Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo

 
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Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo
Die Fahrdynamikentwicklung des neuen
                   Porsche 911 Turbo

                              E. Armbrusta,1, G. Seiferta
     a
         Dr. Ing. h. c. F. Porsche AG
         Porschestraße
         71287 Weissach

Kurzfassung:

Zum Erfolg des neuen Porsche 911 Turbo tragen nicht zuletzt auch seine fahrdyna-
mischen Qualitäten mit bei.
Die Entwicklung dieses Fahrzeugs, auf der Basis des aktuellen 911 Carrera 4, war
für alle Bereiche aufgrund der hochgesteckten Ziele eine sehr interessante Heraus-
forderung. Das Erreichen der Entwicklungsziele im vorgegebenen Zeitplan, mit den
vorhandenen Ressourcen und dem eingestellten Budget, wurde durch einen koordi-
nierten Entwicklungsprozess sichergestellt. Es werden speziell die Fahrdynamik
betreffenden Entwicklungsziele, die Einflussgrößen und die Zielkonflikte der beteilig-
ten Fachbereiche angesprochen. Die Ergebnisse der fahrdynamischen Qualitäten
werden mittels subjektiver Eindrücke und objektiver Kenngrößen beschrieben.

 1
  E-mail: eberhard.armbrust@porsche.de
  URL: www.porsche.de
Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo
1. Einleitung
Im Mittelpunkt einer Fahrzeugentwicklung stehen die Kundenanforderungen, diese bestim-
men die Entwicklungsziele, die umzusetzen sind.
Um herausragende fahrdynamische Qualitäten zu erreichen, müssen alle Baugruppen am
Fahrzeug, besonders Karosserie, Fahrwerk und Reifen, exakt aufeinander abgestimmt sein.

Der nachfolgende Vortrag befasst sich mit der Vorgehensweise der Fahrdynamikentwicklung,
geht auf technische Anforderungen der relevanten Baugruppen ein und zeigt die Ergebnisse
dieser Entwicklung auf.

2. Ziele der Fahrdynamikentwicklung
In [1] werden die Entwicklungsziele detailliert beschrieben. Die wichtigsten fahrdynamischen
Anforderungen sind:
- Fahrleistungen
-   Beherrschbarkeit
-   Agilität, Fahrspaß, Spontaneität
-   Eindeutigkeit, Reproduzierbarkeit
-   Fahrkomfort
-   Alltagstauglichkeit

3. Anforderungen an die Baugruppen
Mit dem Lastenheft werden die Anforderungen für das komplette Fahrzeug definiert. Es müs-
sen alle Anforderungen möglichst exakt formuliert und mit objektiv fassbaren Werten unter-
mauert sein.
In Bild 1 sind die für die Fahrdynamik bestimmenden Bereiche aufgezeigt und Zielkonflikte
angesprochen.

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Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo
Bremse
                                                 Bremse
                                        (indirekte Einflüsse über
                                          (indirekte Einflüsse über
                                                Karosserie)
                                                 Karosserie)
                                                                          Karosserie
                                                                           Karosserie
                                                                          (Aerodynamik,
                                                                           (Aerodynamik,
                                                                           Steifigkeiten)
                 Reifen                                                     Steifigkeiten)
                  Reifen
  (Vertikal- und Schräglaufsteifigkeiten,
   (Vertikal- und Schräglaufsteifigkeiten,
   Balance VA/HA, Geräuschisolation)
    Balance VA/HA, Geräuschisolation)

                                                                                        Gesamtfahrzeug/
                                                                                         Gesamtfahrzeug/
                                                      Fahrdynamik
                                                       Fahrdynamik                          Package
                                                                                             Package
                                                   (Fahreigenschaften,
                                                    (Fahreigenschaften,              (Gewicht, Schwerpunktlage,
                                                                                      (Gewicht, Schwerpunktlage,
          Fahrwerk                                    Fahrkomfort)                    Massenträgheitsmomente,
                                                                                       Massenträgheitsmomente,
           Fahrwerk                                    Fahrkomfort)                     Radstand,
  (Kinematik,
   (Kinematik,Elastokinematik,
               Elastokinematik,                                                          Radstand,Spurweite)
                                                                                                   Spurweite)
      Federung,
       Federung,Dämpfung,
                 Dämpfung,
           Lenkung)
            Lenkung)

                                                                                       Getriebe
                                                                                        Getriebe
                                                                                 (System
                                                                                  (SystemAllradantrieb)
                                                                                          Allradantrieb)
      Anforderung an                         Regelsysteme
                                              Regelsysteme
                                    (PSM-
                                      (PSM-Regel
                                             Regelmit
                                                   mitden
                                                       denSystemen
                                                           Systemen
                                     FZR,
                                       FZR,ASR/ABD,
                                            ASR/ABD,ABS,ABS,MSR)
                                                             MSR)

                                             Bild 1: Anforderungen der Fahrdynamik an die Baugruppen

Fahrdynamik

Die Fahrdynamik definiert ihre Anforderungen an die anderen Fachbereiche, um die geforder-
ten Funktionen sicherzustellen. Die Pfeile bedeuten jeweils eine Anforderung an den ange-
zeigten Bereich.

