Die deutsche chemische Industrie 2030

 
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Die deutsche chemische Industrie 2030
Die deutsche
chemische                  Industrie 2030
VCI-Prognos-Studie – Update 2015/2016
Erstellt durch den Verband der Chemischen Industrie e. V. unter Mitarbeit der Prognos AG.
    Federführung durch den Ausschuss für Wirtschafts- und Marktanalysen.
    Mitglieder des Ausschusses für Wirtschafts- und Marktanalysen: Dr. Peter Westerheide (BASF SE, Projektleitung),
    ­Birgitta Schlief (BASF Personal Care and Nutrition GmbH), Dr. Reinhold Maeck (Boehringer Ingelheim GmbH), ­
     Dr. Thomas Sunderbrink (BP Refining & Petrochemicals GmbH), Bernhard Forschler (Celanese Europe B. V.),
     Robert Kolb (Clariant Produkte (Deutschland) GmbH), Christoph Ragginger (Covestro Deutschland AG),
     Sabine Klages-Büchner (DuPont Deutschland Holding GmbH & Co. KG), Natasa Nikolic (Evonik Industries AG),
     Dr. Thomas Roick (Lanxess Deutschland GmbH, Ausschussvorsitzender)

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Inhalt

INHALT

Executive Summary                                                       4

Einleitung                                                              6

Weltwirtschaftliches Umfeld                                             9

 Die globalen Megatrends                                                9

		 Wachsende und alternde Weltbevölkerung                               9

		 Globalisierung verliert an Tempo                                    10

		 Schnellere Verbreitung von Technologien und Wissen                  11

		 Kein Engpass bei Energie und Rohstoffen bis 2030                    12

		 Umwelt- und Klimaschutz gewinnen weltweit an Bedeutung              14

		 Staatsverschuldung hemmt Wachstum                                   15

 Weltwirtschaftliche Dynamik lässt allmählich nach                     16

 Industrialisierung der Schwellenländer hält an                        18

 Chemische Industrie global                                            20

		 Schiefergas führt zur Renaissance der US-Chemie                     21

		 EU-Chemie wächst dank innovativer Spezialchemie und Pharmazeutika   22

Entwicklung in Deutschland bis 2030                                    24

 Binnenwirtschaft gewinnt an Bedeutung                                 24

 Industrie bleibt zentrale Stütze der deutschen Wirtschaft             25

Wachstumschancen für die deutsche Chemie                               27

 Chemieindustrie bleibt ein attraktiver Arbeitgeber                    31

 Deutsche Chemie wird immer effizienter                                32

 Diversifizierung der Rohstoffbasis wird vorangetrieben                34

 Forschungsetats werden erhöht                                         35

 Investitionszurückhaltung hält an                                     37

Fazit                                                                  39

Alternativszenarien                                                    41

Projektansatz und Methodik                                             49

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis                                    51

                                                                                3
Executive Summary

      Executive Summary
    Die Weltwirtschaft steht vor neuen Herausforderungen. Der          Dynamisches Wachstum der globalen
    Wachstumsmotor China ist ins Stottern geraten. Große Volks­        ­Chemienachfrage
    wirtschaften wie Brasilien und Russland befinden sich in einer     Die Weltwirtschaft wird in den kommenden Jahren ihre der­
    Rezession. Nicht zuletzt sieht sich die Europäische Union mit      zeitige Schwächephase überwinden. Nach den aktuellen Pro­
    der Bewältigung der Flüchtlingskrise und der Unsicherheit          jektionen wächst die Weltwirtschaft bis 2030 durchschnittlich
    über den Verbleib von Großbritannien in der EU konfrontiert.       um 2,5 Prozent pro Jahr. Das ist in etwa die gleiche Dynamik
    Die Schuldenkrise in Griechenland ist ebenfalls noch nicht         wie im Zeitraum von 2000 bis 2013 – auch wenn dieser Ver­
    ausgestanden.                                                      gleich wegen der Finanzkrise relativiert werden muss.
         Zu diesen aktuellen Entwicklungen kommen langfristige              Allerdings haben sich die Aussichten gegenüber der Vor­
    Megatrends hinzu, die die Weltwirtschaft beeinflussen. Die         gängerstudie leicht eingetrübt. Die Weltwirtschaft wird weniger
    Weltbevölkerung wächst. 2030 werden nach Schätzungen der           stark zulegen als noch in der ersten Studienfassung prognos­
    UN 8,5 Milliarden Menschen auf der Welt leben (2013: 7,2 Milli­    tiziert (+ 3,0 Prozent). Vor allem das langfristige Wachstumspo­
    arden). Dadurch steigt global die Nachfrage nach Nahrung,          tenzial für China und viele Schwellenländer hat sich nach den
    Gütern und Dienstleistungen, aber auch das Angebot an Ar­          neuen Berechnungen abgeschwächt. Auch für die USA geht
    beitskräften. Das Bevölkerungswachstum entfällt zu 90 Pro­zent     die aktualisierte Studie nun von niedrigeren BIP-Zuwächsen
    auf Afrika und Asien, während es in den Industrieländern sta­      aus. In den betroffenen Ländern haben sich auch die Wachs­
    gniert und die Gesellschaften rasch altern. Das g­lobale Be­       tumschancen für die Industrie und damit der Bedarf an Ma­
    völkerungswachstum wirkt sich positiv auf das Wachstum der         schinen und Chemikalien abgeschwächt.
    Weltwirtschaft aus, stellt aber auch einige Regionen vor große          Deutschland kann bis 2030 von der weltwirtschaftlichen
    Herausforderungen.                                                 Dynamik profitieren. Die gesamte Wirtschaftsleistung (BIP)
         Ein weiterer Trend und Wachstumstreiber ist die schnellere    steigt bis 2030 um 1,3 Prozent pro Jahr. Den mit Abstand
    Verbreitung von Technologie und Wissen. Durch Technologie­         größten Wachstumsbeitrag liefert zukünftig der private
    transfer können viele Länder rasch von innovativen ­Technologien   Konsum. Er löst den Außenhandel als Wachstumsmotor der
    profitieren. Künftig wird es keinem Land gelingen, einen           deutschen Volkswirtschaft ab. Auch die Investitionsschwäche
    technologischen Vorsprung lange Zeit für sich allein bean­         wird allmählich überwunden. Die Industrieproduktion kann
    spruchen zu können. Dadurch nimmt der Innovationsdruck             mit 1,4 Prozent pro Jahr etwas stärker zulegen als das BIP.
    zu. Zudem werden Digitalisierung und Vernetzung die Wirt­               Die wesentlichen Wachstumstreiber sind in den einzelnen
    schaft in den kommenden Jahren grundlegend verändern.              Regionen unterschiedlich: Während in den Schwellenländern
    Wie zuvor schon Dampfmaschine, Elektrizität und Computer           das Bevölkerungswachstum, der Wohlstand und damit auch
    wird nun durch die Digitalisierung eine neue Phase der in­         die Nachfrage nach Alltagsprodukten zunehmen, gewinnen in
    dustriellen Revolution ausgelöst (Industrie 4.0). Sie erfasst      den Industrieländern Themen wie Energieeffizienz, Umwelt­
    ganze Wertschöpfungsketten und wird nicht vor den Che­             schutz und regenerative Energien als Treiber an Bedeutung.
    mieunternehmen haltmachen. Das ermöglicht branchenüber­            Die veränderte Nachfragestruktur führt zu einem kräftigen
    greifende Innovationen, die das Potenzial haben, bewährte          Wachstum der Industrieproduktion und infolgedessen auch
    und erprobte Geschäftsmodelle zu erweitern, aber auch zu           zu einer steigenden Nachfrage nach Chemikalien.
    ersetzen. Die Grenzen zwischen Industrie und Dienstleis­                Die gute Nachricht der Studie lautet daher: Die Chemie
    tungssektor werden dadurch allmählich verschwimmen –               ist ein dynamischer Wachstumsmarkt. Im Prognosezeitraum
    bereits heute ist dies zu beobachten.                              steigt die globale Chemienachfrage um 3,4 Prozent und
         Anders als von vielen Experten erwartet, wird es im Pro­      damit schneller als die Industrieproduktion (3,2 Prozent) oder
    gnosezeitraum keinen Engpass bei Energie und Rohstoffen            die Gesamtwirtschaft (2,5 Prozent).
    geben. Neue Fördertechnologien (Fracking) und der Wett­
    bewerb unter den ölfördernden Staaten haben bereits seit           Zukunftschancen für die deutsche Chemie
    2014 zu einem Überangebot an Öl und Gas geführt, das einen             Der weltweite Chemiemarkt ist bis 2030 ein d  ­ ynamischer
    rapiden Verfall der weltweiten Preise für fossile Energieträ­      Wachstumsmarkt. Er bietet Chancen für die deutsche chemisch-
    ger nach sich zog. Mittelfristig wird der Ölpreis zwar wieder      pharmazeutische Industrie, an die Erfolge der ­Vergangen-
    steigen. Im Prognosezeitraum bleibt Rohöl dennoch deutlich         heit anschließen zu können – sofern die energiepolitischen
    günstiger als noch in der Vorgängerstudie angenommen.              Rahmenbedingungen in Deutschland und Europa die Wett­
    Die Wettbewerbsfähigkeit der Chemie und das Wachstum               bewerbsfähigkeit der Branche nicht weiter schwächen.
    Europas werden dadurch insgesamt gestärkt.                         Der Wettbewerb nimmt an Intensität zu. Deshalb muss die
         Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen hat der       Branche ihre Produktion in Zukunft noch stärker als bisher auf
    VCI seine Studie „Die deutsche chemische Industrie 2030“           forschungsintensive Spezialchemikalien und Pharmazeutika
    aktualisiert. Ziel ist es, die Zukunft der Branche in einer Welt   ausrichten, um ihren Wettbewerbsvorteil zu halten und aus­
    des Umbruchs mit einem realistischen Szenario zu beschrei­         zubauen. Sie wird den technologischen Fortschritt voran­
    ben. Die Leitfragen der aktualisierten Zukunftsstudie waren:       treiben und auch die Chancen der Digitalisierung nutzen. Die
    Wie wird der weltweite Chemiemarkt im Jahr 2030 aussehen?          deutsche Chemie kann mit hochwertigen Lösungen für an­
    Und wie stellt sich die chemisch-pharmazeutische Industrie in      spruchsvolle Kunden im Inland und allen Auslandsmärkten
    Deutschland darauf ein?                                            punkten. Sie wird dadurch auch künftig weiter wachsen – in

