krieg 4 Anpassung der Kräfte 5 Die angepasste Doktrin 6 Die weitere Entwicklung 6 Gegenwärtige und künftige Bedrohungen 8 Politik, Etat, Verteidigung – ein Ausblick 10 Anmerkungen DGAPanalyse / Nr. 4 / März 2017
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3 Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich: Eine symbiotische Beziehung Corentin Brustlein Seit Frankreich 1960 Nuklearmacht wurde, verfolgt es z unehmenden Risiken und Bedrohungen, denen Frank- eine Abschreckungspolitik, die sich bis heute an den reich ausgesetzt ist, muss gefragt werden, wie nachhaltig folgenden gleichbleibenden Konstanten orientiert: einem diese symbiotische Beziehung ist. beschränkten Arsenal hochentwickelter Waffen, das stets auf dem neuesten Stand ist, um jeden potenziellen Gegner abzuschrecken, und dessen Kontrolle in natio- Ein zentraler Aspekt der nationalen naler Hand liegt. Im Gegensatz zum – offiziellen oder strategischen Kultur inoffiziellen – Diskurs anderer Nuklearmächte, insbeson- An Frankreichs Entscheidung, Kernwaffen anzuschaffen dere der näheren Verbündeten, haben sich die politischen und diese auch nach dem Ende des Kalten Krieges zu Entscheidungsträger in Frankreich dabei immer wieder behalten, lassen sich verschiedene Besonderheiten der offen skeptisch gezeigt, was die vollständige Abschaffung strategischen Kultur des Landes festmachen. Infolge einer von Kernwaffen betrifft. Insofern hat das Land mit seiner Reihe historischer Erfahrungen stehen zwei Aspekte im Strategie der nuklearen Abschreckung wie auch mit sei- Zentrum der französischen Bestrebungen: zum einen, ner gesamten Atompolitik und seiner Außen- wie Vertei- sich gegen größere Bedrohungen zu wappnen, zum ande- digungspolitik oftmals eine Ausnahme dargestellt.1 ren, sich seine eigene Unabhängigkeit zu bewahren. In dieser Untersuchung werden die Grundlagen der Der Deutsch-Französische Krieg 1870-71 und die beiden französischen Abschreckungspolitik dargelegt und deren Weltkriege prägten die politischen und militärischen Einbindung in die Verteidigungspolitik des Landes analy- Eliten durch die Unzahl an Opfern, die Demütigungen siert. Diese beiden Elemente stehen in einer symbiotischen und den durch Niederlagen und Invasionen fortschrei- Beziehung, deren Ursprung in einer nationalen strategi- tenden Verlust an Freiheit (nach dem Zweiten Weltkrieg) schen Kultur liegt, die sich insbesondere aus den Erfahrun- nachhaltig, zuallererst Charles de Gaulle, der 1958 erster gen der beiden Weltkriege, des Scheiterns der IV. Republik Präsident der Fünften Republik wurde. Die Niederlage im und des Beginns des Kalten Krieges heraus entwickelt Indochinakrieg 1954 und der Zerfall des französischen hat. Diese Beziehung ist geprägt durch die wechselseitige Kolonialreichs und die Art und Weise, wie sich das Verei- Abhängigkeit zwischen der Verteidigungsstrategie und der nigte Königreich, Frankreich und Israel 1956 nach dem di- nuklearen Abschreckung in den Bereichen Politik, Kultur, plomatischen Druck der USA und Russlands aus der Suez- Militär und Industrie. Die Notwendigkeit der Landes- krise verabschiedeten, schürten in Frankreich das Verlan- verteidigung legitimiert die Abschreckung, die durch gen nach nationaler Autonomie und Stärke. Obwohl das konventionelle Mittel ergänzt wird. Und umgekehrt kann Land in beiden Weltkriegen von seinen Alliierten unter- Frankreich dank seines Abschreckungspotenzials sein stützt wurde, blieb der bittere Nachgeschmack, die Hilfe gesamtes Konfliktspektrum abdecken und stärkt zugleich sei zu zaghaft gewesen (Vereinigtes Königreich) oder zu seine militärischen und industriellen Kapazitäten. Wenn- spät gekommen (USA). Vor allem aber wurde durch die gleich Frankreichs Abschreckungspolitik verschiedene Gefahr der vollständigen Vernichtung des Landes durch größere Umwälzungen erlebt hat, zuletzt nach dem Ende Kernwaffen nach 1945 die Skepsis gegenüber dem Wert des Kalten Krieges, ist sie doch den Grundprinzipien der von Allianzen als Mittel zur Wahrung der eigenen Sicher- Selbstgenügsamkeit und Autonomie treu geblieben und heit weiter angestachelt: Die Sicherheitsgarantien, die die trägt heute in der französischen Außenpolitik gewiss am Alliierten angesichts einer Angriffsgefahr geben konnten, deutlichsten gaullistische Züge. Angesichts der rapiden hatten durch die enorm gestiegenen Risiken im Atomzeit- Verschlechterung des strategischen Umfelds und der alter extrem an Glaubwürdigkeit verloren. DGAPanalyse / Nr. 4 / März 2017
4 Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich So eröffnete das französische Atomprogramm, das entscheidet. Dies führte 1962 zu einer Verfassungsreform, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg aufgelegt wurde, ab wonach der Präsident in einer allgemeinen direkten Wahl Mitte der 1950er-Jahre eine militärische Dimension, die gewählt wird. Diese Sonderstellung des Präsidenten hat bis dahin nur im Stillen gewirkt hatte.2 Als die Entschei- bis heute Gültigkeit und sich zudem im Laufe von fünfzig dung erst einmal gefällt war, ging es mit der Umsetzung Jahren praktizierter Abschreckung noch ausgeweitet. Die sehr schnell: Den ersten Atomwaffentest unternahm verschiedenen Präsidenten haben sich jeweils eine be- Frankreich am 13. Februar 1960 in der algerischen Sahara, stimmte öffentliche Haltung angeeignet, die sich an ihrer die Indienstnahme der Mirage IV der französischen Funktion orientiert. Durch die Notwendigkeit, sich an strategischen Fliegerkräfte (FAS) folgte vier Jahre später Friedens- wie an Krisenzeiten anzupassen, ist die Inter- im Oktober 1964. Auf dieser Grundlage begann