Die Schweiz und Europa müssen ihr Verhältnis neu definieren Familienpolitik - Tummelfeld für Parteien und Ideologen Seit 40 Jahren ein Star - die ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Die Zeitschrift für Auslandschweizer Aj pu rn ii l 2200 11 14 / N rr . . 23 Die Schweiz und Europa müssen ihr Verhältnis neu definieren Familienpolitik – Tummelfeld für Parteien und Ideologen Seit 40 Jahren ein Star – die Karrieren des Bernhard Russi
Schreiben Sie Ihre Stadtgeschichte. in e n S ie e re r in n Ih G ew e n d e i n h e n t ! Woc raumstad om/ T .c Jet d’eau, Genf, Region Genf er land witz n MyS gewinne Entdecken Sie unsere genussvollen und überraschenden Schweizer Boutique-Städte. Schmucke Altstädte mit Wohlfühlcharakter und kultureller Vielfalt laden Sie zum Verweilen ein: MySwitzerland.com/staedte
EDITORIAL I n h alt 3 Diffuses Unbehagen mit unabsehbaren Folgen D u wirst in ein land zurückkommen, das nicht mehr das gleiche ist, das Du 5 verlassen hast.» Diese Nachricht schrieb mir ein Freund am 9. Februar. Sie er- Briefkasten reichte mich in Sydney, wo ich jenen Teil meiner Familie besuchte, der zurzeit 5 in Australien lebt. Ist es wirklich so? Ist die Schweiz nach dem Ja zur «Initiative gegen Gelesen: Das Leben des Louis Chevrolet die Masseneinwanderung» ein anderes Land? 6 Nein, so ist es natürlich nicht. Schweizerinnen und Schweizer haben sich nicht, Gesehen: Markus Raetz, der Wahrneh- wie das manchmal dargestellt wird, mehrheitlich zu ausländerfeindlichen Heimat- mungsforscher Fundamentalisten gewandelt. Der Auslöser für ein Ja zur SVP-Initiative war bei vie- 8 len ein diffuses Unbehagen – über teure Mieten, überfüllte Züge, verstopfte Stras Die Familie: Realitäten, Mythen und Politik sen und den Druck auf die Löhne. Die Abstimmung hat etwas Paradoxes, wenn man betrachtet, wo die Initiative am meisten Zustimmung erfahren hat: Nirgends gab es 12 Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative – so viel Jastimmen wie in abgelegenen ländlichen Gebieten, da, wo nur wenige Aus- wie geht es nun weiter? länder leben. Fundamental verändert hat der Urnengang das Verhältnis zwi- 15 + 16 Milliarden für neue Kampfflugzeuge und schen der Schweiz und den 28 EU-Staaten. Diese Konsequenz ein Mindestlohn? Das Volk entscheidet. wurde von den Befürwortern im Abstimmungskampf immer wie- der heruntergespielt, jetzt ist sie Realität. Der Bundesrat, der nun Regionalseiten Lösungen suchen muss, wie er unser Land trotz des Entscheids zur Einwanderungspolitik vor der Isolation schützen kann, ist 20 nicht zu beneiden. Er ist nun gegenüber Europa, dem wichtigs- Ernst Beyeler: Kunstsammlung und Stifter ten Handelspartner der Schweiz, in der Rolle des Bittstellers. Erste Konsequenzen der des wunderbaren Kunsthauses in Riehen Abschottungspolitik kommunizierte Brüssel knapp eine Woche nach der Abstimmung: 22 Das Programm «Erasmus+», ein Abkommen über die Mobilität von Studierenden, so- Briefmarkensammeln war ein beliebtes wie die Zusammenarbeit im Forschungsprogramm «Horizon 2020» wurden sistiert. Das Hobby, heute sind Sammlungen fast wertlos ist für den Forschungsplatz Schweiz, für die junge Generation und für unsere kleine, res- sourcenarme Volkswirtschaft ein schlechtes Zeichen. Die ausführliche Berichterstattung 24 Literaturserie: Lina Bögli und ein Kommentar zu der Abstimmung finden Sie in der Rubrik Politik ab Seite 12. Im Schwerpunkt dieses Hefts beschäftigen wir uns mit der Familienpolitik, einem 25 Thema, dem sich derzeit alle politischen Parteien mit Inbrunst widmen – dabei wird ASO-Informationen oft mehr der Mythos gepflegt als die Realität betrachtet. 28 Und dann möchte ich Sie auch noch auf zwei besondere Beiträge hinweisen: Auf die Aus dem Bundeshaus Geschichte von Bernhard Russi, der Schweizer Skilegende aus den Siebzigerjahren, 30 der als Pistenbauer auch bei den Olympischen Spielen in Sotschi eine Hauptrolle ge- Echo spielt hat, und auf den Kulturbeitrag über Ernst Beyeler und sein Vermächtnis, die Fondation Beyeler in Basel, die erfolgreicher ist als jedes andere Kunstmuseum in der Schweiz. Barbara Engel Titelbild: Symbolbild zum Verhältnis Schweiz–EU: ein Fahnenschwinger auf dem Männlichen bei Grindelwald mit einer Europa-Fahne. Foto: Keystone/Martin Ruetschi S chweizer R evue April 2014 / Nr. 2 IMPRESSUM: «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, erscheint im 41. Jahrgang in deutscher, französischer, italienischer, englischer und spanischer Sprache in 14 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 400 000 Exemplaren (davon Online-Versand: 140 000). Regionalnachrichten erscheinen viermal im Jahr. Die Auftraggeber von Inseraten und Werbebeilagen tragen die volle Verantwortung für deren Inhalte. Diese entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder der Her- ausgeberin. ■ REDAKTION: Barbara Engel (BE), Chefredaktorin; Marc Lettau (MUL); Jürg Müller (JM); Alain Wey (AW); Peter Zimmerli (PZ, Auslandschweizerbeziehungen EDA, 3003 Bern, verantwortlich für «Aus dem Bundeshaus». Übersetzung: CLS Communication AG ■ GESTALTUNG: Herzog Design, Zürich ■ POSTADRESSE: Herausgeber/ Sitz der Redaktion/Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, 3006 Bern, Schweiz. Tel. +41 31 356 61 10, Fax +41 31 356 6101, PC 30-6768-9. ■ E-MAIL: revue@aso.ch ■ DRUCK: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. ■ Alle bei einer Schweizer Vertretung immatrikulierten Auslandschweizer erhalten das Magazin gratis. Nichtauslandschweizer können das Magazin für eine jährliche Gebühr abonnieren (CH: CHF 30.–/Ausland: CHF 50.–). Abonnenten wird das Magazin manuell aus Bern zugestellt. www.revue.ch ■ Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 25. 2. 2014 ■ ADRESSÄNDERUNG: Bitte teilen Sie Ihre neue Adresse Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit und schreiben Sie nicht nach Bern.
