Die Schweiz und Europa müssen ihr Verhältnis neu definieren Familienpolitik - Tummelfeld für Parteien und Ideologen Seit 40 Jahren ein Star - die ...

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Die Zeitschrift für Auslandschweizer

 Aj pu rn ii l 2200 11 14 / N rr . . 23

Die Schweiz und Europa
müssen ihr Verhältnis neu definieren

Familienpolitik – Tummelfeld
für Parteien und Ideologen

Seit 40 Jahren ein Star –
die Karrieren des Bernhard Russi
Die Schweiz und Europa müssen ihr Verhältnis neu definieren Familienpolitik - Tummelfeld für Parteien und Ideologen Seit 40 Jahren ein Star - die ...
Schreiben Sie
 Ihre Stadtgeschichte.

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EDITORIAL                                                                                                                  I n h alt                                                 3

                                       Diffuses Unbehagen mit unabsehbaren Folgen

                                       D
                                                u wirst in ein land zurückkommen, das nicht mehr das gleiche ist, das Du                                         5
                                                verlassen hast.» Diese Nachricht schrieb mir ein Freund am 9. Februar. Sie er-                                   Briefkasten
                                                reichte mich in Sydney, wo ich jenen Teil meiner Familie besuchte, der zurzeit                                   5
                                       in Australien lebt. Ist es wirklich so? Ist die Schweiz nach dem Ja zur «Initiative gegen                                 Gelesen: Das Leben des Louis Chevrolet
                                       die Masseneinwanderung» ein anderes Land?
                                                                                                                                                                 6
                                          Nein, so ist es natürlich nicht. Schweizerinnen und Schweizer haben sich nicht,                                        Gesehen: Markus Raetz, der Wahrneh-
                                       wie das manchmal dargestellt wird, mehrheitlich zu ausländerfeindlichen Heimat-                                           mungsforscher
                                       Fundamentalisten gewandelt. Der Auslöser für ein Ja zur SVP-Initiative war bei vie-
                                                                                                                                                                 8
                                       len ein diffuses Unbehagen – über teure Mieten, überfüllte Züge, verstopfte Stras­
                                                                                                                                                                 Die Familie: Realitäten, Mythen und Politik
                                       sen und den Druck auf die Löhne. Die Abstimmung hat etwas Paradoxes, wenn man
                                       betrachtet, wo die Initiative am meisten Zustimmung erfahren hat: Nirgends gab es
                                                                                                                                                                 12
                                                                                                                                                                 Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative –
                                       so viel Jastimmen wie in abgelegenen ländlichen Gebieten, da, wo nur wenige Aus-
                                                                                                                                                                 wie geht es nun weiter?
                                       länder leben.
                                                                 Fundamental verändert hat der Urnengang das Verhältnis zwi-                                     15 + 16
                                                                                                                                                                 Milliarden für neue Kampfflugzeuge und
                                                              schen der Schweiz und den 28 EU-Staaten. Diese Konsequenz
                                                                                                                                                                 ein Mindestlohn? Das Volk entscheidet.
                                                              wurde von den Befürwortern im Abstimmungskampf immer wie-
                                                              der heruntergespielt, jetzt ist sie Realität. Der Bundesrat, der nun                               Regionalseiten
                                                              Lösungen suchen muss, wie er unser Land trotz des Entscheids
                                                              zur Einwanderungspolitik vor der Isolation schützen kann, ist
                                                                                                                                                                 20
                                                              nicht zu beneiden. Er ist nun gegenüber Europa, dem wichtigs-
                                                                                                                                                                 Ernst Beyeler: Kunstsammlung und Stifter
                                       ten Handelspartner der Schweiz, in der Rolle des Bittstellers. Erste Konsequenzen der                                     des wunderbaren Kunsthauses in Riehen
                                       Abschottungspolitik kommunizierte Brüssel knapp eine Woche nach der Abstimmung:
                                                                                                                                                                 22
                                       Das Programm «Erasmus+», ein Abkommen über die Mobilität von Studierenden, so-
                                                                                                                                                                 Briefmarkensammeln war ein beliebtes
                                       wie die Zusammenarbeit im Forschungsprogramm «Horizon 2020» wurden sistiert. Das                                          Hobby, heute sind Sammlungen fast wertlos
                                       ist für den Forschungsplatz Schweiz, für die junge Generation und für unsere kleine, res-
                                       sourcenarme Volkswirtschaft ein schlechtes Zeichen. Die ausführliche Berichterstattung
                                                                                                                                                                 24
                                                                                                                                                                 Literaturserie: Lina Bögli
                                       und ein Kommentar zu der Abstimmung finden Sie in der Rubrik Politik ab Seite 12.
                                          Im Schwerpunkt dieses Hefts beschäftigen wir uns mit der Familienpolitik, einem                                        25
                                       Thema, dem sich derzeit alle politischen Parteien mit Inbrunst widmen – dabei wird                                        ASO-Informationen

