Die neue Europäische Union : im vitalen Interesse Deutschlands?

 
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Die neue Europäische Union : im vitalen Interesse Deutschlands?
                                                                                                 Die neue Europäische Union :
                                                                                                 im vitalen Interesse Deutschlands?
                                                                                                 Studie zu Kosten und Nutzen der Europäischen Union
                                                                                                 für die Bundesrepublik Deutschland

                                                                                                 Wolfgang Wessels / Udo Diedrichs (Hrsg.), Januar 2006

                                Wessels / Diedrichs (Hrsg.)

www.europaeische-bewegung.de                                                                                                                             europa-union deutschland
                                                                                                                                                         Mitwirken am Europa der Bürger
www.europa-union.de
Die Initiatoren

Netzwerk Europäische Bewegung Deutschland
Europa-Union Deutschland

Die Herausgeber

Prof. Dr. Wolfgang Wessels
Dr. Udo Diedrichs
                                                                                                                                                                                            Netzwerk
Die Autoren                                                                                                                                                                                 Europäische Bewegung Deutschland
                                                                                                                                                                                            Jean-Monnet-Haus
Prof. Dr. Wolfgang Wessels
                                                                                                                                                                                            Bundesallee 22
Inhaber eines Jean Monnet Lehrstuhls am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität zu Köln
                                                                                                                                                                                            D – 10717 Berlin
Dr. Udo Diedrichs
                                                                                                                                                                                            Tel.: +49 - 30 - 88 41 22 45
Senior Fellow am Jean Monnet Lehrstuhl am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität zu Köln
                                                                                                                                                                                            Fax: +49 - 30 - 88 41 22 47
Prof. Dr. Rolf Sternberg                                                                                                                                                                    netzwerk@europaeische-bewegung.de
Professor am Institut für Wirtschafts- und Kulturgeographie der Universität Hannover                                                                                                        www.europaeische-bewegung.de
Prof. Dr. Thomas Straubhaar
Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA)

Dr. Günter Weinert                                                                                                                                                                          Europa-Union Deutschland
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA)                                                                                                              Jean-Monnet-Haus
Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt                                                                                                                                                            Bundesallee 22
Professor am Seminar für Sozialpolitik der Universität zu Köln                                                                                                                              D – 10717 Berlin
                                                                                                                                                                                            Tel.: +49 - 30 - 88 67 66 20
Prof. Dr. Werner Sesselmeier
                                                                                                                                                                                            Fax: +49 - 30 - 88 41 22 47
Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Koblenz-Landau
                                                                                                                                                                                            info@europa-union.de
Prof. Dr. Lars P. Feld                                                                                                                                                                      www.europa-union.de
Professor für Volkswirtschaftslehre (Finanzwissenschaft) an der Philipps-Universität Marburg

                                                                                                        IMPRESSUM
                                                                                                        Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek
                                                                                                        verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
                                                                                                        bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Mit freundlicher Unterstützung von                                                                      ISBN 3–00–018119–9
                                                                                                        1. Auflage 2006
                                                                                                        Redaktionsschluss: 30. November 2005
                                                                                                        Copyright: Europäische Bewegung Deutschland e.V., Europa-Union Deutschland e.V.
                                                                                                        Druck: druckpunkt GmbH, Berlin
                                        Verband der Metall- und
                                        Elektro-Unternehmen Hessen e.V.
                                                                                                        Grafik: Wiebke Pöpel, Nina Trautsch
Die neue Europäische Union :
im vitalen Interesse Deutschlands?
Studie zu Kosten und Nutzen der Europäischen Union
für die Bundesrepublik Deutschland
Netzwerk Europäische Bewegung Deutschland
Das Netzwerk Europäische Bewegung Deutschland ist der überparteiliche Zusam-
menschluss der organisierten Zivilgesellschaft im Bereich Europapolitik. Es fördert
die europäische Integration und die Europäisierung Deutschlands. Seine rund 120
Mitgliedsorganisationen repräsentieren nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen:
                                                                                                                  Dr. Monika Wulf-Mathies
Wirtschafts- und Berufsverbände, Gewerkschaften, Bildungsträger, Wissenschaft-                                           Präsidentin des Netzwerks
liche Institute, Stiftungen, Parteien und andere. Die europapolitischen Expertisen,                            Europäische Bewegung Deutschland
Informationen und Aktivitäten der Mitgliedsorganisationen werden im Netzwerk                           Mitglied der Europäischen Kommission a.D.
EBD gebündelt, vernetzt und verstärkt. Ziel ist es, in enger Kooperation mit den
politischen Institutionen die Europa-Kommunikation, die Europäische Vorausschau
und die europapolitische Koordinierung in Deutschland nachhaltig zu verbessern.

                                                                                      Deutschland und Europa
Europa-Union Deutschland
Die Europa-Union Deutschland ist „die“ Bürgerinitiative für Europa in Deutschland.    – das ist eine Verbindung, die seit über 50 Jahren Bestand hat und beiden, Deutschland
Sie ist lokal, regional und national aktiv und vereint Vertreterinnen und Vertreter   und Europa, Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand gebracht hat.
aller gesellschaftlichen Gruppen. Die Europa-Union tritt seit 60 Jahren für eine
                                                                                      Deutschland in Europa – das ist das bevölkerungsreichste und eines der wirtschafts-
weitreichende europäische Integration ein – überparteilich und unabhängig.
                                                                                      stärksten Länder in der heutigen Europäischen Union. Entsprechend hat Deutschland in
Als Mittlerin zwischen Bürgerinnen und Bürgern und den Institutionen auf allen
Ebenen der europäischen Politik engagiert sie sich für ein „Europa der Bürger“,       all den Jahren bei den großen Projekten der europäischen Integration eine zentrale Rolle
das von einem möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird. Die         gespielt. Ob bei der Schaffung des EU-Binnenmarktes, der Einführung der gemeinsamen
Europa-Union ist der deutsche Zweig der Union Europäischer Föderalisten (UEF)         Währung und nicht zuletzt – ausgelöst durch die eigene deutsche Wiedervereinigung
und mit ihrem Jugendverband Junge Europäische Föderalisten (JEF) Mitglied des         – bei der EU-Erweiterung im Mai 2004. Diese europäischen Errungenschaften sind alle im
Netzwerks Europäische Bewegung Deutschland.                                           vitalen Interesse Deutschlands: gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch.

                                                                                      Auch im abgelaufenen Jahr 2005 hat Deutschland sein vitales Interesse an einer funkti-
                                                                                      onierenden Europäischen Union vielfach demonstriert – zuletzt bei der Einigung auf eine
                                                                                      gemeinsame Finanzverfassung für den Zeitraum 2007 bis 2013 auf dem EU-Gipfel im
                                                                                      Dezember 2005 in Brüssel. Betrachtet man die Kommentierungen der Gipfelergebnisse,
                                                                                      die sich völlig unbeeindruckt durch den Gewinn an politischem Kapital reflexartig allein
                                                                                      auf Nettosalden konzentrierte, dann ist es dringend an der Zeit, eine ehrliche Kosten-
                                                                                      Nutzen-Analyse vorzunehmen, die nicht nur mit wirtschaftlichen Kennzahlen operiert,
                                                                                      sondern gesellschaftliche und politische Kosten einbezieht. Die letzte größere Analyse
                                                                                      dazu datiert aus dem Jahre 1984 – ebenfalls herausgegeben von Prof. Wolfgang Wessels,
                                                                                      damals gemeinsam mit Prof. Rudolf Hrbek.

                                                                                      Die nun im Jahre 2006 vorliegende Studie macht deutlich: Die neue EU ist im vitalen
                                                                                      Interesse Deutschlands! Das belegen zum einen die in der Studie dargelegten Zahlen wie
                                                                                      auch die Analyse der politischen Vorteile. In beiden Feldern bietet die Studie einen großen
                                                                                      Mehrwert für die europapolitische Diskussion in Deutschland: Denn sie zeigt nicht nur den
                                                                                      dringenden Reformbedarf in Deutschland in Sachen Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch
                                                                                      das enorme Defizit an europapolitischer Koordinierung, dessen Beseitigung das Netzwerk
                                                                                      Europäische Bewegung bereits seit Sommer 2005 anmahnt.

www.europaeische-bewegung.de                                                          Wolfgang Wessels spricht darüber hinaus in seinem Beitrag davon, dass die Europafä-
                                                                                      higkeit Deutschlands einer breiten nationalen Debatte bedarf – unter Einbeziehung der
www.europa-union.de
Zivilgesellschaft. Das Netzwerk Europäische Bewegung Deutschland und seine Mitglieds-
organisation Europa-Union Deutschland wollen mit dieser Studie eine Grundlage für diese
offene Debatte zur Europafähigkeit Deutschlands schaffen.