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Executive Summary

einem Verbund von Pharma, Basis- und Spezialchemie. Nach            Euro (2013) auf 16,5 Milliarden Euro im Jahr 2030 erhöhen.
den neuen Berechnungen wächst die deutsche Chemiepro­               Der Anstieg fällt niedriger aus, als in der Vorgängerstudie
duktion im Prognosezeitraum um 1,5 Prozent pro Jahr.                erwartet worden war. Das liegt an dem insgesamt langsameren
     Im Vergleich zur Vorgängerstudie fällt das Wachstum damit      Wachstum der Chemieproduktion in Deutschland und an dem
leicht niedriger aus. Grund hierfür ist vor allem die schwächere    steigenden Wettbewerbsdruck auf den Forschungs­s tandort.
Dynamik auf wichtigen Auslandsmärkten. In der Basischemie           Andere Regionen und auch die Schwellenländer investieren
hat sich darüber hinaus das Wettbewerbsumfeld stark verändert.      stark in ihre Chemieforschung. In einigen Kundenbranchen
Die im internationalen Vergleich hohen Rohstoff- und Energie­       verlagern sich die Produktions- und Forschungs­zentren
kosten führen dazu, dass die deutsche Basischemie die Welt­         immer stärker nach Asien. Die deutsche Chemieforschung
märkte nicht vom Standort Deutschland aus beliefern kann.           folgt in Teilen dieser Entwicklung.
Der Produktionsverbund, eine der zentralen Stärken der deut­
schen Chemie, bleibt aber erhalten. Der deutsche und euro­          Investitionszurückhaltung in der Chemie
päische Chemiemarkt wird auch zukünftig mit Basischemikalien              Das langfristige Trendwachstum der Investitionen der
aus deutscher Produktion beliefert.                                 deutschen Chemie ist niedrig. Seit 1991 stiegen die Investitionen
                                                                    in Anlagen und Gebäude der Branche um durchschnittlich
Rohstoffbasis verändert sich                                        nur 0,2 Prozent pro Jahr – real gingen die Investitionen sogar
     Fossile Rohstoffe – darunter vor allem das Erdölderivat        um jährlich 1,6 Prozent zurück. Die Gründe sind vielschichtig:
 Naphtha – werden bis 2030 der wichtigste Ausgangsstoff für         In den letzten Jahren hat die chemisch-pharmazeutische
 die Branche bleiben. Ihr Anteil an der Rohstoffbasis schwächt      ­Industrie zum einen erhebliche Effizienzgewinne verzeichnet,
 sich aber leicht ab. Demgegenüber steigt der Anteil nach­           was Produktionswachstum mit weniger Investitionen ermög­
 wachsender Rohstoffe von derzeit 13 auf 18,5 Prozent (2030).        lichte. Zum anderen vollzog sich die zunehmende Spezialisierung
     Um nachwachsende Rohstoffe stärker als heute in die             von der kapitalintensiven Basischemie zu anderen Sparten, die
 Produktion zu integrieren, sind erhebliche Forschungsan­            weniger Sachanlageinvestitionen benötigen.
 strengungen nötig. Im Zusammenspiel mit anderen Industrien               Hauptursache der Investitionszurückhaltung waren aber
 müssen hierzu neue Wertschöpfungsketten aufgebaut ­werden.          die im internationalen Vergleich hohen Energie- und Roh­
Diese Entwicklung ist aufwändig und geht nicht so schnell voran      stoffpreise. Diese sind gerade in der ­energieintensiven
wie von vielen erhofft. Gerade in der Basischemie erscheint          Chemie­industrie ein wichtiger Standortfaktor. Die Investitions­
zum jetzigen Zeitpunkt eine signifikante Substitution der            entscheidungen der Unternehmen fielen daher oftmals
­fossilen Rohstoffe durch nachwachsende Rohstoffe bis zum            zugunsten ausländischer Standorte aus. So stiegen die Investi­
 Jahr 2030 wenig wahrscheinlich. Die Verfügbarkeit und der           tionen im Ausland seit vielen Jahren deutlich dynamischer als
 Preis von nachwachsenden Rohstoffen bleiben wegen der               die Investitionen im Inland. Seit 2012 investiert die deutsche
 Nutzungskonkurrenz (Ernährung vs. Rohstoff) auch zukünftig          Chemie sogar überwiegend im Ausland.
 die limitierenden Faktoren.                                              Grundlegende Änderungen der Energie- und K     ­ limapolitik
                                                                     zeichnen sich weder in Berlin noch in Brüssel ab. Insofern
Forschungsausgaben steigen                                           werden die Unternehmen in Deutschland auch zukünftig
     Forschung und Entwicklung sind nicht nur für die Ver­           höhere Energie- und Rohstoffkosten schultern müssen als
änderung der Rohstoffbasis nötig. Besonders der globale              viele Wettbewerber. Häufig wechselnde energiepolitische
Wettbewerb erfordert in Zukunft ein insgesamt höheres                Vorgaben und unzählige staatliche Eingriffe in den Energie­
­Innovations­tempo. Hinzu kommt der steigende Bedarf                 markt erzeugen eine anhaltend hohe Planungsunsicherheit in
 an forschungs­intensiven Spezialchemikalien. Daher wird             den Unternehmen – und damit Zurückhaltung bei Investitio­
 die Branche ihre Forschungsausgaben von 10 Milliarden               nen. Diese wird sich im Prognosezeitraum fortsetzen.