Gesamtfahrzeug/Package

Mit dem Fahrzeugpackage werden wichtige Randbedingungen für die Fahrdynamik des Fahr-
zeugs festgelegt. Insbesondere betrifft dies die Hauptabmessungen des Fahrzeugs, Radstand
und Spurweite, Gewicht, Schwerpunktslage und Massenträgheitsmomente. Die niedere
Schwerpunktlage eines Sportwagens bietet beste Voraussetzungen für die Realisierung über-
legener Fahreigenschaften.

Karosserie

Für die Sicherstellung der Fahrstabilität im Hochgeschwindigkeitsbereich bei gleichzeitig
guter Handlichkeit im niederen Geschwindigkeitsbereich ist die aerodynamische Balance (cav
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Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo
und cah) und ein möglichst geringer Gesamtauftrieb durch keine anderen Maßnahmen gleich-
wertig zu ersetzen. So könnte man beispielsweise das Lenkverhalten bei hohen Fahrge-
schwindigkeiten auch durch eine indirekte Lenkung bedämpfen, müsste dann aber ein un-
handlicheres Verhalten bei geringeren Fahrgeschwindigkeiten in Kauf nehmen.
Um die aus Fahrstabilitätsgründen notwendigen hohen Feder-. Dämpfer- und Stabilisatorkräf-
te übertragen zu können, sowie dabei auch kein Karosseriezittern zu erzeugen, ist ein entspre-
chend torsions- wie biegesteifer Aufbau notwendig. Ebenso müssen die hohen Anforderungen
an eine exakte Radführung, besonders für die Hinterachse, durch eine steife Struktur realisiert
werden.
Für die Karosserieentwicklung stehen die fahrdynamisch bedingten Ziele in Konkurrenz zu
anderen Anforderungen z.B. bzgl. Styling, Gewicht, Fahrwiderstand, Thermodynamik, Ge-
setzesanfordungen (u.a. Crash, Böschungswinkel, Bodenfreiheit), Herstellkosten, Entwick-
lungskosten und Termine.
Eine aktive Einbindung in die entsprechenden Versuche erhöht die Sensibilität der Karosse-
rie-Entwickler für die fahrdynamischen Belange.

Antriebssystem

Üblicherweise hat ein Allradantrieb die Aufgabe, die Traktion auf niederen Reibwerten zu
verbessern. In unserem Anwendungsfall dient er primär zur Verbesserung der Stabilität im
fahrdynamischen Grenzbereich unter Beibehaltung des heckdominanten Charakters. Eindeu-
tigkeit, Beherrschbarkeit bei allen Geschwindigkeiten, auf hohen wie auch niederen Reibwer-
ten sind hier die wichtigsten Entwicklungsziele. Damit die Handlichkeit und die Performance
nicht leiden, ist es von größter Bedeutung, dass das Mehrgewicht durch den zusätzlichen An-
triebsstrang so gering wie möglich ausfällt. Die Auslegung des Antriebs muss nicht nur dem
Grundfahrverhalten dienen, sondern muss auch im Verbund mit den Regelsystemen harmo-
nieren.

Bremse

Die Brems- und Fahrdynamikentwicklung laufen weitgehend unabhängig voneinander. Er-
wähnenswert sind die indirekten Abhängigkeiten: Die Reifen prägen sowohl das Handling,
wie sie auch die Länge des Bremswegs entscheidend beeinflussen. Über die Ausführung der
Bremsenbelüftung wird auch der aerodynamische Auftrieb und somit ein weiterer Zielkonflikt
provoziert. Aber selbstverständlich ist ein fahrdynamisch hochklassiges Fahrzeug ohne über-
ragende Bremsleistungen nicht denkbar.