Das Netzwerk Europäische Bewegung Deutschland bietet eine Plattform für eine bessere
Europa-Kommunikation und eine bessere Europäische Vorausschau. Sie sorgt dafür,                                                             Elmar Brok
dass die politischen Akteure frühzeitig in einen europapolitischen Dialog mit den Betrof-                       Präsident der Europa-Union Deutschland
fenen europäischer Entscheidungen – Vertretern der Wirtschaft, der Arbeitnehmer und                                Mitglied des Europäischen Parlaments
der organisierten Zivilgesellschaft – eingebunden werden. Nur so ist es möglich, einen
breiten gesellschaftlichen Schulterschluss zu bilden und eine gemeinsame Basis für die
Rolle Europas in der Welt und Deutschlands in Europa zu formulieren.

Ein erster Schulterschluss unterschiedlicher Akteure ist bereits geglückt: Denn diese
                                                                                            Europa nützt uns !
Studie wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung der METRO AG sowie den
Verbänden Südwestmetall, Hessen Metall und Metall NRW. Dafür möchten wir herzlich
                                                                                            Europa befindet sich derzeit in einer paradoxen Situation. Einerseits verlangen die Bürger
danken! Unser besonderer Dank gilt Prof. Wolfgang Wessels und Dr. Udo Diedrichs vom
                                                                                            Lösungen für die großen Probleme der heutigen Zeit von der EU. Andererseits besteht
Jean Monnet Lehrstuhl der Universität zu Köln sowie den Autoren. Sie alle formulieren
                                                                                            ein zunehmendes Misstrauen gegenüber den Europäischen Institutionen und der europä-
klare Handlungsoptionen für Politik und Wirtschaft, die die nötige Diskussion im Lande
                                                                                            ischen Politik, teilweise auch ein regelrechtes Desinteresse. Viele Bürger glauben nicht
anregen sollen.
                                                                                            mehr daran, dass das als komplex und undurchschaubar empfundene System „EU“ wirk-
Im ersten Halbjahr 2007 wird Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. In          lich die Politik liefern kann, die sich die Menschen wünschen. Das „Nein“ zur Verfassung
diese Zeit fallen voraussichtlich Richtung weisende Weichenstellungen für die Zukunft       für Europa in Frankreich und in den Niederlanden hat dies besonders deutlich gemacht.
Europas. Deutschland sollte das Jahr 2006 dazu nutzen, sich darüber klar zu werden,
                                                                                            In der aktuellen Debatte um die politische Gestaltung von Wirtschafts- und Sozialsys-
dass Fortschritte im europäischen Integrationsprozess im vitalen deutschen Interesse
                                                                                            temen wird auch in Deutschland die Frage nach Kosten und Nutzen der EU laut. „Rechnet“
liegen und klare Prioritäten für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung, aber auch für
                                                                                            sich Europa für Deutschland überhaupt? Zu den zentralen Sorgen der Bürger gehört unter
eine weitere Demokratisierung der EU zu setzen. Die Rolle Europas in der Welt und die
                                                                                            anderem die Frage nach dem Sinn der EU-Erweiterung, die im Europa der 25 zunehmend
Sicherung des europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells hängen ab von der
                                                                                            für Angst vor der Konkurrenz durch billigere Arbeitskräfte aus den Beitrittsländern sorgt.
Handlungsfähigkeit der EU. Es liegt in unserer Hand, sie zu stärken und damit deutschen
                                                                                            Aber auch der Euro, der bereits bei seiner Einführung als „Teuro“ Negativschlagzeilen
Interessen eine größere Durchsetzungschance zu geben – für eine aktive und gestaltende
                                                                                            gemacht hatte, steht ebenso in der Kritik wie die viel zitierte Rolle Deutschlands als
EU-Ratspräsidentschaft 2007 und für ein europäisches Deutschland der Zukunft.
                                                                                            größter Nettozahler der EU.

                                                                                            Vor dem Hintergrund dieser und einiger anderer Zweifel an der Zweckmäßigkeit der
                                                                                            EU ist die vorliegende Studie besonders wertvoll. Sie greift die zentralsten Sorgen der
                                                                                            Bürger auf und zeigt, dass das Projekt Europa für Deutschland unverzichtbar ist. Mehr
                                                                                            noch: Europa rechnet sich für Deutschland! Die Studie bietet aber nicht nur eine Kosten-
                                                                                            Nutzen-Analyse der deutschen EU-Mitgliedschaft, sondern zeigt auch Handlungsoptionen
                                                                                            und Visionen auf, die teilweise bis weit über das nächste Jahrzehnt hinaus reichen. Es
                                                                                            verwundert, dass seit Mitte der achtziger Jahre keine in Tiefe und Größe vergleichbare
                                                                                            Untersuchung mehr angestellt wurde. Durch die enorme Weiterentwicklung der Union seit
                                                                                            dieser Zeit gewinnt die aktuelle Studie somit zusätzlich an Relevanz.

                                                                                            Die EU spielt heute in so gut wie allen politischen Bereichen eine zentrale Rolle für Deutsch-
                                                                                            land. Aus wirtschaftlicher Sicht ist Europa für Deutschland unentbehrlich. Für Deutsch-
                                                                                            land als Exportnation stellt nicht nur der Euro, sondern vor allem auch der Binnenmarkt
                                                                                            inklusive EU-Osterweiterung einen kaum zu überschätzenden Pluspunkt dar. Über die
Hälfte der deutschen Ausfuhren gehen in die Partnerländer der EU. Und wiederum mehr          Die Studie untermauert: Nur in Europa findet Deutschland auch in Zukunft Wohlstand und
als drei Viertel davon gehen in die Eurozone. Von den 15 wichtigsten Handelspartnern         Sicherheit. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union hat Europa, das Jahrzehnte
Deutschlands sind 10 EU-Länder. Laut Statistischem Bundesamt wurden beispielsweise           lang von der Grenze zwischen Ost und West zerschnitten wurde, heute seine Mitte wieder
im Jahr 2004 Waren im Wert von 733,5 Mrd. EUR ausgeführt, wovon Waren im Wert von            gefunden. Deutschland, mit Europas größter Einwohnerzahl und der größten Volkwirt-
407,2 Mrd. EUR ihre Abnehmer in EU-Ländern fanden. Im Vergleich zum Vorjahr wuchs            schaft, liegt mitten in Europa. Ein friedliches und stark machendes Verhältnis zu den
die Zahl der deutschen Versendungen in EU-Länder um 10,1 %. Im Rückblick ist fest-           neuen Mitgliedern und den alten Freunden und Partnern, die alle in derselben Union mit
zuhalten, dass der durch die EU-Mitgliedschaft zusätzlich erwirtschaftete Handelsbilanz-     derselben Rechtsordnung leben, ist Deutschlands großes Glück. Dass sich Deutschland
überschuss die Kosten für die EU-Mitgliedschaft längst wieder kompensiert hat.               nach Jahrhunderten voller Kriege heute in Frieden mit seinen europäischen Nachbarn und
                                                                                             Freunden zu einer Union der 450 Millionen zusammenschließen kann, ist eine einmalige
Kritiker bemühen gerne Deutschlands Rolle als größter Nettobeitragszahler der EU. Aber
                                                                                             und historische Situation.
nur selten wird dabei erwähnt, dass dies für die absoluten Beiträge zum EU-Haushalt
zwar stimmen mag, der Nettobeitrag pro Kopf im Jahre 2004 jedoch beispielsweise nur          Bei der Frage nach dem Nutzen der EU wird nicht selten folgendes übersehen. Ohne die
bei 87 Euro lag. Deutschland befindet sich somit auf Platz 3, hinter den Niederlanden        EU
und Schweden. Angesichts der ernormen wirtschaftlichen und politischen Vorteile, die          n   wären Kriege in unserer Nähe viel wahrscheinlicher,
Deutschland aus der EU-Mitgliedschaft erwachsen, ist dies eine Summe, die Europas
                                                                                              n   wäre jedes Land allein im Kampf gegen den Terrorismus, Umweltverschmutzung
größte Volkswirtschaft verkraften kann. In den oft oberflächlichen Debatten, etwa auch
                                                                                                  und Armut,
um die Zuwanderung billiger Arbeitskräfte aus den neuen Beitrittsländern, werden nicht
                                                                                              n   wären unsere Werte außerhalb von Deutschland nichts wert,
selten solche entscheidenden Details unterschlagen. Die vorliegende Studie dagegen geht
wissenschaftlich und doch verständlich an die Thematik heran, was ihren besonderen            n   könnten Jung und Alt nicht frei in 25 Länder reisen und in heute 12 Ländern mit
                                                                                                  dem Euro zahlen,
Wert ausmacht.
                                                                                              n   würden nicht - wie heute - mehr als die Hälfte unserer Exporte in die EU gehen
Auch deutsche Außenpolitik ist heute ohne den europäischen Kontext gar nicht mehr
                                                                                                  und unseren Wohlstand sichern.
machbar. Für Deutschland ist Europa politisch von existenzieller Bedeutung: In unserer
                                                                                             Einige der größten Erfolge Europas werden in Deutschland täglich und ganz selbstver-
zunehmend komplexeren Welt kann sich kein Staat mehr den klassischen Aufgaben der
                                                                                             ständlich beansprucht, oftmals ohne dass wir uns wirklich darüber im Klaren sind: Dauer-
Außen- und Sicherheitspolitik erfolgreich alleine stellen oder gar entziehen. Besonders in
                                                                                             hafter Frieden, eine starke Partnerschaft mit unseren Nachbarn und der Erhalt unserer
Bezug auf Kriminalität, Terrorismus, Umwelteinflüsse oder humanitäre Katastrophen sieht
                                                                                             Werte in einer globalisierten Welt. Diese Verdienste der EU dürfen nicht vergessen werden,
Deutschland sich einer Reihe von Bedrohungen gegenüber, denen es nur gemeinsam mit
                                                                                             wenn man nach ihren Kosten fragt. Kurzum: Die Europäische Union ist für Deutschland
seinen europäischen und transatlantischen Partnern erfolgreich begegnen kann.
                                                                                             unverzichtbar. Ihr Nutzen aber, der nicht für jeden immer greifbar und offensichtlich ist,
Auch in so unterschiedlichen Bereichen wie etwa Umweltverschmutzung oder Forschung           muss ein ums andere Mal erklärt werden.
gilt das Motto „Gemeinsam sind wir stark“. Ob Deutschland mit seinen 83 Millionen
                                                                                             Es war deshalb ein wichtiger Schritt, dass die Europa-Union Deutschland und das Netz-
Einwohnern und zaghaftem Wirtschaftswachstum seine wirtschaftlichen und politischen
                                                                                             werk Europäische Bewegung die Initiative für diese Studie ergriffen haben. Ohne die
Interessen in der Welt dauerhaft alleine behaupten könnte, erscheint in diesem Zusam-
                                                                                             Unterstützung der Metro AG sowie der Verbände Südwestmetall, Hessen Metall und Metall
menhang mehr als fraglich. Daher ist es wichtig, dass wir im Verbund mit den anderen
                                                                                             NRW wäre sie nicht realisierbar gewesen. Auch Herrn Prof. Wessels gebührt besonderer
Mitgliedstaaten der EU die Vorteile eines gemeinsamen Marktes mit immerhin 450 Milli-
                                                                                             Dank für die Bereitschaft, seine Expertise einzubringen und die wissenschaftliche Koor-
onen Verbrauchern nutzen können. Durch die enge Zusammenarbeit in verschiedensten
                                                                                             dination dieser Arbeit zu übernehmen. Mit ihrer Hilfe wird hoffentlich eines wieder klar:
politischen Angelegenheiten wird sich somit auch dauerhaft Deutschlands Einfluss in der
                                                                                             Deutschland hat ein vitales Interesse an der Europäischen Union. Wie überall auf allen
internationalen Politik sichern lassen.
                                                                                             Ebenen gibt es auch kritikwürdige Mängel. Aber was wäre die Alternative zur EU?
Darüber hinaus hat Europa in Gestalt der EU allerdings noch weit mehr als ein System
politischer Kooperation oder eine Freihandelszone hervorgebracht. Die europäische Idee
von friedlichem Zusammenleben unter der Ägide von Menschenrechten und Demokratie
kann der Welt als Modell dienen, entwicklungsoffen und anpassungsfähig, aber mit einer
klaren Absage an Extremismus, Hass und Gewalt.
Wolfgang Wessels / Udo Diedrichs (Hrsg.)