  Intrinsische Stärken und gute Industriepolitik gefragt
  Die Aktualisierung der 2030-Studie zeigt: Deutschland bleibt       Achillesferse der deutschen Industrie. Denn Energiekosten
  auch in Zukunft einer der bedeutendsten Chemiestandorte der        sind ein wichtiger Faktor im globalen Standortwettbewerb. Die
  Welt. Diese Perspektive muss aber strategisch erarbeitet wer-      Nachteile des Standorts Deutschland bei den Energie- und
  den. Die Komponenten einer erfolgversprechenden Strategie          Rohstoffkosten im Prognosezeitraum dämpfen die Entwick-
  für die Branche lauten: Chancen der Globalisierung nutzen, auf     lungsmöglichkeiten für die deutsche Chemieindustrie. Eine si-
  Spezialchemikalien und Pharma fokussieren, Innovationsoffen-       chere und bezahlbare Energieversorgung ist eine Zukunfts-
  sive starten, Ressourceneffizienz erhöhen, Rohstoffbasis diver-    frage für den Industriestandort. Daher plädiert der VCI für eine
  sifizieren und Produktivität steigern.                             grundlegende Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes in
        Die zweite Voraussetzung dafür, dass sich die deutsche       der nächsten Legislaturperiode, die Ausbau und Preise wirt-
  Chemie auf den globalen Märkten mit ihren Produkten durch-         schaftlich und kosteneffizient gestaltet.
  setzen kann, sind die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingun-           Handlungsbedarf für die Politik besteht auch beim Thema
  gen. Zwar sind in Brüssel und Berlin mit der Initiative „Better    Innovationsfähigkeit. Die VCI-Studie „Innovationen den Weg
  Regulation“ oder dem Bündnis „Zukunft der Industrie“ durch-        ebnen“ hat gezeigt, dass es eine Reihe von externen Hemm-
  aus positive Ansätze erkennbar. Aber darüber hinaus hat sich       nissen gibt, die den Weg innovativer Produkte vom Labor zum
  das politische Umfeld für industrielle Produktion kaum verbes-     Markt unnötig erschweren. Hier messbare Fortschritte zu errei-
  sert. Insbesondere die Energie- und Klimapolitik bleibt die        chen zahlt sich für Unternehmen und Kunden aus.

                                                                                                                                         5
Einleitung

      Einleitung
     Die chemische Industrie1 ist eine Schlüsselindustrie. Sie steht            Als Grundstoffindustrie ist die Chemie energie- und roh­
    mit einem Großteil ihrer Produkte am Anfang vieler Wert­             stoffintensiv. Viele chemische Reaktionen erfordern hohe
    schöpfungsketten. Die Branche entwickelt Materialien für winzige     Temperaturen. Zudem benötigt die Branche viel Strom –
    Chips, die Smartphones oder Computer zu Höchstleistungen             nicht nur für elektrolytische Verfahren wie die Chlorproduk­
    antreiben. Sie erzeugt Baustoffe für Häuser und Gebäude und          tion, sondern auch für den Betrieb der Produktionsanlagen. Ein
    entwickelt Medikamente. Das Bild moderner Fernseher wäre             ­Fünftel des Energiebedarfs des verarbeitenden Gewerbes ent­
    ohne die von der chemischen Industrie hergestellten Flüssig­          fällt auf die Chemiebranche. Die chemische Industrie setzt
    kristalle längst nicht so scharf. Dank der Chemie bringen             Energie­träger auch als Rohstoff ein. Die Chemie baut größ­
    Windräder und Solaranlagen sauberen Strom, werden Autos                tenteils auf Kohlenstoffverbindungen auf. Wichtigste Roh­
    und Flugzeuge immer leichter und Sportgeräte wie Skier oder            stoffquelle ist in Deutschland das Erdölderivat Rohbenzin
    Fahrräder leistungsfähiger und sicherer. Daher gilt: Den Wetter­       (Naphtha). Darüber hinaus kommen Erdgas und nachwach­
    bericht über das Smartphone checken, eine Kopfschmerztab­              sende Rohstoffe aus Biomasse zum Einsatz.
    lette nehmen, in den Urlaub fliegen oder daheim die Bundesliga              Genauso vielfältig wie die Produkte sind die Unternehmen.
    in HD-Auflösung schauen? Ohne Chemie? Unmöglich!                       In der öffentlichen Wahrnehmung dominieren die Weltkonzerne.
         Über 80 Prozent der Erzeugnisse der deutschen Chemie              Von den mehr als 2.000 Chemiebetrieben in Deutschland ist
    gehen an industrielle Kunden. Die Branche ist damit Ausgangs­          aber die überwiegende Mehrheit mittelständisch geprägt.
    punkt und Innovationsmotor für viele Wertschöpfungsketten              Über 90 Prozent der Chemieunternehmen haben weniger als
    im In- und Ausland. Chemieunternehmen arbeiten mit Ma­                 500 Beschäftigte. Insgesamt stellen die rund 1.850 kleinen
    schinenbau, Elektroindustrie, Bauwirtschaft und Fahrzeugbau            und mittleren Unternehmen weit über ein Drittel der Arbeits­
    eng zusammen. Diese Partnerschaft führt zu hoher Leistungs­            plätze in der Branche. Und sie sind erfolgreich mit ihrer Ge­
    fähigkeit und Produktqualität. Die Stärke des Industrienetz­           schäftsstrategie: Der Mittelstand trägt fast ein Drittel zum
    werkes macht Deutschland zu einer führenden Exportnation.              Gesamtumsatz der Branche bei. Einen derart leistungsstarken
    In diesem System spielt die Chemie als Lieferant hochwertiger          Mittelstand in der Chemie gibt es sonst nirgendwo auf der
    Lösungen eine zentrale Rolle für alle genannten Branchen.              Welt. Mit ihren spezifischen Lösungen für die Kunden – vor
         Kaum eine andere Industrie bietet ein so großes Produkt­          allem Fein- und Spezialchemikalien – sind unsere mittelstän­
    spektrum. In Deutschland entfällt rund ein Drittel der P
                                                           ­ roduktion     dischen Unternehmen den Wettbewerbern häufig einen Schritt
    auf Basischemikalien. Hierzu zählen Düngemittel, Industrie­            voraus. Dadurch zählen sie nicht selten zu den globalen
    gase und andere anorganische Grundstoffe ebenso wie Primär­            Marktführern auf ihrem Arbeitsgebiet.
    chemikalien (z.B. Ethylen, Propylen oder Benzol), organische                Gemeinsam tragen Großunternehmen und Mittelstand
    Zwischenprodukte und Standardpolymere. Spezialchemikalien              mit ihrem Umsatz und ihren Investitionen maßgeblich zum
    stellen mit knapp 40 Prozent den größten Anteil an der deut­           Wohlstand Deutschlands bei. Die Branche erwirtschaftet als
    schen Chemieproduktion. Zur Spezialchemie gehören Farben               drittgrößte Industrie in Deutschland rund 11 Prozent des
    und Lacke, Pflanzenschutzmittel, Spezialkunststoffe, Additive          deutschen Industrieumsatzes. Die Chemie ist kapitalintensiv.
    wie beispielsweise Flammschutzmittel, UV-Schutzlacke und               Nahezu 12 Prozent aller Investitionen der Industrie werden in
    Lebensmittelzusatzstoffe, Klebstoffe, Seifen, Wasch- und Rei­          der Chemie getätigt. Darüber hinaus ist die Chemieindustrie ein
    nigungsmittel sowie Kosmetika. Über ein Viertel der Chemie­            wichtiger Arbeitgeber. In der Chemie arbeiten rund 463.000
    produktion entfällt auf Pharmazeutika für Mensch und Tier.             Personen.2
     Eine enge Verknüpfung zwischen Pharma, Spezial- und Basi­s-                Die herausragende Stellung der deutschen Industrie in
    chemie gibt es nicht nur auf der gemeinsamen Grundlage                 der Welt ist nicht zuletzt auf Deutschlands Stärke als For­
    von Molekülen für Wirk- und Werkstoffe. Sie besteht auch aus           schungsstandort zurückzuführen. Durch kontinuierliche ­Produkt-
    ­intensiven Geschäftsbeziehungen der Unternehmen. Ohne                und Prozessinnovationen konnte sich die deutsche ­Chemie
     die Produkte der Basischemie würden Pharma und Spezialche­           seit mehr als 100 Jahren im internationalen Wettbewerb
     mie in Deutschland schwieriger an Rohstoffe gelangen. An­            ­behaupten. Innovationen bleiben auch in Zukunft ein not­
     dererseits ist die Basischemie auf die anderen Sparten als            wendiger Differenzierungsfaktor auf dem Weltmarkt. Als Zu­
     verlässliche Kunden angewiesen. Die breite Aufstellung der            lieferer für andere Branchen ist die chemische Industrie mit
     deutschen Chemie, die Chemieparks, in denen Verbund- und              ihren Patenten, neuen Produkten, Verfahren und dem Anwen­
     Synergieeffekte über Unternehmensgrenzen hinweg intensiv
     genutzt werden, und nicht zuletzt enge Lieferbeziehungen mit        1
                                                                           Unter dem Begriff „chemische Industrie“ wird in der vorlie-
     nahezu allen Industriebranchen gehören zu den herausragen­          genden Studie immer die gesamte chemisch-pharmazeuti-
     den Stärken des Chemiestandorts Deutschland.                        sche Industrie verstanden. Alle Kennzahlen beziehen sich, falls
         Das Konzept der Chemieparks – eine deutsche Erfindung           nicht anders angegeben, auf die Gesamtchemie.
     – steigert zudem die Effizienz der Produktion. Der Standort­        2
                                                                           In diesem Bericht werden, falls nicht anders angegeben,
     betreiber kümmert sich um zentrale Umweltschutzeinrichtungen        Kennzahlen des Prognos-Modells verwendet. Die Daten
     und die komplette Infrastruktur für die ansässigen Unternehmen.     stammen aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
     Sein Service ermöglicht einen Verbund der Produktionsanlagen        (VGR). Die Wertangaben sind real (in Preisen und Wechsel-
     mit hoher Effizienz für Energie, Roh- und Reststoffe.               kursen von 2010). Dadurch kann es zu Abweichungen ein-
                                                                         zelner Kennzahlen von der VCI-Berichterstattung kommen.