Internationale Kranken– und Unfallversicherung 61 11 Nach Schweizer Modell Privater Versicherungsschutz lebenslang Freie Arzt- und Spitalwahl weltweit www.ilg-mietauto.ch Ilgauto ag, 8500 Frauenfeld Ausserdem: 200 Autos, 40 Modelle, z.B 1 Monat inkl. Frei Km: Internationale Erwerbsausfallversicherung Internationale Pensionskasse Dacia Sandero 1.2, Fr. 600.- Dacia Duster 1.6, 4x4, Fr. 1150.- Individuelle Lösungen für: Tel. 0041 52 7203060 Auslandschweizer Auswanderer aller Nationalitäten Kurzzeit-Entsandte / Local Hire Swiss Pass – all in one ticket. SwissTravelSystem.com Kontaktieren Sie uns! Tel: +41 (0)43 399 89 89 www.asn.ch ASN, Advisory Services Network AG Bederstrasse 51 CH-8027 Zürich info@asn.ch «Die Internet-Plattform SwissCommunity Jean-François de Buren Grafiker und Berater für Marken- vernetzt Schweizer weltweit» strategie, Schweizer in den Vereinigten Staaten «Faszinierend an SwissCom- munity ist, wie schnell und unkompliziert ich mich mit anderen Mitgliedern über Florian Baccaunaud Themen, die mich interes- Student sieren, austauschen kann.» Schweizer in Frankreich «SwissCommunity? Das ist die neue Art, die Schweiz und die Auslandschweizer zu verbinden. Das ist Chantal Kury die Zukunft!» Diplomierte Kindergärtnerin Schweizerin in Ägypten «SwissCommunity ist die Tür zur Heimat und öffnet die Türen zur Welt – dort finde ich hilfreiche Infor- mationen und Dienste für Auslandschweizer.» Vernetzen Sie sich mit anderen Auslandschweizern Jetzt gratis anmelden! Bleiben Sie informiert über relevante News und Events Finden Sie eine Wohnung — oder das beste Fondue in der Stadt www.swisscommunity.org Entdecken Sie die Schweiz SwissCommunity Partner
BRIEFKASTEN G e l esen 5 Never give up – Louis Chevrolet Woher kommt die chen Kreisen, die gegen die «erinnerungen sind so ziemlich alles, was geblieben ist Unsicherheit der Schweiz? Initiative waren, Luft machen, vom spektakulären Leben, das Louis Chevrolet von La Ist die Schweiz, durch ihre da sie es nicht geschafft haben, Chaux-de-Fonds nach Paris und schliesslich in die USA Volksabstimmungen, nicht ein die verbreiteten Lügen aufzude führte, wo er einer der grössten Rennfahrer aller Zeiten fach viel transparenter als je cken und die sonstigen Gefah wurde.» Dies stand am 18. März 1938 in der amerikani- des andere Land und damit ren für unser Land aufzuzeigen. schen Zeitung «The Corpus Christi Times». Nun hat sich ungeschützter gegen Kritik? Jetzt kann unsere politische Martin Sinzig, ein Schweizer Wirtschaftsjournalist, auf Ist es deshalb für einen Politi Führung Schadensbegrenzung den Weg durch Europa und Nordamerika gemacht, um ker nicht die schwierigste Auf betreiben; vielen Dank und viel diese Erinnerungen festzuhalten und biografisch zu gabe überhaupt, schweizeri Erfolg. präsentieren. Entstanden ist das Buch «Louis Chevrolet – scher Bundesrat zu sein? Kann Jean-François Monnier, der Mann, der dem Chevy seinen Namen gab», die Schil- die Regierung stark sein, wo St. Julien de Peyrolas, Frankreich derung des abenteuerlichen Lebens des Neuenburgers, das Volk stark ist? Der Bun der an seinem 22. Geburtstag per Schiff in New York an- desrat muss meisterhaft aus Inakzeptables Editorial kam und in den USA zu einem der einflussreichsten Mo- gleichen zwischen selbst Bezüglich der Einwanderungs toren- und Rennwagen-Konstrukteure wurde. bestimmter Schweiz und initiative klassiert Barbara En Heute kennt jeder den Namen Chevrolet. Doch was steckt fremdbestimmter EU. Der gel die Schweizer entweder als hinter diesem Namen? Die Lebensgeschichte des Firmengrün- Bundesrat braucht für seine WEITSICHTIG (clairvoyant) ders Louis Chevrolet, geboren am 25. Dezember 1878 in schweizerische Staatskunst oder dann als KLEINMÜ La Chaux-de-Fonds, gestorben am 6. Juni 1941 in der Motor- unsere volle Unterstützung. TIG, und EGOISTISCH. City Detroit, blieb lange im Dunkeln. Die zum 100-jährigen Edgar Ruf, Düsseldorf Eine solch intolerante und be Firmenjubiläum von Chevrolet 2011 erschienene Biografie ist http://home.arcor.de/edgar.ruf leidigende Qualifizierung das Resultat langjähriger, minutiöser Recherchen. Sie präsen- könnte man sich von einem Po tiert neue Erkenntnisse und bisher unveröffentlichte Zeit Diese Schweizer Wähler litbüro eines totalitären Staa dokumente und Fotografien zusammen mit Presseartikeln zu Die meisten Kantone der tes vorstellen, jedoch nicht von den Höhen und Tiefen der frühen Automobilindustrie. Sinzig Schweiz sind deutschsprachige einem Land, das für Demokra erläutert zudem erstmals detailliert die Vorgänge rund um die Kantone, deren Stimmen je tie und Freiheit steht. Barbara Gründung und Entwicklung der Firma Chevrolet. Er präsentiert nach Initiative den Ausschlag Engel sollte sich für ihre ge aber nicht nur das Werk des genialen Konstrukteurs und Tüft- für ein Ja oder ein Nein geben. schmacklose Entgleisung ent lers, sondern auch Louis Chevrolet als Menschen, der seiner Die Schweizer wollen selbst schuldigen. Familie tief verbunden war, als hingebungsvoller Bruder und über ihr Schicksal bestimmen Hans Waldispuhl, Vater und treu sorgender Ehemann. Eine besondere Note ver- und keine Anweisungen von der Shediac Bridge, Kanada leiht dem Buch das Vorwort des früheren langjährigen General- EU erhalten. Die französisch Motors-Entwicklungschefs und ebenfalls Amerika-Schweizers sprachige Schweiz hat von Danke! Bob Lutz. Frankreich geprägte linke An Nach den «unglücklichen» An GM, das Mutterhaus von Chevrolet, wurde von der Wirt- sichten, und ihre politischen schuldigungen in der Februar- schafts- und Finanzkrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts stark Vertreter sind bereit, die Ausgabe (und andern) möchte getroffen und musste sich in einem schmerzhaften Prozess neu Schweiz an die EU zu verkaufen. ich Barbara Engel und ihrer ausrichten. Der Reorganisation fiel die traditionsreiche Marke Zum Glück sind diese Wähler Equipe ein Kränzchen winden. Pontiac zum Opfer – der etablierte Schweizer Name überlebte in der Minderheit, und ich hoffe, Unter der Leitung von Barbara hingegen. Dank Chevrolet gelang GM 2010 der grösste Börsen- dass die Schweiz trotz der An Engel hat sich die «Schweizer gang aller Zeiten. Chevrolet hat sich zur viertgrössten Marke nahme der SVP-Initiative ein Revue» zu einer sehr vielseiti der Welt weiterentwickelt. florierendes und beneidenswer gen und interessanten Zeit Sinzig, selbst passioniert von der ameri- tes Land bleiben wird. schrift entwickelt, die uns über kanischen Automobilität, wuchs in der Guy Nicolas, das Geschehen in unserem Hei Muscle-Car-Generation auf