                                       oft mehr der Mythos gepflegt als die Realität betrachtet.                                                                 28
                                          Und dann möchte ich Sie auch noch auf zwei besondere Beiträge hinweisen: Auf die                                       Aus dem Bundeshaus
                                       Geschichte von Bernhard Russi, der Schweizer Skilegende aus den Siebzigerjahren,                                          30
                                       der als Pistenbauer auch bei den Olympischen Spielen in Sotschi eine Hauptrolle ge-                                       Echo
                                       spielt hat, und auf den Kulturbeitrag über Ernst Beyeler und sein Vermächtnis, die
                                       Fondation Beyeler in Basel, die erfolgreicher ist als jedes andere Kunstmuseum in der
                                       Schweiz.                                                                   Barbara Engel
                                                                                                                                                                 Titelbild: Symbolbild zum Verhältnis Schweiz–EU:
                                                                                                                                                                 ein Fahnenschwinger auf dem Männlichen bei
                                                                                                                                                                 Grindelwald mit einer Europa-Fahne.
                                                                                                                                                                 Foto: Keystone/Martin Ruetschi
S chweizer R evue April 2014 / Nr. 2

                                       IMPRESSUM: «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, erscheint im 41. Jahrgang in deutscher, französischer, italienischer, englischer
                                       und spanischer Sprache in 14 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 400 000 Exemplaren (davon Online-Versand: 140 000). Regionalnachrichten erscheinen viermal im
                                       Jahr. Die Auftraggeber von Inseraten und Werbebeilagen tragen die volle Verantwortung für deren Inhalte. Diese entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder der Her-
                                       ausgeberin. ■ REDAKTION: Barbara Engel (BE), Chefredaktorin; Marc Lettau (MUL); Jürg Müller (JM); Alain Wey (AW); Peter Zimmerli (PZ, Auslandschweizerbeziehungen EDA, 3003 Bern,
                                       verantwortlich für «Aus dem Bundeshaus». Übersetzung: CLS Communication AG ■ GESTALTUNG: Herzog Design, Zürich ■ POSTADRESSE: Herausgeber/
                                       Sitz der Redaktion/Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, 3006 Bern, Schweiz. Tel. +41 31 356 61 10,
                                       Fax +41 31 356 6101, PC 30-6768-9. ■ E-MAIL: revue@aso.ch ■ DRUCK: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. ■ Alle bei einer Schweizer Vertretung
                                       immatrikulierten Auslandschweizer erhalten das Magazin gratis. Nichtauslandschweizer können das Magazin für eine jährliche Gebühr abonnieren
                                       (CH: CHF 30.–/Ausland: CHF 50.–). Abonnenten wird das Magazin manuell aus Bern zugestellt. www.revue.ch ■ Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 25. 2. 2014
                                       ■ ADRESSÄNDERUNG: Bitte teilen Sie Ihre neue Adresse Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit und schreiben Sie nicht nach Bern.
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Internationale Kranken–
  und Unfallversicherung                                                                                                                   61 11

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                                                                                Dacia Duster 1.6, 4x4, Fr. 1150.-

  Individuelle Lösungen für:                                                    Tel. 0041 52 7203060
   Auslandschweizer
   Auswanderer aller Nationalitäten
   Kurzzeit-Entsandte / Local Hire

                                                                                 Swiss Pass – all in one ticket.
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                                                                              «Die Internet-Plattform SwissCommunity
                 Jean-François de Buren
                 Grafiker und Berater für Marken-
                                                                              vernetzt Schweizer weltweit»
                 strategie, Schweizer
                 in den Vereinigten Staaten
                 «Faszinierend an SwissCom-
                 munity ist, wie schnell und
                 unkompliziert ich mich mit
                 anderen Mitgliedern über                                                                      Florian Baccaunaud
                 Themen, die mich interes-                                                                     Student
                 sieren, austauschen kann.»                                                                    Schweizer in Frankreich

                                                                                                               «SwissCommunity? Das ist
                                                                                                               die neue Art, die Schweiz
                                                                                                               und die Auslandschweizer
                                                                                                               zu verbinden. Das ist
                                                Chantal Kury                                                   die Zukunft!»
                                                Diplomierte Kindergärtnerin
                                                Schweizerin in Ägypten

                                                «SwissCommunity ist die
                                                Tür zur Heimat und öffnet
                                                die Türen zur Welt – dort
                                                finde ich hilfreiche Infor-
                                                mationen und Dienste für
                                                Auslandschweizer.»

