Diagnostik von psychischen Faktoren bei chronischem Pruritus

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Der Hautarzt
       Leitthema

      Hautarzt 2020 · 71:506–510                    G. Schneider
      https://doi.org/10.1007/s00105-020-04596-1    Sektion für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinik für Psychische Gesundheit, Münster,
      Online publiziert: 28. April 2020             Deutschland
      © Der/die Autor(en) 2020

                                                    Diagnostik von psychischen
                                                    Faktoren bei chronischem
                                                    Pruritus

      Pruritus ist ein häufiges Symptom in der       ßern [10, 27]. Daraus können sich kli-                  Einschränkungen der Lebensqualität,
      Allgemeinbevölkerung [7], in dermato-         nisch relevante psychische Störungen                 Angst und Depressivität können auch
      logischen Praxen und Kliniken [6, 11,         wie Anpassungsstörungen, Angst- oder                 mittels validierter und reliabler psycho-
      13] sowie in Hausarzt- oder internis-         depressive Störungen, teils sogar mit                metrischer Instrumente erfasst werden.
      tischen Praxen [15], da er sowohl als         Suizidalität, entwickeln [2].                        Die Langfassung der S2k-Leitlinie zur Di-
      Symptom primärer Hauterkrankungen                Die Diagnostik kann durch die Ana-                agnostik und Therapie des chronischen
      als auch als Symptom systemischer Er-         mnese oder auch durch den Einsatz psy-               Pruritus [23] empfiehlt die in . Tab. 2
      krankungen (z. B. bei Niereninsuffizienz,       chometrischer Instrumente erfolgen.                  aufgeführten Fragebögen.
      Diabetes mellitus u. a.) auftreten kann. In      Für die Diagnose depressiver Störun-                 Geschlechtsspezifische Unterschiede
      manchen Fällen ist auch keine dem chro-       gen können folgende 2 Screeningfragen                wurden insoweit gezeigt, dass Frauen
      nischen Pruritus (CP) zugrunde liegende       gestellt werden – mit einer Sensitivität             höhere Pruritusintensitäten angeben als
      körperliche Ursache nachweisbar, oder         von 96 % und einer Spezifität von 57 %                Männer sowie eine höhere Ausprägung
      es liegt ein multifaktoriell verursachter     ein sehr zeitökonomisches Vorgehen [4,               von Ängstlichkeit und Depressivität [22,
      CP vor [23]. Dabei können psychische          28]:                                                 24].
      Faktoren bzw. Störungen den CP antei-         4 Fühlten Sie sich im letzten Monat
      lig oder überwiegend verursachen, in             häufig niedergeschlagen, traurig,                  B. Psychische Aspekte in
      Folge des CP auftreten oder als davon            bedrückt oder hoffnungslos?                        Entstehung und Verlauf eines
      unabhängige Komorbiditäten.                   4 Hatten Sie im letzten Monat deutlich               chronischen Pruritus
          Der vorliegende Beitrag gibt einen           weniger Lust und Freude an Dingen,
      Überblick über die Systematik psy-               die Sie sonst gerne tun?                          B1. Klinisch relevante psychische/
      chischer Faktoren in Entstehung bzw.                                                               psychosomatische Einflussfaktoren
      Verlauf des CP wieder sowie Hinweise          Für die Diagnose einer Panikstörung
      zu ihrer jeweiligen Diagnostik.               oder einer generalisierten Angststörung              Wenn für Auslösung und/oder Verlauf
          Die . Tab. 1 gibt einen Überblick. Die    können orientierend folgende Fragen                  eines CP neben dem gleichzeitigen Vor-
      einzelnen Aspekte werden im Folgenden         gestellt werden [4]:                                 liegen einer oder mehrerer organischer
      erläutert.                                    4 Hatten Sie schon einmal einen Angst-               Pruritusursachen relevante psychische/
                                                       anfall, bei dem Sie ganz plötzlich von            psychosomatische Einflussfaktoren zu
      A. Psychische Beeinträchtigun-                   starker Angst, Beklommenheit oder                 identifizieren sind, wird empfohlen, die-
      gen/Störungen als Reaktion auf                   Unruhe überfallen wurden?                         se nach ICD(Internationale Statistische
      chronischen Pruritus                          4 Haben Sie sich schon einmal über                   Klassifikation der Krankheiten und ver-
                                                       mindestens einen Monat oder län-                  wandter Gesundheitsprobleme)-10 als
      Zahlreiche Studien belegen, dass chro-           ger ängstlich, angespannt und voll                „F54: Psychologische und Verhaltens-
      nischer Pruritus zu erheblichem sub-             ängstlicher Besorgnis gefühlt?                    faktoren bei andernorts klassifizierten
      jektivem Leiden der Betroffenen führen                                                              Erkrankungen“ zu klassifizieren.