und erlebte Dijon, Frankreich matland gut informiert. Über hautnah die Erdölkrise der frühen Sieb- Inhalte geteilter Meinung zu zigerjahre und damit das vorläufige Ende Schadensbegrenzung sein, ist zweifellos gestattet, der grossen und starken Strassenkreuzer. Erschüttert von den Ergebnis ganz nach dem französischen Die «Nicht-nur-Chevrolet-Biografie» ist le- sen der Abstimmung vom 9. Fe Sprichwort: «On ne peut con senswert für all jene, die sich für die interna- S chweizer R evue April 2014 / Nr. 2 bruar über die Einwanderung tenter tout le monde et son tionalen wirtschaftlichen Zusammenhänge muss ich meiner Entrüstung ge père.» Schade, dass einige Leser des frühen 20. Jahrhunderts interessieren. genüber den begriffsstutzigen ihre Kritik derart harsch for Anhand seines Lebens und seines Einflusses in der Automobilindu- und ahnungslosen Initianten mulieren. Diese unfeine Kritik strie zeigt sie den wirtschaftlichen Hintergrund der heutigen Mo- und meiner Enttäuschung ge ist alles andere als motivierend. bilität und der sich abzeichnenden Globalisierung. THOMAS KALAU genüber den politischen, wirt Foto: ZVG Raymond Hoechli, MARTIN SINZIG, «Louis Chevrolet – Der Mann, der dem Chevy seinen schaftlichen und gesellschaftli Barcelona, Spanien Namen gab»; Orell Füssli Sachbuch, 2011; 190 Seiten. CHF 35.–, Euro 25.–
6 Gesehen Wahrnehmungen und Realitäten für Wahrnehmungen der aussergewöhnlichen Art. Ein gebogener Draht verwandelt sich in ein Gesicht, wenn man Markus Raetz ist eine Art Zauberer unter den Schweizer ihn aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, ein Hase in Künstlern. Als Betrachter steht man immer wieder verblüfft einen Mann, eine geknickte Blechblatte erscheint durch das vor seinen Werken. Es ist, als habe er einen erweiterten Sinn Spiel von Licht und Schatten wie eine weite Landschaft. S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2 Bilder: ZVG Kunstmuseum Bern und Privatsammlung
7 Markus Raetz, 1941 in Bern geboren und in Büren an der Ausstellung im Kunstmuseum Bern noch bis zum 18. Mai 2014. Aare aufgewachsen, ist heute einer der bedeutendsten Künst- Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog mit einem Textband ler der Schweiz. Das Kunstmuseum Bern zeigt einen Über- in Deutsch, Französisch und Englisch erschienen. blick über sein grafisches Werk und einige Skulpturen. Verlag Scheidegger & Spiess, CHF 150.–
8 Schwerpunkt Zwischen Wunschdenken und Realität: Kampfplatz Familie Noch kaum je ist in der Schweiz derart heftig über familienpolitische Konzepte debattiert worden wie heute. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen haben die Formen des Zusammenlebens stark verändert, doch Bilder einer idealen Familie verstellen häufig den Blick auf die Realitäten. Von Jürg Müller Wenn alle dasselbe Ziel anstreben, heisst das schon alle Parteien die «Urzelle der gegebene Studie der Berner Fachhochschule noch lange nicht, dass alle den gleichen Weg Gesellschaft» programmatisch hochhalten. für Soziale Arbeit zeigt, dass die Schweiz im beschreiten. Es heisst paradoxerweise nicht Vergleich zu den übrigen OECD-Ländern einmal, dass alle am gleichen Ort ankommen «Familienpolitisches Entwicklungsland» wenig Geld für Familien aufwendet: Mit wollen. Äusserst anschaulich illustriert das Das heisst nun nicht, dass nichts getan wird. 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) derzeit die helvetische Familienpolitik: Alle Die meisten Eltern kommen in den Genuss liegt sie unter dem OECD-Durchschnitt politischen Parteien wollen «die Familie» von Kinderzulagen, deren Höhe ein Bundes von 2,23 Prozent. Deutschland wendet stärken. Was sie unter dem Begriff jedoch ge gesetz regelt. Das Steuerrecht kennt eine 2,8 Prozent des BIP für Familien auf, Öster nau verstehen, welche Familienbilder und Reihe von Entlastungen für Familien. Für reich 3,0 und Frankreich 3,7 Prozent. Zielvorstellungen ihren Forderungen zu jedes minderjährige Kind und alle Jugendli Natürlich wäre es wünschenswert, «dass grunde liegen, bleibt diffus und chen in beruflicher Erstausbildung können jede Familie ihr Schicksal, ihre Entwicklung reichlich disparat. Die einen malen das Abzüge beim steuerbaren Einkommen ge und ihre materiellen Bedürfnisse unabhän Schreckgespenst der «Verstaatlichung der macht werden. Auch Fremdbetreuungskos gig und eigenverantwortlich gestalten kann. Kinder» an die Wand, wenn mehr Kinder ten für Kinder können seit einiger Zeit teil Doch die Grundvoraussetzungen, um die tagesstätten gefordert werden, die andern weise abgezogen werden, genau wie die ses Ziel zu erreichen, sind in unserem Land bemühen das Bild vom «Heimchen am Herd», Krankenkassenprämien für Kinder. Mit ei noch nicht gegeben», sagt Thérèse Meyer- wenn Frauen sich vollzeitlich Kindern und ner Anschubfinanzierung unterstützt der Kaelin, Präsidentin der Eidgenössischen Haushalt widmen. Es wird gestritten über Bund die Schaffung neuer Krippenplätze, Koordinationsstelle für Familienfragen, ein Steuerabzüge und Familienzulagen, über ein Programm, das zweimal verlängert wor beratendes Organ des Departements des In externe Kinderbetreuung und Tagesschulen, den ist und 2015 ausläuft. Zudem gibt es eine nern. Es gebe in der Schweiz «keine ausrei über Vaterschaftsurlaub und Rabenmütter, Mutterschaftsversicherung für erwerbstä chend wirksame Familienpolitik». Und sie über Feierabendväter und Tagesmütter – tige Frauen. Für bedürftige Familien beste wird noch deutlicher: «Die typische Ausrede oder ganz allgemein über richtige und falsche hen weitere staatliche Hilfen, so etwa Prä der sogenannten Verfechter der Familie, um Lebensentwürfe. mienverbilligungen für Krankenkassen, in im Endeffekt nichts zu unternehmen», be Die Debatten fallen häufig sehr heftig aus, gewissen Kantonen auch Ergänzungs stehe darin, die Familie zur Privatsache zu dies zeigten im vergangenen Jahr gleich zwei leistungen. Viele Gemeinden und Städte erklären. Die Vereinbarkeit von Familie und familienpolitische Volksabstimmungen. Da bieten eine Anzahl subventionierter Krip Beruf «gleicht oft einem Hindernislauf». Da bei wurde klar, es geht um weit mehr als um penplätze an. bei sei doch die Familie «die wichtigste Ein die Familie. Es geht um Weltanschauungen Aber eben: Üppig ist das alles nicht. Die heit, damit sich die Gesellschaft harmonisch und Gesellschaftsentwürfe, um Rollenbilder Sozialausgaben für Familien und Mutter entwickeln und jede Person sich individuell und Gleichstellungsfragen. Davon schaft liegen erheblich unter dem europäi entfalten kann». betroffen sind meist gleich mehrere