Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo
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Die Fahrdynamikentwicklung des neuen Porsche 911 Turbo E. Armbrusta,1, G. Seiferta a Dr. Ing. h. c. F. Porsche AG Porschestraße 71287 Weissach Kurzfassung: Zum Erfolg des neuen Porsche 911 Turbo tragen nicht zuletzt auch seine fahrdyna- mischen Qualitäten mit bei. Die Entwicklung dieses Fahrzeugs, auf der Basis des aktuellen 911 Carrera 4, war für alle Bereiche aufgrund der hochgesteckten Ziele eine sehr interessante Heraus- forderung. Das Erreichen der Entwicklungsziele im vorgegebenen Zeitplan, mit den vorhandenen Ressourcen und dem eingestellten Budget, wurde durch einen koordi- nierten Entwicklungsprozess sichergestellt. Es werden speziell die Fahrdynamik betreffenden Entwicklungsziele, die Einflussgrößen und die Zielkonflikte der beteilig- ten Fachbereiche angesprochen. Die Ergebnisse der fahrdynamischen Qualitäten werden mittels subjektiver Eindrücke und objektiver Kenngrößen beschrieben. 1 E-mail: eberhard.armbrust@porsche.de URL: www.porsche.de
1. Einleitung Im Mittelpunkt einer Fahrzeugentwicklung stehen die Kundenanforderungen, diese bestim- men die Entwicklungsziele, die umzusetzen sind. Um herausragende fahrdynamische Qualitäten zu erreichen, müssen alle Baugruppen am Fahrzeug, besonders Karosserie, Fahrwerk und Reifen, exakt aufeinander abgestimmt sein. Der nachfolgende Vortrag befasst sich mit der Vorgehensweise der Fahrdynamikentwicklung, geht auf technische Anforderungen der relevanten Baugruppen ein und zeigt die Ergebnisse dieser Entwicklung auf. 2. Ziele der Fahrdynamikentwicklung In [1] werden die Entwicklungsziele detailliert beschrieben. Die wichtigsten fahrdynamischen Anforderungen sind: - Fahrleistungen - Beherrschbarkeit - Agilität, Fahrspaß, Spontaneität - Eindeutigkeit, Reproduzierbarkeit - Fahrkomfort - Alltagstauglichkeit 3. Anforderungen an die Baugruppen Mit dem Lastenheft werden die Anforderungen für das komplette Fahrzeug definiert. Es müs- sen alle Anforderungen möglichst exakt formuliert und mit objektiv fassbaren Werten unter- mauert sein. In Bild 1 sind die für die Fahrdynamik bestimmenden Bereiche aufgezeigt und Zielkonflikte angesprochen. 2
Bremse Bremse (indirekte Einflüsse über (indirekte Einflüsse über Karosserie) Karosserie) Karosserie Karosserie (Aerodynamik, (Aerodynamik, Steifigkeiten) Reifen Steifigkeiten) Reifen (Vertikal- und Schräglaufsteifigkeiten, (Vertikal- und Schräglaufsteifigkeiten, Balance VA/HA, Geräuschisolation) Balance VA/HA, Geräuschisolation) Gesamtfahrzeug/ Gesamtfahrzeug/ Fahrdynamik Fahrdynamik Package Package (Fahreigenschaften, (Fahreigenschaften, (Gewicht, Schwerpunktlage, (Gewicht, Schwerpunktlage, Fahrwerk Fahrkomfort) Massenträgheitsmomente, Massenträgheitsmomente, Fahrwerk Fahrkomfort) Radstand, (Kinematik, (Kinematik,Elastokinematik, Elastokinematik, Radstand,Spurweite) Spurweite) Federung, Federung,Dämpfung, Dämpfung, Lenkung) Lenkung) Getriebe Getriebe (System (SystemAllradantrieb) Allradantrieb) Anforderung an Regelsysteme Regelsysteme (PSM- (PSM-Regel Regelmit mitden denSystemen Systemen FZR, FZR,ASR/ABD, ASR/ABD,ABS,ABS,MSR) MSR) Bild 1: Anforderungen der Fahrdynamik an die Baugruppen Fahrdynamik Die Fahrdynamik definiert ihre Anforderungen an die anderen Fachbereiche, um die geforder- ten Funktionen sicherzustellen. Die Pfeile bedeuten