      kann: Dies kann sich in Einschränkun-         Wenn die Kriterien einer depressiven                     Aus der Literatur sind vielfältige Ein-
      gen der Lebensqualität, Schlafstörun-         oder Angststörung nach ICD-10 nicht                  flussfaktoren auf Auslösung und Verlauf
      gen, Störungen der Sexualität, Stim-          erfüllt sind, die Belastung des Patienten            von Pruritus bekannt: Pruritus und Krat-
      mungsverschlechterung mit Angst und/          aber klinisch relevant und Folge des                 zen können durch (audio)visuelle Reize
      oder Depressivität, Belastung zwischen-       CP ist, kann die Diagnose einer Anpas-               induziert werden [17]. Positive und ne-
      menschlicher Beziehungen, Erleben von         sungsstörung im Sinne von Problemen                  gative Erwartungen, die auch durch ent-
      Stigmatisierung, sozialem Rückzug äu-         der Symptombewältigung zutreffen.                     sprechende Instruktionen induziert wer-

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Tab. 1 Systematik Pruritus-assoziierter psychischer Störungen
A. Psychische Beeinträchtigungen/Störungen als Reaktion auf chronischen Pruritus: z. B. Anpassungsstörungen [ICD-10: F43], depressive Störungen
[ICD-10: F32–F33], Angststörungen [ICD-10: F40–F41]
 B. Psychische Aspekte in Entstehung und Verlauf eines chronischen Pruritus
 – B1. Klinisch relevante psychische/psychosomatische Einflussfaktoren, die Auslösung und Verlauf jedoch nicht alleine bzw. überwiegend erklären: psycho-
   logische und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Erkrankungen [ICD-10: F54]
 – B2. Somatoformer Pruritus [ICD-10: F45.0, F45.1, F45.8]
 – B3. Pruritus bei coenästhetischer Schizophrenie [ICD-10: F 20]
 – B4. Selbst induzierte Kratzartefakte mit oder ohne Pruritus bei abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle [ICD-10: F63.3], Artefakt-
   störungen [ICD-10: F68.1], Zwangsstörungen [F42.1]
 C. Komorbidität mit prinzipiell jeder sonstigen psychischen/psychosomatischen Störung möglich, die ihrerseits das Management des Pruritus erschweren
 und den Krankheitsverlauf beeinflussen kann (z. B. durch Complianceprobleme bei Persönlichkeitsstörungen, Substanzmissbrauch, organischen oder
 schizophrenen Psychosen u. a.); bei Relevanz für den Verlauf unter ICD-10: F54 klassifizierbar
 ICD Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme

Tab. 2 Psychometrische Instrumente zurErfassungvonLebensqualität,Angst undDepressivität                   und Pruritus bei atopischer Dermatitis
bei chronischem Pruritus
                                                                                                          über negative pruritusbezogene Kogni-
 Lebensqualität    Dermatology Life Quality Index (DLQI) bei Dermatosen                                   tionen vermittelt wird [21].
                   ItchyQol                                                                                   Der häufig kaum unterdrückbare
 Depressivität     Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS)                                           Kratzimpuls kann zu Spannungen mit
                   Patient Health Questionnaire (PHQ)                                                     nahestehenden Personen führen, die den
                   Beck’s Depressions-Inventar (BDI)                                                      Betroffenen auffordern, das Kratzen zu
 Ängstlichkeit     Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS)                                           unterlassen. Die Kratzimpulse können
                   Patient Health Questionnaire (PHQ)                                                     als nicht unterdrückbar erlebt werden.