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Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo
Regelsysteme

Die Entwicklung von Fahrdynamik und Regelsystemen beeinflussen sich gegenseitig und sind
aus diesem Grunde eng aneinander gekoppelt. Die Sicherheitssysteme FZR, ASR/ABD, ABS
und MSR sind im Porsche Stability Management, kurz PSM zusammengefasst. Im Sinne des
plausiblen, für den Fahrer nachvollziehbaren Fahrverhaltens, sollen Regeleingriffe so spät wie
möglich erfolgen, wenn es aus Stabilitätsgründen erforderlich ist und der Fahrer dies auch
nachvollziehen kann. Besonders nicht plausible Traktions- und Stabilitätsregelungen können
den Fahrer stark verunsichern. Die Basisauslegung des Fahrwerks, die Reifen und die Regel-
systeme müssen harmonisch aufeinander abgestimmt sein. Beim PSM- System besteht die
Möglichkeit, durch einen Druckschalter die Traktions- und Stabilitätsregelung passiv zu
schalten, solange die Bremse nicht betätigt wird. Wird die Bremse betätigt ist die Stabilitäts-
regelung bei Bedarf sofort wieder aktiv. Dieses Abschalten wird hauptsächlich beim extremen
Fahren auf abgesperrten Strecken in Anspruch genommen. Auch hier, im fahrdynamischen
Grenzbereich, soll das Einsetzen einer Regelung, z.B. beim scharfen Bremsen in einer Kurve,
möglichst harmonisch erfolgen.

Reifen

Über die Qualität der Reifen wird das Fahrverhalten entscheidend geprägt. Die Festlegung der
Lenkung, die Balance zwischen Unter- und Übersteuern kann nur im Verbund mit der Reifen-
entwicklung erfolgen. Eine gemeinsame Zielverfolgung über die Baustufen ist deshalb unum-
gänglich. Auch der Fahrkomfort und die Abrollgeräusche werden vom Reifen beeinflusst.
Neben dem Fahrverhalten auf trockener und nasser Straße sind Schnelllauffestigkeit, Abroll-
geräusche innen und außen neben den Forderungen nach hoher Performance, geringen Ge-
wichten und hoher Laufleistung weitere konkrete Ziele für die Reifenentwicklung.

Fahrwerk

Mit der Auslegung von Kinematik, Elastokinematik, Federung, Dämpfung, Stabilisierung und
Lenkung wird der Kompromiss zwischen Fahrsicherheit, Fahrspaß und Fahrkomfort definiert
und dem Fahrwerk der Charakter aufgeprägt. Die Auslegung soll so erfolgen, dass PSM- Re-
geleingriffe erst im Bereich des Grenzbereichs erforderlich werden. Ist das Regelsystem pas-
siv gestellt, muss auch eine gute Beherrschbarkeit im fahrdynamischen Grenzbereich gewähr-
leistet sein.

4. Entwicklungsablauf und Verantwortlichkeiten
Für alle Bereiche gilt es, ihre Ziele im Sinne des Gesamtfahrzeugs umzusetzen. Durch die bei
Porsche definierten Entwicklungsabläufe werden unnötige Entwicklungsschleifen vermieden
und die Qualität zum Serienstart auf den vom Kunden geforderten Stand hin entwickelt. Die
Organisation wird bezüglich Struktur und Umfang der Größe des jeweiligen Projekts ange-
passt.

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Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo
4.1. Struktur und Ablauf der Fahrwerkentwicklung

   Bild 2 zeigt die Struktur und den Ablauf der Fahrdynamikentwicklung für die Bereiche Fahr-
   dynamik, Reifen und Regelsysteme.
       Der aufgezeigte Ablauf ist allgemeingültig. Er zeigt das Ende der Konzept- und die kom-
       plette Serienentwicklungsphase für Fahrdynamik, Reifen und Regelsysteme über den
       Baustufen.
       Für die Fahrdynamikabstimmung sind die Zeitpunkte “Letzter Input Baustufe 1 und 2“
       bedeutungsvoll. Nur wenn sie erreicht werden, können die Ergebnisse der Versuche von
       der Konstruktionsabteilung rechtzeitig eingearbeitet und in die nächste Baustufe ohne Zu-
       satzaufwendungen einfließen. Die Bereiche Karosserie und Getriebe werden bei Bedarf in
       die Fahrdynamikaktivitäten eingebunden
       Bei den Abgleichen werden jeweils die aktuellen Stände gemeinsam beurteilt, der Ent-
       wicklungsfortschritt überprüft und die weitere Vorgehensweise definiert.
       Um die Entwicklungsaktivitäten koordiniert abzuwickeln, ist es erforderlich das sich die
       Bereiche Fahrdynamik, Reifen und Regelsysteme zu vorgegebenen Zeitpunkten gegensei-
       tig definierte Baustände übergeben, um damit wieder unabhängig weiterarbeiten zu kön-
       nen.