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                                                                                                                Never give up – Louis Chevrolet
                                       Woher kommt die                     chen Kreisen, die gegen die                      «erinnerungen sind so ziemlich alles, was geblieben ist
                                       Unsicherheit der Schweiz?           Initiative waren, Luft machen,                   vom spektakulären Leben, das Louis Chevrolet von La
                                       Ist die Schweiz, durch ihre         da sie es nicht geschafft haben,                  Chaux-de-Fonds nach Paris und schliesslich in die USA
                                       Volksabstimmungen, nicht ein­       die verbreiteten Lügen aufzude­                   führte, wo er einer der grössten Rennfahrer aller Zeiten
                                       fach viel transparenter als je­     cken und die sonstigen Gefah­                    wurde.» Dies stand am 18. März 1938 in der amerikani-
                                       des andere Land und damit           ren für unser Land aufzuzeigen.                   schen Zeitung «The Corpus Christi Times». Nun hat sich
                                       ungeschützter gegen Kritik?         Jetzt kann unsere politische                     Martin Sinzig, ein Schweizer Wirtschaftsjournalist, auf
                                       Ist es deshalb für einen Politi­    Führung Schadensbegrenzung                        den Weg durch Europa und Nordamerika gemacht, um
                                       ker nicht die schwierigste Auf­     betreiben; vielen Dank und viel                   diese Erinnerungen festzuhalten und biografisch zu
                                       gabe überhaupt, schweizeri­         Erfolg.                                          ­präsentieren. Entstanden ist das Buch «Louis Chevrolet –
                                       scher Bundesrat zu sein? Kann                Jean-François Monnier,                   der Mann, der dem Chevy seinen Namen gab», die Schil-
                                       die Regierung stark sein, wo        St. Julien de Peyrolas, Frankreich                derung des abenteuerlichen Lebens des Neuenburgers,
                                       das Volk stark ist? Der Bun­                                                          der an seinem 22. Geburtstag per Schiff in New York an-
                                       desrat muss meisterhaft aus­        Inakzeptables Editorial                           kam und in den USA zu einem der einflussreichsten Mo-
                                       gleichen zwischen selbst­           Bezüglich der Einwanderungs­                      toren- und Rennwagen-Konstrukteure wurde.
                                       bestimmter Schweiz und              initiative klassiert Barbara En­             Heute kennt jeder den Namen Chevrolet. Doch was steckt
                                       fremdbestimmter EU. Der             gel die Schweizer entweder als            hinter diesem Namen? Die Lebensgeschichte des Firmengrün-
                                       Bundesrat braucht für seine         WEITSICHTIG (clairvoyant)                 ders Louis Chevrolet, geboren am 25. Dezember 1878 in
                                       schweizerische Staatskunst          oder dann als KLEINMÜ­                   La Chaux-de-Fonds, gestorben am 6. Juni 1941 in der Motor-
                                       unsere volle Unterstützung.         TIG, und EGOISTISCH.                      City Detroit, blieb lange im Dunkeln. Die zum 100-jährigen
                                                Edgar Ruf, Düsseldorf      Eine solch intolerante und be­           ­Firmenjubiläum von Chevrolet 2011 erschienene Biografie ist
                                       http://home.arcor.de/edgar.ruf      leidigende Qualifizierung                 das Resultat langjähriger, minutiöser Recherchen. Sie präsen-
                                                                           könnte man sich von einem Po­             tiert neue Erkenntnisse und bisher unveröffentlichte Zeit­
                                       Diese Schweizer Wähler              litbüro eines totalitären Staa­           dokumente und Fotografien zusammen mit Presseartikeln zu
                                       Die meisten Kantone der             tes vorstellen, jedoch nicht von          den Höhen und Tiefen der frühen Automobilindustrie. Sinzig
                                       Schweiz sind deutschsprachige       einem Land, das für Demokra­              erläutert zudem erstmals detailliert die Vorgänge rund um die
                                       Kantone, deren Stimmen je           tie und Freiheit steht. Barbara           Gründung und Entwicklung der Firma Chevrolet. Er präsentiert
                                       nach Initiative den Ausschlag       Engel sollte sich für ihre ge­            aber nicht nur das Werk des genialen Konstrukteurs und Tüft-
                                       für ein Ja oder ein Nein geben.     schmacklose Entgleisung ent­              lers, sondern auch Louis Chevrolet als Menschen, der seiner
                                       Die Schweizer wollen selbst         schuldigen.                             ­Familie tief verbunden war, als hingebungsvoller Bruder und
                                       über ihr Schicksal bestimmen                       Hans Waldispuhl,         Vater und treu sorgender Ehemann. Eine besondere Note ver-
                                       und keine Anweisungen von der                Shediac Bridge, Kanada           leiht dem Buch das Vorwort des früheren langjährigen General-
                                       EU erhalten. Die französisch­                                                 Motors-Entwicklungschefs und ebenfalls Amerika-Schweizers
                                       sprachige Schweiz hat von           Danke!                                   Bob Lutz.
                                       Frankreich geprägte linke An­       Nach den «unglücklichen» An­                 GM, das Mutterhaus von Chevrolet, wurde von der Wirt-
                                       sichten, und ihre politischen       schuldigungen in der Februar-             schafts- und Finanzkrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts stark
                                       Vertreter sind bereit, die          Ausgabe (und andern) möchte               getroffen und musste sich in einem schmerzhaften Prozess neu
                                       Schweiz an die EU zu verkaufen.     ich Barbara Engel und ihrer               ausrichten. Der Reorganisation fiel die traditionsreiche Marke
                                       Zum Glück sind diese Wähler         Equipe ein Kränzchen winden.            Pontiac zum Opfer – der etablierte Schweizer Name überlebte
                                       in der Minderheit, und ich hoffe,   Unter der Leitung von Barbara             hingegen. Dank Chevrolet gelang GM 2010 der grösste Börsen-
                                       dass die Schweiz trotz der An­      Engel hat sich die «Schweizer             gang aller Zeiten. Chevrolet hat sich zur viertgrössten Marke
                                       nahme der SVP-Initiative ein        Revue» zu einer sehr vielseiti­                                 der Welt weiterentwickelt.
                                       florierendes und beneidenswer­      gen und interessanten Zeit­                                        Sinzig, selbst passioniert von der ameri-
                                       tes Land bleiben wird.              schrift entwickelt, die uns über                                kanischen Automobilität, wuchs in der
                                                           Guy Nicolas,    das Geschehen in unserem Hei­                                   Muscle-Car-Generation auf und erlebte
                                                     Dijon, Frankreich     matland gut informiert. Über                                    hautnah die Erdölkrise der frühen Sieb-
                                                                           Inhalte geteilter Meinung zu                                    zigerjahre und damit das vorläufige Ende
                                       Schadensbegrenzung                  sein, ist zweifellos gestattet,                                 der grossen und starken Strassenkreuzer.
                                       Erschüttert von den Ergebnis­       ganz nach dem französischen                                        Die «Nicht-nur-Chevrolet-Biografie» ist le-
                                       sen der Abstimmung vom 9. Fe­       Sprichwort: «On ne peut con­                                    senswert für all jene, die sich für die interna-
S chweizer R evue April 2014 / Nr. 2