jeweils eine Anforderung an den ange- zeigten Bereich. Gesamtfahrzeug/Package Mit dem Fahrzeugpackage werden wichtige Randbedingungen für die Fahrdynamik des Fahr- zeugs festgelegt. Insbesondere betrifft dies die Hauptabmessungen des Fahrzeugs, Radstand und Spurweite, Gewicht, Schwerpunktslage und Massenträgheitsmomente. Die niedere Schwerpunktlage eines Sportwagens bietet beste Voraussetzungen für die Realisierung über- legener Fahreigenschaften. Karosserie Für die Sicherstellung der Fahrstabilität im Hochgeschwindigkeitsbereich bei gleichzeitig guter Handlichkeit im niederen Geschwindigkeitsbereich ist die aerodynamische Balance (cav 3
und cah) und ein möglichst geringer Gesamtauftrieb durch keine anderen Maßnahmen gleich- wertig zu ersetzen. So könnte man beispielsweise das Lenkverhalten bei hohen Fahrge- schwindigkeiten auch durch eine indirekte Lenkung bedämpfen, müsste dann aber ein un- handlicheres Verhalten bei geringeren Fahrgeschwindigkeiten in Kauf nehmen. Um die aus Fahrstabilitätsgründen notwendigen hohen Feder-. Dämpfer- und Stabilisatorkräf- te übertragen zu können, sowie dabei auch kein Karosseriezittern zu erzeugen, ist ein entspre- chend torsions- wie biegesteifer Aufbau notwendig. Ebenso müssen die hohen Anforderungen an eine exakte Radführung, besonders für die Hinterachse, durch eine steife Struktur realisiert werden. Für die Karosserieentwicklung stehen die fahrdynamisch bedingten Ziele in Konkurrenz zu anderen Anforderungen z.B. bzgl. Styling, Gewicht, Fahrwiderstand, Thermodynamik, Ge- setzesanfordungen (u.a. Crash, Böschungswinkel, Bodenfreiheit), Herstellkosten, Entwick- lungskosten und Termine. Eine aktive Einbindung in die entsprechenden Versuche erhöht die Sensibilität der Karosse- rie-Entwickler für die fahrdynamischen Belange. Antriebssystem Üblicherweise hat ein Allradantrieb die Aufgabe, die Traktion auf niederen Reibwerten zu verbessern. In unserem Anwendungsfall dient er primär zur Verbesserung der Stabilität im fahrdynamischen Grenzbereich unter Beibehaltung des heckdominanten Charakters. Eindeu- tigkeit, Beherrschbarkeit bei allen Geschwindigkeiten, auf hohen wie auch niederen Reibwer- ten sind hier die wichtigsten Entwicklungsziele. Damit die Handlichkeit und die Performance nicht leiden, ist es von größter Bedeutung, dass das Mehrgewicht durch den zusätzlichen An- triebsstrang so gering wie möglich ausfällt. Die Auslegung des Antriebs muss nicht nur dem Grundfahrverhalten dienen, sondern muss auch im Verbund mit den Regelsystemen harmo- nieren. Bremse Die Brems- und Fahrdynamikentwicklung laufen weitgehend unabhängig voneinander. Er- wähnenswert sind die indirekten Abhängigkeiten: Die Reifen prägen sowohl das Handling, wie sie auch die Länge des Bremswegs entscheidend beeinflussen. Über die Ausführung der Bremsenbelüftung wird auch der aerodynamische Auftrieb und somit ein weiterer Zielkonflikt provoziert. Aber selbstverständlich ist ein fahrdynamisch hochklassiges Fahrzeug ohne über- ragende Bremsleistungen nicht denkbar. 4