                                Struktur und Ablauf der Fahrdynamikentwicklung
                                   definierte Abgleiche zwischen Fahrdynamik, Reifen und Regelsystemen
                                   Übergabe definierter Baustände

               Konzeptphase                                       Serienentwicklungsphase
                                    Styling Freeze                                         Freigabe 2E         Übungs-
                                    Lastenheft                                                                               PV-Serie       SOP
                  Aggregate-                            1. PT BST I                        „Langlaufteile“       Serie
                  träger                                                 BST I bestätigt
                                    Letzter Input
                                                                  Letzter Input BST II        1. PT BST II
                                     BST I
Fahrdynamik

                                                            Fahrversuche BST I             Serienabstimmung,         Qualitätsabsicherung
                  µ-high            Varianten                                              Feinschliff
                                                                  Objekt.-Messung
                  Bestätigung
                  Konzept          Abstimmungs-                   Abstimmungs-
                                                                                                                 Freigabe-
                                   stand                          stand
                                                                                                                 stand

                                                 Grenz-                                        Industr. Reifen
                         Eigenschaftsüber-       muster-      Eigenschaftsüber-
                         prüfung Reifen                       prüfung Reifen                                        Breitenerprobung
Reife n

                                                 reifen                            Reifen-
                                                                                   industrialisierung
                                                 Überarbeitung
                                                 Musterreifen                                  Industr. Reifen
Regelsysteme

                                                                      Referenzreifen                             Maske
                 Grund-                   Applikation
                                µ-high                                   µ-high        Parameter µ-high 2          µ-high     Maske
                 abstimmung                 µ-low                                       µ-low                                µ-low
                 Hydraulik                              Grundfunktion
                              Basisab-
                              stimmung                  ABS, EBV,                Zwischenstand                 Freigabestand
                              ABS / EBV                 TC, FZR                  für Abgleich

                                                                                                                                    Quelle:[2]

                                                             Bild 2: Struktur und Ablauf der Fahrdynamikentwicklung
                                                                       6
Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo
4.2. Operative Umsetzung der Entwicklungsziele

Der für die Funktion der Fahrdynamik verantwortliche Mitarbeiter der Fahrwerkabteilung ist
Mitglied des temporären Entwicklungsteams Fahrwerk. Er muss sich für “seine Fahreigen-
schaften“ einsetzen, er kennt die Porsche Fahrzeuge und sollte in der Lage sein, auch den
fahrdynamischen Grenzbereich sicher zu beherrschen, was bei einem 420 PS starken Fahr-
zeug eine hohe Anforderung bedeutet. Er führt einen großen Teil der Fahrdynamikabstim-
mungen selbst durch und wird, abhängig vom Projektumfang, durch weitere Kollegen unter-
stützt. Wichtig ist, dass er neben seiner fachlichen Kompetenz ein hohes Maß an Teamfähig-
keit mitbringt, und in der Lage ist, alle Ressourcen auszuschöpfen, um seine Ziele umzuset-
zen.

5. Einzelergebnisse
5.1. Gesamtfahrzeug

Für den Charakter und den Erfolg eines Fahrzeuges spielen Styling-Merkmale und Bauprinzi-
pien eine wichtige Rolle. So sind durch die charakteristische Silhouette und die Heckmotor-
bauweise Radstand und Achslastverteilung nur in relativ engen Grenzen
beeinflussbar. Tabelle 1 zeigt die Daten im Überblick.

Tabelle 1: Fahrdynamisch relevante Gesamtfahrzeug-Kenngrößen

                      Länge                            4435 mm
                      Breite                           1830 mm
                      Radstand                         2350 mm
                      Spurweite vorn                   1465 mm
                      Spurweite hinten                 1522 mm
                      Leergewicht                       1540 kg
                      HA- Lastanteil
                      - DIN leer + Fahrer               60,4 %
                      - voll beladen                    60,5 %

Fahrdynamisch wirken sich vor allem die gegenüber dem Vorgänger gestiegenen Werte für
Radstand und Spurweiten sowie das erhöhte Massenträgheitsmoment aus.
Der im Vergleich hohe HA-Lastanteil ist – wie das Ergebnis zeigt – bei entsprechender Fahr-
werksauslegung nicht nur gut beherrschbar, sondern hat darüber hinaus auch handfeste Vor-
teile. So ändert sich einerseits die Achslastverteilung über der Beladung kaum, andererseits
ermöglicht die gute Grundtraktion der Hinterachse den leichten Visco-Hang-On-Allradantrieb
mit der eindeutig heckdominanten Auslegung (s.u.).