                                       bruar über die Einwanderung         tenter tout le monde et son                                     tionalen wirtschaftlichen Zusammenhänge
                                       muss ich meiner Entrüstung ge­      père.» Schade, dass einige Leser                                des frühen 20. Jahrhunderts interessieren.
                                       genüber den begriffsstutzigen       ihre Kritik derart harsch for­          Anhand seines Lebens und seines Einflusses in der Automobilindu-
                                       und ahnungslosen Initianten         mulieren. Diese unfeine Kritik            strie zeigt sie den wirtschaftlichen Hintergrund der heutigen Mo-
                                       und meiner Enttäuschung ge­         ist alles andere als motivierend.         bilität und der sich abzeichnenden Globalisierung.  THOMAS KALAU
                                       genüber den politischen, wirt­
Foto: ZVG

                                                                                          Raymond Hoechli,
                                                                                                                    MARTIN SINZIG, «Louis Chevrolet – Der Mann, der dem Chevy seinen
                                       schaftlichen und gesellschaftli­                 Barcelona, Spanien          Namen gab»; Orell Füssli Sachbuch, 2011; 190 Seiten. CHF 35.–, Euro 25.–
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6                                Gesehen

                                                 Wahrnehmungen und Realitäten                                    für Wahrnehmungen der aussergewöhnlichen Art. Ein
                                                                                                                 ­gebogener Draht verwandelt sich in ein Gesicht, wenn man
                                                 Markus Raetz ist eine Art Zauberer unter den Schweizer           ihn aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, ein Hase in
                                                 Künstlern. Als Betrachter steht man immer wieder verblüfft       ­einen Mann, eine geknickte Blechblatte erscheint durch das
                                                 vor seinen Werken. Es ist, als habe er einen erweiterten Sinn     Spiel von Licht und Schatten wie eine weite Landschaft.
S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2
Bilder: ZVG Kunstmuseum Bern
und Privatsammlung
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Markus Raetz, 1941 in Bern geboren und in Büren an der
                                                              Ausstellung im Kunstmuseum Bern noch bis zum 18. Mai 2014.
Aare aufgewachsen, ist heute einer der bedeutendsten Künst-   Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog mit einem Textband
ler der Schweiz. Das Kunstmuseum Bern zeigt einen Über-       in Deutsch, Französisch und Englisch erschienen.
blick über sein grafisches Werk und einige Skulpturen.        Verlag Scheidegger & Spiess, CHF 150.–
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8   Schwerpunkt

                                                     Zwischen Wunschdenken und Realität: Kampfplatz Familie
                                                     Noch kaum je ist in der Schweiz derart heftig über familienpolitische Konzepte debattiert worden wie heute.
                                                     Gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen haben die Formen des Zusammenlebens stark verändert, doch
                                                     Bilder einer idealen Familie verstellen häufig den Blick auf die Realitäten.
                                                     Von Jürg Müller