Politik schen Durchschnitt. Für kinderreiche Fa bereiche, nämlich Bildung, Soziales, Arbeits milien und Alleinerziehende liegt in der 80 Prozent der Frauen sind erwerbstätig markt, Steuern, Finanzen, Wohnbaupolitik Schweiz das Armutsrisiko überdurch Mit der Harmonie ist es nicht weit her: Ge und Siedlungsentwicklung. Und natürlich, schnittlich hoch. Remo Largo, emeritierter sellschaftliche Wirklichkeit und familien das beteuern ausnahmslos alle, geht es immer Professor für Kinderheilkunde an der Uni politische Massnahmen stehen nicht im und an erster Stelle um das Wohl des Kindes. versität Zürich und Bestsellerautor, formu Gleichgewicht. Das traditionelle Familien Familienpolitik ist ein Dauerbrenner hel lierte es jüngst in einem Interview drastisch: bild mit strikter Rollenteilung «Vater ist Er vetischer Politik. Ein eigenständiger Politik «Die Schweiz ist bezüglich Familienpolitik nährer, Mutter kümmert sich um Heim und bereich war sie in der Schweiz bemerkens ein Entwicklungsland. Im Vergleich mit den Kinder» geistert zwar noch in manchen S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2 werterweise jedoch nie und ist es bis heute skandinavischen Ländern setzt die Schweiz Köpfen herum, entspricht aber meist nicht nicht. Die Verkehrspolitik, die Bildungs-, die einen dreimal kleineren Betrag des Brutto mehr der Realität. Es gibt sie durchaus noch, Jugend-, die Alters-, die Regional-, die Wirt sozialproduktes für die Kinder und Fami diese Art des Zusammenlebens, aber die do schafts- und die Konjunkturpolitik: Sie alle lien ein. Trotz allen privaten und öffentli minierende Lebensform ist sie längst nicht und einige mehr haben Verfassungsrang, be chen Beteuerungen: Geld ist uns wichtiger mehr. sitzen einen eigenen Artikel in der Bundes als Kinder.» Auch eine vom Gewerkschafts Ein Blick auf Zahlen, Fakten und Struk verfassung. Nicht so die Familienpolitik, ob dachverband Travail.Suisse in Auftrag turen unterstreicht diesen Befund. Über
9 Weitgehend ein Mythos: die Musterfamilie der Fünfzigerjahre – die Mutter am Herd und für Kindererziehung zustän dig, der Vater berufs tätig und Ernährer 80 Prozent der Frauen sind in der einen oder häufigsten ist heute das Modell mit vollzeit teilweise aus dem Berufsleben zurück, drin- anderen Form erwerbstätig. Noch nie gab es erwerbstätigem Partner und teilzeiterwerbs- gend benötigte Fachkräfte fehlen – und so viele Einpersonhaushalte. Die Zahl der tätiger Partnerin. Paare mit Kindern, in de- müssen im Ausland rekrutiert werden. Ab- Familienhaushalte sackte zwischen 1970 und nen beide Partner teilzeiterwerbstätig sind, hilfe schaffen könnte hier ein grösseres An- 2008 von 75 Prozent auf etwas über 60 Pro- sind auch heute noch eine Minderheit, ob- gebot an externen Betreuungsplätzen. Im- zent ab. Ehe- und andere Paarhaushalte wohl sich ihr Anteil verdoppelt hat. merhin nehmen schon heute gegen ohne Kinder sind im gleichen Zeitraum 40 Prozent der Paarhaushalte und 54 Pro- deutlich zahlreicher geworden. Ein wichti- Mittelstand unter Druck zent der Alleinerziehenden diese in An- ger Indikator für die Lage der Familie sind Es sind also immer noch die Frauen, die be- spruch; ist das jüngste Kind unter sieben die Erwerbsmodelle in diesen Paarhaushal- ruflich zurückstecken, wenn Kinder kom- Jahre alt, sind es gar 52 beziehungsweise S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2 ten: Die Details vom Bundesamt für Statis- men. Sie sind es in erster Linie, die in eine 70 Prozent. tik: Zwischen 1992 und 2012 ist der Anteil Zwangslage geraten und sich fragen müssen: Allerdings sind die Betreuungskosten in von Paarhaushalten mit vollzeiterwerbstäti- Beruf oder Kind? Dieses Dilemma führt ei- der Schweiz rekordverdächtig: Gemäss ei- Bild: Bridgemanart.com gem Partner und nicht erwerbstätiger Part- nerseits zu einer sinkenden Geburtenrate nem OECD-Bericht geben Familien rund nerin stark zurückgegangen ist. In Paarhaus- und zu unerwünschten Effekten in Wirt- die Hälfte ihres Einkommens für Kinderbe- halten, wo das jüngste Kind unter sieben schaft und Gesellschaft: Viele gut ausgebil- treuung aus, das ist mehr als in jedem ande- Jahren ist, von rund 62 auf 29 Prozent. Am dete Frauen ziehen sich ganz oder zumindest ren Land. Die hohen Krippenkosten von bis
10 Schwerpunkt zu 2500 Franken pro Monat für einen Voll- paare erhalten zwei volle Renten. Über 80 Prozent der Schweizer Frauen sind platz fressen denn auch häufig einen grossen Die Sozialdemokratische Partei denkt berufstätig: Familie und Teil des Zweiteinkommens weg. Viele mit- ebenfalls laut darüber nach, eine Initiative Beruf unter einen Hut telständische Familien, die auf ein Zweitein- zu lancieren. Im Vordergrund stehen die zu bringen, ist aller- dings oft mit grossem kommen angewiesen sind, können ein Lied Forderungen nach besserer Vereinbarkeit Stress verbunden. Von davon singen. Da die Krippentarife in der von Beruf und Familie, mehr bezahlbaren einigen Parteien werden arbeitende Frauen zu- Schweiz einkommensabhängig sind, stehen Betreuungsplätzen und die Erhöhung der dem als Rabenmütter paradoxerweise Kleinverdiener etwas bes- Kinderzulagen. dargestellt ser da, weil sie in den Genuss von Zuschüs- sen kommen. Für den Mittelstand führt das Einige Mythen begraben aber zu Fehlanreizen, die gerade in Zeiten Dieser Aktivismus zeigt, dass die Politik re- mangelnder Fachkräfte fatal sein können. alisiert hat, wie dramatisch die Veränderun- Gewisse Firmen haben das Problem erkannt, gen bei den Familienstrukturen und Paarbe- bieten interne Kinderbetreuungsplätze an ziehungen sind. Das Bundesamt für Statistik und übernehmen auch einen Grossteil der hält im Fazit des umfassenden Familienbe- Kosten. Leisten könnten sich das jedoch richts von 2008 fest: «Durch die Verselbstän- meist nur sehr grosse Unternehmungen, für digung des Individuums gegenüber der Ge- viele Kleine ist das zu kostspielig. Und hier sellschaft, die Emanzipation der Frauen, aber wäre der Staat gefragt. auch durch die Befreiung von religiöser und bürgerlicher Moral sind einige Tabus gebro- Abstimmungsmarathon zur Familie chen worden.» Dabei muss man sich aber im- Die Chance, der Problemlösung in absehba- mer bewusst sein, dass die Tabus, die da ge- rer Zeit näher zu kommen, ist im vergange- fallen sind, gar nicht so alt sind. Denn die nen Jahr allerdings verpasst worden. Im kulturkämpferischen Auseinandersetzungen März 2013 ist ein Verfassungsartikel über die um die «richtige» Familie und die adäquate Familienpolitik am Ständemehr gescheitert, Familienpolitik stützen sich häufig auf obschon ihm die