Regelsysteme Die Entwicklung von Fahrdynamik und Regelsystemen beeinflussen sich gegenseitig und sind aus diesem Grunde eng aneinander gekoppelt. Die Sicherheitssysteme FZR, ASR/ABD, ABS und MSR sind im Porsche Stability Management, kurz PSM zusammengefasst. Im Sinne des plausiblen, für den Fahrer nachvollziehbaren Fahrverhaltens, sollen Regeleingriffe so spät wie möglich erfolgen, wenn es aus Stabilitätsgründen erforderlich ist und der Fahrer dies auch nachvollziehen kann. Besonders nicht plausible Traktions- und Stabilitätsregelungen können den Fahrer stark verunsichern. Die Basisauslegung des Fahrwerks, die Reifen und die Regel- systeme müssen harmonisch aufeinander abgestimmt sein. Beim PSM- System besteht die Möglichkeit, durch einen Druckschalter die Traktions- und Stabilitätsregelung passiv zu schalten, solange die Bremse nicht betätigt wird. Wird die Bremse betätigt ist die Stabilitäts- regelung bei Bedarf sofort wieder aktiv. Dieses Abschalten wird hauptsächlich beim extremen Fahren auf abgesperrten Strecken in Anspruch genommen. Auch hier, im fahrdynamischen Grenzbereich, soll das Einsetzen einer Regelung, z.B. beim scharfen Bremsen in einer Kurve, möglichst harmonisch erfolgen. Reifen Über die Qualität der Reifen wird das Fahrverhalten entscheidend geprägt. Die Festlegung der Lenkung, die Balance zwischen Unter- und Übersteuern kann nur im Verbund mit der Reifen- entwicklung erfolgen. Eine gemeinsame Zielverfolgung über die Baustufen ist deshalb unum- gänglich. Auch der Fahrkomfort und die Abrollgeräusche werden vom Reifen beeinflusst. Neben dem Fahrverhalten auf trockener und nasser Straße sind Schnelllauffestigkeit, Abroll- geräusche innen und außen neben den Forderungen nach hoher Performance, geringen Ge- wichten und hoher Laufleistung weitere konkrete Ziele für die Reifenentwicklung. Fahrwerk Mit der Auslegung von Kinematik, Elastokinematik, Federung, Dämpfung, Stabilisierung und Lenkung wird der Kompromiss zwischen Fahrsicherheit, Fahrspaß und Fahrkomfort definiert und dem Fahrwerk der Charakter aufgeprägt. Die Auslegung soll so erfolgen, dass PSM- Re- geleingriffe erst im Bereich des Grenzbereichs erforderlich werden. Ist das Regelsystem pas- siv gestellt, muss auch eine gute Beherrschbarkeit im fahrdynamischen Grenzbereich gewähr- leistet sein. 4. Entwicklungsablauf und Verantwortlichkeiten Für alle Bereiche gilt es, ihre Ziele im Sinne des Gesamtfahrzeugs umzusetzen. Durch die bei Porsche definierten Entwicklungsabläufe werden unnötige Entwicklungsschleifen vermieden und die Qualität zum Serienstart auf den vom Kunden geforderten Stand hin entwickelt. Die Organisation wird bezüglich Struktur und Umfang der Größe des jeweiligen Projekts ange- passt. 5
4.1. Struktur und Ablauf der Fahrwerkentwicklung Bild 2 zeigt die Struktur und den Ablauf der Fahrdynamikentwicklung für die Bereiche Fahr- dynamik, Reifen und Regelsysteme. Der aufgezeigte Ablauf ist allgemeingültig. Er zeigt das Ende der Konzept- und die kom- plette Serienentwicklungsphase für Fahrdynamik, Reifen und Regelsysteme über den Baustufen. Für die Fahrdynamikabstimmung sind die Zeitpunkte “Letzter Input Baustufe 1 und 2“ bedeutungsvoll. Nur wenn sie erreicht werden, können die Ergebnisse der Versuche von der Konstruktionsabteilung rechtzeitig eingearbeitet und in die nächste Baustufe ohne Zu- satzaufwendungen einfließen. Die Bereiche Karosserie und Getriebe werden bei Bedarf in die Fahrdynamikaktivitäten eingebunden Bei den Abgleichen werden jeweils die aktuellen Stände gemeinsam beurteilt, der Ent- wicklungsfortschritt überprüft und die weitere Vorgehensweise definiert. Um die Entwicklungsaktivitäten koordiniert abzuwickeln, ist es erforderlich das sich die Bereiche Fahrdynamik, Reifen und