                                                     Wenn alle dasselbe Ziel anstreben, heisst das    schon alle Parteien die «Urzelle der              ­gegebene Studie der Berner Fachhochschule
                                                     noch lange nicht, dass alle den gleichen Weg     Gesellschaft» programmatisch hochhalten.          für Soziale Arbeit zeigt, dass die Schweiz im
                                                     beschreiten. Es heisst paradoxerweise nicht                                                       Vergleich zu den übrigen OECD-Ländern
                                                     einmal, dass alle am gleichen Ort ankommen       «Familienpolitisches Entwicklungsland»            wenig Geld für Familien aufwendet: Mit
                                                     wollen. Äusserst anschaulich illustriert das     Das heisst nun nicht, dass nichts getan wird.    1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP)
                                                     derzeit die helvetische Familienpolitik: Alle    Die meisten Eltern kommen in den Genuss           liegt sie unter dem OECD-Durchschnitt
                                                     politischen Parteien wollen «die Familie»        von Kinderzulagen, deren Höhe ein Bundes­         von 2,23 Prozent. Deutschland wendet
                                                      stärken. Was sie unter dem Begriff jedoch ge­   gesetz regelt. Das Steuerrecht kennt eine        2,8 Prozent des BIP für Familien auf, Öster­
                                                     nau verstehen, welche Familienbilder und         Reihe von Entlastungen für Familien. Für          reich 3,0 und Frankreich 3,7 Prozent.
                                                     Zielvorstellungen ihren Forderungen zu­          jedes minderjährige Kind und alle Jugendli­          Natürlich wäre es wünschenswert, «dass
                                                     grunde liegen, bleibt diffus und                 chen in beruflicher Erstausbildung können         jede Familie ihr Schicksal, ihre Entwicklung
                                                     reichlich disparat. Die einen malen das          Abzüge beim steuerbaren Einkommen ge­             und ihre materiellen Bedürfnisse unabhän­
                                                     Schreckgespenst der «Verstaatlichung der         macht werden. Auch Fremdbetreuungskos­             gig und eigenverantwortlich gestalten kann.
                                                     Kinder» an die Wand, wenn mehr Kinder­           ten für Kinder können seit einiger Zeit teil­    Doch die Grundvoraussetzungen, um die­
                                                     tagesstätten gefordert werden, die andern        weise abgezogen werden, genau wie die             ses Ziel zu erreichen, sind in unserem Land
                                                     bemühen das Bild vom «Heimchen am Herd»,         Krankenkassenprämien für Kinder. Mit ei­          noch nicht gegeben», sagt Thérèse Meyer-
                                                     wenn Frauen sich vollzeitlich Kindern und        ner Anschubfinanzierung unterstützt der          Kaelin, Präsidentin der Eidgenössischen
                                                     Haushalt widmen. Es wird gestritten über         Bund die Schaffung neuer Krippenplätze,          ­Koordinationsstelle für Familienfragen, ein
                                                     Steuerabzüge und Familienzulagen, über           ein Programm, das zweimal verlängert wor­         beratendes Organ des Departements des In­
                                                     ­externe Kinderbetreuung und Tagesschulen,       den ist und 2015 ausläuft. Zudem gibt es eine     nern. Es gebe in der Schweiz «keine ausrei­
                                                     über Vaterschaftsurlaub und Rabenmütter,         Mutterschaftsversicherung für erwerbstä­          chend wirksame Familienpolitik». Und sie
                                                     über Feierabendväter und Tagesmütter –           tige Frauen. Für bedürftige Familien beste­       wird noch deutlicher: «Die typische Ausrede
                                                      oder ganz allgemein über richtige und falsche   hen weitere staatliche Hilfen, so etwa Prä­       der sogenannten Verfechter der Familie, um
                                                     Lebensentwürfe.                                  mienverbilligungen für Krankenkassen, in          im Endeffekt nichts zu unternehmen», be­
                                                        Die Debatten fallen häufig sehr heftig aus,   gewissen Kantonen auch Ergänzungs­                stehe darin, die Familie zur Privatsache zu