Mehrheit des Volkes zuge- Mythen, die einer historischen Analyse nicht stimmt hat. Angestossen wurde das Projekt standhalten. im Parlament von der Christlich-demokra- Die «traditionelle Familie» mit festgefüg- tischen Volkspartei (CVP). Der neue Arti- ter Rollenverteilung zwischen Mann und kel hätte Bund und Kantone verpflichtet, Frau ist gar nicht so alt. «Erst in den Boom- die Vereinbarkeit von Familie, Erwerbstä- jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde tigkeit und Ausbildung zu fördern. Mit dem dieses Ideal von breiten Schichten geteilt», Ausbau familien- und schulergänzender Be- erklärt Regina Wecker, emeritierte Profes- treuungsplätze wäre vor allem die Position sorin für Geschichte an der Universität Basel erwerbstätiger Mütter gestärkt worden. in einem Beitrag der deutschen Zeitung «Die Im November 2013 scheiterte das zweite Zeit». Was häufig als etwas Naturgegebenes familienpolitische Anliegen. Die Schweize- mit Ewigkeitswert dargestellt wird, habe rische Volkspartei (SVP) wollte Familien, etwa ab 1960 für rund drei Jahrzehnte als die ihre Kinder selber betreuen, steuerlich Norm existiert und weder vorher noch nach- entlasten. Dies sei nur gerecht, da Eltern, die her der Realität einer Mehrheit von Men- ihre Kinder in Krippen schickten, Steuerab- schen in der Schweiz entsprochen. züge geltend machen könnten, argumen- Auch, dass Frauen einer Erwerbsarbeit tierte sie. Falsch, sagten die Gegner der nachgehen, sei keine historische Anomalie SVP-Volksinitiative: Die Vorlage bevorzuge der Gegenwart, sondern seit Jahrhunder- wuchsen im 18. und 19. Jahrhundert gar steuerlich die «traditionelle» Familie mit der ten der Normalfall. So etwa haben die nicht bei ihren Eltern auf, nicht weil sie im Kinder betreuenden Frau zu Hause. Frauen «in den neu entstandenen Textilfa- heutigen Sinn fremdbetreut wurden, son- Doch die Parteien lassen nicht locker: Die briken bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dern weil die Eltern bereits gestorben wa- CVP macht gleich mit zwei Initiativen die Mehrheit der Belegschaft ausgemacht». ren oder keine Zeit für ihren Nachwuchs Druck, die dieses Jahr zu reden geben wer- Zuvor waren die Frauen einfach zu Hause hatten – weil sie arbeiten mussten. Noch S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2 den. Mit einem der Volksbegehren will sie berufstätig –zum Beispiel in der Heim bis zur Einführung der AHV 1948 war es die Kinder- und Ausbildungszulagen von textilindustrie. üblich, Kinder in fremden Familien zu den Steuern befreien, mit dem andern die Die Fremdbetreuung der Kinder ist eben- platzieren, wenn ein Elternteil starb. Und sogenannte Heiratsstrafe abschaffen, also falls keine junge Entwicklung. «Neu» ist das überhaupt: «Der Anspruch, dass Kinder die Schlechterstellung der Verheirateten bei Phänomen nur, wen man nicht weiter als bis einer besonderen Sorge bedürfen, eben der AHV. Heute beträgt die Rente eines ver- in die Sechzigerjahre des letzten Jahr dass sie betreut werden müssen, entstand heirateten Paars 150 Prozent, Konkubinats- hunderts zurückblickt. Sehr viele Kinder erst im 19. Jahrhundert und konnte bis weit
11 Die gläserne Familie Wen es trifft, der staunt – und stöhnt. In der Schweiz wollen die Statisti ker nämlich sehr genau wissen, was die Familie tut, wie sie sich organi siert, wer in der Familie wofür Geld ausgibt und wer womit wie viel Geld verdient. Seit dem Jahr 2000 werden jährlich 3000 Familien, eine soge nannte Stichprobe, mit Akribie untersucht. Wer einwilligt, ist verblüfft über den Aufwand. Einkäufe müssen minutiös erfasst und detailliert auf geschlüsselt werden. Erfasst wird, ob Freunde einen zum Brunch einladen – und wie viel diese Einladung monetär wert ist. Erfasst werden die Ge sangsstunden der Gattin, die Krippenkosten des Zöglings, die freiwillige Unterstützung der Tante, die Jahresspende an die Vereinigung der Freunde des mongolischen Urpferdes. Und selbst im eisigen Januar ist täg lich die Frage zu beantworten: «Haben Sie heute Gemüse aus dem eigenen Garten geerntet?» Zwei Monate dauert das statistische Spektakel – mit Vorgesprächen, Instruktionen, Testerfassungen und der darauf folgenden täglichen Niederschrift aller Details während vier Wochen. Dazu gesellen sich telefonische Zusatzinterviews – zu Gesundheit und Wohlbefinden, zum Körpergewicht des jüngsten Sprosses, zu diesem und jenem. Dank der Erhebung hat die helvetische Durchschnittsfamilie klare Kon turen. Wir wissen, dass sie 2,23 Personen umfasst und pro Monat und Per son 2,945 Kilogramm Fleisch konsumiert – fast doppelt so viel wie 1950. Wir wissen, dass ihr Warenkorb mit Lebensmitteln halt nur noch knapp sieben Prozent des Haushaltseinkommens beansprucht. Dafür ist der Aufwand für «Wohnen und Energie» auf 15,356 Prozent, respektive 1474 Franken 78 Rap pen, geklettert. Wir wissen, dass besagter Haushalt monatlich 768 Franken und 34 Rappen für seine Mobilität ausgibt – 621 Franken 24 Rappen fürs Auto, aber nur 2 Franken 89 Rappen für die «Beförderung von Personen auf Wasserwegen». Sehr genusssüchtig ist der Durchschnittshaushalt nicht: Er bescheidet sich mit einem monatlichen Konsum von 0,449 Liter Schweizer Weisswein und 2,946 Liter Bier, während der Qualm von Zigaretten im Wert von 38 Franken 51 Rappen die Luft schwängert. In «andere Tabakwaren in klusive Drogen» werden 2 Franken 44 Rappen investiert. Warum das Bundesamt für Statistik (BFS) nicht Familien, sondern expli zit Haushalte untersucht, ist rasch erklärt: Die Formen des Zusammenle bens wandeln sich stark und das Bild der «bürgerlichen Kernfamilie» ver blasst. Vor diesem Hintergrund ist der «Haushalt» heute für Statistiker das Synonym für familiäres Zusammenleben, ungeachtet seiner Form. Wer wissen will, ob der eigene Haushalt trotzdem halbwegs ins schweizerische Familienbild passt, erfährt vom BFS aber Trost: «Die klassische Kleinfami lie ist in der Schweiz nach wie vor stark verankert und prägt den Lebens alltag einer Mehrheit der Bevölkerung.» Bei genauerem Hinsehen wird‘s ins 20. Jahrhundert nicht erfüllt werden. aber recht bunt. Von den 2011 gezählten 1 139 800 Einfamilienhaushalten Auch nicht von den leiblichen Eltern, weil mit Kindern – im Volksmund spräche man hier wohl einfach von Familien – sie keine Zeit dafür hatten», sagt Regina sind lediglich deren 769 100 klassische Gebilde aus einem verheirateten Wecker. Paar mit eigenem Nachwuchs im Kindes- oder Jugendalter. Die zweit Es wäre im weiteren familienpolitischen grösste Gruppe bilden die Alleinerziehenden – mit 166 900 alleinlebenden Schlagabtausch schon viel gewonnen, wenn Müttern und 29 500 alleinlebenden Vätern mit Kindern. Dazu gesellen S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2 wenigstens nicht mit historisch unhaltbaren Mythen argumentiert würde. Die gesell- sich je Zehntausende sogenannter «Fortsetzungsfamilien» – verheiratete schaftlich einzig statthafte Normfamilie Paare mit Kindern aus früheren Beziehungen –, Konkubinatspaare mit gibt es nicht – es gab sie nie. eigenen Kindern, sowie nichteheliche Lebensgemeinschaften, die sich ihrerseits als «Fortsetzungsfamilien» verstehen. Und am Rand tummeln Foto: Keystone sich auch noch einige Dutzend gleichgeschlechtlicher Paare mit Kindern. Jürg Müller ist Redaktor der «Schweizer Revue» Marc Lettau