                                             7
Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo
5.2. Karosserie

Die Forderung nach aerodynamisch leicht untersteuernder Auslegung bei möglichst geringem
Gesamtauftrieb zu verwirklichen, war für die Kollegen aus der Aerodynamik in Anbetracht
der beschriebenen Zielkonflikte keine einfache Aufgabe.
So waren umfangreiche Maßnahmen und Detail-Optimierungen notwendig, um letztendlich
die Werte
       cAV = 0,02,           cAH = -0,01
zu erreichen.
Als sichtbares Beispiel seien der ausfahrbare Heckspoiler sowie der Frontspoiler mit den aus-
geprägten „Flaps“ (Bilder 3 und 4) genannt. Letztere wurden zur Kompensation der zunächst
gestiegenen Vorderachsauftriebswerte durch die aus Bremsenkühlungsgründen notwendigen
Einlassöffnungen eingeführt.

                                                        Bild 3: Ausfahrbarer Heckspoiler [4]

                                             8
Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo
Bild 4: Frontspoiler [4]

5.3. Allradantrieb

Als Allradantriebssystem, das die Forderung nach heckdominanten Fahreigenschaften und
Regelsystemverträglichkeit bei geringstem Gewicht und Bauteilaufwand erfüllt, ist bei Por-
sche seit Einführung des Carrera 4, Typ 993, der Visco-Hang-On-Allradantrieb im Einsatz.
Wie oben beschrieben, bietet das Heckmotorprinzip mit der guten Traktion der Hinterachse
dafür beste Voraussetzungen. Die wichtigsten Aspekte sind:
 - der geringe zusätzliche Traktionsbedarf der Vorderachse erlaubt entsprechend leichte
    Bauteile,
 - die dadurch mögliche weiche Kennlinie der Visco-Kupplung gewährleistet heckdominan-
    te Fahreigenschaften auf allen Reibwerten, volle Regelsystemverträglichkeit ohne Einsatz
    zusätzlicher Trennkupplungen sowie geringe Verluste und kompakte, leichte Bauteile im
    gesamten Vorderachsantriebsstrang.

Ein wichtiger fahrdynamischer Vorteil der Visco-Längs-Kupplung liegt darin, dass der Anteil
der Vorderachse am Gesamtantriebsmoment mit steigender Geschwindigkeit zunimmt. Da-
durch kann die gewünschte Agilität im Bereich geringerer Fahrgeschwindigkeiten ideal mit
der Forderung nach guter Fahrstabilität bei hohen Fahrgeschwindigkeiten gepaart werden.

                                             9
Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo
Verantwortlich für diesen Effekt sind:
 - die Zentrifugalbeschleunigung, die den Druck in der Visco-Kupplung und damit das
    übertragene Moment erhöht, sowie
 - der mit steigender Geschwindigkeit steigende Umfangskraft- und damit Schlupfbedarf
    der Hinterachse.

Da die Visco-Kupplung auf Differenzdrehzahlen zwischen Hinter- und Vorderachse reagiert,
haben auch die Abrollumfänge der verwendeten Reifen einen wichtigen Einfluss. Das bedeu-
tet, dass sie – in Kombination mit den Achsübersetzungen – sorgsam definiert und eingehal-
ten werden müssen.
Im vorliegenden Fall haben beide Achsen die gleiche Übersetzung, der verwendete Hinter-
achsreifen hat einen geringfügig kleineren Abrollumfang. Das heißt, dass – auch ohne An-
triebsschlupf – die Vorderachse immer im Zugbetrieb läuft. Dadurch wird ein stabiler Gera-
deauslauf vor allem bei hohen Fahrgeschwindigkeiten begünstigt.