                                                     dies zeigten im vergangenen Jahr gleich zwei     leistungen. Viele Gemeinden und Städte             erklären. Die Vereinbarkeit von Familie und
                                                     familienpolitische Volksabstimmungen. Da­        bieten eine Anzahl subventionierter Krip­         Beruf «gleicht oft einem Hindernislauf». Da­
                                                     bei wurde klar, es geht um weit mehr als um      penplätze an.                                     bei sei doch die Familie «die wichtigste Ein­
                                                      die Familie. Es geht um Weltanschauungen           Aber eben: Üppig ist das alles nicht. Die      heit, damit sich die Gesellschaft harmonisch
                                                     und Gesellschaftsentwürfe, um Rollenbilder       Sozialausgaben für Familien und Mutter­            entwickeln und jede Person sich individuell
                                                     und Gleichstellungsfragen. Davon                 schaft liegen erheblich unter dem europäi­         entfalten kann».
                                                     betroffen sind meist gleich mehrere Politik­     schen Durchschnitt. Für kinderreiche Fa­
                                                     bereiche, nämlich Bildung, Soziales, Arbeits­    milien und Alleinerziehende liegt in der         80 Prozent der Frauen sind erwerbstätig
                                                     markt, Steuern, Finanzen, Wohnbaupolitik         Schweiz das Armutsrisiko überdurch­              Mit der Harmonie ist es nicht weit her: Ge­
                                                     und Siedlungsentwicklung. Und natürlich,         schnittlich hoch. Remo Largo, emeritierter       sellschaftliche Wirklichkeit und familien­
                                                      das beteuern ausnahmslos alle, geht es immer    Professor für Kinderheilkunde an der Uni­        politische Massnahmen stehen nicht im
                                                     und an erster Stelle um das Wohl des Kindes.     versität Zürich und Bestsellerautor, formu­      Gleichgewicht. Das traditionelle Familien­
                                                        Familienpolitik ist ein Dauerbrenner hel­     lierte es jüngst in einem Interview drastisch:   bild mit strikter Rollenteilung «Vater ist Er­
                                                     vetischer Politik. Ein eigenständiger Politik­   «Die Schweiz ist bezüglich Familienpolitik       nährer, Mutter kümmert sich um Heim und
                                                     bereich war sie in der Schweiz bemerkens­        ein Entwicklungsland. Im Vergleich mit den       Kinder» geistert zwar noch in manchen
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                                                     werterweise jedoch nie und ist es bis heute      skandinavischen Ländern setzt die Schweiz        Köpfen herum, entspricht aber meist nicht
                                                     nicht. Die Verkehrspolitik, die Bildungs-, die   einen dreimal kleineren Betrag des Brutto­       mehr der Realität. Es gibt sie durchaus noch,
                                                     Jugend-, die Alters-, die Regional-, die Wirt­   sozialproduktes für die Kinder und Fami­         diese Art des Zusammenlebens, aber die do­
                                                      schafts- und die Konjunkturpolitik: Sie alle    lien ein. Trotz allen privaten und öffentli­     minierende Lebensform ist sie längst nicht
                                                     und einige mehr haben Verfassungsrang, be­       chen Beteuerungen: Geld ist uns wichtiger        mehr.
                                                     sitzen einen eigenen Artikel in der Bundes­      als Kinder.» Auch eine vom Gewerkschafts­          Ein Blick auf Zahlen, Fakten und Struk­
                                                     verfassung. Nicht so die Familienpolitik, ob­    dachverband Travail.Suisse in Auftrag            turen unterstreicht diesen Befund. Über
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                                                 Weitgehend ein Mythos:
                                                 die Musterfamilie der
                                                 Fünfzigerjahre – die
                                                 Mutter am Herd und für
                                                 Kindererziehung zustän­
                                                 dig, der Vater berufs­
                                                 tätig und Ernährer