sich pretation der Lage des jeweiligen Staatspräsidenten von Frankreich mit einem Arsenal verschiedenster Kernwaf- zentraler Bedeutung, und zwar zum Grad der Bedrohung, fen auszustatten, das, obwohl es am Ende des Kalten zur Dimensionierung der nuklearen Vergeltungsmittel Krieges auf über 500 Nuklearsprengköpfe angewachsen und zur Vertretung der höchsten Interessen des Landes, war, einer Logik der „Selbstgenügsamkeit“ („stricte die den Griff zur Kernwaffe erforderlich machen würde.4 suffisance“) folgt: Für Frankreich als Mittelstaat ging es nicht darum, in der Waffenstärke dasselbe Niveau wie alle seine potenziellen Gegner zu erreichen, damals Prinzipien und Realität der insbesondere die UdSSR. Im Gegenteil sollte ein Arsenal Selbstgenügsamkeit nach dem Kalten Krieg aufgebaut werden, das durch seinen Umfang und seine technische Ausstattung und Einsatzmöglichkeiten sogar Anpassung der Kräfte eine Supermacht von dem Versuch abhielte, Frankreichs Mit dem Prinzip der Selbstgenügsamkeit („stricte vitale Interessen anzugreifen. Infolgedessen wurde die suffisance“) unterschied sich die französische von der Kernwaffe zum zentralen Element der französischen Ver- Haltung der beiden Großmächte. Beide waren in einen teidigungspolitik der 1960er-Jahre, da sie als ein glaub- qualitativen und quantitativen Wettbewerb getreten, der würdiges Mittel zum Schutz gegen größere Bedrohungen sowohl die Waffen als auch die Mittel der Durchsetzung von außen erschien, das Ungleichgewicht im Bereich der betraf – ballistische Raketen und Marschflugkörper, stra- konventionellen Waffen kompensierte und mithin auch tegische Bomber, Atom-U-Boote mit Interkontinentalra- die nationale Unabhängigkeit stärkte. Frankreich leitete keten, verschiedenste Systeme für taktische Atomschläge damit eine „nukleare Revolution“3 ein, die dem Land etc. Dagegen nimmt das Prinzip der Selbstgenügsamkeit politische Unabhängigkeit, diplomatische Stärke und die nicht das Arsenal des Gegners zur Grundlage, sondern Fähigkeit verschaffte, sein eigenes Territorium zu sichern, ein anderes entscheidendes Kriterium: die Einschät- was während der letzten Kriege mithilfe traditioneller zung, welcher Schaden für einen beliebigen potenziellen Waffen nicht gelungen war. Gegner nicht mehr akzeptabel wäre. Zu diesem zentralen Kernwaffen sind in Frankreich seit jeher an das Amt Kriterium kommen noch andere Faktoren hinzu, um als des Präsidenten gebunden, der wiederum eine zentrale Abschreckungsmacht in technischer und operationeller Rolle bei der Gestaltung und Ausübung der Außenpoli- Hinsicht glaubwürdig zu sein, das heißt die Fähigkeit, tik des Landes einnimmt. Diese Verbindung geht auf die Vergeltungsmaßnahmen mit dem minimal erwünschten Person de Gaulles zurück, der die Ansicht vertrat, die Zerstörungsgrad unabhängig von den Umständen (gegne- Außen- und Verteidigungspolitik gehöre zwingend in rischer Überraschungsangriff) und den Kapazitäten des das „Hoheitsgebiet“ des Präsidenten. Diese in der Verfas- betreffenden Staates (Raketenabwehrsysteme, geschütz- sung der V. Republik von 1958 festgehaltene Erklärung te Ziele etc.) tatsächlich durchführen zu können. Auf- wurde durch Frankreichs Anschaffung von Kernwaffen grund dieser Definition des eigenen Bedarfs entwickelte untermauert. Fortan setzte die Regierung alles daran, die sich also im Kalten Krieg eine Verteidigungsstrategie, die Abschreckung politisch wie organisatorisch glaubwürdig auf einer strategischen Triade beruht (Bomber des Typs erscheinen zu lassen. Ein entscheidender Punkt dabei Mirage IV, Atom-U-Boote mit ballistischen Interkontinen- ist, dass der Präsident allein entscheiden darf, ob eine talraketen der Klasse Le Redoutable, ballistische Boden- Kernwaffe gezündet wird, sodass schnell gehandelt wer- Boden-Raketen), ergänzt durch eine taktische (oder den kann. Die politische Glaubwürdigkeit basiert auf der „prästrategische“) Einheit mit Land- und Luftraketen, die Legitimität des Entscheidungsträgers, der im Falle einer im Falle einer Invasion in Europa und einer bevorstehen- Nuklearkrise über das Schicksal der gesamten Nation den Bedrohung der vitalen Interessen Frankreichs einen DGAPanalyse / Nr. 4 / März 2017
Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich 5 taktischen Atomschlag als sogenanntes „ultime avertis- Generation französischer Kernwaffen gewährleisten soll, sement“ (dt. „letzte Warnung“) vorsieht – als allerletztes ohne dazu Atomtests durchführen zu müssen. Warnsignal an den Gegner, ehe strategische Vergeltungs- maßnahmen angewandt würden. Die angepasste Doktrin Nach dem Ende des Kalten Krieges fällte Frankreich Nach dem Ende des Kalten Krieges blieb der Kern des mehrere bedeutende Entscheidungen, die eine Beschrän- französischen Abschreckungsprogramms auch aus kung des Abschreckungsmodells zum Ziel hatten, das aber doktrinärer Sicht erhalten, wurde aber in bestimmten zugleich aufrechterhalten werden sollte. Die einschnei- Punkten überarbeitet. Kernwaffen sind weiterhin ein dendsten Änderungen ordnete Jacques Chirac Mitte der Mittel, das nur unter Ausnahmebedingungen eingesetzt 1990er-Jahre an. Nach einer letzten Reihe von Atomtests werden sollte, wenn die vitalen Interessen des Landes 1995-1996 schloss er das Testpolygon in Französisch-Poly- bedroht wären und damit eine Situation legitimer Selbst- nesien, das späterhin abgerissen wurde, und unterzeichne- verteidigung einträte. Sie haben keine taktische, sondern te und ratifizierte den Kernwaffenteststopp-Vertrag. Auch politisch-strategische Bedeutung: Ihre Verwendung soll die Produktionsstätten für Spaltprodukte in Marcoule und nicht