Regelsysteme zu vorgegebenen Zeitpunkten gegensei- tig definierte Baustände übergeben, um damit wieder unabhängig weiterarbeiten zu kön- nen. Struktur und Ablauf der Fahrdynamikentwicklung definierte Abgleiche zwischen Fahrdynamik, Reifen und Regelsystemen Übergabe definierter Baustände Konzeptphase Serienentwicklungsphase Styling Freeze Freigabe 2E Übungs- Lastenheft PV-Serie SOP Aggregate- 1. PT BST I „Langlaufteile“ Serie träger BST I bestätigt Letzter Input Letzter Input BST II 1. PT BST II BST I Fahrdynamik Fahrversuche BST I Serienabstimmung, Qualitätsabsicherung µ-high Varianten Feinschliff Objekt.-Messung Bestätigung Konzept Abstimmungs- Abstimmungs- Freigabe- stand stand stand Grenz- Industr. Reifen Eigenschaftsüber- muster- Eigenschaftsüber- prüfung Reifen prüfung Reifen Breitenerprobung Reife n reifen Reifen- industrialisierung Überarbeitung Musterreifen Industr. Reifen Regelsysteme Referenzreifen Maske Grund- Applikation µ-high µ-high Parameter µ-high 2 µ-high Maske abstimmung µ-low µ-low µ-low Hydraulik Grundfunktion Basisab- stimmung ABS, EBV, Zwischenstand Freigabestand ABS / EBV TC, FZR für Abgleich Quelle:[2] Bild 2: Struktur und Ablauf der Fahrdynamikentwicklung 6
4.2. Operative Umsetzung der Entwicklungsziele Der für die Funktion der Fahrdynamik verantwortliche Mitarbeiter der Fahrwerkabteilung ist Mitglied des temporären Entwicklungsteams Fahrwerk. Er muss sich für “seine Fahreigen- schaften“ einsetzen, er kennt die Porsche Fahrzeuge und sollte in der Lage sein, auch den fahrdynamischen Grenzbereich sicher zu beherrschen, was bei einem 420 PS starken Fahr- zeug eine hohe Anforderung bedeutet. Er führt einen großen Teil der Fahrdynamikabstim- mungen selbst durch und wird, abhängig vom Projektumfang, durch weitere Kollegen unter- stützt. Wichtig ist, dass er neben seiner fachlichen Kompetenz ein hohes Maß an Teamfähig- keit mitbringt, und in der Lage ist, alle Ressourcen auszuschöpfen, um seine Ziele umzuset- zen. 5. Einzelergebnisse 5.1. Gesamtfahrzeug Für den Charakter und den Erfolg eines Fahrzeuges spielen Styling-Merkmale und Bauprinzi- pien eine wichtige Rolle. So sind durch die charakteristische Silhouette und die Heckmotor- bauweise Radstand und Achslastverteilung nur in relativ engen Grenzen beeinflussbar. Tabelle 1 zeigt die Daten im Überblick. Tabelle 1: Fahrdynamisch relevante Gesamtfahrzeug-Kenngrößen Länge 4435 mm Breite 1830 mm Radstand 2350 mm Spurweite vorn 1465 mm Spurweite hinten 1522 mm Leergewicht 1540 kg HA- Lastanteil - DIN leer + Fahrer 60,4 % - voll beladen 60,5 % Fahrdynamisch wirken sich vor allem die gegenüber dem Vorgänger gestiegenen Werte für Radstand und Spurweiten sowie das erhöhte Massenträgheitsmoment aus. Der im Vergleich hohe HA-Lastanteil ist – wie das Ergebnis zeigt – bei entsprechender Fahr- werksauslegung nicht nur gut beherrschbar, sondern hat darüber hinaus auch handfeste Vor- teile. So ändert sich einerseits die Achslastverteilung über der Beladung kaum, andererseits ermöglicht die gute Grundtraktion der Hinterachse den leichten Visco-Hang-On-Allradantrieb mit der eindeutig heckdominanten Auslegung (s.u.). 7