                                                                                                          Teils werden dazu auch Hilfsgegenstände
                                                                                                          genutzt, oder es entsteht ein automa-
den können (im Sinne von Placebo- oder                der Pruritusempfindung bei Hauterkran-               tisiertes Kratzverhalten, bei dem die
Noceboeffekten), beeinflussen die Stär-                 kungen (u. a. [8]). Bei Gesunden wurden             Betroffenen auch kratzen, wenn es nicht
ke der Prurituswahrnehmung, das Kratz-                ebenfalls Zusammenhänge zwischen der                juckt, teils auch ohne dass es ihnen be-
verhalten, die physiologischen Hautreak-              Häufigkeit von „major life events“ in den            wusst wird. So entsteht ein Teufelskreis
tionen nach experimentell induziertem                 letzten 6 Monaten bzw. subjektiv wahrge-            aus Jucken und Kratzen, in dem die Be-
Pruritus [25, 26].                                    nommenem Stress und der Angabe von                  troffenen kurzfristig durch das Kratzen
                                                      Pruritus gezeigt [18, 29]. Patienten mit            Erleichterung des Pruritus empfinden,

»durchPruritus und Kratzen können
         psychische Faktoren
                                                      CP gaben vor einem sozialen Stresstest
                                                      höhere Anspannung an und zeigten aus-
                                                                                                          längerfristig jedoch ihre Haut schädigen,
                                                                                                          was den Pruritus verstärken kann, zu
                                                      geprägtere physiologische Stressreaktio-            vermehrtem Kratzen führt usw.
beeinflusst werden                                     nen als Gesunde [14].                                   Die Diagnostik psychischer Einfluss-
                                                          Kognitive und Verhaltensaspekte kön-            faktoren in der Hautarzt/Facharztpraxis
Ängstlichkeit [9], Depressivität [16]                 nen ebenfalls relevanten Einfluss auf die            setzt eine gründliche (und leider meist
sowie bestimmte Persönlichkeitseigen-                 CP-Wahrnehmung und -Bewältigung                     auch zeitintensive) Anamnese voraus: Ei-
schaften wie hoher Neurotizismus (im                  und seine Behandlung haben.                         nige diagnostische Erfassungsmöglich-
Sinne emotionaler Instabilität mit Ten-                   Das Erleben von Stigmatisierung in-             keiten und beispielhafte Fragen für die in
denz, mehr negative Emotionen zu                      folge sichtbarer Hautveränderungen wie              diesem Abschnitt beschriebenen Aspekte
erleben), geringe Verträglichkeit [16, 19,            Kratzläsionen kann zu sozialem Vermei-              sind in . Tab. 3 aufgeführt:
20] und niedriges Selbstwirksamkeits-                 dungsverhalten und Rückzug führen, was
erleben [1] waren mit einer stärkeren                 dann wieder durch Wegfallen angeneh-                B2. Somatoformer Pruritus
Ausprägung der Pruritusempfindung                      mer Aktivitäten zu einer zunehmenden
und des Kratzens assoziiert. Resilienz                Fokussierung auf den Pruritus und da-               Psychische und psychosomatische Fakto-
(psychische Widerstandsfähigkeit) und                 rüber zu einer verstärkten Prurituswahr-            ren können auch als alleinige oder über-
Neurotizismus zeigten Zusammenhän-                    nehmung führen kann.                                wiegende Ursache eines CP infrage kom-
ge zu einem stärkeren Ansprechen auf                      Negative Kognitionen wie verallge-              men, der dann bei Nachweis dieser und
Placeboinstruktionen für Pruritus [3].                meinernde und katastrophisierende Ge-               Ausschluss relevanter organischer Ursa-
   Andere Studien zeigten Assoziationen               dankenkönnendenStress durchdenPru-                  chen als somatoformer Pruritus (ICD-
zwischen subjektivem Stress, belastenden              ritus noch verstärken und zu vermehrtem             10: F45.8 „Sonstige somatoforme Störun-