Die neue Europäische Union :
im vitalen Interesse Deutschlands?
Studie zu Kosten und Nutzen der Europäischen Union
für die Bundesrepublik Deutschland
Inhalt                                                                                                                                                                                       Inhalt
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         Wolfgang Wessels / Udo Diedrichs
         Deutschland in der Europäischen Union:
         vitale Interessen in einer EU der 25                                                 13    4.   Finanzpolitik im Euroraum                                                     63
                                                                                                         4.1 Erhöhte finanzpolitische Disziplin                                        63
         1.   Interessen und Integration                                                      14         4.2 Weniger antizyklische Finanzpolitik                                       67
         2.   Befunde der Studie im Überblick: Die EU lohnt sich für Deutschland              15    5.   Perspektiven                                                                  70
         3.   Zehn Punkte zur deutschen Europapolitik                                         18         Literatur                                                                     71

         Rolf Sternberg                                                                             Frank Schulz-Nieswandt / Werner Sesselmeier
         Wirtschaftsstandort Deutschland:                                                           Arbeitsmarkt Deutschland: Effekte der EU-Mitgliedschaft                            73
         Auswirkungen des EU-Binnenmarktes auf die deutsche Wirtschaft                        21
                                                                                                    1.   Einleitung: Die Ziele der EU und die Verortung
         1.   Die Standortdebatte – zur aktuellen Positionierung Deutschlands                 22         der Fragestellung im Lichte der normativ-rechtlichen Vorgaben                 74
         2.   Theorie – Ökonomische Wirkungen                                                       2.   Welche Auswirkungen hat die EU-Mitgliedschaft
              wirtschaftlicher Integrationsprozesse auf Volks- und Regionalwirtschaften       24         auf den deutschen Arbeitsmarkt? Methodische Vorbemerkungen                    76
         3.   Hoffnungen der Politik – Der Cecchini-Bericht                                   26    3.   Die   verschiedenen Wirkungskanäle                                            79
         4.   Empirie I – Die Effekte des Binnenmarktes                                                  3.1    Der makroökonomische Zusammenhang                                      79
              für Wachstum und Beschäftigung in der deutschen Volkswirtschaft                 28         3.2    Europäische Beschäftigungspolitik und Benchmarking                     80
                                                                                                         3.3    Wanderungsbewegungen in der EU                                         83
         5.   Empirie II – Die Effekte der
                                                                                                         3.4    Auswirkungen auf die Entwicklung der Dienstleistungssektoren           84
              EU-Osterweiterung für den Arbeitsmarkt in der deutschen Volkswirtschaft         31
                                                                                                         3.5    Eine zusammenführende Bewertung                                        85
         6.   Empirie III – Die Effekte des
                                                                                                    4.   Handlungsempfehlungen für die deutsche Europapolitik                          86
              EU-Binnenmarktes in den deutschen Regionalwirtschaften                          39
         7.   Bilanz – Deutschlands Volks- und                                                           Literatur                                                                     88
              Regionalwirtschaften als Gewinner oder Verlierer des EU-Binnenmarktes?          42
              Literatur                                                                       43    Lars P. Feld
                                                                                                    Nettozahler Deutschland? Eine ehrliche Kosten-Nutzen-Rechnung                      93

         Thomas Straubhaar / Günter Weinert                                                         1.   Einleitung                                                                    94
         Deutschland und der Euro:                                                                  2.   Die Berechnung von
         Die Bedeutung des einheitlichen Währungsraumes                                       45         Nettozahler- und -empfängerpositionen aus Ausgaben und Einnahmen              96
                                                                                                         2.1 Ausgaben- und Einnahmenstruktur                                           96
         1.   Positive gesamtwirtschaftliche Performance                                      46
                                                                                                         2.2 Der deutsche Anteil an den EU-Eigenmitteln und -Ausgaben                  98
         2.   Vorteile der einheitlichen Währung                                              51         2.3 Die Nettopositionen der EU-Mitgliedsländer                               102
              2.1 Deutlicher Handelseffekt                                                    52         2.4 Vorschlag der Europäischen Kommission
              2.2 Effekte auf die Finanzmärkte                                                54              für die Finanzielle Vorausschau 2007–2013                               103
         3.   Gemeinsame Geldpolitik bei anhaltenden Wachstums- und Inflationsdifferenzen     54    3.   Wirtschaftsintegration, Währungsunion und wirtschaftliche Entwicklung:
              3.1 Gründe für Inflationsdifferenzen                                            56         Die wahren Vor- und Nachteile der EU                                         107
              3.2 Unterschiedliche Realzinsen                                                 58    4.   Saldierte Vor- und Nachteile der deutschen EU-Mitgliedschaft: Ein Versuch    111
              3.3 Divergierende reale Wechselkurse                                            59
              3.4 Unterschiedliche Preisentwicklung bei Wohnimmobilien                        61         Literatur                                                                    112
Inhalt
                                                                                                Seite

         Udo Diedrichs
         Deutschland in der EU und in der Welt:
         Von den Kosten und Nutzen einer europäisierten Außenpolitik                            115
                                                                                                        Wolfgang Wessels / Udo Diedrichs
         1.   Von der Mühsal außenpolitischer Kosten- und Nutzenanalyse                          116
         2.   Frieden, Sicherheit und Wohlstand
              in einer zusammenwachsenden Welt: Wo liegt der Hindukusch?                         117
                                                                                                        Deutschland in der Europäischen Union:
         3.   Deutschlands europäisierte Außenpolitik in der EG/EU                               118    vitale Interessen in einer EU der 25
              3.1 Die Entstehung und Entwicklung einer europäisierten Außenpolitik               118
              3.2 Deutschland als Stabilitätsgewinner:
                  Europäische Außenpolitik als dauerhafte präventive Krisenpolitik               120
              3.3 Deutschland als Kooperationspartner:
                  gemeinsame Außenpolitik als sozialer Prozess                                   125
              3.4 Deutschland als Zivil- und Zivilisierungsmacht: Vom Wandel eines Leitbildes    126
         4.   Legitimationsgewinne einer europäischen Außenpolitik                               129
         5.   Kosten für die deutsche Außenpolitik:
              Investitionen in eine europäische Außenpolitik                                     131
         6.   Kosten und Nutzen einer europäisierten Außenpolitik:
              Deutschland in der EU und in der Welt                                              132
              Literatur                                                                          133