6
Einleitung

dungs-Know-how ein Innovationsmotor mit hohem Multipli­              wirtschaft, die Entwicklungen in Deutschland und Europa,
katoreffekt. Die Chemie (ohne Pharma) steuert jedes fünfte           den Strukturwandel in der Industrie bis hin zu den Entwicklun­
­Patent mit branchenübergreifender Bedeutung in Deutschland          gen in einzelnen Chemiesparten. Die Prognose zukünftiger
 bei. Sie entwickelt und verbessert beständig Materialien und        Entwicklungen bietet die Möglichkeit, Stärken und Schwä­­
 innovative Vor- und Endprodukte.                                    chen der deutschen Chemie aufzudecken und Chancen und
      Mit der wachsenden Weltbevölkerung steigt auch der             Risiken für die Branche zu identifizieren, die sich aus grundle­
Bedarf an Produkten für klimaschonende Energieerzeugung,             genden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen
mehr Nahrung, sauberes Wasser, Medikamente, Kommunika­               Entwicklungen ableiten. Neben den Ergebnissen ist uns das
tionsmittel und umweltgerechte Mobilität. Darauf richten             vertiefte Verständnis über Wirkungszusammenhänge wichtig.
die deutschen Chemieunternehmen ihre Geschäftsstrategie                   Die Erstellung eines Zukunftsszenarios ist immer eine
und Forschungsprojekte schon seit geraumer Zeit aus. Die che­        „Wenn-dann“-Analyse. In der vorliegenden Studie wurde
 misch-pharmazeutische Industrie in Deutschland ist mit ihren        zunächst nur das Basisszenario aktualisiert. Hierin ist die Kon­
 Kompetenzen ein zentraler Innovationstreiber, solche globalen       stellation von Faktoren für das Chemiegeschäft unterstellt,
 Herausforderungen für eine nachhaltige Entwicklung zu be­           die VCI und Mitgliedsunternehmen für die wahrscheinlichste
 wältigen. Gleichzeitig trägt unsere Initiative Chemie3 dazu bei,    halten. Je nachdem, welche Annahmen man für die Ent­
Nachhaltigkeit als gelebtes Leitbild in der gesamten Branche         wicklung der wichtigen Treiber des Chemiegeschäfts trifft,
zu verankern. Wirtschaftlicher Erfolg, ökologische Verantwor­        ergeben sich abweichende Szenarien.
tung und soziale Gerechtigkeit sind die Säulen, auf denen                 Bereits das Basisszenario zeigt einen großen Handlungs­
dieses Selbstverständnis ruht.                                       bedarf für die Akteure auf. Denn Unternehmen, Gesellschaft
      Deutschland ist – gemessen am Umsatz – nach China, den         und die Politik gestalten die Zukunft der Chemieindustrie in
 USA und Japan die viertgrößte (2013) Chemienation der Welt.         Deutschland. Die Studie soll hierfür einen Orientierungsrah­
 Chemische Erzeugnisse „Made in Germany“ sind weltweit               men geben. Unternehmerische Entscheidungen, beispiels­
 gefragt. Die deutsche Chemieindustrie ist seit vielen Jahren        weise über Forschungsschwerpunkte oder Investitionen,
 Exportweltmeister. Die Branche erschließt die globalen              werden auf Grundlage von Erwartungen über die Zukunft ge­
 Märkte nicht nur über Exporte, sondern auch über Produk­            troffen. Eine fundierte Langfristprognose bildet daher den
 tionsstätten in den meisten Ländern der Welt.3                      notwendigen Rahmen für die Optimierung der strategischen
      Der globale Wettbewerb hat auch in der Chemie enorm            Ausrichtung der Unternehmen. Gleichwohl geht der Anspruch
 Fahrt aufgenommen. In Asien forcieren China, Indien und             der Studie über die Branche hinaus: Wir wollen auf Basis der
 Korea massiv den Ausbau von Forschung und Wissenschaft.             Ergebnisse auch Politik und Gesellschaft zu einem Dialog
 Bereits heute kommen 40 Prozent aller chemischen Erfindun­          über die Zukunft Deutschlands einladen. Die heute getroffe­
 gen aus Asien. In den rohstoffreichen Ländern entstehen Jahr        nen politischen Entscheidungen werden sich auf die gesamte
 für Jahr neue Produktionsanlagen vor allem in der Basische­         Wirtschaft und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen In­
 mie. Dadurch ergibt sich neue Konkurrenz für die traditionsreiche   dustrie auswirken. Vor diesem Hintergrund leistet der VCI mit
 deutsche Chemie.                                                    der aktuellen Studie einen Beitrag, der durch fundierte Argu­
      Deutschland ist heute ein attraktiver und wettbewerbsfä­       mente und Zahlen zum Dialog über die Zukunft Deutschlands
 higer Chemiestandort. Die Studie „Die Wettbewerbsfähigkeit          anregt.
 des Chemiestandorts Deutschland im internationalen Ver­
 gleich“4 des Wirtschaftsforschungsinstituts Oxford ­Economics
 zeigt aber, dass der Chemiestandort Deutschland seit 2008
 an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat. Das ist beunruhigend,
 weil dadurch das Wachstum gedämpft wird und Investitions­
 entscheidungen zunehmend zugunsten ausländischer Stand­             3
                                                                       Die Kennzahlen in dieser Studie beziehen sich – falls nicht
 orte getroffen werden. Und es stellt sich zunehmend die             anders angegeben – auf die in Deutschland produzierenden
 Frage, ob die deutsche Chemie bis 2030 in der Erfolgsspur           Chemieunternehmen. Die ausländischen Töchter deutscher
 bleibt.                                                             Chemieunternehmen sind nicht eingerechnet. Aussagen zur
      Ebenfalls beunruhigend ist, dass das Wachstum der deut­        Wettbewerbsfähigkeit beziehen sich immer auf den Chemie­
 schen Chemie in den zurückliegenden Jahren gering war.              standort Deutschland und nicht auf die Unternehmen.
 Nach der Weltwirtschaftskrise des Jahres 2008/2009 hat sich         4
                                                                       „Die Wettbewerbsfähigkeit des Chemiestandorts Deutsch-
 die deutsche Chemie zwar rasch wieder erholt. Aber seit 2011        land im internationalen Vergleich“, VCI 2014, abrufbar unter
 konnte die Produktion kaum noch ausgeweitet werden. Kann            https://www.vci.de/vci/downloads-vci/publikation/bericht-zur-
 diese Wachstumsschwäche in den kommenden Jahren über­               vci-oxford-economics-studie-wettbewerbsfaehigkeit-chemie­
 wunden werden? Und wenn ja, wie? Auch mit diesen Fragen             standort-deutschland.pdf, „Evolution of competitiveness in
 beschäftigt sich die vorliegende Studie. Sie zeigt das langfris­    the German chemical industry: historical trends and future
 tige Wachstumspotenzial der Branche in Deutschland auf.             prospects“, Oxford Economics 2014, abrufbar unter https://
      Der vorliegende Bericht ist eine Aktualisierung der VCI-       www.vci.de/vci/downloads-vci/publikation/vci-oxford-economics-
 Prognos-Studie „Die deutsche chemische Industrie 2030“5. Er         report-evolution-of-competitiveness-in-german-chemical-
berücksichtigt die aktuellen Entwicklungen nach 2011 wie bei­        industry.pdf
spielsweise die Wachstumsabschwächung der Schwellenlän­              5
                                                                       „Die deutsche chemische Industrie 2030“, VCI 2013, abrufbar
der oder den Preisverfall beim Rohöl. Die Studie bietet eine         unter https://www.vci.de/vci/downloads-vci/publikation/lang-
umfassende und konsistente Langfristprognose für die Welt­           fassung-prognos-studie-30-01-2013.pdf