                                                 80 Prozent der Frauen sind in der einen oder   häufigsten ist heute das Modell mit vollzeit­   teilweise aus dem Berufsleben zurück, drin-
                                                 anderen Form erwerbstätig. Noch nie gab es     erwerbstätigem Partner und teilzeiterwerbs-     gend benötigte Fachkräfte fehlen – und
                                                 so viele Einpersonhaushalte. Die Zahl der      tätiger Partnerin. Paare mit Kindern, in de-    müssen im Ausland rekrutiert werden. Ab-
                                                 Familienhaushalte sackte zwischen 1970 und     nen beide Partner teilzeiterwerbstätig sind,    hilfe schaffen könnte hier ein grösseres An-
                                                 2008 von 75 Prozent auf etwas über 60 Pro-     sind auch heute noch eine Minderheit, ob-       gebot an externen Betreuungsplätzen. Im-
                                                 zent ab. Ehe- und andere Paarhaushalte         wohl sich ihr Anteil verdoppelt hat.            merhin nehmen schon heute gegen
                                                 ohne Kinder sind im gleichen Zeitraum                                                          40 Prozent der Paarhaushalte und 54 Pro-
                                                 deutlich zahlreicher geworden. Ein wichti-     Mittelstand unter Druck                         zent der Alleinerziehenden diese in An-
                                                 ger Indikator für die Lage der Familie sind    Es sind also immer noch die Frauen, die be-     spruch; ist das jüngste Kind unter sieben
                                                 die Erwerbsmodelle in diesen Paarhaushal-      ruflich zurückstecken, wenn Kinder kom-         Jahre alt, sind es gar 52 beziehungsweise
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                                                 ten: Die Details vom Bundesamt für Statis-     men. Sie sind es in erster Linie, die in eine   70 Prozent.
                                                 tik: Zwischen 1992 und 2012 ist der Anteil     Zwangslage geraten und sich fragen müssen:        Allerdings sind die Betreuungskosten in
                                                 von Paarhaushalten mit vollzeiterwerbstäti-    Beruf oder Kind? Dieses Dilemma führt ei-       der Schweiz rekordverdächtig: Gemäss ei-
Bild: Bridgemanart.com

                                                 gem Partner und nicht erwerbstätiger Part-     nerseits zu einer sinkenden Geburtenrate        nem OECD-Bericht geben Familien rund
                                                 nerin stark zurückgegangen ist. In Paarhaus-   und zu unerwünschten Effekten in Wirt-          die Hälfte ihres Einkommens für Kinderbe-
                                                 halten, wo das jüngste Kind unter sieben       schaft und Gesellschaft: Viele gut ausgebil-    treuung aus, das ist mehr als in jedem ande-
                                                 Jahren ist, von rund 62 auf 29 Prozent. Am     dete Frauen ziehen sich ganz oder zumindest     ren Land. Die hohen Krippenkosten von bis
Die Schweiz und Europa müssen ihr Verhältnis neu definieren Familienpolitik - Tummelfeld für Parteien und Ideologen Seit 40 Jahren ein Star - die ...
10        Schwerpunkt