         Wolfgang Wessels
         Deutsche Europapolitik – Strategien für einen Wegweiser:
         Verstärkter Nutzen durch verbesserte Integration?                                      135

         1.   Plädoyer für eine umfassende und gründliche Besinnung –
              gegen Fehleinschätzungen                                                           136
              1.1 Zur Lage: Unsicherheiten und Ungewissheiten                                    136
              1.2 Risiken für die Reflexionsphase –
                   ein Elf-Punkte-Katalog an Merkposten für Diagnose, Prognose und Therapie      138
         2.   Ziele und Maßstäbe: Die EU als Ordnungs-, Gestaltungs- und Handlungsrahmen         141
              2.1 Mehr als ein Zweckbündnis:
                   Die EU als Problemverarbeitungs- und Krisengemeinschaft                       141
              2.2 Der Ordnungsrahmen: Die EU als Wertegemeinschaft                               142
              2.3 Gestaltungs- und Handlungsrahmen: die Sicherheitsgemeinschaft                  143
              2.4 Gestaltungs- und Handlungsrahmen: die Wirtschaftsgemeinschaft                  144
         3.   Deutsche Strategien                                                                145
              3.1 Erhaltung und Steigerung der Europafähigkeit:
                  breites Engagement – keine organisatorische Zauberformel                       145
              3.2 Strategien: Ein Menü – in der Kosten-Nutzen-Bilanz                             147
         4.   Bilanz und Ausblick                                                                158
              Literatur                                                                          159

                                                                                                                                                 13
Insofern ist es legitim danach zu fragen, welchen Mehrwert eine Mitgliedschaft in der Europäi-
     Wolfgang Wessels1 / Udo Diedrichs2
                                                                                                                                                schen Union für die Bundesrepublik Deutschland mit sich bringt, und wie Kosten und Nutzen der
     Deutschland in der Europäischen Union:                                                                                                     EU-Mitgliedschaft ausgewogen abgeschätzt und taxiert werden können, um dann eine grund-
     vitale Interessen in einer EU der 25                                                                                                       sätzliche Einschätzung darüber vorzunehmen, ob sich Europa für Deutschland ‚lohnt’. In der
                                                                                                                                                öffentlichen Meinung mag sich mittlerweile eine Grundstimmung verbreitet haben, die davon
                                                                                                                                                ausgeht, dass dies nicht mehr der Fall sei. Fest eingespielte Rituale und liebgewordene Stere-
                                                                                                                                                otype gehören seit Jahrzehnten zur Begleitmusik deutscher EU-Mitgliedschaft. Angesichts der
     1.     Interessen und Integration                                                                                                          jüngsten Referenden in Frankreich und den Niederlanden zum Verfassungsvertrag scheint sich
                                                                                                                                                auch in der Bundesrepublik zunehmend eine euroskeptische Grundstimmung zu sedimentieren.
     Angesichts der gewaltigen und beeindruckenden Veränderungen, die sich im Zuge der Erweite-
                                                                                                                                                Unter den politischen Parteien und wesentlichen gesellschaftlichen Kräften und Organisationen
     rung der EU und der Ablehnung des Verfassungsvertrags in Frankreich und den Niederlanden
                                                                                                                                                im Lande dagegen würde die Frage mit übergroßer Mehrheit positiv beantwortet. Eine solche
     ergeben haben, erscheint eine schärfere öffentliche Wahrnehmung der Rolle und der Interessen
                                                                                                                                                Diskrepanz wäre auf Dauer aber politisch nicht tragbar.
     Deutschlands in der EU gebotener denn je. Die aktuelle Debatte um die Zukunft der Verfassung,
     aber auch die kontroversen Verhandlungen um die mittelfristige Finanzplanung machen deut-                                                  Ohne alle wichtigen Politik- und Handlungsfelder auch nur annähernd abdecken zu können,
     lich, wie schwierig es ist, eindeutige Maßstäbe und Orientierungspunkte hierfür zu gewinnen. Die                                           versucht diese Studie in einigen zentralen Themenbereichen eine seriöse und soweit möglich
     mediale Auseinandersetzung um die deutsche EU-Mitgliedschaft wird häufig mit Schlagworten                                                  wissenschaftlich abgesicherte Einschätzung über Kosten und Nutzen der deutschen EU-Mitglied-
     und Etiketten geführt, zu denen die wohlbekannte Formel des „Zahlmeisters“ gehört, und auch                                                schaft zu liefern. Sie behandelt dabei den Standort Deutschland und die Bedeutung des EU-
     die jüngste Kritik am Euro verdeutlicht, wie umstritten die Kernprojekte der EU in der Bevölke-                                            Binnenmarktes, die Auswirkungen der einheitlichen Währung, die Effekte der EU auf den deut-
     rung sind. Umso mehr tut eine sachliche und methodisch fundierte Untersuchung der Sachzu-                                                  schen Arbeitsmarkt, die Frage des deutschen Beitrags in den EG-Haushalt und die Rolle der
     sammenhänge Not.                                                                                                                           europäischen Außenpolitik für die Bundesrepublik. Zum Abschluss werden Strategien präsen-
                                                                                                                                                tiert, die angesichts der aktuellen Herausforderungen und vor dem Hintergrund der jüngsten
     Über die Interessen Deutschlands in der EU zu sprechen und zu diskutieren gehört traditionell
                                                                                                                                                Erfahrungen versuchen, das mittlerweile unübersichtliche Feld an Lösungsvorschlägen zu filtern
     nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen deutscher Europapolitik. Der Begriff des Interesses wurde
                                                                                                                                                und zu ordnen und eine pragmatische Vision deutscher Europapolitik zu präsentieren.
     vielerorts als zu heikel und zu befrachtet empfunden. So ist die mit dem Luxemburger Kompro-
     miss vom Januar 1966 assoziierte Formel von den „vitalen Interessen“ eines Mitgliedstaates
     lange Zeit für das Festhalten an der Einstimmigkeit im Rat und damit für die Unbeweglichkeit                                               2.   Befunde der Studie im Überblick: Die EU lohnt sich für Deutschland
     der europäischen Integration der siebziger und frühen achtziger Jahre verantwortlich gemacht
     worden.3 Interessen sind aber keine Fremdkörper des Integrationsprozesses, sondern gehören                                                 Um gleich einen wesentlichen Befund zu präsentieren: Die EU lohnt sich für Deutschland.
     immanent dazu und lassen sich nicht schlichtweg herauskürzen. So schreiben Rudolf Hrbek und                                                Alle Beiträge kommen in unterschiedlicher Weise und mit sehr variantenreichen Argumenta-
     Wolfgang Wessels 1984: „Es wäre ein großes Missverständnis davon auszugehen, nationale                                                     tions- und Untersuchungsansätzen zu einer generell positiven Einschätzung der deutschen EU-
     Interessen dürften und würden in einem Integrationsprozess keine Rolle spielen […]. Integra-                                               Mitgliedschaft. Gleichzeitig muss aber auch festgehalten werden: Die EU kostet Deutschland
     tion, so könnte man sagen, zielt auf die Ausbalancierung verschiedener Interessen“.4 Diese                                                 etwas, sie ist nicht zum Nulltarif zu haben. Dass die Kosten oft stärker im Zentrum des öffent-
     Ausbalancierung wird dann gelingen, wenn jeder Mitgliedstaat einen ausreichenden Nutzen und                                                lichen Interesses stehen als der Nutzen, stellt dabei ein eigenes Problem dar. Verschwiegen
     Gewinn aus seiner Mitwirkung in der EU ziehen kann. Integration sollte dabei nicht ausschließ-                                             werden dürfen sie nicht. Es kann aber noch mehr gesagt werden. So ergeben sich Kosten oft
     lich als Kosten-Nutzen-Ausgleich verstanden werden, dennoch bleibt ebenso richtig: ohne einen                                              aus der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands oder einer nur schwach ausgeprägten
     ausreichenden Nutzen wird ein Mitgliedstaat auf Dauer nicht bereit sein, die Europäische Union                                             Anpassung an europäische und internationale Realitäten. Die EU übernimmt dabei häufig die
     mitzutragen und zu unterstützen. Dies gilt auch für Deutschland.                                                                           Rolle eines Indikators für Probleme, die auf nationaler Ebene angelegt sind und auch dort gelöst
                                                                                                                                                werden können. Die Unfähigkeit, eigene hausgemachte Defizite nachhaltig zu beseitigen, wird
                                                                                                                                                nicht selten terminologisch umgemünzt, um als europäisch verursachter Kostenfaktor wieder-
                                                                                                                                                zuerscheinen. Andere Kosten sind bedingt durch eine schlichte Veränderung von Rahmenbe-
                                                                                                                                                dingungen, die in Kauf zu nehmen aber die Option für neuen Nutzen eröffnet. Sicher stellt eine
     1
       Prof. Dr. Wolfgang Wessels ist Inhaber eines Jean Monnet Lehrstuhls am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität zu Köln
     und Vorsitzender der Coelner Monnet Vereinigung für EU-Studien e.V. (COMOS).                                                               autonome Geldpolitik einen Vorteil für ein Land dar, aber erst die Aufgabe einer solchen eröff-
     2
       Dr. Udo Diedrichs ist Senior Fellow am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität zu Köln und Mitarbeiter am dortigen Jean      nete die Perspektive der Währungsunion. In den meisten Fällen kommen die Beiträge dieser
     Monnet Lehrstuhl sowie Vorstandsmitglied der Coelner Monnet Vereinigung für EU-Studien e.V. (COMOS).                                       Studie zu dem Befund, dass die Höhe der Kosten einer EU-Mitgliedschaft durch Deutschland zu
     3
       Anzumerken sei hier, dass der Text des Luxemburger Kompromisses überhaupt nicht von „vitalen Interessen“ spricht, sondern von            einem erheblichen Teil mitbestimmt und beeinflusst werden kann und nicht gleichsam schick-
     „sehr wichtigen Interessen“ („des intérêts très importants“); allerdings stand der Begriff der vitalen Interessen seinerzeit im Kern der
     Debatte im Zuge der französischen Politik des leeren Stuhls, die der damalige Außenminister Couve de Murville stets mit den vitalen        salhaft bestimmt ist.
     Interessen seines Landes begründete, die es zu schützen und zu verteidigen gelte.
                                                                                                                                                Nutzen und Kosten sind damit zugleich veränderbar, kein Mitgliedstaat kann sich dauerhaft als
     4
        Hrbek, Rudolf/ Wessels, Wolfgang (1984): Nationale Interessen der Bundesrepublik Deutschland und der Integrationsprozess, in:
     Rudolf Hrbek/ Wolfgang Wessels (Hg.), EG-Mitgliedschaft: ein vitales Interesse der Bundesrepublik Deutschland?, Bonn, S. 29-69, hier       Gewinner der europäischen Integration gefallen oder seiner Position und Vorteile sicher sein.
     S. 31-32.                                                                                                                                  Diese Studie blickt zwar deutlich über den Tellerrand tagespolitischer Erwägungen hinaus, macht