5.4. Fahrwerk

5.4.1. Regelsysteme

Die Grundfunktion des PSM entspricht weitgehend den bekannten Fahrdynamikregelungen
[3]. Porsche spezifisch sind die folgenden Features und Auslegungen:
    Die Stabilitätsregelung setzt so spät ein, dass sie auch einen sehr guten Fahrer, der auf
    einer Rundstrecke im absoluten Grenzbereich fährt, nicht wesentlich beeinflusst. Als ob-
    jektives Maß dafür gilt die Rundenzeit auf der Nürburgring-Nordschleife. Hier ergab sich
    bei einer Rundenzeit von ca. 8 min eine Differenz von lediglich 2 sec zu Ungunsten der
    Fahrt mit eingeschaltetem PSM!
    Die schon angesprochene gute Traktion bewirkt, dass die auffällige Schlupfregelung trotz
    der sehr hohen Motorleistung auf trockener wie auch auf regennasser Straße praktisch
    nicht zum Einsatz kommt.
    Um dem sportlich orientierten und entsprechend versierten Fahrer die Möglichkeit zu er-
    halten, auf Wunsch weiter in den fahrdynamischen Grenzbereich vorzustoßen, als ein
    Fahrsicherheitssystem ihm erlauben darf, kann PSM auch abgeschaltet werden. In diesem
    Fall ist, solange die Bremse nicht betätigt wird, nur die „elektronische Sperre“ ABD aktiv,
    alle anderen Regelungen sind passiv.
    ABD wird bei abgeschaltetem PSM zugunsten der Traktion auf eine sportlichere, sponta-
    ner ansprechende Abstimmung umgeschaltet.
    Beim Bremsen wird auch bei Passivschaltung durch den Fahrer für die Dauer der Brem-
    sung PSM wieder aktiviert. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass die natürliche Reak-
    tion den Fahrer in einer kritischen Fahrsituation auf die Bremse treten lässt. Dadurch wird
    die Fahrsicherheit auch bei abgeschaltetem PSM erhöht.

                                              10
5.4.2. Räder

In Anbetracht der Achslastverteilung und der hohen Antriebsleistung wurden, zur Verbesse-
rung der Fahrstabilität an der Hinterachse 295/30 ZR 18 Reifen auf 11“-Rädern verwendet.
An der Vorderachse kommen 225/40 ZR 18 Reifen wie beim Carrera zum Einsatz, allerdings
auf 8“- statt 7 ½ Zoll-Rädern, um in Verbindung mit der deutlich breiteren Hinterachsberei-
fung die optimale Balance zwischen Vorder- und Hinterachse zu erzielen.

Erstmals werden auch Winterräder in 18“-Dimensionen eingesetzt. Diese bieten ohne Einbu-
ßen an Wintertauglichkeit deutlich bessere Eigenschaften auf trockener Straße und wurden
zusätzlich für höhere Geschwindigkeiten entwickelt (zulässige 240 km/h statt 210 km/h).

Tabelle 2: Räder- und Reifendimensionen

Sommerräder           VA                          225/40 ZR 18            8 J x 18, ET 50
                      HA                          295/30 ZR 18           11 J x 18, ET 45
Winterräder           VA                         225/40 R 18 88V          8 J x 18, ET 50
                      HA                         265/35 R 18 93V         10 J x 18, ET 47

Die Vielfältigkeit der Anforderungen an die Reifenentwicklung sowie die Ergebnisse für 2
verschiedene Reifenfabrikate zeigt Bild 5. Durch die Form der Darstellung sieht man, dass
beide alle Anforderungen erfüllen bzw. in einzelnen Punkten übererfüllen. Außerdem werden
die unterschiedlich ausgeprägten Stärken deutlich.

                                                                   Bild 5: Reifenbeurteilung

                                            11
5.4.3 Radführung

5.4.3.1 Kinematik/Elastokinematik

Vorderachse

Um die gelungene gute Abstimmung der Lenkeigenschaften zu erhalten, wurde gegenüber
dem Carrera mit 18"-Bereifung nur eine moderate Erhöhung der Spurweite um 4 mm und der
Felgenbreite um ½ Zoll akzeptiert. Der verwirklichte stabile Geradeauslauf bestätigt diese
Entscheidung.

Hinterachse

Zur Optimierung der Fahreigenschaften v.a. bei den hohen möglichen Fahrgeschwindigkeiten
wurde die Hinterachskinematik überarbeitet:
Der Lenkhebel des Hinterachsradträgers wurde um 22 mm verlängert. Durch die entsprechen-
de Erhöhung des Seitenkraft-Hebelarmes wurde damit die Vorspurmomentensteifigkeit um
ca. 35% erhöht. Außerdem wurde durch die Verlagerung der oberen Querlenker-
Anlenkpunkte Anti-Squat (Nickverhalten) um ca. 20% vergrößert. Die niedrigeren Kräfte auf
die Spurstange und die Spurstangenlager führen zu geringerem Verschleiß. Außerdem haben
Verschleiß und Elastizitäten durch die Übersetzungsverhältnisse weniger Einfluss auf die
Radstellungen.

In der Summe wurden eine deutlich spürbar höhere Fahrstabilität nach Anlenken, Fahrspur-
wechseln und beim Ausregeln äußerer Störungen vor allem bei hohen Fahrgeschwindigkeiten
sowie harmonischere Zug-/Schub-Übergänge in der Kurve erreicht.