dazu dienen, auf einem bestimmten Operationsfeld Pierrelatte wurden geschlossen und abgerissen. Die 18 auf einen Vorteil gegenüber dem Feind zu erlangen. Vielmehr dem Plateau d’Albion eingerichteten Raketensilos wurden werden sie in Friedenszeiten dazu eingesetzt, jede direkte mitsamt Atomraketen und Nuklearköpfen zerstört. Die und bedrohliche Aggression eines anderen Staates zu Anzahl der Atom-U-Boote mit ballistischen Raketen der unterbinden. Im Gegensatz zur Strategie der nuklearen Force océanique stratégique (FOST) wurde von sechs auf Nötigung ist das einzige Ziel der Abschreckung die vier verringert, die Anzahl der Bombereinheiten der FAS Wahrung des Status quo. Dazu stützt sie sich auf einen von fünf auf drei und Ende der 2000er-Jahre auf zwei. glaubwürdigen Apparat, der jederzeit einsatzbereit ist, Die gesamte taktische Einheit wurde aufgelöst, sodass sowie auf einen öffentlichen Diskurs, der in offiziellen Do- die Mission des „ultime avertissement“ seither in Händen kumenten (vor allem den Weißbüchern zur Verteidigung der FAS-Einheiten liegt.5 In wenigen Jahren schrumpfte von 1994, 2008 und 2013) und den Reden des Präsidenten damit das Arsenal an Kernwaffen in Frankreich aufgrund zum Ausdruck kommt. Dies könnte in Krisenzeiten durch unilateraler und unwiderruflicher Entscheidungen von explizitere Warnungen gegenüber jedem Feind ergänzt über 500 auf heute weniger als 300 Köpfe. werden, der sich anschickt, den entscheidenden Schritt Die Einschnitte im Arsenal, in der Konzeption und zu weit zu gehen. Das sogenannte „ultime avertissement“ der Produktion der Waffen spiegeln den Dualismus des ist und bleibt – abgesehen von Vergeltungsschlägen – die Prinzips der Selbstgenügsamkeit: Eine Dimensionierung einzige Maßnahme, bei der die französischen Entschei- auf dem niedrigsten denkbaren Niveau, immer voraus- dungsträger die Verwendung einer Kernwaffe erlauben. gesetzt, dass dadurch nicht die Glaubwürdigkeit der Ab- Diese darf einzig eingesetzt werden, um einen Gegner zur schreckung und damit die nationale Sicherheit gefährdet Räson zu bringen, der die Glaubwürdigkeit der Warnung wird. Von daher können diese Einschnitte nur vollzogen infrage stellt, und soll mithin Frankreichs Entschlossen- werden, indem zugleich die Glaubwürdigkeit der fran- heit demonstrieren, sich zu verteidigen. zösischen Schlagkraft durch andere Initiativen gesichert Das Ende des Kalten Krieges bot für Frankreich die wird. Schon die höhere Leistungsfähigkeit der heutigen Gelegenheit, seine Verteidigungspolitik unter Verwen- Generation der Verteidigungssysteme im Vergleich dung nuklearer und konventioneller Waffen neu auszu- zur Ausstattung im Kalten Krieg (u. a. Reichweite und tarieren. Während des Kalten Krieges sollten sich beide Geschwindigkeit der Marschflugkörper der FAS, Reich- Waffenarten gegenseitig ergänzen: Das als Streitkorps weite der ballistischen Raketen der FOST und Anzahl der organisierte Gros der konventionellen Streitkräfte sollte Nuklearköpfe und Penetrationshilfen) – trotz der Redu- innerhalb des Bündnisses zur Verteidigung Westeuropas zierung des Arsenals und der gestiegenen Verteidigungs- beitragen und einen etwaigen Vormarsch des Warschauer kapazitäten potenzieller Gegner (bessere Luftverteidi- Pakts verhindern oder zumindest bremsen. Tatsächlich gung und immer effizientere Raketenabwehr) – sichert war das Streitkorps Sinnbild für die Entschlossenheit einen ausreichenden Grad an Glaubwürdigkeit.6 So hat Frankreichs, sich gegen jegliche Angriffe zur Wehr zu insbesondere das Kommissariat für Atomenergie (CEA) setzen, und eines der Mittel, um die Sowjetunion daran sogenannte „robuste“ thermonukleare Ladungen ent- zu hindern, die Abschreckung gewissermaßen buchstäb- wickelt7 und ein großangelegtes Simulationsprogramm lich „zu unterlaufen“. Bei einer Abschaffung der Panzer- initiiert, das die Zuverlässigkeit und Sicherheit der neuen truppen und der mechanisierten Streitkräfte wäre das DGAPanalyse / Nr. 4 / März 2017
6 Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich französische Hoheitsgebiet dem Vormarsch feindlicher Sarkozy und verfolgt auch François Hollande. Hollande Truppen schutzlos ausgeliefert gewesen, wodurch wie- erklärte dazu: „Das Mittel der Abschreckung gestattet derum nukleare Vergeltungsschläge an Glaubwürdigkeit uns, jederzeit unsere Handlungs- und Entscheidungsfrei- gewonnen hätten. Mit Beginn der 1990er-Jahre und dem heit zu bewahren, denn sie gestattet mir, jede drohende Golfkrieg legte die französische Verteidigungspolitik den Erpressung durch einen anderen Staat abzuwehren, die Fokus verstärkt auf Missionen im Bereich der Machtpro- beabsichtigte, unser Land zu paralysieren“.10 Parallel zum jektion, um auf die Gefahr einer Destabilisierung von Aufkommen neuer potenzieller Gegner auf staatlicher Zonen strategischen Interesses durch regionale Mächte Ebene und den Möglichkeiten, die sich durch bessere reagieren zu können. Die Zunahme der Kapazitäten für Ausrüstung ergeben (insbesondere dank der höheren Auslandseinsätze, die sich im Weißbuch zur Verteidigung Präzision der Kernwaffenträger und der besseren Informa- von 1994, den Reformen 1996 bis 1997 und der Loi de Pro- tion durch die Geheimdienste), bildete sich in Frankreich grammation Militaire, einem Gesetz zur langfristigen eine neue Politik heraus, welche Ziele im Falle eines Falles Planung der Militärausgaben, zwischen 1997 und 2002 anzugreifen seien. Nachdem traditionell eine sogenannte nachverfolgen lässt, hat dementsprechend einen Rück- „anti-cité“-Strategie verfolgt worden ist, bei der die großen gang des Abschreckungspotenzials in der