Lebensereignissen und Ausprägung der                  Pruritus beitragen. Es konnte gezeigtwer-           gen“) klassifiziert wird. Der Begriff „psy-
jeweiligen Hautsymptomatik und Stärke                 den, dass der Zusammenhang von Stress               chogener Pruritus“ sollte nicht verwendet

                                                                                                                                   Der Hautarzt 7 · 2020    507
Zusammenfassung · Abstract

      werden, da dieser keinem anerkannten           Hautarzt 2020 · 71:506–510      https://doi.org/10.1007/s00105-020-04596-1
      Klassifikationssystem entspricht.               © Der/die Autor(en) 2020
         Somatoforme Störungen sind charak-
      terisiert durch wiederholtes Darbieten         G. Schneider
      körperlicher Symptome, z. B. Pruri-            Diagnostik von psychischen Faktoren bei chronischem Pruritus
      tus oder Hautbrennen, in Verbindung
      mit hartnäckigen Forderungen nach              Zusammenfassung
      medizinischen Untersuchungen trotz             Hintergrund. Pruritus ist ein häufiges und           Zwangsstörungen oder Artefaktstörungen
                                                     quälendes Symptom in der Bevölkerung                auftreten. Auch eine primär unabhängige
      wiederholt negativer Ergebnisse und            sowie in ärztlichen Praxen.                         Komorbidität mit einer sonstigen psychischen
      der Versicherung der Ärzte, dass die           Ziel der Arbeit. Der vorliegende Beitrag            oder psychosomatischen Störung kann
      Symptome nicht körperlich begründbar           gibt einen Überblick über die Systematik            das Management des Pruritus erschweren
      sind. Gleichzeitig liegen psychosoziale        psychischer Faktoren in Entstehung bzw.             und den Krankheitsverlauf beeinflussen.
                                                     Verlauf des Pruritus sowie Hinweise zu ihrer        Es werden Hinweise zur Diagnostik der
      Belastungen vor, die die Symptoma-
                                                     jeweiligen Diagnostik                               genannten Faktoren gegeben.
      tik bedingen und unterhalten können.           Material und Methode. Es handelt sich um            Diskussion. Die Diagnostik psychischer
      Die Störung kann monosymptomatisch             eine Überblicksarbeit.                              Einflussfaktoren und psychischer Aspekte
      (nur Pruritus) sein oder polysympto-           Ergebnisse. Psychische Beeinträchtigun-             des chronischen Pruritus ist komplex. Das
      matisch (Pruritus begleitet von anderen        gen/Störungen können als Reaktion auf               wichtigste diagnostische Werkzeug ist
                                                     chronischen Pruritus auftreten, z. B. als           die gründliche Anamneseerhebung auch
      organisch nicht ausreichend erklärbaren
                                                     Anpassungsstörungen, depressive Störungen,          bezüglich psychischer Aspekte. Zusätzlich
      körperlichen Beschwerden).                     Angststörungen. Psychische Faktoren können          können psychometrische Instrumente zum
         Demgemäß basiert die Diagnosestel-          auch in Entstehung und Verlauf eines chroni-        Einsatz kommen, die das ärztliche Gespräch
      lung auf dem Ausschluss einer organi-          schen Pruritus eine Rolle spielen, entweder         jedoch nicht ersetzen.
      schen Ursache und dem Nachweis psy-            im Zusammenspiel mit organischen Ursachen
                                                     oder bei deren Fehlen als somatoformer              Schlüsselwörter
      chosozialer Einflussfaktoren auf Auslö-
                                                     Pruritus oder Pruritus bei coenästhetischer         Psychosomatische Faktoren · Psychische
      sung und Verlauf des Pruritus. Letztere        Schizophrenie. Ferner können selbstinduzier-        Störungen · Diagnostik · Anamnese ·
      können dem im Abschn. B1 Aufgeführ-            te Kratzartefakte mit oder ohne Pruritus im         Somatoformer Pruritus
      ten entsprechen, das diesbezügliche dia-       Rahmen von Störungen der Impulskontrolle,
      gnostische Vorgehen wäre das Gleiche.