5.2. Karosserie Die Forderung nach aerodynamisch leicht untersteuernder Auslegung bei möglichst geringem Gesamtauftrieb zu verwirklichen, war für die Kollegen aus der Aerodynamik in Anbetracht der beschriebenen Zielkonflikte keine einfache Aufgabe. So waren umfangreiche Maßnahmen und Detail-Optimierungen notwendig, um letztendlich die Werte cAV = 0,02, cAH = -0,01 zu erreichen. Als sichtbares Beispiel seien der ausfahrbare Heckspoiler sowie der Frontspoiler mit den aus- geprägten „Flaps“ (Bilder 3 und 4) genannt. Letztere wurden zur Kompensation der zunächst gestiegenen Vorderachsauftriebswerte durch die aus Bremsenkühlungsgründen notwendigen Einlassöffnungen eingeführt. Bild 3: Ausfahrbarer Heckspoiler [4] 8
Bild 4: Frontspoiler [4] 5.3. Allradantrieb Als Allradantriebssystem, das die Forderung nach heckdominanten Fahreigenschaften und Regelsystemverträglichkeit bei geringstem Gewicht und Bauteilaufwand erfüllt, ist bei Por- sche seit Einführung des Carrera 4, Typ 993, der Visco-Hang-On-Allradantrieb im Einsatz. Wie oben beschrieben, bietet das Heckmotorprinzip mit der guten Traktion der Hinterachse dafür beste Voraussetzungen. Die wichtigsten Aspekte sind: - der geringe zusätzliche Traktionsbedarf der Vorderachse erlaubt entsprechend leichte Bauteile, - die dadurch mögliche weiche Kennlinie der Visco-Kupplung gewährleistet heckdominan- te Fahreigenschaften auf allen Reibwerten, volle Regelsystemverträglichkeit ohne Einsatz zusätzlicher Trennkupplungen sowie geringe Verluste und kompakte, leichte Bauteile im gesamten Vorderachsantriebsstrang. Ein wichtiger fahrdynamischer Vorteil der Visco-Längs-Kupplung liegt darin, dass der Anteil der Vorderachse am Gesamtantriebsmoment mit steigender Geschwindigkeit zunimmt. Da- durch kann die gewünschte Agilität im Bereich geringerer Fahrgeschwindigkeiten ideal mit der Forderung nach guter Fahrstabilität bei hohen Fahrgeschwindigkeiten gepaart werden. 9
Verantwortlich für diesen Effekt sind: - die Zentrifugalbeschleunigung, die den Druck in der Visco-Kupplung und damit das übertragene Moment erhöht, sowie - der mit steigender Geschwindigkeit steigende Umfangskraft- und damit Schlupfbedarf der Hinterachse. Da die Visco-Kupplung auf Differenzdrehzahlen zwischen Hinter- und Vorderachse reagiert, haben auch die Abrollumfänge der verwendeten Reifen einen wichtigen Einfluss. Das bedeu- tet, dass sie – in Kombination mit den Achsübersetzungen – sorgsam definiert und eingehal- ten werden müssen. Im vorliegenden Fall haben beide Achsen die gleiche Übersetzung, der verwendete Hinter- achsreifen hat einen geringfügig kleineren Abrollumfang. Das heißt, dass – auch ohne An- triebsschlupf – die Vorderachse immer im Zugbetrieb läuft. Dadurch wird ein stabiler Gera- deauslauf vor allem bei hohen Fahrgeschwindigkeiten begünstigt. 5.4. Fahrwerk 5.4.1. Regelsysteme Die Grundfunktion des PSM entspricht weitgehend den bekannten Fahrdynamikregelungen [3]. Porsche spezifisch sind die folgenden Features und Auslegungen: Die Stabilitätsregelung setzt so spät ein, dass sie auch einen sehr guten Fahrer, der auf einer Rundstrecke im absoluten Grenzbereich fährt, nicht wesentlich beeinflusst. Als ob- jektives Maß dafür gilt die Rundenzeit auf der Nürburgring-Nordschleife. Hier ergab sich bei einer Rundenzeit von ca. 8 min eine Differenz von lediglich 2 sec zu Ungunsten der Fahrt mit eingeschaltetem PSM! Die schon angesprochene gute Traktion bewirkt, dass die auffällige Schlupfregelung trotz der sehr hohen Motorleistung auf trockener wie auch auf regennasser Straße praktisch nicht zum Einsatz kommt. Um dem sportlich orientierten und entsprechend versierten