14                                                                                                                                                                                     Wessels / Diedrichs: Deutschland in der Europäischen Union   15
aber zugleich deutlich, dass die Frage von Kosten und Nutzen in einer dynamischen Perspektive       Lars P. Feld erinnert in seinem Beitrag über die Finanzierung der EU und die Nettozahlerposition
     analysiert werden muss, in der sich Gewichte und Prioritäten verschieben können.                    Deutschlands daran, dass eine umfassende Kosten- und Nutzenanalyse der EU-Mitgliedschaft
                                                                                                         Deutschlands nicht bei der Erfassung der Finanzströme stehen bleiben kann. Nicht zuletzt die
     Der Standort Deutschland hat vom europäischen Binnenmarkt grundlegend profitiert, wenngleich
                                                                                                         Stabilisierung einer friedlichen Nachkriegsordnung habe sich ökonomisch für die EU und für
     der Effekt in relativen Größen gering bleibt und sich unter einem Prozent des Bruttoinlandspro-
                                                                                                         Deutschland in hohem Maße als nützlich und vorteilhaft erwiesen.
     dukts bewegt, wie Rolf Sternberg in seiner Analyse festhält. Aus den handels- wie den migrati-
     onsinduzierten Wirkungen des Binnenmarktes und der Osterweiterung werde aber mindestens             Ausgehend von einer Analyse der Finanzströme, die Deutschland auch nach der Wiedervereini-
     mittelfristig ein positiver Nettonutzen für Deutschland erwachsen. Sternberg empfiehlt, dass        gung als Nettozahler ausweisen, lotet er die Vorteile aus dem gemeinsamen europäischen Markt
     sich die deutsche Volkswirtschaft noch stärker im Handel mit den mittel- und osteuropäischen        für Deutschland aus. Dabei wirft er einen Blick auf die Wirtschaftspolitik in anderen Nicht-EU
     Länder engagieren sollte, da die Nachfrage in den Transformationsländern sich positiv insbe-        Mitgliedsländern, um zu eruieren, wie beispielsweise die Subventionierung der Landwirtschaft
     sondere auf deutsches Humankapital und kapitalintensive Produkte, bei denen die deutsche            sich darstellen würde, wenn Deutschland nicht Mitglied der EU wäre. Andererseits wird auf Basis
     Wirtschaft komparative Kostenvorteile aufweise, auswirke. Auf die Risiken einer Umlenkung           einer Übersicht über vorhandene empirische Studien versucht, den Wohlfahrtseffekt der Markt-
     ausländischer Direktinvestitionen in Richtung der mittel- und osteuropäischen Länder sollte die     integration zu ermitteln. Feld kommt zu dem Schluss, dass die Teilnahme an der Europäischen
     deutsche Europapolitik reagieren, indem sie stärker als bisher die komparativen Vorteile des        Union zu erheblichen Wettbewerbsimpulsen, einer Steigerung des Handels und letztlich auch
     Standortes Deutschland bei wissens- und technologieintensiven Produkten und Dienstleistungen        einer Stärkung des Wirtschaftswachstums geführt haben dürfte. Deutschland wird an diesen
     nutzt. Dazu gehöre auch die Investition in Aus- und Weiterbildung, angewandte und Grundla-          positiven ökonomischen Effekten der europäischen Integration einen beachtlichen Anteil haben.
     genforschung in allen damit befassten Organisationen.                                               Die europäische Integration sei somit eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Die Haushaltspolitik
                                                                                                         der EU lasse sich vor diesem Kontext als eine Kompensation der durch die Marktöffnung auftre-
     Thomas Straubhaar und Günter Weinert sehen auch den Euro für Deutschland grundsätzlich als
                                                                                                         tenden ‚Verlierer’ in den verschiedenen Ländern begreifen.
     einen Erfolg an. So sei es gelungen, eine stabilitätsorientierte Geldpolitik zu betreiben, die in
     der Tradition der Bundesbank stehe und auch international erhebliche Glaubwürdigkeit erzielt        Allerdings seien die beschriebenen Vorteile für Deutschland keineswegs als Freibrief für fehlende
     habe. Deutschland profitiere von einem preis- und wechselkursstabilen Umfeld. Die aktuelle          Reformen auf EU-Ebene zu betrachten. Vielmehr bleibe insbesondere im Hinblick auf die
     Wachstumsschwäche im Euroraum und insbesondere in Deutschland sei nicht unmittelbar auf             laufende Welthandelsrunde die Reform des Agrarsektors in der EU voranzutreiben; auch die von
     den Euro zurückzuführen.                                                                            der Kommission anvisierte Konzentration und Fokussierung der Strukturfonds in der Finanziellen
                                                                                                         Vorausschau 2007 – 2013 enthalte richtige Ansätze; und angesichts der Engpässe der öffent-
     Die einheitliche Währung schaffe zwar kein Wachstum, könne aber zu einem Impulsgeber für
                                                                                                         lichen Hand müsse die Bundesrepublik auf eine strikte Begrenzung der Eigenmittelobergrenze
     eine Dynamisierung der deutschen Volkswirtschaft werden, in dem ordnungspolitische Reformen,
                                                                                                         der EU insistieren.
     Deregulierung und eine höhere Flexibilität durchgesetzt werden, stellen Straubhaar und Weinert
     weiter fest. Da das Grundproblem in einem schwachen Wachstum des Produktionspotenzials              Die EU-Mitgliedschaft ist schließlich auch in außenpolitischer Hinsicht von hohem Nutzen für
     besteht, wären vor allem Maßnahmen auf der Steuer- und auf der Ausgabenseite erforderlich,          Deutschland, wie Udo Diedrichs in seinem Beitrag herausarbeitet. So habe die Politik der EU,
     die die Angebotsbedingungen verbessern. Der Euro und der Stabilitäts- und Wachstumspakt             insbesondere in Ost- und Südosteuropa, nach den dramatischen Verwerfungen der neunziger
     erhöhen den Druck auf marktwirtschaftlich ausgerichtete Reformen in Deutschland und zwingen         Jahre zu einer Stabilisierung und schrittweisen Demokratisierung der Region geführt, was im
     die Politik, die Lösungen selbst in die Hand zu nehmen.                                             genuinen deutschen Interesse lag. Der Erweiterungsprozess könne als grandioses Konsolidie-
                                                                                                         rungs- und Anreizprogramm für die Länder Mittel- und Osteuropas gesehen werden, das nicht
     Bei der Analyse der Effekte der EU auf den deutschen Arbeitsmarkt kommen Frank Schulz-
                                                                                                         zuletzt auch ökonomisch der Bundesrepublik erhebliche Vorteile gebracht habe, und die jüngste
     Nieswandt und Werner Sesselmeier zu dem Ergebnis, dass sich zahlreiche Befürchtungen, mit
                                                                                                         Initiative einer Europäischen Nachbarschaftspolitik versuche, in einem breiteren Umkreis die
     der EU-Osterweiterung würde eine massive Abwanderung von Unternehmen in die mittel- und
                                                                                                         Anrainer der EU nachhaltig zu fördern und dadurch Frieden und Wohlstand zu generieren.
     osteuropäischen Länder einhergehen, während umgekehrt Arbeitskräfte aus diesen Ländern
                                                                                                         Zugleich sei Deutschland in der Lage, sein Gewicht in der internationalen Politik durch Teilhabe
     nach Deutschland einströmen, nicht bewahrheiteten. Ersteres sei bereits vor der Osterweiterung
                                                                                                         an der Europäischen Union deutlich zu potenzieren und zusätzlichen Einfluss auf das internati-
     der Fall gewesen und seither nicht beschleunigt worden. Letzteres sei eingetreten, aber eher in
                                                                                                         onale Geschehen zu gewinnen. Die Kosten einer europäischen Außenpolitik liegen für Deutsch-
     Form von temporärer statt permanenter Zuwanderung. Es sei im Gegenteil die Einschätzung zu
                                                                                                         land in einer solidarischen, kooperativen und partnerschaftlichen Vorgehensweise, die auch
     finden, dass das Ausbleiben eines Zustroms von Arbeitskräften für schädlich gehalten werde,
                                                                                                         die Belange und Interessen der vermeintlich kleineren EU-Partner einbezieht, in zusätzlichen
     da so Deregulierungsprozesse in der deutschen Arbeitsmarktverfassung blockiert blieben und
                                                                                                         Koordinierungs- und Konsultationsschleifen in den relevanten EU-Gremien, sicher auch in der
     zugleich Anreize für produktionsverlagernde Direktinvestitionen nach Osteuropa entstünden.
                                                                                                         Bereitschaft zur Übernahme einer größeren internationalen Verantwortung sowie in der Fähig-
     Insgesamt sehen Schulz-Nieswandt und Sesselmeier die Einflüsse der EU auf den deutschen
                                                                                                         keit, sich finanziell wie militärisch an Krisenmanagementoperationen zu beteiligen und hierfür
     Arbeitsmarkt eher in mittel- bis langfristiger Perspektive und mehr in qualitativer denn in quan-
                                                                                                         seine Streitkräfte zu modernisieren. Schließlich müsse sich Deutschland in einer langfristigen
     titativer Hinsicht. Zudem sei die Europäisierung nur ein Teil des umfassenderen Prozesses der
                                                                                                         Perspektive fragen, inwieweit es zu einem wirklichen außenpolitischen Souveränitätsverzicht
     Globalisierung, in deren Zuge Unternehmen weniger durch Exporte als vielmehr durch Produk-
                                                                                                         bereit wäre, in dem es nämlich eines Tages Mehrheitsentscheidungen zu Fragen der europäi-
     tion vor Ort neue Märkte erschließen.
                                                                                                         schen Außenpolitik akzeptiert.