5.4.3.2. Federn / Dämpfer / Stabilisatoren

Tabelle 3 zeigt Achskennwerte, Bild 6 die Dämpferkennlinien.

Tabelle 3: Achskennwerte

                Radfederraten                   VA             36,5
                [N/mm]                          HA             52,8
                Hubschwingzahlen                VA              1,8
                [1/s]                           HA              1,9
                Wanksteifigkeit [°/g]           Ges.            2,7

                                           12
Bild 6: Dämpferkennlinien

Durch die straffe Federung werden die Aufbaubewegungen reduziert. Dies ist einerseits er-
forderlich, um durch geringe Schwerpunktsverlagerung und Radstellungsänderungen die Ba-
sis für einen hohen Grenzbereich zu schaffen. Außerdem gewährleistet sie auch über längere
Bodenwellen oder in Senken ein gleichmäßiges Federn ohne komfortminderndes Durchschla-
gen auf die Anschlagspuffer. Allgemein entsteht durch die direkte Anbindung an die Straße
der gewünschte „Vertrauen erweckende“ Fahreindruck.
Die großzügig dimensionierten Stabilisatoren reduzieren die durch die straffe Federung schon
geringen Wankwinkel nochmals. Die Auslegung zwischen Vorder- und Hinterachsstabilisato-
ren gewährleistet neutrales Eigenlenkverhalten bis zu hohen Querbeschleunigungen bei leich-
tem, aber trotzdem eindeutigem Untersteuern im Grenzbereich. Dadurch werden neben den
hohen Kurvengrenzgeschwindigkeiten vor allem auch sehr harmonische und gut beherrschba-
re Übergänge von der stationären Kreisfahrt zum provozierten „Power-Steer“ erreicht. Der
sportliche Fahrer schätzt die damit verbundene Möglichkeit, Feinkorrekturen am Kurvenradi-
us über das Gaspedal vorzunehmen.

Auffallend beim Vergleich der Dämpferkennlinien ist die deutliche Degression der Dämpfer-
kräfte über der Kolbengeschwindigkeit. Erreicht wird dadurch sowohl - im niederfrequenten
Bereich - ein guter Fahrbahnkontakt und die Unterstützung von Federung und Dämpfung bei
der Erzielung dynamisch geringer Aufbaubewegungen, als auch gleichzeitig ein guter
Schlechtwegkomfort durch geringen Dämpfkraftanstieg bei höheren Dämpfergeschwindigkei-
ten.

                                            13
6. Gesamtergebnis
In diesem Kapitel werden die Ergebnisse aus objektiven Messungen sowie subjektiven Be-
wertungen beschrieben. Bild 7 zeigt das für die fahrdynamischen Messungen ausgerüstete
Fahrzeug. Da neben den Fahrzeugreaktionen auch die im Fahrbetrieb auftretenden Radstel-
lungsänderungen interessieren, ist das Fahrzeug an allen 4 Rädern mit Spur-/Sturz-
Messeinrichtungen versehen.

                                                                       Bild 7: Messfahrzeug

6.1.   Traktion

In Bild 8 ist ein Beschleunigungsvergleich auf ebener, schneebedeckter Eisfläche dargestellt.
Alle Allradfahrzeuge liegen dicht zusammen. Am deutlichsten ist der Traktionsgewinn ge-
genüber dem Heckantriebsfahrzeug zu erkennen. Die prinzipbedingten Einschränkungen des
Visco-Hang-On Allradantriebs fallen im praktischen Fahrbetrieb gering aus.

                                             14
Bild 8: Traktionsvergleich

6.2.   Stationäre Kreisfahrt

Die Ergebnisse der Messungen bei stationärer Kreisfahrt zeigen die Bilder 9 bis 12.
Die Lenkwinkel (Bild 9) sind durch die relativ direkte Lenkübersetzung klein, das Fahrzeug
untersteuert bis in den Grenzbereich geringfügig, aber eindeutig.

                                                Bild 9: Lenkwinkel über Querbeschleunigung

                                           15
Die Lenkkräfte (Bild 10) sind für einen Sportwagen generell gering, durch den ausgeprägten
Anstieg aus der Mittellage werden gute Lenkinformationen sichergestellt.

                                       Bild 10: Lenkmoment über Querbeschleunigung

Die auftretenden Schwimmwinkel bleiben klein (Bild 11), die seitenkraftuntersteuernde Hin-
terachse (Bild 12) wirkt sich v.a. dynamisch positiv auf die Fahrstabilität aus.