Fahrer die Möglichkeit zu er- halten, auf Wunsch weiter in den fahrdynamischen Grenzbereich vorzustoßen, als ein Fahrsicherheitssystem ihm erlauben darf, kann PSM auch abgeschaltet werden. In diesem Fall ist, solange die Bremse nicht betätigt wird, nur die „elektronische Sperre“ ABD aktiv, alle anderen Regelungen sind passiv. ABD wird bei abgeschaltetem PSM zugunsten der Traktion auf eine sportlichere, sponta- ner ansprechende Abstimmung umgeschaltet. Beim Bremsen wird auch bei Passivschaltung durch den Fahrer für die Dauer der Brem- sung PSM wieder aktiviert. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass die natürliche Reak- tion den Fahrer in einer kritischen Fahrsituation auf die Bremse treten lässt. Dadurch wird die Fahrsicherheit auch bei abgeschaltetem PSM erhöht. 10
5.4.2. Räder In Anbetracht der Achslastverteilung und der hohen Antriebsleistung wurden, zur Verbesse- rung der Fahrstabilität an der Hinterachse 295/30 ZR 18 Reifen auf 11“-Rädern verwendet. An der Vorderachse kommen 225/40 ZR 18 Reifen wie beim Carrera zum Einsatz, allerdings auf 8“- statt 7 ½ Zoll-Rädern, um in Verbindung mit der deutlich breiteren Hinterachsberei- fung die optimale Balance zwischen Vorder- und Hinterachse zu erzielen. Erstmals werden auch Winterräder in 18“-Dimensionen eingesetzt. Diese bieten ohne Einbu- ßen an Wintertauglichkeit deutlich bessere Eigenschaften auf trockener Straße und wurden zusätzlich für höhere Geschwindigkeiten entwickelt (zulässige 240 km/h statt 210 km/h). Tabelle 2: Räder- und Reifendimensionen Sommerräder VA 225/40 ZR 18 8 J x 18, ET 50 HA 295/30 ZR 18 11 J x 18, ET 45 Winterräder VA 225/40 R 18 88V 8 J x 18, ET 50 HA 265/35 R 18 93V 10 J x 18, ET 47 Die Vielfältigkeit der Anforderungen an die Reifenentwicklung sowie die Ergebnisse für 2 verschiedene Reifenfabrikate zeigt Bild 5. Durch die Form der Darstellung sieht man, dass beide alle Anforderungen erfüllen bzw. in einzelnen Punkten übererfüllen. Außerdem werden die unterschiedlich ausgeprägten Stärken deutlich. Bild 5: Reifenbeurteilung 11
5.4.3 Radführung 5.4.3.1 Kinematik/Elastokinematik Vorderachse Um die gelungene gute Abstimmung der Lenkeigenschaften zu erhalten, wurde gegenüber dem Carrera mit 18"-Bereifung nur eine moderate Erhöhung der Spurweite um 4 mm und der Felgenbreite um ½ Zoll akzeptiert. Der verwirklichte stabile Geradeauslauf bestätigt diese Entscheidung. Hinterachse Zur Optimierung der Fahreigenschaften v.a. bei den hohen möglichen Fahrgeschwindigkeiten wurde die Hinterachskinematik überarbeitet: Der Lenkhebel des Hinterachsradträgers wurde um 22 mm verlängert. Durch die entsprechen- de Erhöhung des Seitenkraft-Hebelarmes wurde damit die Vorspurmomentensteifigkeit um ca. 35% erhöht. Außerdem wurde durch die Verlagerung der oberen Querlenker- Anlenkpunkte Anti-Squat (Nickverhalten) um ca. 20% vergrößert. Die niedrigeren Kräfte auf die Spurstange und die Spurstangenlager führen zu geringerem Verschleiß. Außerdem haben Verschleiß und Elastizitäten durch die Übersetzungsverhältnisse weniger Einfluss auf die Radstellungen. In der Summe wurden eine deutlich spürbar höhere Fahrstabilität nach Anlenken, Fahrspur- wechseln und beim Ausregeln äußerer Störungen vor allem bei hohen Fahrgeschwindigkeiten sowie harmonischere Zug-/Schub-Übergänge in der Kurve erreicht. 5.4.3.2. Federn / Dämpfer / Stabilisatoren Tabelle 3 zeigt Achskennwerte, Bild 6 die Dämpferkennlinien. Tabelle 3: Achskennwerte Radfederraten VA 36,5 [N/mm] HA 52,8 Hubschwingzahlen VA 1,8 [1/s] HA 1,9 Wanksteifigkeit [°/g] Ges. 2,7 12