französischen Ballungszentren des Gegners anvisiert wurden, um die Verteidigungsstrategie zur Folge.8 Diese neue Gewich- Bevölkerung mit größtmöglicher Wirkung zu dezimieren, tung, die wieder mehr auf konventionelle Verteidigung hat Frankreich zum Jahrtausendwechsel seine Strategie setzt, resultierte aus einer Neubewertung der politischen geändert, um nunmehr „die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Entscheidungsträger in Frankreich. und militärischen Machtzentren“11 des Gegners zu treffen. Danach verlangten die derzeitigen und vorhersehbaren Hinsichtlich der deklaratorischen Politik schließlich Bedrohungen nach einer größeren Bandbreite an Reak- bewahrt Frankreich in weiten Zügen seine historische tionsmöglichkeiten und insbesondere nach Maßnahmen, Haltung zur nuklearen Abschreckung, auch „du faible au um die Abschreckungsstrategie zu ergänzen. Was bis dato fort“ genannt („von schwach zu stark“). Die Politik des zentrales Element der Landesverteidigung gewesen war, Verzichts auf den Erstschlag (no first use) stand von An- sollte nun durch eine Handlungsstrategie komplemen- fang an dem Prinzip der französischen Abschreckungspo- tiert werden, die sich auf den Einsatz professionalisierter litik diametral entgegen, die diesen ja gerade als Reaktion und modernisierter klassischer Streitkräfte stützt. Wo auf die Androhung einer konventionellen Invasion vorsah. keine unmittelbare, existenzgefährdende Bedrohung Insofern wird diese Verpflichtung von den französischen seiner vitalen Interessen vorliegt, kann Frankreich damit Entscheidungsträgern allgemein als Minderung der eige- besser außerhalb seiner eigenen Landesgrenzen agieren, nen Glaubwürdigkeit angesehen: Kein politischer Ent- sei es, um seine Pflichten als permanentes Mitglied des scheidungsträger sähe sich tatsächlich durch eine solche UN-Sicherheitsrats zu erfüllen, sei es, um seine eigenen unilaterale Verpflichtung gebunden, sollten die vitalen nationalen Interessen im Ausland zu vertreten. Interessen des Landes durch einen Feind bedroht sein. Der Diese Umwälzung in der französischen Verteidigungs- Verzicht auf den Erstschlag besteht nach wie vor. Er wird politik hat, wenngleich sie natürlich vor allem die kon- jedoch durch negative Sicherheitsgarantien gegenüber ventionellen Streitkräfte betrifft, auch Auswirkungen allen Ländern ergänzt, die den Atomwaffensperrvertrag auf die Abschreckungsstrategie des Landes, was sich seit unterzeichnet haben und ihrerseits ihre Verpflichtungen Anfang der 2000er-Jahre bemerkbar macht. Das gleich- einhalten. Dieses Prinzip betonte Hollande zuletzt aus- zeitige Aufstreben regionaler Gegner und die exponen- drücklich in einer Rede zur eigenen Abschreckungspolitik tiell steigende Zahl von Massenvernichtungswaffen im Februar 2015.12 und Kernwaffenträgern stellt Frankreich vor ein neues Problem: Eine mögliche Erpressung durch die Androhung des Gebrauchs nuklearer, chemischer oder biologischer Die weitere Entwicklung Waffen, womit Frankreichs Handlungsfreiheit außerhalb des eigenen Landes eingeschränkt würde. Seit der ersten Gegenwärtige und künftige Bedrohungen Präsidentschaft Jacques Chiracs ist daher die nukleare Seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammen- Abschreckung ein wichtiges Mittel, um sich gegen eine bruch der Sowjetunion sowie des Warschauer Paktes solche Erpressung zu schützen, die das Land derart pa- stellen die französischen Entscheidungsträger die nukle- ralysieren würde, dass es seine eigenen Interessen nicht are Abschreckung als eine Art „Lebensversicherung“ für mehr verteidigen könnte.9 Dieselbe Linie verfolgte Nicolas die nationale Sicherheit dar. Sie gilt als Werkzeug, das DGAPanalyse / Nr. 4 / März 2017
Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich 7 verfügbar sein sollte, weil nicht alle Bedrohungen, die aber werden diese destabilisierenden Aktionen von Frankreichs vitale Interessen gefährden könnten, im inweisen auf russische Nuklearwaffen begleitet, die H Voraus identifizierbar seien. Tatsächlich richteten sich gegen westliche Großstädte gerichtet sein sollen. Zudem Frankreichs Prioritäten in der Verteidigungspolitik auf sind der Abschuss von Raketen mit nuklearer Sprengkraft Auslandseinsätze, die dem Erhalt des Friedens dienen und vermehrte Übungen mit strategischen Raketen14 zu oder Maßnahmen als Reaktion auf Aufstände oder verzeichnen. Dies geht einher mit einer Rhetorik, die auf Terrorismus darstellten. Ende der 2000er-Jahre fürchtet die großen nuklearen Kapazitäten Russlands hinweist. man eine „strategische Überraschung“, die das Ende einer Außerdem gibt es Patrouillen strategischer Bomber mit Periode vergleichsweise großen Einverständnisses unter großer Reichweite in Küstennähe u. a. Westeuropas, den Großmächten und den Beginn einer Ära zwischen- Nordamerikas und Japans.15 In Kombination mit der staatlicher Spannungen einläuten könnte und sogar die Modernisierung der russischen strategischen Streitkräfte Gefahr eines größeren Krieges berge.13 zeigen die von Russland ausgesendeten nuklearen Signa- Seither hat sich die strategische Sicherheit Frankreichs le der letzten Jahre eine beunruhigende Verschiebung in und Europas tiefgreifend und dauerhaft destabilisiert. Russlands Haltung hin zu einer nuklearen Strategie, die Die Folgen des arabischen Frühlings und die im gesamten mit doktrinärer Zweideutigkeit operiert. Dabei oszilliert Mittelmeerraum wie auch im Nahen Osten zunehmende diese zwischen Abschreckung und Nötigung und der ge- Zahl an Bürgerkriegen, der wachsende Einfluss dschiha- zielten Infragestellung des territorialen Status quo.16 distischer