                                        Bild 11: Schwimmwinkel über Querbeschleunigung
                                           16
Bild 12: Vorspurwinkel Hinterachse über Querbeschleunigung

6.3.   Lastwechselreaktion

Die Giergeschwindigkeitsdifferenz 1 sec nach Lastwechsel (Bild 13) - als übliches Beurtei-
lungskriterium für die Lastwechselreaktion - zeigt ein sehr gutmütiges Fahrzeugverhalten. So
ergibt sich für den sportlichen Fahrer im Zusammenhang mit dem dezenten stationären Unter-
steuern die willkommene Möglichkeit, im Grenzbereich mit dem Gaspedal zu steuern.

                              Bild 13: Vorspurwinkel Hinterachse über Querbeschleunigung
                                           17
6.4.   Sinus-Wedeltest

Giergeschwindigkeitsüberhöhung sowie Phasenwinkel der Giergeschwindigkeit zum Lenk-
radwinkel zeigen die Bilder 14 und 15. Die geringfügige Überhöhung der Giergeschwindig-
keit - zudem bei relativ hohen Lenkfrequenzen - in Zusammenhang mit den geringen Phasen-
verzügen werden als Indiz für die gute Beherrschbarkeit des Fahrzeugs auch beim Ausregeln
äußerer Störungen gewertet.

                                        Bild 14: Amplitudengang der Giergeschwindigkeit

                                             Bild 15: Phasengang der Giergeschwindigkeit
                                           18
6.5.   Bremsen in der Kurve

Die Auswirkung der Bremsenauslegung auf die Fahrstabilität des gebremsten Fahrzeugs in
der Kurve zeigt Bild 16. Trotz der Ausgangsquerbeschleunigung von 6 m/s² - statt der bei
diesem Test üblichen 4 m/s2 - treten über den gesamten Verzögerungsbereich nur moderate
Giergeschwindigkeitsdifferenzen auf.

                                                          Bild 16: Bremsen in der Kurve

                                          19
7. Zusammenfassung der Ergebnisse
Die objektiven fahrdynamischen Messungen weisen die hohe Fahrsicherheit des neuen Por-
sche Turbo nach. Auch lassen sich anhand der Messungen einige subjektiv erfahrbare Fahrei-
genschaften nachvollziehen.

Große Bereiche der fahrdynamischen Faszination entziehen sich jedoch nach wie vor einem
objektiven Nachweis. Als wichtigste subjektive Fahreigenschaften sind zu nennen:

   Die Leichtigkeit, mit der das Fahrzeug bei allen Fahrbahn- und Umweltbedingungen be-
   herrschbar ist.
   Das Vertrauen, das es auch auf dynamisch gefahrenen Rundstrecken und bei hohen Ge-
   schwindigkeiten vermittelt.
   Die Eindeutigkeit, mit der das Fahrzeug in allen Situationen und speziell auch im Grenz-
   bereich auf Eingaben mit Lenkrad und Gaspedal reagiert.

Als umfassender Nachweis einer gelungenen Fahrdynamikabstimmung gilt bei Porsche tradi-
tionell die Fahrbarkeit und Beherrschbarkeit des Fahrzeugs auf der Nürburgring-Nordschleife
mit ihrer unübertroffenen Vielfalt an Längs-, Quer- und Vertikaldynamikkomponenten sowie
die hier erzielbare Rundenzeit.
Neben den eingangs definierten Zielen wurde deshalb auch angestrebt, das Fahrzeug so per-
fekt abzustimmen, dass die Nürburgring-Nordschleife in weniger als 8 Minuten zu umrunden
ist.

Inzwischen hat eine unabhängige Testzeitschrift dem Porsche 911 Turbo mit 7:56 Minuten
das Erreichen dieses Zieles als erstem Seriensportwagen der Welt bestätigt!

Der Beitrag wurde gleichlautend auf dem 4. Internationalen Symposium am 22.02.01 vorge-
tragen

                                            20
Literatur:
[1]   G. Seifert, G. Bofinger, M. Thierer: Die Fahrdynamik des neuen Porsche 911 Turbo.
      ATZ 02/2001

[2]   Dr. V. Berkefeld, Dr. G. Döllner, F. Söffge: Fahrwerksentwicklung in 24 Monaten.
      Vortrag „Tag des Fahrwerks“, RWTH Aachen 10/2000

[3]   R. Erhardt, A.T. van Zanten: FDR, ein neues Fahrsicherheitssystem mit aktiver Re-
      gelung der Brems- und Antriebskräfte im fahrdynamischen Grenzbereich

[4]   Dr. Ing. h. c. F. Porsche AG: Presseinformation Porsche 911 Turbo, Modelljahr 2001

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