Bild 6: Dämpferkennlinien Durch die straffe Federung werden die Aufbaubewegungen reduziert. Dies ist einerseits er- forderlich, um durch geringe Schwerpunktsverlagerung und Radstellungsänderungen die Ba- sis für einen hohen Grenzbereich zu schaffen. Außerdem gewährleistet sie auch über längere Bodenwellen oder in Senken ein gleichmäßiges Federn ohne komfortminderndes Durchschla- gen auf die Anschlagspuffer. Allgemein entsteht durch die direkte Anbindung an die Straße der gewünschte „Vertrauen erweckende“ Fahreindruck. Die großzügig dimensionierten Stabilisatoren reduzieren die durch die straffe Federung schon geringen Wankwinkel nochmals. Die Auslegung zwischen Vorder- und Hinterachsstabilisato- ren gewährleistet neutrales Eigenlenkverhalten bis zu hohen Querbeschleunigungen bei leich- tem, aber trotzdem eindeutigem Untersteuern im Grenzbereich. Dadurch werden neben den hohen Kurvengrenzgeschwindigkeiten vor allem auch sehr harmonische und gut beherrschba- re Übergänge von der stationären Kreisfahrt zum provozierten „Power-Steer“ erreicht. Der sportliche Fahrer schätzt die damit verbundene Möglichkeit, Feinkorrekturen am Kurvenradi- us über das Gaspedal vorzunehmen. Auffallend beim Vergleich der Dämpferkennlinien ist die deutliche Degression der Dämpfer- kräfte über der Kolbengeschwindigkeit. Erreicht wird dadurch sowohl - im niederfrequenten Bereich - ein guter Fahrbahnkontakt und die Unterstützung von Federung und Dämpfung bei der Erzielung dynamisch geringer Aufbaubewegungen, als auch gleichzeitig ein guter Schlechtwegkomfort durch geringen Dämpfkraftanstieg bei höheren Dämpfergeschwindigkei- ten. 13
6. Gesamtergebnis In diesem Kapitel werden die Ergebnisse aus objektiven Messungen sowie subjektiven Be- wertungen beschrieben. Bild 7 zeigt das für die fahrdynamischen Messungen ausgerüstete Fahrzeug. Da neben den Fahrzeugreaktionen auch die im Fahrbetrieb auftretenden Radstel- lungsänderungen interessieren, ist das Fahrzeug an allen 4 Rädern mit Spur-/Sturz- Messeinrichtungen versehen. Bild 7: Messfahrzeug 6.1. Traktion In Bild 8 ist ein Beschleunigungsvergleich auf ebener, schneebedeckter Eisfläche dargestellt. Alle Allradfahrzeuge liegen dicht zusammen. Am deutlichsten ist der Traktionsgewinn ge- genüber dem Heckantriebsfahrzeug zu erkennen. Die prinzipbedingten Einschränkungen des Visco-Hang-On Allradantriebs fallen im praktischen Fahrbetrieb gering aus. 14
Bild 8: Traktionsvergleich 6.2. Stationäre Kreisfahrt Die Ergebnisse der Messungen bei stationärer Kreisfahrt zeigen die Bilder 9 bis 12. Die Lenkwinkel (Bild 9) sind durch die relativ direkte Lenkübersetzung klein, das Fahrzeug untersteuert bis in den Grenzbereich geringfügig, aber eindeutig. Bild 9: Lenkwinkel über Querbeschleunigung 15
Die Lenkkräfte (Bild 10) sind für einen Sportwagen generell gering, durch den ausgeprägten Anstieg aus der Mittellage werden gute Lenkinformationen sichergestellt. Bild 10: Lenkmoment über Querbeschleunigung Die auftretenden Schwimmwinkel bleiben klein (Bild 11), die seitenkraftuntersteuernde Hin- terachse (Bild 12) wirkt sich v.a. dynamisch positiv auf die Fahrstabilität aus. Bild 11: Schwimmwinkel über Querbeschleunigung 16