      »bedingt,
          CP ist häufig multifaktoriell
                aber psychische
                                                     Diagnosis of psychological aspects in chronic pruritus
                                                     Abstract
      Faktoren können die alleinige                  Background. Pruritus is a frequent symptom          artificial disorders. Furthermore, independent
                                                     in the general population and in clinics.           comorbidity with other psychic disorders
      Ursache sein                                   Objective. This article gives an overview on        can influence the management of chronic
                                                     psychological and psychosomatic aspects of          pruritus. We provide hints/tools for their
                                                     chronic pruritus and tools for their diagnosis.     diagnosis.
                                                     Materials and methods. This is a review.            Conclusions. The diagnosis of psychological
      In einer kürzlich publizierten Studie wur-
                                                     Results. Chronic pruritus can lead to psycho-       aspects in chronic pruritus is complex. The
      den CP-Patienten, bei denen auf der Basis      logical impairment and psychic diseases, e.g.,      main diagnostic tool is the thorough taking
      einer psychosomatischen Konsiliarun-           adjustment disorder, depression. Psychologi-        of the patient history, including psychological
      tersuchung die Diagnose relevanter psy-        cal factors can also be important factors in the    aspects. It can be supplemented by
      chischer/psychosomatischer Einfluss-            etiology and course of chronic pruritus, either     standardized questionnaires, but these can
                                                     in combination with somatic aspects or, in          not be substitutes.
      faktoren in Auslösung/Verlauf des CP
                                                     the absence of these, as somatoform pruritus
      oder die Diagnose somatoformer Pruri-          or pruritus in coenasthetic schizophrenia.          Keywords
      tus gestellt worden war, mit CP-Patienten      Self-induced scratch lesions with or without        Psychosomatic aspects · Psychic disorders · Di-
      verglichen, die keine anamnestische oder       pruritus can be symptoms of impulse control         agnosis · Medical history taking · Somatoform
      aktuell diagnostizierte psychische Ko-         disorders, obsessive–compulsive disease or          pruritus
      morbidität hatten. Dabei bejahten die
      CP-Patienten mit psychosomatischen
      Einflussfaktoren bzw. somatoformem            Aspekte jedoch nicht exklusiv bei diesen             B3. Pruritus bei coenästhetischer
      Pruritus als Trigger ihres Pruritus sig-     Patienten zutrafen, sondern auch von                 Schizophrenie
      nifikant häufiger „Anspannung“ und             manchen CP-Patienten ohne psychische
      „emotionale Anspannung“. Sie bejahten        Komorbidität bejaht wurden, können sie               Schizophrene und wahnhafte Störungen
      signifikant häufiger bestimmte emotio-         allenfalls als Hinweise dienen [12].                 können sich durch taktile Halluzina-
      nale Adjektive, um ihr Prurituserleben                                                            tionen als Pruritus oder die wahnhafte
      zu beschreiben: „grausam“, „qualvoll“,                                                            Überzeugung, an einer Infektion z. B.
      „aufwühlend“, „entsetzlich“ sowie „der                                                            mit Parasiten und dadurch bedingtem
      Juckreiz macht mich aggressiv“. Da diese                                                          Pruritus zu leiden, manifestieren. Die

508    Der Hautarzt 7 · 2020
Tab. 3 Einige Erfassungsmöglichkeiten und beispielhafte Fragen für relevante psychische/psychosomatische Einflussfaktoren, die Auslösung und
Verlauf des Pruritus beeinflussen
 Ziel                              Mögliche Fragen bzw. Instrumente
 Zusammenhänge zu                  Gab es um den Zeitpunkt des Juckreizbeginns (bzw. der Verschlimmerung) besondere Ereignisse in Ihrem Leben?
 Lebensereignissen/Stress          Haben Sie in diesem Zeitraum besondere Belastungen bzw. Stress erlebt?