16   Wessels / Diedrichs: Deutschland in der Europäischen Union                                                                                 Wessels / Diedrichs: Deutschland in der Europäischen Union    17
Abschließend eruiert Wolfgang Wessels verschiedene Strategien für die deutsche Europa-
     politik. Grundlegend sieht er dabei drei wesentliche Voraussetzungen, für die politisch gesorgt         Abstimmungen, womöglich unter Leitung des Bundeskanzleramtes, zu erhöhen. Zu
     werden müsse; die Europafähigkeit der deutschen Politik sei zu bewahren und zu verbessern;              erwägen wäre ebenso die Schaffung einer parlamentarisch und zivilgesellschaftlich zu
     die Möglichkeiten des bestehenden EU-Vertragswerks seien intensiv zu nutzen und wo möglich              besetzenden Europakonferenz / eines Europakonvents sowie eines Sachverständigen-
     weiterzuentwickeln; und schließlich gehe es darum, mittelfristige Visionen und Angebote für             rats auf nationaler Ebene.
     ein neues Verhandlungspaket anzuvisieren, wobei Deutschland als Vorreiter dienen könne, um
                                                                                                         n   Die weitere Entwicklung der Europäischen Union darf aus deutscher Sicht nicht durch
     neuen Anläufen den Weg zu bahnen.
                                                                                                             die jüngsten Entwicklungen blockiert werden; nach den Referenden in Frankreich und
     Die Ratifizierung des Verfassungsvertrags kann dabei laut Wessels als Vorgabe der deutschen             den Niederlanden scheint die Ratifizierung des Verfassungsvertrags zunächst auf Eis
     Europapolitik dienen, diese sollte aber nicht einseitig darauf fixiert sein, sondern ausreichend        gelegt – die institutionelle Entwicklung der EU muss aber weitergehen.
     offen und flexibel für mögliche Alternativen bleiben. So könne es notwendig sein, weiter nach
                                                                                                         n   Deutschland kann dabei durchaus die weitere Ratifizierung des Verfassungsvertrags
     den angemessenen politischen Formen zu suchen, in denen sich eine grundlegende Weiterent-
                                                                                                             verfechten, sollte sich aber zugleich auch alternative Optionen freihalten. Als Vorreiter
     wicklung des europäischen Integrationsprozesses vollzieht. Eine ‚Vision mittlerer Reichweite’
                                                                                                             und Wegbereiter einer dynamisierten Europäischen Union sollte Deutschland versu-
     wäre dabei hilfreich. Dabei muss dieser Prozess in verschiedene Richtungen offen bleiben. Eine
                                                                                                             chen, eine mittelfristige, pragmatische Vision zu entwickeln, die in der Lage ist, in
     konstruktive Mehrdeutigkeit über die letztlich erstrebenswerte politische und rechtliche Qualität
                                                                                                             konkreten Schritten die EU weiterzuentwickeln und damit einen – von manchen viel-
     der Europäischen Union kann für eine deutsche Strategie äußerst nützlich sein.
                                                                                                             leicht gewollten – Stillstand des Integrationsprozesses zu vermeiden.

     3.   Zehn Punkte zur deutschen Europapolitik

     Aus den einzelnen Beiträgen und ihren Befunden lassen sich einige zentrale und relevante Rück-
     schlüsse und Ergebnisse ableiten. In zehn Punkten sollen diese zusammengefasst und zugespitzt
     präsentiert werden:

      n   Die deutsche EU-Mitgliedschaft ist von Nutzen für Deutschland und zahlt sich politisch
          wie ökonomisch aus. Die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU liegt im vitalen Interesse
          des Landes.
      n   Die Kosten der deutschen EU-Mitgliedschaft ergeben sich in zahlreichen Fällen aus einer
          mangelnden Wettbewerbsfähigkeit, strukturellen Reformdefiziten und Anpassungspro-
          blemen der Bundesrepublik. Diese sind aber nicht schicksalsbestimmt, sondern können
          durch Reformen gelöst werden. Deutschland bestimmte die Höhe der Kosten seiner EU-
          Mitgliedschaft selbst mit.
      n   Auch dort, wo Deutschland komparative Vorteile aufweist, sollten Stärken ausge-
          baut werden, etwa im Bereich von Aus- und Weiterbildung oder in der Forschung, um
          Deutschland in der EU wettbewerbsfähiger und wachstumsorientierter zu machen.
      n   Die Erweiterung um Ost- und Mitteleuropa bietet insgesamt weitaus mehr Chancen und
          Möglichkeiten als Gefahren und Risiken; Deutschland muss noch offensiver als bisher
          diese Möglichkeiten nutzen.
      n   Es liegt in deutschem Interesse, auch die Länder des europäischen Umfeldes zu stabi-
          lisieren, zu fördern und zu Partnern aufzubauen. Hier sind insbesondere die Länder
          Südosteuropas, des Mittelmeerraums und Osteuropas von Belang. Die Politik der EU
          gegenüber diesen Ländern liegt im ureigenen deutschen Interesse.
      n   Deutschland braucht eine starke Europäische Union auf der internationalen Bühne, um
          mit seinen Partnern Einfluss auf das Weltgeschehen nehmen zu können und Ziele zu
          verwirklichen.
      n   Die europapolitische Koordinierung der Bundesrepublik sollte gestärkt und gestrafft
          werden, um einer Zerfaserung vorzubeugen. Hierzu wären die interministeriellen

18   Wessels / Diedrichs: Deutschland in der Europäischen Union                                                                               Wessels / Diedrichs: Deutschland in der Europäischen Union   19
Rolf Sternberg

     Wirtschaftsstandort Deutschland:
     Auswirkungen des EU-Binnenmarktes
     auf die deutsche Wirtschaft