Gruppen in der Sahelzone und nicht zuletzt die Obwohl sich Frankreich heute durch den IS mit der terroristischen Anschläge in Frankreich, insbesondere Rückkehr eines Feindes im umfassendsten Sinn des seit Januar 2015, stellen das Land vor ganz unterschied- Begriffes konfrontiert sieht, scheint es unwahrscheinlich, liche Sicherheitsfragen, die aber zugleich miteinander in dass der nuklearen Abschreckung in den nächsten zehn Verbindung stehen. Als erste Reaktion hat Paris verschie- Jahren drastisch weniger Bedeutung zukommen wird – dene Operationen im Ausland durchgeführt (Sahelzone, das heißt, in jenem Jahrzehnt, in dem die Sicherung des Irak und Syrien sowie friedenserhaltende Maßnahmen in Fortbestands des französischen Waffenarsenals bis zu der Zentralafrikanischen Republik und in Libanon), seit den Jahren 2040 bis 2050 eingeleitet und im Wesentli- 2015 dann auch im Inland. Inzwischen erreicht Frank- chen auch realisiert werden müsste. François Hollande reich regelmäßig das im Weißbuch von 2013 festgelegte erinnert in seiner Rede zur nuklearen Abschreckung Quantum an Einsätzen und Operationen seiner Streit- 2015 in Istres in Bezug auf die Ukrainekrise daran, dass kräfte oder überschreitet es sogar. „Frieden niemals als gesichert erachtet“ werden dürfe Diese Destabilisierung, die wie in einer Kettenreak und „die Möglichkeit eines staatlichen Konflikts, der tion vonstattengegangen ist und einen Bogen von uns direkt oder indirekt betrifft, nicht ausgeschlossen“17 Mauretanien bis nach Afghanistan gespannt hat, ist von werden könne. Auf ähnliche Weise weist der Verteidi- Signalen begleitet, die immer wieder die Gefahr eines gungsminister in seinem Buch Qui est l’ennemi? (dt. „Wer größeren Krieges in Erinnerung rufen, wie es seit Ende ist der Feind?“) darauf hin, dass es unabdingbar sei, „über des Kalten Krieges nicht mehr der Fall gewesen ist. Die den gegenwärtigen Feind hinaus“18 zu denken, um auf Provokationen Nordkoreas und die Territorialstrategie künftige Risiken vorbereitet zu sein, die durchaus auch Chinas, das im Chinesischen Meer vollendete Tatsachen von staatlichen Akteuren ausgehen könnten. Zur Stunde geschaffen hat, stellen eine zwar ferne, aber reale Gefahr haben die Entscheidungsträger trotz der terroristischen dar. Russlands Verhalten in Osteuropa hingegen hat Bedrohung Sicherheitsrisiken größerer Dimension für eine fortschreitende Destabilisierung der europäischen Frankreich und für Europa – aus gutem Grund – noch Sicherheitsordnung zur Folge. Russland hat eine Strate- nicht vollständig aus ihren Überlegungen verdrängt. gie entwickelt, die es selbst als defensiv betrachtet, die Die Bedrohungen, seien sie regulärer oder irregulä- aber in Wahrheit eine Änderung des territorialen Status rer, konventioneller oder nicht-konventioneller Natur, quo durch den begrenzten oder indirekten Einsatz von ersetzen einander nicht, sondern überlagern sich in einer Streitkräften zum Ziel hat; etwa bei der Annexion der gegebenen strategischen Umgebung oder können sich so- Krim oder der Destabilisierung der Ostukraine mit Unter- gar zu einem spezifischen Operationsfeld akkumulieren. stützung separatistischer Milizen, wo russische Eliteein- Insofern ist es für die Entscheidungsträger des Landes heiten und neueste Mittel konventioneller Kriegsführung heute wichtiger denn je, sich nicht aus dem „oberen Spek- (u. a. moderne Artillerie, elektronische Kampfführung, trum“ der Konflikte zurückzuziehen, vor allem angesichts Boden-Luft-Abwehr) eingesetzt worden sind. Vor allem der Ungewissheit, inwieweit sich die USA unter Präsident DGAPanalyse / Nr. 4 / März 2017
8 Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich Trump künftig in Europa und in der Welt engagieren Rahmen nationaler Ambitionen, insbesondere bei der Fra- werden. ge der strategischen Autonomie, oder um den Aufbau und Frankreich verfolgt keine Verteidigungsstrategie mit Erhalt militärischer Kapazitäten und operationeller Exper erweiterter Abschreckung, bei der ein Staat einem Ver- tise – in all diesen Bereichen ist die nukleare Abschre- bündeten, der keine Kernwaffen besitzt, Schutzgarantien ckung ein strategischer Grundpfeiler der französischen gibt – einschließlich der Drohung, gegen einen etwaigen Politik. Auf ihrer Grundlage hat Frankreich den stärksten Aggressor nukleare Waffen einzusetzen. Seine Strategie und fähigsten Militärapparat in ganz Europa unterhalten gründet im Gegenteil auf der Unzulänglichkeit einer sol- können, der vor allem in den vergangenen Jahren höchste chen erweiterten Abschreckung und hat das alleinige Ziel, Wertschätzung durch den Staat erfahren hat.21 die vitalen Interessen des eigenen Landes zu schützen. Doch obwohl es auf höchster Staatsebene keinen Dies bedeutet indes nicht, dass französische Abschreckung Grund zu geben scheint, das Prinzip der glaubwürdigen und europäische Sicherheit nicht korrelieren. So erkennt Abschreckung infrage zu stellen, könnten erhebliche die NATO seit 1974 den Beitrag der französischen Abschre- äußere Zwänge dessen Aufrechterhaltung womöglich ckung zur europäischen und transatlantischen Sicherheit verhindern. Entsprechend dem Prinzip der Selbstge- an. Zudem haben alle Präsidenten seit de Gaulle betont, nügsamkeit liegt Frankreichs Bestreben derzeit allein dass sich die Bedeutung vitaler Interessen nicht allein darin, den aktuellen Kernwaffenbestand zu erhalten und auf nationales Territorium beschränke, sondern auch das dabei zu gewährleisten, dass dieser angesichts der von Schicksal seiner Nachbarn und nach Ende des Kalten Krie- potenziellen Gegnern ergriffenen Gegen- und Verteidi- ges auch die