                                                                                                                                        7
8
Weltwirtschaftliches Umfeld

  Weltwirtschaftliches Umfeld
Wie sich die chemische Industrie in Deutschland bis zum                 Megatrends, die die Entwicklung der Weltwirtschaft in den
Jahr 2030 entwickelt, wird maßgeblich von den weltwirt­                 kommenden Jahren maßgeblich beeinflussen werden.
schaftlichen Entwicklungen und den wirtschaftspolitischen
Rahmenbedingungen mitbestimmt. Treiber für die Entwick­                 WACHSENDE UND ALTERNDE WELTBEVÖLKERUNG
lung sind Megatrends, die nicht zwangsläufig ökonomischer                    Das globale Bevölkerungswachstum bleibt in den kom­
Natur sein müssen. Ohne ein Wissen und eine Einschätzung                menden Jahren ein zentraler Wachstumstreiber für die Welt­
darüber, in welche Richtung sich die zentralen Treiber entwi­           wirtschaft. Bis zum Jahr 2030 steigt nach Schätzungen der
ckeln werden, ist ein Ausblick auf die zukünftigen Entwick­             Vereinten Nationen (UN) die Weltbevölkerung von 7,2 Milli­
lungen nicht möglich. Im Folgenden werden daher zunächst                arden in 2013 auf 8,5 Milliarden Menschen. Dies entspricht
die globalen Megatrends aufgezeigt, bevor die daraus resul­             einem jährlichen Wachstum von 1 Prozent. Entsprechend
tierende Entwicklung der Weltwirtschaft und der deutschen               ­d ynamisch wird die weltweite Nachfrage nach Nahrung,
Wirtschaft dargestellt wird.                                             Gütern und Dienstleistungen zulegen. Gleichzeitig wächst
                                                                         auch das globale Arbeitskräfteangebot. Allerdings fällt dieser
Die globalen Megatrends                                                  Zuwachs aufgrund der gleichzeitigen Alterung der Welt­
     Häufig werden Prognosen durch unwahrscheinliche, aber               bevölkerung weniger stark aus.
in ihrer Wirkung extreme Ereignisse wie Naturkatastrophen,                   Dynamik und Divergenz prägen die weltweiten demogra­
kriegerische Auseinandersetzungen oder technologische                   fischen Entwicklungen im 21. Jahrhundert: Das globale Bevöl­
Sprünge überholt. Dennoch erlauben langfristige Entwick­                kerungswachstum bis 2030 beruht beinahe zu 90 Prozent auf
lungstendenzen wichtiger ökonomischer Rahmendaten empi­                 der Bevölkerungsentwicklung der Schwellenländer in Afrika
risch gestützte Aussagen über die Zukunft. Für die Prognose             und Asien. Besonders dynamisch wächst die Bevölkerung in
wurden auf Grundlage aktueller Trends, sich abzeichnender               Indien. Bis 2030 wird die indische Bevölkerung um jährlich
Entwicklungen, vorhandener Studien und Expertenwissen An­­              1 Prozent zulegen und damit auf gut 1,5 Milliarden Menschen
nahmen zu der Entwicklung der zentralen Treiber – Demogra­              anwachsen. Demgegenüber schwächt sich das Bevölkerungs­
fie, Globalisierung, Technologie und Humankapital, Energie              wachstum in China infolge der Ein-Kind-Politik deutlich ab.
und Ressourcen, Umwelt und Klima sowie Staatsfinanzen und               Über den gesamten Prognosezeitraum wächst die chinesische
Konsolidierung – getroffen. Im Ergebnis zeigen sich sechs               Bevölkerung nur noch um 0,3 Prozent pro Jahr. Infolge dieser
                                                                        gegen­läufigen Entwicklungen löst Indien China im kommen­

    ABB. 1: WELTBEVÖLKERUNG WÄCHST – LEBENSERWARTUNG STEIGT
    Bevölkerung im Jahr 2030, in Millionen

                                                                                   53,0

                                                         37,5

                                                                                                                19,8       40,2
                                                  43,7
                                                                         1.453,3
                                        9,7

                                                                                                        222,7      358,8

                                                 121,0                                    70,7
                                 10,1                           79,3
                                         133,8                                                                             86,8
                                                                                                                                  144,0

                                                                                                  70,7
                                                                                          65,1

                                                                                                                  46,9            1.476,3

                                                                                                 58,1

    In allen Ländern steigt die Lebenserwartung und damit der Anteil der Personen über 64 Jahre. Die Weltbevölkerung wächst vor allem in
    den Schwellenländern. In Griechenland, Japan, Russland, Polen, Portugal, Spanien und Deutschland schrumpft die Bevölkerung.
    Quelle: Vereinte Nationen 2015