12 politik – Abstimmung vom 9. Februar 2014 Schweizer Diplomatie vor einer Herkulesaufgabe Das Ja zur sogenannten Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar 2014 wirft die bisherige Europapolitik der Schweiz aus der Bahn. Die konkreten Auswirkungen bleiben vorerst unklar. Klar ist jedoch: Es folgt eine längere Zeit der Ungewissheit. Von Jürg Müller Üblicherweise wird es in der Schweiz nach lang den Initiativgegnern nicht, glaubhaft rat muss nun versuchen, den neuen einem Abstimmungskampf bald einmal ru- darzulegen, dass diese Probleme auch haus- Verfassungstext in ein Gesetz zu giessen. hig. Nach dem 9. Februar ist das anders. gemacht sind. Zudem wurde es verpasst, zu- Dabei dürfte die Verteilung der Kontingente Denn die Schweiz steht eher vor wichtigen sätzliche Massnahmen zu treffen, welche die zwischen Kantonen, Regionen und Wirt- Entscheidungen mit ungewissem Ausgang negativen Folgen der Zuwanderung abgefe- schaftsbranchen zu massiven Kämpfen füh- als nach einer Volksabstimmung mit geklär- dert hätten. Dies mit Ausnahme der bereits ren. Denn für die bisher boomende Schwei- ter Situation. Nun beginnt die Herkulesar- seit Jahren bestehenden flankierenden zer Wirtschaft ist das Reservoir beit der Umsetzung eines Entscheids, der Massnahmen im Bereich Arbeitsmarkt und ausländischer Arbeitskräfte angesichts des zur Folge hat, dass praktisch die gesamte Löhne. Die Einwanderung von netto rund inländischen Fachkräftemangels entschei- schweizerische Europapolitik auf eine neue 80 000 Ausländern jährlich seit 2007 – statt dend. Innenpolitisch wird man sich also Basis gestellt werden muss. Nach dem Nein der von den Bundesbehörden ursprünglich schon an der Kontingentsfrage die Zähne zum Europäischen Wirtschaftsraum prognostizierten rund 8000 – verstärke die ausbeissen, gleichzeitig muss der Bundesrat (EWR) von 1992, den daraus resultierenden Glaubwürdigkeitskrise. darauf achten, dass die Beziehungen zur EU grossen wirtschaftlichen Problemen und Dies alles führte dazu, dass aus unter- nicht aus dem Ruder laufen. jahrelangen schwierigen Verhandlungen schiedlichsten Gründen ein Ja in die Urnen Die Reaktionen im Ausland sind sehr un- über den bilateralen Weg, hat das Volk seit gelegt wurde: Da sind die fremdenfeindlich- terschiedlich ausgefallen. EU-kritische und dem Jahr 2000 diesen Weg in insgesamt fünf nationalistischen Kreise, eine grosse Zahl rechtsextreme Parteien haben offen Beifall Abstimmungen deutlich bestätigt. Am 9. von Protestwählern jeglicher Couleur, die geklatscht. Offizielle Stellen in der EU-Zen- Februar 2014 rüttelte es mit dem Ja zur grundsätzlichen EU-Gegner, Leute mit trale und den EU-Staaten haben bei allem Begrenzung der Einwanderung durch Kon- Ängsten und Befürchtungen aller Art, wie verbalen Verständnis vor allem ihrer Sorge, tingente an den Grundfesten der Personen- Arbeitsplatz- und Identitätsverlust, und teilweise auch ihrer Enttäuschung und Ent- freizügigkeit und damit auch an den bilate- schliesslich die links-grünen ökologischen rüstung Ausdruck gegeben. ralen Verträgen. Bedenkenträger und Wachstumskritiker. Zu konkreten politischen Auswirkungen Mit 50,3 Prozent Ja stimmten Volk und kam es schon wenige Tage nach der Abstim- Stände der sogenannten Masseneinwande- Die grosse Verunsicherung mung. Bereits vereinbarte Gespräche über rungsinitiative der Schweizerischen Volks- Die Einführung von Kontingenten wider- ein Stromabkommen und ein institutionel- partei (SVP) zu. Nun steht in der Bundes- spricht dem für die EU fundamentalen Prin- les Rahmenabkommen wurden von der EU verfassung, dass die Zahl der Bewilligungen zip der Personenfreizügigkeit. Der Bundes- vorerst sistiert. Da die Schweiz das Protokoll für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz – «durch jährli- che Höchstzahlen und Kontingente» be- grenzt werden muss. Die Initiative forderte Vom europapolitischen Mittelweg in die Gefahrenzone zwar nicht die Kündigung der bilateralen Kommentar von Jürg Müller Verträge, verlangte aber vom Bundesrat Nachverhandlungen mit der EU über die Der europapolitische Mittelweg ist in Gefahr, der Mittelweg zwischen Abseitsstehen Personenfreizügigkeit und damit über die und EU-Beitritt. Dank den erfolgreichen bilateralen Verträgen konnte die Schweiz eigenständige Steuerung und Kontrolle der bisher massgeschneidert von einem hohen Grad an europäischer Integration und vom Zuwanderung. Binnenmarktzugang profitieren, ohne EU-Mitglied mit vollen Rechten und Pflichten zu werden: ein äusserst attraktives, austariertes Spezialarrangement mit unserem SVP profitiert von Unmut wichtigsten Wirtschaftspartner. Das alles ist mit der Annahme der sogenannten Mas- Die SVP hat praktisch im Alleingang gegen seneinwanderungsinitiative und damit der faktischen Aufkündigung des für die EU Bundesrat, Parlament, alle anderen Parteien, fundamentalen Prinzips der Personenfreizügigkeit in Frage gestellt. S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2 Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände Starke Zuwanderung bringt immer Probleme, das erleben alle prosperierenden Re- für ihre Initiative gekämpft. Die Befürwor- gionen der Welt. Aber die Probleme, welche die Schweiz sich nun eingehandelt hat, ter haben volle Züge, verstopfte Strassen, sind um einige Dimensionen erweitert. Unsicherheit macht sich in Wirtschaft und Ge- Wohnungsnot, Lohndruck, verstärkte Kon- sellschaft breit. Und das ist Gift. Die politische Stabilität steht als Folge der Polarisie- kurrenz am Arbeitsplatz, zubetonierte rung auf dem Prüfstand, die Planungssicherheit für die Wirtschaft gibt es nicht mehr. Landschaften und anderes mehr allein der Es wird ein unerspriessliches Gezerre um die Ausgestaltung des bürokratischen Kon- starken Zuwanderung zugeschrieben. Es ge- tingentssystems geben. Von der europapolitischen Ungewissheit gar nicht zu reden.