zunehmenden Interdependenzen zwischen gungsmaßnahmen glaubwürdig bleibt. Trotz der strikten den nationalen Interessen Europas berücksichtigen müs- Eingrenzung der Ziele werden aber in den nächsten zehn se.19 François Hollande signalisierte in seiner Rede vom Jahren wachsende Ausgaben erforderlich sein, nicht Februar 2015, dass er mit dieser Ausrichtung vollkommen zuletzt wegen der Kiellegung der Atom-U-Boote mit übereinstimmt: „Die Definition unserer vitalen Interessen Interkontinentalraketen der dritten Generation (SN3G), darf sich nicht auf die nationale Ebene beschränken, da der Produktion der nächsten Marschflugkörper und der Frankreich seine Verteidigungsstrategie, auch auf dem Weiterentwicklung des Simulationsprogramms.22 Die Gebiet der Kernwaffen, nicht isoliert entwickelt. […] Wir Abschreckung nimmt derzeit fast 20 Prozent des Ausrüs- sind Teil des europäischen Projekts, wir bilden gemeinsam tungsetats des Verteidigungsministeriums ein, das sind mit unseren Partnern eine Schicksalsgemeinschaft und ca. 3,5 Milliarden Euro im Jahr. Schätzungen zufolge Frankreichs nukleare Abschreckung ist ein starker und könnte der Bedarf bis Mitte der 2020er-Jahre auf annä- wichtiger Beitrag für Europa. Darüber hinaus erklärt sich hernd 6 Milliarden Euro ansteigen.23 Zu diesem Zeitpunkt Frankreich mit seinen europäischen Partnern faktisch und werden die aufzuwendenden Haushaltsmittel parallel zur emotional solidarisch. Insofern kann niemand glauben, Erneuerung der beiden genannten Komponenten ihren dass ein Angriff, der das Überleben Europas gefährden Höchststand erreichen, ehe sie dann wieder sinken. könnte, keine Konsequenzen hat.“20 Angesichts der Erfordernisse im Bereich konventionel- ler Waffen (u. a. Modernisierung, Truppenverstärkung Politik, Etat, Verteidigung – ein Ausblick und -erneuerung, Austausch der Ausrüstung, die durch Es scheint derzeit keinen Anlass zu geben, Frankreichs den intensiven operationellen Einsatz schnell verschleißt) nukleare Strategie prinzipiell und längerfristig infrage und ohne eine Steigerung im Gesamtvolumen des Ver- zu stellen. Die Verteidigungspolitik des Landes ist in teidigungshaushalts könnten sich die Finanzpläne des ihrer heutigen Form nach wie vor vom konzeptionellen französischen Verteidigungsministeriums als unhaltbar Unterbau de Gaulles geprägt. Ihm verdankt die Strategie herausstellen. Bei konstant bleibendem Etat wird die der nuklearen Abschreckung ihre Sinngebung und ihre Aufrechterhaltung des Abschreckungsniveaus vermutlich grundlegende Ausrichtung, wodurch sich eine dauerhaf- Entscheidungen notwendig machen und Verdrängungs- te symbiotische Beziehung zwischen der allgemeinen effekte auf die Kapazitäten konventioneller Waffen haben, Verteidigungspolitik und der nuklearen Abschreckung die zwar teilweise durch höhere Expertise und bessere entwickelt hat. Diese symbiotische Beziehung zeigt sich Ausrüstung kompensiert werden, sich aber letztlich für auch heute noch in Fragen der Politik, Kultur und Vertei- die französische Außenpolitik im Kontext neuerlicher digung. Ob es dabei um übergreifende Konzepte geht, die Bedrohungen als schädlich erweisen könnten.24 Frankreichs Platz im weltweiten Kräfteverhältnis und im Trotz dieser Gefahr ist sich die Politik weitgehend internationalen Krisenmanagement betreffen, um den einig darin, die gewohnte Abschreckungsstrategie DGAPanalyse / Nr. 4 / März 2017
Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich 9 beizubehalten, mit Ausnahme weniger Mitglieder der übereilter oder simplifizierender Überlegungen werden Union des Démocrates et Indépendants (UDI), der könnte, die eine neue Prioritätensetzung fordern. Letzte- Grünen und einiger linksextremer Parteien 25 – allesamt re hätte wiederum zur Folge, dass das Land in Zukunft ge- Parteien, die bei den Parlamentswahlen bislang nur genüber größeren Bedrohungen durch feindliche Staaten schwach abgeschnitten haben und in der politischen nicht mehr ausreichend gewappnet wäre. Ausrichtung des Landes wohl auch weiterhin kaum eine Zur Stunde scheint die Situation nicht katastrophal zu Rolle spielen werden. In der Zivilgesellschaft sind in den sein. Sie bietet aber auch keinen Anlass zur Beruhigung, vergangenen Jahren mehrere Abrüstungsinitiativen ins insbesondere weil die Mittel des Verteidigungshaushalts Leben gerufen worden, um nach den internationalen so eng sind, dass die nächsten Jahre ganz entscheidend Konferenzen zu den humanitären Auswirkungen von werden. Angesichts der zunehmenden Zahl von Attenta- Kernwaffen (Oslo, Nayarit, Wien) und der Resolution zur ten, die vom IS unterstützt oder angeregt werden, sowie nuklearen Abrüstung, die am 7. Dezember 2015 von der der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zwischen Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschie- April und Juni 2017 überbieten sich die Kandidaten ge- det wurde, in Frankreich eine weiterreichende Debatte genseitig mit Forderungen, den Verteidigungsetat in den auszulösen.26 Die von Befürwortern durchgeführten kommenden zehn Jahren massiv aufzustocken. Obwohl Meinungsumfragen ergeben wenig überraschend (auch die Vorschläge allgemein die Erneuerung der beiden in Bezug auf die Art der Fragestellung) eine breite Un- Komponenten der nuklearen Abschreckung miteinschlie- terstützung der Initiativen zur nuklearen Abrüstung. Die ßen,28 lässt sich den Wahlprogrammen nicht entnehmen, Umfragen, die das Verteidigungsministerium in Auftrag ob die Aufstockung der Mittel abgesichert und schnell gegeben hat, formulieren hingegen offenere und kom- genug erfolgen würde, um Entscheidungen zu verhindern, plexere