                                                                                                                                                                   9
Weltwirtschaftliches Umfeld

      den Jahrzehnt als bevölkerungsreichstes Land der Erde ab.         deutlich verändert. Die jüngsten bedeutsamen Flüchtlings­
      Russland bildet unter den Schwellenländern eine Ausnahme.         ströme sind allerdings in den Bevölkerungsprognosen noch
      Die russische Bevölkerung schrumpft, so dass 2030 deutlich       nicht enthalten. Die Auswirkungen der Flüchtlingskrise auf die
      weniger Menschen in Russland leben werden als noch im Jahr       Entwicklung in Deutschland konnten daher im Rahmen dieser
      2013.                                                            Studie noch nicht quantifiziert werden. Aus heutiger Sicht ist
           In den Industrieländern 6 stagniert die Bevölkerungs­       es aber wenig wahrscheinlich, dass sich im Hinblick auf das
      entwicklung nahezu (+ 0,2 Prozent p.a.). Insgesamt wird der      Arbeitskräftepotenzial die grundsätzlichen heute erkennbaren
      Anteil der Menschen, die in Industrieländern leben, von heute    Entwicklungstendenzen ändern.
      17 Prozent auf 15 Prozent im Jahr 2030 zurückgehen. Inner­            Insgesamt wirkt sich die steigende Weltbevölkerung positiv
      halb der Gruppe der Industrieländer zeigen sich große Un­        auf das Wachstum der Weltwirtschaft aus. In den Schwel­len­
      terschiede in der Bevölkerungsentwicklung. Vor allem die         ländern werden mehr Menschen leben und k­ onsumieren,
      Vereinigten Staaten, aber auch Australien, die Schweiz oder      gleichzeitig aber auch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung
      Norwegen zeichnen sich durch einen deutlichen Bevölke­           stehen. Die Industrieländer profitieren ihrerseits von dieser
      rungszuwachs aus. Insbesondere aufgrund der hohen Zu­            Entwicklung, da sie zunehmend mehr in diese Re­gionen
      wanderungszahlen wächst die Bevölkerung der USA bis 2030         ­exportieren und von dort günstigere Vorleistungen importieren
      um jährlich 0,7 Prozent. Die Bevölkerung der Europä­ischen        können. Gleichzeitig kann die Einwanderung aus den Schwel­
      Union wird hingegen nur um 0,1 Prozent pro Jahr wachsen           lenländern dem drohenden Fachkräftemangel entgegenwirken.
      können. In Japan schrumpft die Einwohnerzahl sogar über
      den gesamten Prognosezeitraum. 2030 werden dort                  GLOBALISIERUNG VERLIERT AN TEMPO
      6,3 Millionen Menschen weniger leben als heute.                       Die Globalisierung war in den beiden zurückliegenden
           Im Zuge einer zunehmenden Lebenserwartung wird              Jahrzehnten einer der stärksten Treiber für eine prosperie­
     die Weltbevölkerung insgesamt altern. Heute leben rund            rende Weltwirtschaft. Die internationale Arbeitsteilung nahm
     840 Millionen Menschen auf der Erde, die älter als 60 Jahre       seit Mitte der 90er Jahre rasant zu. Der globale Handel wuchs
     sind. Dies entspricht einem Anteil von knapp 12 Prozent an        von 2000 bis 2013 mit durchschnittlich rund 4,5 Prozent pro
     der gesamten Weltbevölkerung. Bis 2030 wird dieser Anteil         Jahr deutlich dynamischer als die Weltwirtschaft (2,5 Prozent
     auf 16,5 Prozent ansteigen. Damit werden dann 1,4 Milliar­        p.a.). Diese Entwicklung war durch fünf Sonderfaktoren be­
     den Menschen älter als 60 Jahre sein. Nicht nur beim Be­          günstigt:
     völkerungswachstum, sondern auch bei der Alterung der
     Bevölkerung zeigen sich große regionale Unterschiede: Vor          die
                                                                       AA    Integration Chinas in die Weltwirtschaft,
     allem in den Industrieländern, aber auch in China wird die         die
                                                                       AA    Transformation des ehemaligen Ostblocks,
     ­Bevölkerung schnell altern, während in den anderen Entwick­       den durch den Industrialisierungsprozess der Schwellenlän­
                                                                       AA
      lungs- und Schwellenländern der Anteil älterer Menschen           der hervorgerufenen Ressourcenhunger,
      deutlich langsamer steigt.                                        den durch Rohstoffexporte ausgelösten Reichtum der Roh­
                                                                       AA
           Unter dem Strich lässt sich festhalten, dass die Bevölke­    stoffländer,
      rung in Ländern mit hohem Wohlstandsniveau schneller altert       den Abbau von Handelsschranken und Kapitalverkehrskon­
                                                                       AA
      und kaum noch wächst, während in den Entwicklungs- und            trollen.
      Schwellenländern die Bevölkerung kaum altert und rasant
      wächst. Die Industrieländer stehen daher vor der Heraus­             Nach der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 hat sich der
      forderung, dass das Arbeitskräftepotenzial sinkt und ein         Welthandel von den Rückschlägen zwar wieder rasch erholt.
      Fachkräftemangel droht. Gleichzeitig müssen die sozialen         Seither wuchs er aber nur noch geringfügig schneller als die
      Sicherungssysteme (Alterssicherung, Gesundheitssystem,           Weltwirtschaft. Das zeigt sich auch im Chemiegeschäft, denn
      Pflege) stark zunehmende Lasten bewältigen. In den Ent­          das Verhältnis aus Weltchemiehandel und Weltchemieumsatz
      wicklungs- und Schwellenländern hingegen wird es immer           stagniert seit einigen Jahren. Die lokale Produktion gewinnt
      schwieriger, die Versorgung der Menschen mit Gütern und          mit der Industrialisierung der Schwellenländer an Bedeutung,
      Dienstleistungen sicherzustellen. Noch schwieriger ist es, für   weil sich internationale Lohnpreisdifferenzen weiter angegli­
      die wachsende Bevölkerung ausreichend Jobs zu schaffen.          chen haben. Zudem sinken die Transportkosten kaum noch
      Vor diesem Hintergrund wird das Nord-Süd-Gefälle bei den         und für innovative Produkte wird die Nähe zum Kunden zu­
      Pro-Kopf-Einkommen weitgehend bestehen bleiben.                  nehmend wichtiger.
           Das Wohlstandsgefälle, kriegerische Auseinandersetzun­          Die Handelspolitik spielt auch zukünftig eine wichtige Rolle.
      gen und die unterschiedliche Bevölkerungsdynamik werden          Allerdings wird der Abbau von Handelshemmnissen und
      in den kommenden Jahren weiterhin Migrationsbewegungen           Kapitalverkehrskontrollen im Vergleich zu den vorangegan­
      auslösen, deren Richtung und Stärke sich nur schwer prognos­     genen Jahrzehnten insgesamt deutlich an Dynamik verlieren.
      tizieren lässt. Deutschland konnte in den letzten Jahren seine
      Attraktivität als Zuwanderungsland steigern, wenngleich ein      6
                                                                         Unter Industrieländern werden in der Studie im Wesentlichen
      Teil der hohen Zuwanderung in den vergangenen Jahren auch        die „advanced economies“ im Sinne der Definition des Inter-
      der sich nun langsam stabilisierenden Wirtschaftskrise im        national Monetary Fund (https://www.imf.org/external/pubs/ft/
      Euroraum geschuldet war. Auch in den Jahren bis 2030 kann        weo/2015/02/weodata/groups.htm) verstanden. China zählt
      der durch die niedrigen Geburtenraten verursachte Bevölke­       hingegen in der Studie zu den Schwellenländern. Weitere
      rungsrückgang durch Migration abgeschwächt werden. Damit         Länder in dieser Gruppe sind: Argentinien, Brasilien, Chile,
      haben sich die Perspektiven gegenüber der Ausgangsstudie         Indien, Mexiko, Russland, Südafrika und die Türkei.

10
Weltwirtschaftliches Umfeld

Die Wahrscheinlichkeit einer umfassenden multilateralen Han­            Die
                                                                       AA     Weltordnung befindet sich im Umbruch. Es besteht
delsliberalisierung und einer substanziellen Weiterentwick­             die große Gefahr, dass sich Staaten oder gar Regionen zu­
lung der Welthandelsordnung ist gesunken. Gründe hierfür                nehmend in Kriege und Bürgerkriege verwickeln oder sich
liegen in einer zunehmend multipolaren Weltwirtschaft ei­               „failed states“ politisch wie auch wirtschaftlich isolieren und
nerseits und der Erweiterung des handelspolitischen Spiel­              weitgehend abseits vom internationalen Handelssystem
feldes um nichtökonomische Dimensionen andererseits.                    stehen. Dies hätte zur Folge, dass die Bedeutung dieser
Vor diesem Hintergrund wurde bis 2030 nur eine graduelle                Länder oder Regionen am Welthandel – als Kunden und
Weiterentwicklung des internationalen Handelsregimes un­                ­Lieferanten – sinkt. Diese Gefahr ist insbesondere im Nahen
terstellt. Diese wird von vier Phänomenen begleitet, die in un­          Osten und in Teilen Afrikas am größten.
terschiedlicher Richtung auf den Welthandel wirken:                    AAIm Vergleich zur multilateralen Handelsliberalisierung
                                                                         spielen zwischenstaatliche Handelsabkommen auch zukünf­
 Regionale
AA           Integrationsbemühungen werden – zum Teil er­                tig die größere Rolle (TTIP, CETA, TPP, diverse asiatische
 folgreich – zunehmen. Während im asiatisch-pazifischen                  Freihandelsabkommen etc.). Derzeit lässt sich das Ergebnis
 Raum durch neue Abkommen pragmatisch die Integration                    der Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsab­
 vertieft werden wird, droht die EU hier ins Hintertreffen zu            kommen noch nicht vorhersehen. Der Widerstand gegen
 geraten, weil die Vorteile einer stärkeren wirtschaftlichen             einzelne Teilbereiche des Verhandlungspaketes ist groß.
 ­Integration im gesellschaftspolitischen Diskurs nicht hinrei­          Im Rahmen der Studie haben wir unterstellt, dass die Ver­
  chend priorisiert werden.                                              handlungen erfolgreich abgeschlossen werden. Dadurch
AADie Abschwächung des Wachstums in den Industrie- und                   werden die Handelsbeziehungen zwischen den USA und
  einigen Schwellenländern, die Schwäche der multilateralen              der EU belebt und das Wirtschaftswachstum gestärkt. Aller­
  Institutionen sowie die stärkere Gewichtung ökologischer               dings wird es voraussichtlich im Bereich der regulatorischen
  gegenüber ökonomischen Zielen werden sich in protekti­                 Kooperation und des Abbaus nichttarifärer Handelshemm­
  onistischen Tendenzen manifestieren. Auch wenn es keine                nisse nur kleine Fortschritte geben, so dass ökonomische
  Protektionismus-Spirale wie in den 1930er Jahren geben                 Potenziale ungenutzt bleiben.
  dürfte, wird sich dies bremsend auf den Freihandel auswir­
  ken.                                                                      In der Summe erwarten wir, dass der globale Handel mit
AADer technologische Wandel insbesondere durch die Digi­               Waren und Dienstleistungen weiterhin schneller wachsen wird
  talisierung wird dazu führen, dass verstärkt Wissen sowie            als die weltweite Wirtschaftsleistung. Im Zeitraum 2013 bis
  Daten und Designs an Stelle von Fertigwaren gehandelt                2030 wachsen die weltweiten Exporte um durchschnittlich
  und zudem Investitionen an Gewicht gewinnen werden. Die              3,6 Prozent pro Jahr. Der Prozess der Globalisierung setzt sich
  daraus resultierende Verlangsamung der Handelsdynamik                damit fort. Das relative Expansionstempo (Welthandel/Welt-
  wird dabei mehr Komponenten- und Konsumgüterhersteller               BIP) wird jedoch nicht mehr an Größenordnungen anknüpfen,
  und weniger Materialtechnologien wie die Chemie betref­              wie sie in den Jahren vor der Finanzkrise üblich waren. Die
  fen. Hier könnte der Handel durch die Digitalisierung sogar          ­Bedeutung des Welthandels als Wachstumstreiber der Welt­
  zunehmen – so wäre z.B. eine additive Fertigung auf hoch­­            wirtschaft nimmt ab.
  wertige Materialien angewiesen. Aber die genauen Effekte
  sind noch mit hoher Unsicherheit behaftet.                           SCHNELLERE VERBREITUNG VON TECHNOLOGIEN UND WISSEN
                                                                           Der technologische Fortschritt und die Zunahme des
                                                                       Wissens bleiben wichtige Treiber für die weltwirtschaftliche
    ABB. 2: GLOBALISIERUNG VERLIERT AN SCHWUNG                         Entwicklung. Technologische Innovationen diffundieren im
    Anteil des weltweiten Handels (Exporte und Importe) am             Zuge einer zunehmenden weltweiten Arbeitsteilung und der
    globalen BIP in Prozent, CAGR 2000–2013 und 2013–2030              Digitalisierung immer schneller um den gesamten Erdball.
    70                                                                 Keinem Land wird es gelingen, über eine längere Zeitspanne
                                                                       einen technologischen Vorsprung aufrechtzuerhalten. Innova­
    65                                                                 tionen werden so das Wachstum der Weltwirtschaft in vielen
                                            +0,8%
                                                                       Ländern fördern.
    60
                                                                           Der technologische Entwicklungsstand steigt im Progno­
                                                                       sezeitraum stetig. Die Digitalisierung (u.a. auch Industrie 4.0
    55
                +2,0%                                                  genannt) ist einer der mächtigsten Treiber hinter dieser Ent­
    50
                                                                       wicklung. Ihre Bedeutung nimmt in sämtlichen Lebens- und
                                                                       Wirtschaftsbereichen zu. Auch in der Chemie steht ein umfas­
    45                                                                 sender Strukturwandel bevor. Durch die Digitalisierung werden
                                                                       disruptive Innovationen möglich, die das Potenzial haben,
     0                                                                 bewährte und erprobte Geschäftsmodelle zu erweitern oder
     2000      2005     2010      2015     2020     2025     2030
                                                                       aber auch zu ersetzen. Das Wettbewerbsumfeld wird sich
                                                                       aufgrund beschleunigter Innovationszyklen und neuer Wett­
    Die Globalisierung wird sich fortsetzen. Auch in Zukunft wächst    bewerber verschärfen. Letzteres ist bereits heute zu beobachten.
    der Handel stärker als die globale Wirtschaftsleistung. Aber die       Gleichzeitig ermöglichen neue Technologien die Opti­
    Bedeutung des Welthandels als Wachstumstreiber der Welt­
    wirtschaft wird abnehmen.                                          mierung von Prozessen, die Erschließung neuer Geschäfts­
                                                                       felder und die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. In der