20                                       21
Rolf Sternberg1                                                                                                                    Ränge der globalen Lohnkostenhierarchie weit dichter besetzt als die Spitze der Pyramide. Wie
                                                                                                                                        Müller/Kornmeier (2001: 11) zeigen, üben die Arbeitskosten keinen direkten Einfluss auf die
     Wirtschaftsstandort Deutschland: Auswirkungen                                                                                      Wettbewerbsfähigkeit aus. Daraus resultierend stehen auch nicht die Nationen mit den nied-
     des EU-Binnenmarktes auf die deutsche Wirtschaft2                                                                                  rigsten Arbeitskosten an der Spitze der Rangliste der Wettbewerbsfähigkeit. Beleg für diese
                                                                                                                                        These sind die im Widerspruch zu der hohen Kostenbelastung stehenden unbestrittenen deut-
                                                                                                                                        schen Erfolge im Exportgeschäft. Die große Nachfrage nach deutschen Produkten kann als Beleg
                                                                                                                                        für eine immer noch vorhandene hohe Wettbewerbsfähigkeit gewertet werden (Müller/Kornmeier
     1.     Die Standortdebatte – zur aktuellen Positionierung Deutschlands                                                             2001: 8). Der Exportsektor spielt für viele Arbeitsplätze in Deutschland eine sehr wichtige Rolle,
                                                                                                                                        so dass für den Standort Deutschland viel davon abhängen wird, ob sich die Waren und Dienst-
     Debatten um den „Standort Deutschland“ sind ebenso beliebt wie widersprüchlich. Der Begriff
                                                                                                                                        leistungen auch weiterhin auf den Weltmärkten absetzen lassen werden (Walter 2004: 35).
     „Standort“ assoziiert die inhaltliche Nähe zur betrieblichen Standortlehre, obgleich sich ein
     Unternehmen bei der Wahl seiner Standorte für Zweigbetriebe oder (viel seltener) für den Unter-                                    Für die deutsche Wirtschaft bietet sich die Chance, über temporäre Monopolgewinne aus inno-
     nehmenssitz nicht an Ländern orientiert, sondern an einzelnen Städten (oder gar Stadtteilen)                                       vativen Produkten und Produktionsverfahren, die an der Spitze des Strukturwandels erzielt
     innerhalb dieses Landes. So gesehen ist die Anwendung des Begriffes „Standort“ auf einen                                           werden, einen Vorteil im Qualitäts- und Innovationswettbewerb zu erlangen (Müller/Kornmeier
     ganzen Staat zumindest zweifelhaft, denn die einzelnen Regionen innerhalb Deutschlands – wie                                       2001:9f). Um zur Steigerung der Wertschöpfung beizutragen, bedarf es also keinesfalls eines
     auch jener aller anderen Staaten – unterscheiden sich nicht unwesentlich hinsichtlich wichtiger,                                   konkurrierenden Verhaltens mit weniger entwickelten Volkswirtschaften auf der Lohnkostene-
     für die Standortentscheidung von Unternehmen relevanter Faktoren. Wenn im vorliegenden                                             bene. Es sollte stattdessen verstärkt versucht werden, von internationalen Kooperationen und
     Beitrag gleichwohl dieser Titel gewählt wird, dann ist dies zum einen der großen Popularität des                                   von der konkurrierenden Arbeitsteilung zu profitieren. Dies würde die wichtigsten Standortfak-
     Themas „Standort Deutschland“ geschuldet und zum anderen der Tatsache, dass im Vergleich                                           toren Deutschlands, die Quantität und Qualität des heimischen Humankapitals mit der daraus
     der führenden Industrieländer die interregionalen Unterschiede innerhalb Deutschlands relativ                                      resultierenden Produktivität und Innovationsfähigkeit, besser in Wert setzen. Investitionen in
     gering – wenngleich nicht vernachlässigbar – sind.                                                                                 diesem Bereich sollten daher auch auf der Politikagenda ganz oben stehen (Walter 2004: 37).

     Die Mehrzahl der Analysen zum Standort Deutschland sieht eine sukzessive Schwächung des                                            Der Beitrag verfolgt das Ziel, die Wirkungen des EU-Binnenmarktes auf den Standort Deutsch-
     Standorts Deutschland während der vergangenen Jahre. Als Ursachen für die geschwächte Posi-                                        land theoriegeleitet und empirisch fundiert zu bewerten. Zwar existiert der EU-Binnenmarkt
     tion Deutschlands im internationalen Standortwettbewerb werden häufig die Globalisierung, der                                      schon seit geraumer Zeit. Aber durch die Osterweiterung der EU im Mai 2004 hat er sich signi-
     europäische Binnenmarkt sowie die EU-Osterweiterung genannt. Vorliegender Beitrag analysiert                                       fikant vergrößert, weshalb auch seine Wirkung auf ein einzelnes Mitgliedsland wie Deutsch-
     diese These bzgl. der beiden letztgenannten Determinanten theoretisch und empirisch.                                               land möglicherweise eine signifikant andere ist. Kapitel 2 fasst die wesentlichen Aussagen der
                                                                                                                                        einschlägigen Theorien zu den ökonomischen Wirkungen wirtschaftlicher Integrationsprozesse
     Deutschland befindet sich in einem Prozess der abnehmenden Binnennachfrage und des
                                                                                                                                        für Volkswirtschaften in der gebotenen Kürze zusammen. Da der EU-Integrationsprozess ein
     zunehmenden Wettbewerbdrucks (Müller/Kornmeier 2001: 6f). In diesem Zusammenhang
                                                                                                                                        explizit politisch gewollter war und ist, macht es Sinn sich in Erinnerung zu rufen, welche Hoff-
     leidet Deutschland insbesondere unter den hohen Lohnkosten und einer übermäßigen Steu-
                                                                                                                                        nungen die EG als Vorgängerinstitution selbst mit dem Binnenmarkt verknüpfte – daher der in
     erbelastung. Strukturelle Schwachstellen werden dagegen zu selten angesprochen. Zu den
                                                                                                                                        Kapitel 3 vorgenommene Rückblick auf den einst so heftig diskutierten Cecchini-Bericht. Im
     unterschätzen Standortfaktoren zählen Motive, die Unternehmen von einem Engagement in
                                                                                                                                        Kern des Beitrages steht die Empirie. Die Kapitel 4 bis 6 präsentieren wesentliche empirische
     Deutschland abhalten. Bei den weichen Standortfaktoren, die etwa die Ansprüche hochqualifi-
                                                                                                                                        Ergebnisse zu den Wirkungen des EU-Binnenmarkts auf bestimmte ökonomische Zielgrößen und
     zierter Arbeitskräfte an ihren Arbeitsort betreffen (Lebensqualität, Freizeitmöglichkeiten, kultu-
                                                                                                                                        verschiedene räumliche Bezugsgrößen. Kapitel 4 quantifiziert die Effekte des Binnenmarktes für
     relle Werte und soziale Normen) handelt es sich größtenteils um grundlegende, nur langfristig
                                                                                                                                        Wachstum und Beschäftigung in der deutschen Volkswirtschaft. Kapitel 5 hat die Effekte der
     und von der Politik nur bedingt zu beeinflussende Faktoren. Andere in internationalen Verglei-
                                                                                                                                        EU-Osterweiterung für den Arbeitsmarkt in Deutschland zum Gegenstand. Kapitel 6 thematisiert
     chen als komparative Schwächen Deutschlands ermittelte Charakteristika wären zumindest
                                                                                                                                        die Wirkungen des EU-Binnenmarktes und der EU-Osterweiterung in den Regionalwirtschaften
     potenziell kurzfristig änderbar, wie z.B. die Art und Intensität von Vorschriften und Auflagen,
                                                                                                                                        Deutschlands, ausgehend von der Prämisse, dass diese Wirkungen sich zwischen den deutschen
     Genehmigungsverfahren, Arbeitszeitregelungen, Bürokratiekosten. Weitere Bereiche, in denen
                                                                                                                                        Regionen unterscheiden und diese Unterschiede den „Standort Deutschland“ insgesamt beein-
     die Politik aktiver werden könnte, um den Standort Deutschland zu stärken, sind die Rechts-
                                                                                                                                        flussen. Schließlich versucht Kapitel 7 eine Bilanzierung der ökonomischen Nutzen und Kosten
     sicherheit und Toleranz in Deutschland (Müller/Kornmeier 2001: 12).
                                                                                                                                        des EU-Binnenmarktes für den Standort Deutschland.
     Die genannten Determinanten haben dazu beigetragen, dass der Wettbewerbsdruck auf den
     Standort zugenommen hat – und wahrscheinlich weiter zunehmen wird. Fraglich ist allerdings,
     ob sich dieser Druck über Lohnkostensenkungen vermindern lässt. Schließlich sind die unteren

     1
       Prof. Dr. Rolf Sternberg ist am Institut für Wirtschafts- und Kulturgeographie der Universität Hannover tätig und dort für die
     Geschäftsführung der Abteilung Wirtschaftsgeographie zuständig.
     2
       Der Autor dankt Herrn Dennis Stockinger für wesentliche Vorarbeiten zu einer früheren Fassung des Beitrages.