13 Folgen für die Auslandschweizer auch in Richtung Entspannung der Lage in Das Ja zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» wird in nächster Zukunft keine di- diesen und anderen Dossiers. rekten juristischen Auswirkungen für die im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schwei- Gross ist die Verunsicherung in der Wirt- zer haben. Das Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union über die Frei- schaft. Es wurde bekannt, dass vereinzelt In- zügigkeit wird weiterhin angewendet. Auch im Falle einer Kündigung der Verträge würden vestitionsentscheide zurückgestellt und die wohlerworbenen Rechte von Personen, die bereits in einem EU-Land leben, nicht ange- Überlegungen zu Verlagerungen ins Ausland tastet. Eine Klausel im Vertrag über den freien Personenverkehr (Art. 23) garantiert ihnen angestellt worden sind. Die Grossbank Cre- die Möglichkeit des Verbleibs in ihrem Wohnsitzland. Für Staaten ausserhalb der EU bestehen dit Suisse prophezeit, dass in den kommen- schon heute Kontingente für die Einwanderung. Diese Zulassungsbedingungen für Personen den drei Jahren rund 80 000 Stellen weniger aus Drittstaaten bleiben bis zu einer allfälligen Gesetzesrevision in Kraft, deshalb sollten für neu geschaffen werden. Auslandschweizer in Drittstaaten ebenfalls keine neuen Bestimmungen gelten. (BE) Kaffeesatzlesen zu den Entwicklungen Über die weitere Entwicklung darf gerätselt werden. Grundsätzlich sind fünf Szenarien möglich: n Szenario 1: Die EU steigt auf Nachver- handlungen zur Personenfreizügigkeit ein, obschon dies bisher sämtliche EU-Vertreter ausgeschlossen haben: «Nicht verhandelbar» hiess es bisher kategorisch. Käme es trotz- dem zu formellen Verhandlungen, wäre völ- lig offen, ob es auch zu einem allseits akzep- tierten Ergebnis käme. n Szenario 2: Die Schweiz setzt die Initiative einseitig um und führt Kontingente ein. Das muss laut neuem Verfassungstext innert dreier Jahre geschehen, entweder in Geset- zesform oder durch eine Verordnung des Bundesrates. Ist es einmal so weit, muss die Schweiz zwar formell das Freizügigkeitsab- für die Ausdehnung der Personenfreizügig- tenaustauschprogramm «Erasmus» auf Eis. kommen nicht kündigen, faktisch hat sie keit auf Kroatien aufgrund der neuen Lage Gekippt wurden zudem Verhandlungen zur aber die Spielregeln geändert. Die EU wird derzeit nicht unterzeichnen kann, legte die Erneuerung des Filmförderungsprogramms reagieren müssen und vorerst prüfen, ob die EU die Verhandlungen über das Forschungs- «Media». Es gab bei Redaktionsschluss Sig- Kontingente die Personenfreizügigkeit ver- abkommen «Horizon 2020» und das Studen- nale sowohl in Richtung Verschärfung als letzen. Die EU wird dabei nebst juristischen auch politische Überlegungen anstellen. Sollte die Personenfreizügigkeit durch sehr grosse Kontingente zwar rechtlich, aber Gewiss ist eines: Die Schweiz ist abhängiger von der EU als je zuvor. Denn jetzt gibt nicht faktisch tangiert werden, könnte die Brüssel den Takt vor, die Schweiz hat sich freiwillig in die Rolle des Bittstellers manöv- EU gnädig reagieren. Brüssel würde erst Ge- riert. Es nützt nichts, auf die Durchhalteparolen der SVP zu bauen, man müsse sich genmassnahmen ergreifen, wenn die nur genug selbstsicher geben, die EU sei schliesslich auch auf die Schweiz angewiesen. Schweiz dann trotzdem einmal EU-Bürgern Ganz falsch ist das nicht, es gibt immer gegenseitige Interessen. Aber: Man muss sich, das Aufenthaltsrecht verweigert. Einem für den Fall eines Konflikts, auch die Grössenverhältnisse vor Augen führen. Die EU Ausführungsgesetz droht aber auch die in- wird auf die Einhaltung der bilateralen Regeln pochen, denn sie kann kaum laufend nenpolitische Hürde des Referendums. helvetische Sonderwünsche erfüllen, die sie den eigenen Mitgliedstaaten nicht ge- n Szenario 3: Die EU kündigt das Freizügig- währt. keitsabkommen. Wegen der «Guillotine- Irgendeine Lösung wird es nach langen Verhandlungen sicher geben, dabei wird eine Klausel» würden dann automatisch die fünf mehr oder weniger folgenschwere integrationspolitische Rückstufung der Schweiz weiteren Abkommen der bilateralen Ver- S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2 wohl kaum zu vermeiden sein. Es wäre jedoch blauäugig, das unangenehme Szenario ei- träge I hinfällig, was für den Zugang zum ner Zuspitzung des Konflikts mit der EU vollständig zu verdrängen. In einem solchen europäischen Binnenmarkt verheerende Fall kämen Schweizerinnen und Schweizer dann nicht darum herum, die Frage zu be- Auswirkungen hätte. Gleichzeitig könnten antworten: Wollen sie nun konsequent den vollständigen Rückzug ins europapolitische dann auch weitere Abkommen in den Ab- Karikatur: Chappatte Réduit – und ins wirtschaftliche Jammertal? Oder werden sie, wenn ihnen das Wasser wärtsstrudel geraten, etwa die Schengen/ bis zum Hals steht, als Bittsteller an die Tür in Brüssel klopfen und der EU beitreten, Dublin-Verträge. weil die Alternative eines europapolitischen Mittelwegs endgültig vom Tisch ist? Fortsetzung Seite 14
14 politik – Abstimmung vom 9. februar 2014 n Szenario 4: Es gelingt der Schweizer gebunden in ein von der EU gewünsch- Ja zur Bahn Diplomatie, mit einer breiten Verhand- tes weitgehendes institutionelles Rah- Das Volk setzte am 9. Februar einen Meilen- lungsmasse der EU ein grosses Paket menabkommen – und den von der stein der Schweizer Bahngeschichte: Die schmackhaft zu machen, möglichst ein- Schweiz gewünschten Abstrichen an der Vorlage zur Finanzierung und zum Ausbau Personenfreizügigkeit. Ein Szenario, der Bahninfrastruktur (Fabi) wurde mit das der Quadratur des Zirkels gleich- 62 % Jastimmen angenommen. Damit kön- Auslandschweizer sagen Nein käme. nen Betrieb, Substanzerhalt und Ausbau der Deutlich haben die Auslandschweizerin- Eisenbahn einheitlich aus einem neuen nen und -schweizer die Initiative gegen n Szenario 5: Bei der Abstimmung über Bahninfrastrukturfonds finanziert werden. Masseneinwanderung abgelehnt. In den die Ecopop-Initiative mit dem Titel Bis ins Jahr 2025 soll auch das Bahnnetz acht Kantonen, welche die Stimmen der «Stopp der Überbevölkerung» zur Si- für 6,4 Milliarden Franken ausgebaut wer- Auslandschweizer separat ausweisen, lag cherung der natürlichen Lebensgrund- den; dieser Kredit wurde ebenfalls gespro- der Anteil der Neinstimmen zwischen lagen», die voraussichtlich noch in chen. Die Schweizerinnen und Schweizer knapp über 50 % und 71 %. Am deutlichs- d iesem Jahr stattfindet, sagen die zeigen sich gegenüber der Bahn traditions- ten war die Ablehnung in Genf und Basel Schweizerinnen und Schweizer noch- gemäss grosszügig: Sie haben in den ver- mit 71 %, in der Waadt stimmten 69 %, im mals Ja. Ecopop versteht sich zwar als gangenen Jahrzehnten