Fragen, ohne indes nach der Beteiligung an einer die sich negativ auf die Kapazitäten auswirken würden. Abrüstungsinitiative zu fragen. Laut diesen Erhebungen Auch das Gegenteil ist nicht ausgeschlossen, nämlich sehen 60 bis 70 Prozent der französischen Bevölkerung dass es aufgrund von Sparzwang gar nicht erst zu einer die Möglichkeit der nuklearen Abschreckung als eine Stabilisierung des Verteidigungsetats kommt. Die mit Stärke ihres Landes, halten diese auch für glaubwürdig dem Planungsgesetz 2014-2019 ohnehin bereits von der und erachten eine Kombination nuklearer und konventi- derzeitigen Regierung beschlossene Erhöhung der Ver- oneller Waffen als notwendig, um Frankreichs Sicherheit teidigungsmittel beizubehalten und umzusetzen nähme zu gewährleisten.27 Ob es am politischen System Frank- schon den Druck vom französischen Verteidigungsap- reichs liegt oder ob eine stärkere Strömung im Land fehlt, parat. Somit würde auch die Gefahr eines Bruchs der die sich gegen Kernwaffen ausspricht, jedenfalls scheint symbiotischen Beziehung zwischen Abschreckungspolitik die öffentliche Meinung wenig Wirkmacht im Bereich der und Verteidigungspolitik eingedämmt. künftigen Ausrichtung der französischen Verteidigungs- Frankreich und Europa sind direkt mit einer rapiden politik inklusive ihrer nuklearen Strategie zu besitzen. und vermutlich dauerhaften Verschlechterung ihrer Eine Änderung der Sichtweise in Bezug auf den Fortbe- Sicherheitslage konfrontiert, weshalb sich eine Kürzung stand des französischen Kernwaffenarsenals könnte sich des Verteidigungsetats derzeit verbietet. Aber zugleich demzufolge also nur vollziehen, wenn verschiedenste scheint ein größerer Realismus hinsichtlich der Art und kritische Faktoren aufeinanderträfen. In Folge auftre- Ausprägungen der bestehenden Bedrohungen wie auch tende terroristische Angriffe auf Frankreich mit dem des Umfangs der erforderlichen Mittel geboten, um auf Ziel, möglichst viel Schaden anzurichten und das Land diese Bedrohungen angemessen reagieren zu können. zu destabilisieren, würden den Etat kurzfristig belasten, sich auf die politische Positionierung auswirken und die Wahrnehmung der politischen Klasse und der Öffentlich- Corentin Brustlein ist Leiter des Zentrums für Sicherheits- keit hinsichtlich der strategischen Prioritäten Frankreichs studien am Institut français des relations internationales langfristig auf die Probe stellen. Die nukleare Abschre- (Ifri), Paris. ckung kann nicht dazu dienen, Frankreich vor Terroris- mus zu schützen, sodass sie durchaus zum Gegenstand Aus dem Französischen von Frank Sievers. DGAPanalyse / Nr. 4 / März 2017
10 Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich Anmerkungen 1 Die Nuklearpolitik umfasst nicht nur die (abgerufen am 28.10.2016). des konservativen Lagers, François Fillon, hat allerdings nicht behandelt werden. Zum Thema 11 Vgl. Jacques Chirac, Abschlussrede am Institut allerdings in seinem Programm keinen Bezug nukleare Ausnahme vgl. Corentin Brustlein, des Hautes Etudes de Défense Nationale, Paris, darauf genommen; unter Federführung von Leila France: The Evolution of a Nuclear Exception, 8.6.2001, (abgerufen am der Commission des affaires étrangères et de la Nuclear Proliferation, Abingdon 2012, S. 116- 28.2.2017). Défense du Sénat (Kommission für ausländische 131; Camille Grand, A French Nuclear Excepti- 12 Vgl. Hollande, Discours sur la dissuasion nuc- Angelegenheiten und Verteidigung im Senat) on?, Occasional Paper Nr. 38, Stimson Center, léaire, a.a.O. (Anm. 10). wurde ein Livre vert sur la Défense („Grünes Buch Januar 1998; und Jean Guisnel, Bruno Tertrais, 13 Vgl. Corentin Brustlein, La surprise stratégique. der Verteidigung“) erstellt. Dieses noch vor der Le Président et la Bombe. Jupiter à l’Elysée, Paris De la notion aux implications, Paris, Ifri – Focus Annexion der Krim durch Russland verfasste 2016. Zur Eingrenzung des Begriffs der nukle- stratégique, Oktober 2008. Dokument ist bereits relativ vorsichtig, was die aren Ausnahme vgl. Nicolas Giacometti, The 14 Vgl. Johan Norberg, Training to Fight. Russia’s Frage der Abschreckung betrifft, und ruft zu ei- Lonely Frenchman? The Evolution of the French Major Military Exercises, 2011-2014, Stockholm, ner „allmählichen Abrüstung in Abstimmung mit Exception in the Nuclear Domain, Entwurf, 2015, Schwedisches Forschungsinstitut für Verteidi- allen anderen Nuklearmächten“ auf, vgl. Livre noch nicht erschienen. gung (FOI), 2015. Vert sur la Défense, Paris 2014, S. 92. 2 Vgl. Dominique Mongin, La bombe atomique 15 Vgl. Thomas Frear, Lukasz Kulesa, Ian Kearns, 26 Vgl. zum Beispiel den vor Kurzem gegründe- française, 1945-1958, Brüssel 1997. Dangerous Brinkmanship: Close Military En- ten Verband Initiatives pour le désarmement 3 Vgl. Bernard Brodie (Hrsg.), The Absolute Wea- counters Between Russia and the West in 2014, nucléaire („Initiativen für nukleare Abrüstung“), pon. Atomic Power and World Order, New York London, European Leadership Network, Policy (abgerufen am 1946; Robert Jervis, The Meaning of the Nuclear Brief, 2014. 10.3.2017). Revolution, Ithaca 1989. 16 Vgl. Dmitry Adamsky, Cross-Domain Coercion. 