                                                                                                                                          11
Weltwirtschaftliches Umfeld

                                                                            schulausbildung sowie über eine betriebliche Ausbildung, die
           ABB. 3: SCHWELLENLÄNDER WERDEN INNOVATIVER                       die Qualifizierung von Fachkräften sichert.
           Anteile der Industrie- und Schwellenländer an den gesamtwirt-        Im Prognosezeitraum erhöht sich hierzulande die Bildungs­
           schaftlichen realen FuE-Ausgaben in Prozent                      beteiligung und die Durchlässigkeit des Bildungs­systems
                                                                            nimmt zu. Das bedeutet, der Anteil der H­ ochschulabsolventen
                                                          Schwellenländer
                                                                            und hochqualifizierten Facharbeiter steigt, die Abbrecher­
                                                          Industrieländer   quote sinkt und die Mitarbeiter werden für lebenslanges
                                                                            Lernen sensibilisiert. Zusätzliches Potenzial wird durch die
                                              70,4%                         stärkere Integration von Frauen und älteren Personen in den
                               83,0%                                        Arbeitsmarkt generiert. Eine moderate Zuwanderung von
                93,3%
                                                                            Fachkräften wird in den kommenden Jahren die Leistungsfä­
                                                                            higkeit in Deutschland stärken.
                                                                                Allerdings ist für den Prognosezeitraum auch unterstellt,
                                                                            dass Deutschland seine staatliche Forschungsförderung nicht
                                              29,6%                         ausdehnen wird. Die Hightech-Strategie konzentriert sich wei­
                               17,0%                                        terhin auf die Projektförderung, die ohne umfangreiche Auf­
                6,7%
                                                                            stockung fortgeführt wird. Zusätzliche Anreize für erhöhte
                2000            2013           2030
                                                                            FuE-Ausgaben unterbleiben. Eine steuerliche Forschungs­
           Der Innovationswettbewerb der Länder wird an Intensität          förderung ist im Prognosezeitraum nicht unterstellt. Unter
           gewinnen. In Zukunft werden Forschung und Entwicklung nicht      diesen Annahmen wird der gesamtwirtschaftliche FuE-Anteil
           mehr nur eine Domäne der Industrieländer sein. Auch die
           Schwellenländer verstärken ihre FuE-Anstrengungen.               am BIP auch 2030 noch bei knapp unter 3 Prozent liegen.

                                                                            KEIN ENGPASS BEI ENERGIE UND ROHSTOFFEN BIS 2030
     Chemie ist davon auszugehen, dass insbesondere datenge­                     Mit dem Wirtschaftsboom in den Schwellenländern stieg
     steuerte Produktionsprozesse weiter ausgebaut werden. Die              seit 2000 der Verbrauch von Rohstoffen und Energieträgern
     Digitalisierung wird zwar in der Chemie im Prognosezeitraum            stetig. Die Lieferanten reagierten nicht im gleichen Umfang
     nicht zu technologischen Sprüngen führen. Vielmehr wird sich           mit Produktionserhöhungen. Bis 2008 trieb das den Rohöl­
     durch die stetige Verbreitung in den Unternehmen die Ge­               preis immer höher. Erst im Verlauf der Wirtschaftskrise wurde
     schwindigkeit technologischer Innovationen erhöhen. Die                dieser Aufwärtstrend gestoppt. In der Krise übertraf das
     Folgen sind eine Zunahme der Arbeitsproduktivität und der              Angebot die Nachfrage nach Rohstoffen. Allerdings ließ die
     Ressourceneffizienz sowie Güter und Dienstleistungen mit               baldige Erholung der Konjunktur die Nachfrage und damit
     ­zunehmendem Kundennutzen. Die Beziehung der Chemiein­                 den Preis schnell wieder steigen. Während sich die meisten
      dustrie zu ihren Abnehmern wird deutlich enger. Die Grenzen           Rohstoffpreise in den Jahren 2011 bis 2013 nahezu konstant
      zwischen Produkt und Dienstleistung verschwimmen zuneh­               entwickelten, brach der Ölpreis Rekorde. Befeuert wurde dies
      mend. Im Bereich der Agrochemie sind derartige hybride                durch die politischen Unruhen im Nahen Osten und Spannun­
      Angebote bereits Wirklichkeit.                                        gen um das iranische Atomprogramm.
           Die Industrieländer, allen voran die USA und die Länder
      der Europäischen Union, bleiben die Innovationsmotoren der
      Weltwirtschaft. Doch einige Schwellenländer, hier vor allem
                                                                               ABB. 4: DER ÖLPREIS WIRD NUR MODERAT STEIGEN
      China, holen kräftig auf. Im Jahr 2000 kamen 93 Prozent der              Ölpreis im Jahresdurchschnitt, in US-Dollar je Barrel (real)
      FuE-Aufwendungen aus den Industrieländern. 2013 waren
      es bereits 10 Prozentpunkte weniger. Am Ende des Progno­
                                                                                140
      sezeitraums werden schätzungsweise nur noch 70 Prozent
      der FuE-Aufwendungen von den Industrieländern erbracht                    120

      werden. Über ein Fünftel der weltweiten Aufwendungen wird                 100
      dann allein aus China kommen. China liegt damit vor der EU.
                                                                                80
      Während die USA kaum Anteile an den weltweiten FuE-Aus­
      gaben verlieren, geht der Anteil der EU – trotz Aufstockung               60
      der FuE-Budgets – deutlich zurück.
                                                                                40
           Deutschland ist insgesamt ein guter Innovationsstand­
      ort. Im internationalen Standortvergleich belegt Deutsch­                 20
      land Platz 5.7 In Zukunft wird das Bildungssystem angesichts               0
      der demografischen Entwicklung und der Zuwanderung als                          2000   2005    2010     2015     2020     2025      2030
      Standortfaktor immer wichtiger. Deutschland konnte sein
      Bildungssystem in den vergangenen Jahren verbessern.
      Hier besteht aber weiterhin Handlungsbedarf. Deutschland                 Gründe für den nur moderaten Ölpreisanstieg: Ausweitung
      verfügt auch zukünftig über eine gute Hoch- und Fachhoch­                des Angebotes (Schieferöl in den USA und Kanada, Wiederauf-
                                                                               nahme der iranischen Ölexporte) sowie Steigerung der
                                                                               Energieeffizienz.
                                                                               Quellen: Feri, IEA, VCI
     7
         „acatech-BDI Innovationsindikator“ 2015.