                                   Bemerken Sie eine Zunahme oder Abnahme Ihres Juckreizes im Zusammenhang mit bestimmten Situationen/
                                   Gefühlen/Emotionen/Tätigkeiten?
 Identifikation negativer           Wenn der Juckreiz ausgeprägt ist, welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf?
 Erwartungen/Kognitionen/          Welche Gefühle haben Sie dabei?
 katastrophisierender Gedanken
                                   Zur Vertiefung können Symptomtagebücher, die die Ausprägung des Pruritus, die jeweilige Situation sowie damit
                                   verbundene Gedanken und Gefühle erfassen, zum Einsatz kommen.
                                   Zur Identifikation negativer und katastrophisierender Kognitionen steht im deutschsprachigen Raum auch der Juck-
                                   reiz-Kognitions-Fragebogen oder Eppendorfer Juckreizfragebogen zur Verfügung
 Identifikation negativer           Was tun Sie, wenn der Juckreiz besonders ausgeprägt ist?
 Bewältigungsstrategien            Haben Sie aufgrund des Juckreizes bestimmte Aktivitäten aufgegeben, die Ihnen früher Freude bereitet haben,
                                   bzw. sich sozial zurückgezogen?
 Identifikation bestimmter Per-     Diese können sich aus dem Verlauf der Behandlung/der klinischen Beobachtung erschließen
 sönlichkeitsdispositionen sowie   Ferner stehen zur Persönlichkeitsdiagnostik standardisierte psychometrische Instrumente zur Verfügung, die aber in
 von Complianceproblemen           der Regel eher einer spezialisierten psychologischen Diagnostik vorbehalten sein werden (z. B. Neo-Fünf-Faktoren-In-
                                   ventar)

Diagnostik bereitet keine besonderen               Leugnen der Manipulation durch den Pa-                rung vorliegen kann, die ihrerseits die
Schwierigkeiten, wenn die Patienten                tienten.                                              Behandlung des Juckens erschweren
offen von diesen Überzeugungen be-                     Davon abzugrenzen sind „Paraar-                    und den Krankheitsverlauf beeinflussen
richten, evtl. auch Material mitbringen,           tefakte“, bei denen den Patienten ihre                kann (z. B. durch Complianceprobleme
das sie für Parasiten o. Ä. halten, und an         selbstschädigenden Handlungen bewusst                 bei Persönlichkeitsstörungen, Substanz-
diesen Überzeugungen auch festhalten,              sind und sie diese auch zugeben, jedoch               abhängigkeiten, Psychosen u. a.).
wenn man ihnen die negativen Unter-                nicht beenden können: Die Diagnostik                     Deswegen sollte die Anamnese auch
suchungsergebnisse mitteilt. Pruritus im           erfolgt durch die typische Anamnese:                  Fragen nach aktuellen oder früheren
Rahmen einer coenästhetischen oder                 Exzessives, auch automatisches Kratzen                psychischen oder psychosomatischen
sonstigen Psychose sollte als Symptom              in diesem Sinne („neurotische Exkoria-                Erkrankungen sowie psychiatrischen
einer Schizophrenie (ICD-10: F20) klas-            tionen“) kann man nach der ICD-10 als                 oder psychotherapeutischen Behand-
sifiziert werden. Der Patient sollte in             Impulskontrollstörung (ICD-10: F63.3)                 lungen umfassen.
einem solchen Verdachtsfall fachärzt-              klassifizieren. Bei schweren Zwangs-
lich-psychiatrisch untersucht und ggf.             störungen, insbesondere Zwangshand-                   Fazit für die Praxis
behandelt werden.                                  lungen mit Waschzwang können Aus-
                                                   trocknen/Schädigung der Haut, dadurch                 4 Psychische Störungen und Einfluss-
B4. Selbst induzierte Kratzartefakte               bedingte Ekzeme und Superinfektionen                      faktoren bei chronischem Pruritus
mit oder ohne Pruritus                             ebenfalls Pruritus auslösen. Die Dia-                     (CP) sind häufig.