Bild 12: Vorspurwinkel Hinterachse über Querbeschleunigung 6.3. Lastwechselreaktion Die Giergeschwindigkeitsdifferenz 1 sec nach Lastwechsel (Bild 13) - als übliches Beurtei- lungskriterium für die Lastwechselreaktion - zeigt ein sehr gutmütiges Fahrzeugverhalten. So ergibt sich für den sportlichen Fahrer im Zusammenhang mit dem dezenten stationären Unter- steuern die willkommene Möglichkeit, im Grenzbereich mit dem Gaspedal zu steuern. Bild 13: Vorspurwinkel Hinterachse über Querbeschleunigung 17
6.4. Sinus-Wedeltest Giergeschwindigkeitsüberhöhung sowie Phasenwinkel der Giergeschwindigkeit zum Lenk- radwinkel zeigen die Bilder 14 und 15. Die geringfügige Überhöhung der Giergeschwindig- keit - zudem bei relativ hohen Lenkfrequenzen - in Zusammenhang mit den geringen Phasen- verzügen werden als Indiz für die gute Beherrschbarkeit des Fahrzeugs auch beim Ausregeln äußerer Störungen gewertet. Bild 14: Amplitudengang der Giergeschwindigkeit Bild 15: Phasengang der Giergeschwindigkeit 18
6.5. Bremsen in der Kurve Die Auswirkung der Bremsenauslegung auf die Fahrstabilität des gebremsten Fahrzeugs in der Kurve zeigt Bild 16. Trotz der Ausgangsquerbeschleunigung von 6 m/s² - statt der bei diesem Test üblichen 4 m/s2 - treten über den gesamten Verzögerungsbereich nur moderate Giergeschwindigkeitsdifferenzen auf. Bild 16: Bremsen in der Kurve 19
7. Zusammenfassung der Ergebnisse Die objektiven fahrdynamischen Messungen weisen die hohe Fahrsicherheit des neuen Por- sche Turbo nach. Auch lassen sich anhand der Messungen einige subjektiv erfahrbare Fahrei- genschaften nachvollziehen. Große Bereiche der fahrdynamischen Faszination entziehen sich jedoch nach wie vor einem objektiven Nachweis. Als wichtigste subjektive Fahreigenschaften sind zu nennen: Die Leichtigkeit, mit der das Fahrzeug bei allen Fahrbahn- und Umweltbedingungen be- herrschbar ist. Das Vertrauen, das es auch auf dynamisch gefahrenen Rundstrecken und bei hohen Ge- schwindigkeiten vermittelt. Die Eindeutigkeit, mit der das Fahrzeug in allen Situationen und speziell auch im Grenz- bereich auf Eingaben mit Lenkrad und Gaspedal reagiert. Als umfassender Nachweis einer gelungenen Fahrdynamikabstimmung gilt bei Porsche tradi- tionell die Fahrbarkeit und Beherrschbarkeit des Fahrzeugs auf der Nürburgring-Nordschleife mit ihrer unübertroffenen Vielfalt an Längs-, Quer- und Vertikaldynamikkomponenten sowie die hier erzielbare Rundenzeit. Neben den eingangs definierten Zielen wurde deshalb auch angestrebt, das Fahrzeug so per- fekt abzustimmen, dass die Nürburgring-Nordschleife in weniger als 8 Minuten zu umrunden ist. Inzwischen hat eine unabhängige Testzeitschrift dem Porsche 911 Turbo mit 7:56 Minuten das Erreichen dieses Zieles als erstem Seriensportwagen der Welt bestätigt! Der Beitrag wurde gleichlautend auf dem 4. Internationalen Symposium am 22.02.01 vorge- tragen 20
Literatur: [1] G. Seifert, G. Bofinger, M. Thierer: Die Fahrdynamik des neuen Porsche 911 Turbo. ATZ 02/2001 [2] Dr. V. Berkefeld, Dr. G. Döllner, F. Söffge: Fahrwerksentwicklung in 24 Monaten. Vortrag „Tag des Fahrwerks“, RWTH Aachen 10/2000 [3] R. Erhardt, A.T. van Zanten: FDR, ein neues Fahrsicherheitssystem mit aktiver Re- gelung der Brems- und Antriebskräfte im fahrdynamischen Grenzbereich [4] Dr. Ing. h. c. F. Porsche AG: Presseinformation Porsche 911 Turbo, Modelljahr 2001 21
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