27 Laut der 2015 durchgeführten Umfrage, die 4 Vgl. Guisnel, Tertrais, Le Président et la Bombe, The Current Russian Art of Strategy, Paris, Ifri, von der Gruppe Action des Citoyens pour le a.a.O. (Anm. 1), insbesondere das 11. Kapitel. Proliferation Papers, November 2015; Olga Désarmement Nucléaire („Aktion der Bürger für 5 Technisch spricht nichts dagegen, dass die U- Oliker, Russia’s Nuclear Doctrine. What We nukleare Abrüstung“) in Auftrag gegeben wurde, Boote der FOST einen Nuklearschlag als „ultime Know, What We Don’t, and What That Means, sind 75 % der Bevölkerung für die Aushandlung avertissement“ ausführen. Wahrscheinlicher ist Washington, Center for Strategic and Internati- eines multilateralen Vertrags, der Kernwaffen jedoch, dass die Entscheidungsträger eher auf onal Studies, Mai 2016; Kristin Ven Bruusgaard, verbietet, jedoch ohne einen zeitlichen Horizont die FAS zurückgreifen würden, allein weil sie „Russian Strategic Deterrence“, in Survival, Bd. oder die Bedingungen für dessen Umsetzung zu sichtbar sind, während die Hauptmission der 58, Nr. 4, August/September 2016, S. 7-26. nennen oder die positiven Effekte zu diskutie- FOST darin besteht, möglichst diskret zu agieren 17 Vgl. Hollande, Discours sur la dissuasion nuc- ren, die der Besitz dieser Waffe mit sich bringt, und nukleare Vergeltungsschläge durchzufüh- léaire, a.a.O. (Anm. 10). vgl. Baromètre externe de la défense, Paris, ren. 18 Vgl. Jean-Yves Le Drian, Qui est l’ennemi?, Paris DICOD-LH2, 2013; Les Français et l’interdiction 6 Ein aktueller Überblick über diese beiden 2016. et l’élimination complète des armes nucléaires, Gebiete findet sich in Emmanuel Delorme, Bruno 19 Ein nützlicher historischer Abriss zu diesem Paris, IFOP-ACDN, 2015. Gruselle, Guillaume Schlumberger, La nouvelle Thema findet sich in Bruno Tertrais, La France et 28 François Fillon (Les Républicains), Benoît Ha- Guerre des étoiles. Idées reçues sur la défense la dissuasion nucléaire. Concept, moyens, avenir, mon (Parti Socialiste) und Marine Le Pen (Front antimissile, Paris 2013; und Corentin Brustlein, Paris 2007, S. 111-116. National) haben sich alle drei dafür ausgespro- Etienne de Durand, Elie Tenenbaum, La sup- 20 Vgl. Hollande, Discours sur la dissuasion nuc- chen, die nukleare Abschreckung aufrechtzu- rématie aérienne en péril. Menaces et contre- léaire, a.a.O. (Anm. 10). erhalten, vgl. Défendre nos valeurs, exige une stratégies à l’horizon 2030, Paris 2014. 21 Vgl. insbesondere David Revault d’Allonnes, Les armée forte, (abgerufen am 1.3.2017); Benoît dieselbe Wirkung wie die letzte Generation ther- 22 François Hollande verkündete in Istres, dass die Hamon propose de porter à 3% le budget de l’Etat monuklearer Waffen, die noch realiter getestet SN3G eine ähnliche Tonnage haben werden wie pour la „défense“ et la „sécurité“, in: Le Monde, wurden (TN-75 und TN-81), haben aber einen die derzeitige U-Boot-Generation der Klasse Le 6.1.2017; 144 engagements présidentiels, (abge- tionsweise während der gesamten Lebensdauer körper mit Nuklearkopf ASMP-A der Luftkräfte rufen am 1.3.2017). Emmanuel Macron kündigte garantiert, was anhand von Simulationen über- ersetzen wird, soll hypersonische Geschwin- ebenfalls an, die Verteidigungsausgaben auf 2 prüft wurde, die keinen tatsächlichen Testein- digkeiten erzielen können (Mach 7 oder 8). Vgl. % des BIP anzuheben, bleibt aber vage in Bezug satz mehr erfordern. Die letzten beiden von der Hollande, Discours sur la dissuasion nucléaire, auf die nukleare Abschreckung, Philippe Peyre, CEA entwickelten Waffenarten, der „Tête Nuc- a.a.O. (Anm. 10). Anhörung des Generals Denis Défense, renseignement … Macron dévoile léaire Aéroportée“ (fliegender Nuklearspreng- Mercier, des Oberbefehlshabers der Luftstreit- son projet de lutte contre le terrorisme, rtl.fr, kopf, TNA, seit 2009 bei den FAS im Einsatz) und kräfte, Commission de la Défense nationale et 4.2.2017, Ineinsatznahme bei der FOST 2016), beruhen auf sammlung, 15.4.2014, (Front de Gauche) hat sich in der derzeitigen hörung von Daniel Verwaerde in: Serge Vinçon, (abgerufen am 3.1.2017). Kampagne noch nicht zu Verteidigungsfragen La dissuasion nucléaire: quel rôle dans la défense 23 Vgl. Guisnel, Tertrais, Le Président et la Bombe, geäußert. 2012 hatte er sich für die Abschaffung française aujourd’hui?, Rapport d’information a.a.O. (Anm. 1), S. 275-276. der Luftkomponente ausgesprochen unter Bei- Nr. 36 (2006-2007) im Namen der Commission 24 Vgl. eine aktuelle Analyse über den künftigen behaltung der maritimen Komponente bei gleich- des affaires étrangères (Kommission für auslän- Bedarf für die Truppenentsendung aus Frank- zeitiger multilateraler nuklearer Abrüstung, vgl. dische Angelegenheiten), 24.10.2006, S. 25-31. reich, Corentin Brustlein, L’entrée en premier et Laurent Lagneau, Elections 2012: Jean-Luc Mé- 8 Vgl. Bastien Irondelle, La réforme des armées en l’avenir de l’autonomie stratégique, Paris, Ifri, lenchon veut accorder aux militaires le droit de France, Paris 2011, S. 12-17. Focus stratégique, November 2016. se syndiquer, 6.4.2012, (abgerufen am 1.3.2017). suasion nucléaire – Déplacement auprès des zu entfernen, diesbezügliche Vorschläge hat forces aériennes stratégiques, Istres, 19.2.2015, etwa der ehemalige Verteidigungsminister DGAPanalyse / Nr. 4 / März 2017
Nukleare Abschreckung und Verteidigungspolitik in Frankreich 11 DGAPanalyse / Nr. 4 / März 2017 Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. This work is licensed under a Creative Commons Attribution – NonCommercial – NoDerivatives 4.0 International License. Die DGAP trägt mit wissenschaftlichen Untersu- Herausgeber chungen und Veröffentlichungen zur Bewertung DGAP e.V. internationaler Entwicklungen und zur Diskus- sion h ierüber bei. Die in den Veröffentlichungen geäußerten Meinungen sind die der Autoren. ISSN 1611-7034 Rauchstraße 17 / 18 . 10787 Berlin Tel. +49 (0)30 25 42 31 -0 / Fax -16 Layout / Satz Reiner Quirin info@dgap.org . www.dgap.org Designkonzept Carolyn Steinbeck · Gestaltung
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