12
Weltwirtschaftliches Umfeld

     Eine zentrale Annahme der Vorgängerstudie war, dass             Mittelfristig wird der Ölpreis voraussichtlich wieder steigen.
Energie und Rohstoffe zunehmend knapper und damit teurer             Für den Prognosezeitraum wird basierend auf dem „IEA new
werden. Damals lautete die Langfristprognose der Interna­            policies scenario“ (Stand Sommer 2015) ein Ölpreisanstieg auf
tionalen Energieagentur (IEA): Der Ölpreis wird bis 2030 auf         109 US-Dollar (real) je Barrel bis 2030 unterstellt. Inflationiert
real 135 US-Dollar pro Barrel steigen. Nominal bedeutete das         mit der Preisentwicklung des Bruttoinlandspro­dukts der USA
einen Anstieg auf 240 US-Dollar pro Barrel. Diese Annahme            ergibt sich für 2030 ein nominaler Preis von 145 US-Dollar je
kann vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen an              Barrel.
den internationalen Rohstoffbörsen nicht aufrechterhalten                 Auch die Nachfrageseite spricht für moderat steigende
werden.                                                              Ölpreise. Zwar dürfte der weltweite Energie- und Rohstoff­
     Die Hauptursachen des aktuellen Preisverfalls bei Energie       bedarf in den kommenden Jahren weiter zunehmen. Der
und anderen Rohstoffen liegen auf der Angebotsseite. Hohe            Zuwachs wird aber deutlich langsamer ausfallen als im zu­
Rohstoffpreise hatten in Verbindung mit der Erwartung                rückliegenden Jahrzehnt. Der Grund: Die Dynamik der Welt­
knapper werdender Ressourcen einen Investitionsboom im               wirtschaft schwächt sich zukünftig ab und nicht nur in Europa
Bergbau und in der Öl- und Gasindustrie ausgelöst. Zudem             werden sich vermehrt energie- und rohstoffeffizientere Pro­
ermöglichte der technologische Fortschritt die Erschließung          duktionsweisen durchsetzen. Zudem wird China, das Land
neuer und bisher nicht wirtschaftlich nutzbarer Lagerstätten.        mit dem größten Ressourcenverbrauch, nach der Phase der
Mit Hilfe von Fracking ist mittlerweile nicht nur in den USA         rasanten Industrialisierung zukünftig verstärkt im Dienstleis­
die wirtschaftliche Exploration von Schiefergas und Schieferöl       tungssektor wachsen und seine Produktion ressourcenscho­
möglich. Neue Technologien führen nicht nur zu einer Aus­            nender ausrichten.
weitung des Angebots, sondern auch zu einer Zunahme der                   Die Rohstoffpreise bleiben aber wegen der Investitions­
verfügbaren Reserven. Vor diesem Hintergrund geht die vor­           zyklen im Öl- und Gasgeschäft extrem volatil. Die Ökonomen
liegende Studie nun davon aus, dass Energie und Rohstoffe            sprechen von Schweinezyklen: In Zeiten niedriger Preise wird
trotz steigender Nachfrage und geopolitischer Unsicherhei­           kaum investiert. Ölfelder versiegen und das Angebot sinkt.
ten im Prognosezeitraum ausreichend verfügbar und relativ            Das lässt die Preise steigen. Die steigenden Preise wiederum
günstig sein werden.                                                 führen zu einer Ausweitung der Investitionen, bis die Preise
     Und dennoch: Der seit Mitte des Jahres 2014 zu beobach­         wegen eines Überangebots wieder sinken. Dann beginnt das
tende Rohölpreisverfall ist deutlich überzeichnet. Weder             Spiel von neuem. Diese Volatilität der Rohstoffpreise wird
die Ölindustrie noch die OPEC-Länder oder Brasilien und              durch die Finanzmärkte verstärkt. Die daraus resultierende
Russland können auf Dauer mit Ölpreisen zwischen 30 und              Planungsunsicherheit ist für Industrieunternehmen ein großes
50 US-Dollar je Barrel auskommen. Die Entscheidung der OPEC,         Risiko.
ihr Produktionsziel in den Jahren 2014 und 2015 beizubehalten,            Im Unterschied zum Ölmarkt werden Gaspreise bis heute
hat bei den anderen ölfördernden Ländern bereits zu einem            stark von regionalen Einflüssen geprägt. Das ist eine Folge
Investitionsrückgang bei der Erschließung neuer Öl- und Gas­         der hohen Investitionskosten für große Pipelines und Liquified-
quellen geführt. Hinzu kommt, dass innerhalb der OPEC                Natural-Gas-(LNG-)Versorgungsketten, die den Gastransport
die Fördermengen nur im Iran und im Irak gesteigert werden           über größere Entfernungen aufwendig und betriebswirtschaft­
können. Doch beide Länder haben wegen der instabilen Lage            lich riskant machen.
Schwierigkeiten, die notwenigen Investitionen zu mobi­lisieren.           Das zusätzliche Angebot von Schiefergas sorgt in den
                                                                     USA vermutlich noch bis in die 2030er Jahre für im inter­
                                                                     nationalen Vergleich niedrige Gaspreise und zunehmende
    ABB. 5: SEIT 2010 PREISUNTERSCHIEDE BEI ERDGAS                   LNG-Exporte. Japan und Südkorea, die weltgrößten LNG-­
    Preisvergleich Erdgas USA - Europa - Japan, Referenzpreise       Importeure, besitzen dagegen einen geografischen Nachteil
    der Handelspunkte in Euro/MWh                                    und sind mangels eigener Rohstoffe auf verlässliche Gas­
    60
                                                                     lieferungen zu international relativ hohen Preisen angewiesen.
                Japan (LNG)                                          Die europäischen Gaspreise liegen zwischen den hohen Im­
    50          Europa                                               portpreisen Japans und den niedrigen Gaspreisen in den
                USA                                                  USA. Europa profitiert vom Wettbewerb zwischen russischem
    40
                                                                     und norwegischem Pipelinegas und einem zunehmenden
    30
                                                                     LNG-Angebot. Heute ist in Deutschland das Gas rund dreimal
                                                                     teurer als in den Vereinigten Staaten.
    20                                                                    Generell ist von einer weiterhin günstigen Versorgungs­
                                                                     lage im globalen Gasmarkt auszugehen. Künftig werden stei­
    10
                                                                     gende LNG-Exporte aus Australien und den USA für einen
     0                                                               Preisdeckel sorgen. Ein steiler Preisanstieg in Europa ist damit
         2000                 2005        2010                2015   aus heutiger Sicht unwahrscheinlich. Auch auf lange Sicht
                                                                     werden Europa und Asien allerdings nicht das niedrige Preis­
                                                                     niveau der USA erreichen.
    Der Schiefergasboom sorgte in den USA für niedrige Gas-               Der Strompreis ist ebenfalls regional unterschiedlich. Für
    preise. Japan und Europa müssen hingegen Erdgas teuer            Endkunden setzt er sich aus verschiedenen Komponenten
    importieren.
    Quellen: Worldbank, VCI                                          zusammen. Neben den Kosten für die Stromerzeugung und
                                                                     -bereitstellung sind auch Abgaben, Umlagen sowie Steuern

                                                                                                                                          13
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