22                                                                                                                                                                                             Sternberg: Wirtschaftsstandort Deutschland    23
2.   Theorie – Ökonomische Wirkungen wirtschaftlicher                                               n   Neuere Ansätze gehen davon aus, dass an Integrationsprozessen teilnehmende Volks-
          Integrationsprozesse auf Volks- und Regionalwirtschaften                                           wirtschaften von einem anhaltenden „Wachstumsbonus“ (growth bonus) profitieren.
                                                                                                             Insbesondere gemäß jener neueren Integrationstheorien, die auf der endogenen Wachs-
     Die frühe Integrationstheorie befasst sich fast ausschließlich mit handelssteigernden und
                                                                                                             tumstheorie im Sinne von Romer und Lucas beruhen, haben Prozesse der Wissensge-
     handelsumlenkenden Effekten regionaler Handelsabkommen. Sie differenziert zwischen stati-
                                                                                                             nerierung und -diffusion eine entscheidende Bedeutung (Kooperation in Forschung und
     schen Effekten (kurzfristig wirkende Handelssteigerung abzüglich der Handelsumlenkung) und
                                                                                                             Entwicklung, Technologietransfer etc.). Integration verbessert und erweitert demnach
     dynamischen Effekten (mittel- und längerfristige Skalen- und Wettbewerbseffekte) (Ziltener
                                                                                                             die Wissensgenerierung, und sie ermöglicht die schnellere Verbreitung von Wissen über
     2001: 13f). Ein beträchtlicher Anteil des Welthandels wird heute von Ländern bestritten, die
                                                                                                             technologische und/oder Wissens-Spillover.
     an formalen Zusammenschlüssen in supranationalen Integrationsräumen beteiligt sind und
     sich in diesem Rahmen gegenseitige handelspolitische Präferenzen einräumen. Die Motiva-             n   Die wirtschaftlichen Effekte politischer Steuerung und supranational organisierter mone-
     tion der Einzelstaaten liegt in der Hoffnung, infolge des zunehmenden grenzüberschreitenden             tärer Transfers haben dagegen bisher kaum Eingang in ökonomische Integrationstheo-
     Austauschs von Waren und Dienstleistungen ihren Wohlstand zu mehren – so wie es für die                 rien gefunden (Ziltener 2001: 11).
     Weltwirtschaft insgesamt für die vergangenen Dekaden zu beobachten ist. Außenhandel wird
     in der klassischen Außenhandelstheorie mit Unterschieden zwischen Ländern hinsichtlich der         Ein zentraler (wenn auch nur partiell intendierter) Integrationseffekt ist die zunehmende Mobi-
     Verfügbarkeit bzw. einer effizienteren Ressourcenallokation und der Realisierung von economies     lität von Produktionsfaktoren. Die meisten ökonomischen Theorien fokussieren diesbezüglich
     of scale aufgrund größerer Märkte erklärt. Dies führt zur Arbeitsteilung und Spezialisierung       die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, während der zumindest teilweise ebenfalls mobile
     auf die Güter und Dienstleistungen, die im Vergleich zu anderen Ländern günstiger angeboten        Produktionsfaktor Wissen / technischer Fortschritt in der ökonomischen Theorie eher selten
     werden können. Unter diesen Umständen führt Handel zu einer Verbesserung der Konsum-               thematisiert wird. Besonderen politischen Zündstoff bieten die Auswirkungen der Arbeitskräf-
     versorgung und zu Spezialisierungsgewinnen bzw. komparativen Kostenvorteilen (Walter               tewanderungen in Ziel- und Quellgebieten (Möller 2002). Aus theoretischer Sicht hängen die
     2004: 30f). Die Kostenvorteile lassen sich in relative Nachfrageunterschiede und komparative       Effekte der Wanderung von den Annahmen über die Anpassungsmechanismen ab. Grundsätzlich
     Angebotsunterschiede unterteilen. Als bedeutsame Ursachen für komparative Kostendiffe-             kann Migration zu einer verbesserten Faktorallokation und damit zu Wohlfahrtsgewinnen für den
     renzen können sowohl Unterschiede in der Faktorausstattung, als auch relative Produktivitäts-      Gesamtraum führen, solange das Grenzprodukt der Arbeit in der Einwanderungsregion größer
     differenzen identifiziert werden (Walter 2004: 32).                                                als in der Herkunftsregion ist. „Der Effizienzgewinn der Migration entsteht durch die Wanderung
                                                                                                        von Arbeitskräften von einem Ort, an dem sie weniger produktiv eingesetzt werden, zu einem
                                                                                                        anderen Ort, an dem sie produktiver eingesetzt werden.“ (Brücker 2003: 580). Wanderungs-
     Die aktuellen Integrationstheorien postulieren folgende wirtschaftliche Effekte regionaler Inte-   gewinne aufgrund von Lohnunterschieden führen grundsätzlich zu einem effizienteren Einsatz
     gration:                                                                                           des Produktionsfaktors Arbeit und somit zu einem Anstieg des Sozialprodukts. Beachtenswert
      n   Integration führt zu einer Zunahme des Handels zwischen den teilnehmenden Ländern             ist allerdings, dass die Wanderungsgewinne nicht gleichmäßig auf die Ziel- und Herkunftsländer
          (trade creation). Zwischen den Ländern des Integrationsraumes wird sich die Nach-             sowie die einzelnen Produktionsfaktoren verteilt sind. Zudem ist natürlich zu beachten, dass
          frage auf die Produkte des effizientesten Produzenten verlagern. Integration in Form          Lohnunterschiede nicht die einzige Ursache für Migrationen darstellen, wie dies die neoklassi-
          einer Zollunion kann dann zu einer Handelsumlenkung (trade diversion) führen, wenn            sche Wachstumstheorie postuliert.
          der effizienteste Produzent auf dem Weltmarkt ausgeschlossen wird und sich die Nach-          Im einfachen (und im Binnenmarkt unrealistischen) Fall von Volkswirtschaften, die keinen
          frage auf die Produkte des effizientesten Produzenten in der Zollunion verlagert. In          Handel miteinander betreiben, führt die Migration von Arbeitskräften dazu, dass diejenigen
          der älteren Integrationstheorie werden die Effekte auf den Handel als statische Effekte       Produktionsfaktoren, die komplementär sind, gewinnen, während die Produktionsfaktoren, die
          bezeichnet und als kurzfristig wirkend verstanden (short term static effects).                substituiert werden, verlieren. Über die Migration kann möglicherweise ein Mangel an Arbeits-
      n   Unter dynamischen Effekten werden die mittel- und längerfristig wirkenden Integra-            kräften im Zuwanderungsland beseitigt werden. Das gilt insbesondere für hochqualifizierte
          tionsinduzierten Effekte verstanden, die die Produktion in den beteiligten Nationen           Arbeitskräfte. Ein Arbeitskräftebedarf kann aber auch im Niedriglohnsektor entstehen, wenn
          effizienter machen. Dies geschieht über mehrere Wirkungskanäle: Der Abbau von                 heimische Arbeitskräfte nicht zur Verfügung stehen, etwa wegen eines zu geringen Abstands
          tarifären und nichttarifären Schranken wird den Wettbewerb zwischen den Produzenten           zwischen Niedriglohnvergütung und Sozialleistungen. Für Einheimische ergibt sich per saldo
          verstärken („cold shower of competition“), die Effizienz und Innovationstätigkeit stei-       ein – wenn auch geringer – Einkommensanstieg, während in den Auswanderungsländern die
          gern und zu zusätzlichen Investitionen in diesem Raum führen, sowohl intern wie aus           Einkommen der einheimischen Produktionsfaktoren geringfügig sinken. Diese Verluste können
          Nichtmitgliedsländern. Der Binnenmarkt ermöglicht den Produzenten die Produktion von          durch Rücküberweisungen der Migranten ausgeglichen werden. Zuwanderung kann demnach
          mehr und mehr unterschiedlichen Gütern zu geringeren Kosten (economies of scale,              also auch im Auswanderungsland positive Auswirkungen nach sich ziehen und so eine Möglich-
          economies of scope). Daraus resultiert eine zunehmende Spezialisierung und internati-         keit darstellen, internationale Differenzen in den Einkommen und Beschäftigungsmöglichkeiten
          onale Arbeitsteilung. Wachstumseffekte und Wohlfahrtsgewinne sind die Ergebnisse des          abzubauen (Brücker 2003: 587).
          Integrationsprozesses – Effekte, die die ältere Integrationstheorie als vorübergehend
                                                                                                        Sobald allerdings zuwandernde Arbeitskräfte nicht komplementär, sondern in Konkurrenz auf den
          einschätzt.
                                                                                                        Arbeitsmarkt treten, entsteht ein Druck auf die Löhne im jeweiligen Segment des Arbeitsmarktes

24   Sternberg: Wirtschaftsstandort Deutschland                                                                                                              Sternberg: Wirtschaftsstandort Deutschland   25
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