immer wieder milli- Aargau 65 % und im Thurgau 63 % dage- ökologische Bewegung mit Blick auf Be- ardenschwere Ausbauten abgesegnet. gen. In Appenzell Innerrhoden mit dem völkerungsfragen, doch das Volksbegeh- zweithöchsten Jastimmenanteil der ren will die Zuwanderung noch viel Abtreibungen bleiben versichert Schweiz (63,5 %) waren es bei den Stim- drastischer einschränken als die ange- Die Krankenversicherungen bezahlen menden aus dem Ausland nur gerade zwei nommene SVP-Initiative. Sollte diese die Kosten für Schwangerschaftsab Neinstimmen mehr. Am höchsten war die Initiative bei der Mehrheit des Volkes brüche auch in Zukunft. Das Volk Zustimmung zur Initiative im Kanton Tes- Gnade finden, dann wird guter Rat lehnte die von religiösen und konserva- sin, dort sagten 68,2 % der Stimmenden noch sehr viel teurer sein, als er jetzt tiven Gruppierungen lancierte Volksini- Ja. Die Stimmen der Auslandschweizer schon ist. tiative «Abtreibungsfinanzierung ist werden im Tessin nicht separat ausgewie- Privats ache» mit knapp 70 Prozent sen. (BE) Jürg Müller ist Redaktor der «Schweizer Revue» Neinstimmen deutlich ab. (JM) Heimweh? Mit Swisscom iO kostenlos und un- begrenzt nach Hause telefonieren. S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2 io.swisscom.ch
politik – Abstimmung vom 18. mai 2014 15 Luftkampf um neue Flugzeuge mand könne für die nächsten Jahrzehnte Be- drohungen aus der Luft völlig ausschliessen. Die Schweiz soll 22 neue Kampfflugzeuge des Typs Gripen erhalten. Obschon der Gripen der kostengünstigste Das Volk muss dem Rüstungsgeschäft mit unklaren Folgekosten zustimmen. der geprüften Flugzeug-Typen ist, spielen die Von Jürg Müller Finanzen im Abstimmungskampf eine grosse Rolle. Etwas über drei Milliarden Franken kosten die Gripen-Flugzeuge insgesamt. Un- Braucht die Schweiz als Ersatz für die in Folge so weit zerstreuen, dass sich auch die terhalt und Betriebskosten treiben aber laut die Jahre gekommene Tiger-Flotte 22 einstigen bürgerlichen Kritiker hinter Ver- der Gegnerschaft die Kosten über die ge- schwedische Kampfjets des Typs Gripen? teidigungsminister Ueli Maurer (SVP) stell- samte Betriebsdauer gerechnet auf zehn Mil- Dies ist die Frage, welche die Stimmbürger ten. Nur die Linke lehnte den Kauf des liarden Franken hoch. Das VBS spricht je- am 18. Mai zu beantworten haben. Der Ab- Kampfjets einhellig ab. So stimmten beide doch von «nur» sechs Milliarden Franken für stimmungskampf wird von viel politischem Parlamentskammern dem Geschäft zu. Beschaffung und Betrieb über eine Einsatz- Lärm begleitet, die Übungsanlage ist aller- dauer von 30 Jahren. Das VBS weist auch das dings weitgehend bekannt: Bundesrat, Par- Sind 32 F/A-18 genug? Argument der Gegner weit von sich, der Gri- lament, bürgerliche Parteien sowie Miliz- Nun ist das Volk an der Reihe. Die Gegner pen sei ein «Papierflieger» und insofern ein und Wehrorganisationen wollen das neue stellen die Beschaffung grundsätzlich in Risiko, weil Dutzende Komponenten des Flugzeug, ein armeekritisches Bündnis von Frage. Ein wirksamer Luftschirm ist aus ih- Flugzeugs erst noch entwickelt werden müss- Sozialdemokraten, Grünen und der rer Sicht auch ohne neue Jets gewährleistet ten. Der Gripen sei kein von Grund auf neu Gruppe für eine Schweiz ohne Armee und auch nach der Ausmusterung der 54 Ti- konzipiertes Flugzeug, schreibt das VBS, es (GSoA) bekämpfen den Kauf. Sie haben er- ger-Flugzeuge sei die Schweiz im internati- handle sich lediglich um eine Weiterentwick- folgreich das Referendum ergriffen. In be- onalen Vergleich sehr gut gerüstet. Die 32 lung und technische Vervollkommnung des scheidenem Umfang hat auch ein «Libera- F/A-18 genügten vollauf bestehenden Typs. les Komitee Nein zum Gripen» für den Luftpolizei- Entscheidend für den Unterschriften beigesteuert. Es besteht dienst. Ein veritabler Ausgang der Abstim- hauptsächlich aus Exponenten der Grün Luftkrieg sei im heuti- mung dürfte sein, welche liberalen Partei (GLP). gen sicherheitspoliti- Argumente im Zentrum schen Umfeld kein rea- der Debatte stehen: Rü- Heftige Turbulenzen listisches Szenario. cken technische Argu- Die Skepsis gegenüber der Typenwahl war Ohne neue Flugzeuge mente und die Milliar- ursprünglich weit verbreitet – nicht nur bei sei die Durchhaltefähig- deninvestition in den der Linken. Die Evaluation sei nicht sauber keit der Luftwaffe nicht Vordergrund, können die abgelaufen, hiess es immer wieder. Die si- gewährleistet, heisst es Gegner punkten. Gelingt cherheitspolitische Kommission des Natio- dagegen bei den Befür- es den Befürwortern, die nalrats liess die Vorwürfe abklären und kam wortern. Diese sei heute Abstimmung zur Schick- zu einem zwiespältigen Ergebnis: Das Aus- noch wichtiger als frü- salsfrage «Armee Ja oder wahlverfahren sei korrekt über die Bühne her, weil Angriffe – Nein?» zu stilisieren, gegangen, allerdings habe sich der Bundes- selbst Terrorangriffe ‑ wird der Gripen wohl rat für den Jet mit dem grössten Risiko ent- immer mehr aus der dereinst in der Schweiz schieden. Dieser konnte die Bedenken in der Luft erfolgten. Nie- landen. Hausärzte sollen zern unterschrieben wurde. Im Laufe der Gesundheitswesen ist von Erfolg gekrönt, Beratungen im Parlament kristallisierte sich wenn das Volk am 18. Mai der Vorlage zu- gestärkt werden ein Gegenvorschlag heraus, der nun dem stimmt. Volk vorgelegt wird und auch die Initianten Der Hausärzteverband äusserte sich auch In der Schweiz zeichnet sich seit Längerem zufriedenstellt: Bund und Kantone sollen sehr lobend über den zuständigen Bundes- ein Mangel an Hausärzten ab. Lange Ar- für eine «ausreichende, allen zugängliche rat, Alain Berset. «Die Vertreter des Initia- beitszeiten, viel administrativer Aufwand, medizinische Grundversorgung von hoher tivkomitees haben den Gesundheitsminis- S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2 Notfalldienste mit Nachteinsätzen – und Qualität» sorgen und die Hausarztmedizin ter als fairen und glaubwürdigen Partner das alles bei relativ tiefem Einkommen – ma- fördern weil «sie diese als einen wesentlichen erlebt», heisst es in einer Medienmitteilung. chen die Hausarztmedizin immer unattrak- Bestandteil dieser Grundversorgung aner- Dies auch deshalb, weil Berset es nicht bei Foto: Sebastian Magnani tiver. Der Berufsverband der Hausärzte kennen». einem Verfassungsartikel bewenden liess, Schweiz lancierte deshalb 2010 die Volksin- Die Hausärzte sehen damit die wesentli- sondern mit den verschiedenen Akteuren itiative «Ja zur Hausarztmedizin», die von chen Ziele ihrer Initiative erfüllt. Ihr jahre- parallel dazu einen Masterplan Hausarzt- rund 200 000 Schweizerinnen und Schwei- langer Kampf um eine Besserstellung im medizin ausgearbeitet hat. (JM)
Sie können auch lesen