                                                   gnostik erfolgt ebenfalls auf Basis der               4   Sie können Ursache oder Folge des CP
BeidenartifiziellenStörungenistdas zen-             typischen Anamnese, dass Patienten be-                    sein und sein Management erheblich
trale Symptom die Vortäuschung, Aggra-             richten, dass sie sich sehr häufig die                     beeinflussen.
vation und/oder Erzeugung körperlicher             Hände waschen müssen, dies zwar als                   4   Ihre Diagnostik erfolgt vorwiegend
oder psychischer Krankheitssymptome,               übertrieben oder unsinnig erkennen,                       durch die gründliche Anamnese.
die häufig medizinische Behandlungen                aber trotz Versuchen, dem Widerstand                  4   Fragebögen können ergänzend
zur Folge haben. Die Patienten können              zu leisten, nicht einstellen können.                      eingesetzt werden.
auch Pruritus angeben und damit Haut-                                                                    4   Bei klinisch relevanten psychischen
läsionen begründen. Die Diagnostik ar-             C. Komorbidität mit psychischen                           Einflussfaktoren kann die Behand-
tifizieller Störungen ist deswegen schwie-          Störungen                                                 lung zunächst im Rahmen der psy-
rig, weil die Selbstschädigung der Haut                                                                      chosomatischen Grundversorgung
teils bewusstseinsfern geschieht und von           Untersuchungen in der Allgemeinbe-                        erfolgen.
den Patienten nicht berichtet oder bei             völkerung zeigen Lebenszeitprävalenzen                4   Bei mangelndem Erfolg sollte der
Konfrontation damit in der Regel nicht             von 25–40 % psychischer Störungen [5].                    Patient einer weiteren spezialisierten
zugegeben wird. Diagnostische Hinwei-              Dies bedeutet, dass bei einem Teil der                    psychischen Diagnostik und ggf.
se sind klinisch ungewöhnliche Läsionen,           von Pruritus Betroffenen unabhängig                        Behandlung zugeführt werden.
die trotz Behandlung nicht zuheilen, und           davon gleichzeitig eine psychische Stö-

                                                                                                                                   Der Hautarzt 7 · 2020   509
Leitthema

                                                                      mental disorders in Germany: the mental health              different, morbidity, more scratch lesions and
      Korrespondenzadresse                                            module of the German health interview and                   higher burden. Br J Dermatol 168:1273–1280
                                                                      examination survey for adults (DEGS1-MH). Int J         23. Ständer S, Zeidler C, Augustin M et al (2017)
                           Prof. Dr. G. Schneider                     Methods Psychiatr Res 23:304–319                            S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie des
                           Sektion für Psychosomatische            6. Kopyciok ME, Ständer HF, Osada N et al (2016) Pre-          chronischen Pruritus – Update – Kurzversion.
                           Medizin und Psychotherapie,                valence and characteristics of pruritus: a one-week         J Dtsch Dermatol Ges 15:860–873
                                                                      cross-sectional study in a German dermatology           24. StumpfA, StänderS, WarlichB etal(2015)Relations
                           Klinik für Psychische
                                                                      practice. Acta Derm Venereol 96:50–55                       between the characteristics and psychological
                           Gesundheit                              7. Matterne U, Apfelbacher CJ, Loerbroks A et al               comorbidities of chronic pruritus differ between
                           Albert-Schweitzer Campus 1,                (2011) Prevalence, correlates and characteristics           men and women: women are more anxious than
                           Gebäude A9, 48149 Münster,                 of chronic pruritus: a population-based cross-              men. Br J Dermatol 172:1323–1328
                           Deutschland                                sectional study. Acta Derm Venereol 91:674–679          25. Stumpf A, Zerey V, Heuft G, Ständer S et al (2016)
                           Gudrun.Schneider@                       8. Mochizuki H, Lavery MJ, Nattkemper LA et al                 Itch perception and skin reactions as modulated
                           ukmuenster.de                              (2019) Impact of acute stress on itch sensation             by verbal suggestions: role of participant’s and
                                                                      and scratching behaviour in patients with atopic            investigator’s sex. Acta Derm Venereol 96:619–623
                                                                      dermatitis and healthy controls. Br J Dermatol          26. van Laarhoven AIM, van der Sman-Mauriks IM,
                                                                      180:689–690                                                 Donders ART et al (2015) Placebo effects on
                                                                   9. Ogden J, Zoukas S (2009) Generating physical                itch: a meta-analysis of clinical trials of patients
      Einhaltung ethischer Richtlinien                                symptomsfromvisualcues: anexperimentalstudy.                with dermatological conditions. J Invest Dermatol
                                                                      Psychol Health Med 14:695–704                               135:1234–1243
                                                                  10. Pereira MP, Ständer S (2017) Assessment of severity     27. Warlich B, Fritz F, Osada N et al (2015) Health-
      Interessenkonflikt. G. Schneider gibt an, dass kein             and burden of pruritus. Allergol Int 66:3–7                 relatedqualityoflifeinchronicpruritus: ananalysis
      Interessenkonflikt besteht.                                  11. Schneider G, Driesch G, Heuft G, Evers S, Luger TA,         related to disease etiology, clinical skin conditions
                                                                      Ständer S (2006) Psychosomatic cofactors and                and itch intensity. Dermatology 231:253–259
      Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien               psychiatric comorbidity in patients with chronic        28. Whooley MA, Avins AL, Miranda J, Browner WS
      an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufge-            itch. Clin Exp Dermatol 31:762–767                          (1997) Case-finding instruments for depression.
      führten Studien gelten die jeweils dort angegebenen         12. Schneider G, Grebe A, Bruland P et al (2020) Criteria       Two questions are as good as many. J Gen Intern
      ethischen Richtlinien.                                          suggestive of psychological components of itch              Med 12:439–445
                                                                      and somatoform itch: study of a large sample of         29. Yamamoto Y, Yamazaki S, Hayashino Y et al
      Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative             patientswithchronicpruritus. ActaDermVenereol.              (2009) Association between frequency of pruritic
      Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz                  https://doi.org/10.2340/00015555-3424                       symptoms and perceived psychological stress:
      veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung,        13. Schneider G, Grebe A, Bruland P, Heuft G,                   aJapanesepopulation-basedstudy.ArchDermatol
      Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jegli-               Ständer S (2019) Chronic pruritus patients with             145:1384–1388
      chem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die              psychiatric and psychosomatic comorbidity are
      ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsge-             highly burdened: a longitudinal study. J Eur Acad
      mäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz              Dermatol Venereol 33:e288–e291. https://doi.org/
      beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenom-                   10.1111/jdv.15559
      men wurden.                                                 14. Schneider G, Stumpf A, Burgmer M et al (2018) Are
                                                                      patients with chronic pruritus more susceptible
      Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges          to social stress than healthy controls? An
      Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten               experimental case-control study. Br J Dermatol
      Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbil-             179:1174–1176
      dungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das be-          15. Schofield JK, Fleming D, Grindlay D, Williams H
      treffende Material nicht unter der genannten Creative            (2011) Skin conditions are the commonest new
      Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung                reason people present to general practitioners in
      nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für       England and Wales. Br J Dermatol 165:1044–1050
      die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Ma-            16. Schut C, Bosbach S, Gieler U, Kupfer J (2014)
      terials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers          Personality traits, depression and itch in patients
      einzuholen.                                                     with atopic dermatitis in an experimental setting:
                                                                      aregressionanalysis.ActaDermVenereol94:20–25
      Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der          17. Schut C, Grossman S, Gieler U et al (2015)
      Lizenzinformation auf http://creativecommons.org/               Contagious itch: what we know and what we
      licenses/by/4.0/deed.de.                                        would like to know. Front Hum Neurosci 9:57.
                                                                      https://doi.org/10.3389/fnhum.2015.00057
                                                                  18. Schut C, Mollanazar NK, Sethi M et al (2016)
      Literatur                                                       Psychological stress and skin symptoms in
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510     Der Hautarzt 7 · 2020
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