                                                 zu 2500 Franken pro Monat für einen Voll-         paare erhalten zwei volle Renten.                Über 80 Prozent der
                                                                                                                                                    Schweizer Frauen sind
                                                 platz fressen denn auch häufig einen grossen        Die Sozialdemokratische Partei denkt           berufstätig: Familie und
                                                 Teil des Zweiteinkommens weg. Viele mit-          ebenfalls laut darüber nach, eine Initiative     Beruf unter einen Hut
                                                 telständische Familien, die auf ein Zweitein-     zu lancieren. Im Vordergrund stehen die          zu bringen, ist aller-
                                                                                                                                                    dings oft mit grossem
                                                 kommen angewiesen sind, können ein Lied           Forderungen nach besserer Vereinbarkeit          Stress verbunden. Von
                                                 davon singen. Da die Krippentarife in der         von Beruf und Familie, mehr bezahlbaren          einigen Parteien werden
                                                                                                                                                    arbeitende Frauen zu-
                                                 Schweiz einkommensabhängig sind, stehen           Betreuungsplätzen und die Erhöhung der           dem als Rabenmütter
                                                 paradoxerweise Kleinverdiener etwas bes-          Kinderzulagen.                                   dargestellt
                                                 ser da, weil sie in den Genuss von Zuschüs-
                                                 sen kommen. Für den Mittelstand führt das         Einige Mythen begraben
                                                 aber zu Fehlanreizen, die gerade in Zeiten         Dieser Aktivismus zeigt, dass die Politik re-
                                                 mangelnder Fachkräfte fatal sein können.           alisiert hat, wie dramatisch die Veränderun-
                                                 Gewisse Firmen haben das Problem erkannt,          gen bei den Familienstrukturen und Paarbe-
                                                 bieten interne Kinderbetreuungsplätze an           ziehungen sind. Das Bundesamt für Statistik
                                                 und übernehmen auch einen Grossteil der            hält im Fazit des umfassenden Familienbe-
                                                 Kosten. Leisten könnten sich das jedoch            richts von 2008 fest: «Durch die Verselbstän-
                                                 meist nur sehr grosse Unternehmungen, für          digung des Individuums gegenüber der Ge-
                                                 viele Kleine ist das zu kostspielig. Und hier      sellschaft, die Emanzipation der Frauen, aber
                                                 wäre der Staat gefragt.                            auch durch die Befreiung von religiöser und
                                                                                                    bürgerlicher Moral sind einige Tabus gebro-
                                                 Abstimmungsmarathon zur Familie                    chen worden.» Dabei muss man sich aber im-
                                                 Die Chance, der Problemlösung in absehba-          mer bewusst sein, dass die Tabus, die da ge-
                                                 rer Zeit näher zu kommen, ist im vergange-         fallen sind, gar nicht so alt sind. Denn die
                                                 nen Jahr allerdings verpasst worden. Im            kulturkämpferischen Auseinandersetzungen
                                                 März 2013 ist ein Verfassungsartikel über die      um die «richtige» Familie und die adäquate
                                                 Familienpolitik am Ständemehr gescheitert,         Familienpolitik stützen sich häufig auf
                                                 obschon ihm die Mehrheit des Volkes zuge-         ­Mythen, die einer historischen Analyse nicht
                                                 stimmt hat. Angestossen wurde das Projekt          standhalten.
                                                 im Parlament von der Christlich-demokra-             Die «traditionelle Familie» mit festgefüg-
                                                 tischen Volkspartei (CVP). Der neue Arti-          ter Rollenverteilung zwischen Mann und
                                                 kel hätte Bund und Kantone verpflichtet,           Frau ist gar nicht so alt. «Erst in den Boom-
                                                 die Vereinbarkeit von Familie, Erwerbstä-          jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde
                                                 tigkeit und Ausbildung zu fördern. Mit dem         dieses Ideal von breiten Schichten geteilt»,
                                                 Ausbau familien- und schulergänzender Be-          erklärt Regina Wecker, emeritierte Profes-
                                                 treuungsplätze wäre vor allem die Position         sorin für Geschichte an der Universität Basel
                                                 erwerbstätiger Mütter gestärkt worden.             in einem Beitrag der deutschen Zeitung «Die
                                                    Im November 2013 scheiterte das zweite          Zeit». Was häufig als etwas Naturgegebenes
                                                 familienpolitische Anliegen. Die Schweize-         mit Ewigkeitswert dargestellt wird, habe
                                                 rische Volkspartei (SVP) wollte Familien,          etwa ab 1960 für rund drei Jahrzehnte als
                                                 die ihre Kinder selber betreuen, steuerlich        Norm existiert und weder vorher noch nach-
                                                 entlasten. Dies sei nur gerecht, da Eltern, die    her der Realität einer Mehrheit von Men-
                                                 ihre Kinder in Krippen schickten, Steuerab-        schen in der Schweiz entsprochen.
                                                 züge geltend machen könnten, argumen-                Auch, dass Frauen einer Erwerbsarbeit
                                                 tierte sie. Falsch, sagten die Gegner der          nachgehen, sei keine historische Anomalie
                                                 SVP-Volksinitiative: Die Vorlage bevorzuge         der Gegenwart, sondern seit Jahrhunder-         wuchsen im 18. und 19. Jahrhundert gar
                                                 steuerlich die «traditionelle» Familie mit der     ten der Normalfall. So etwa haben die           nicht bei ihren Eltern auf, nicht weil sie im
                                                 Kinder betreuenden Frau zu Hause.                  Frauen «in den neu entstandenen Textilfa-       heutigen Sinn fremdbetreut wurden, son-
                                                    Doch die Parteien lassen nicht locker: Die      briken bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts       dern weil die Eltern bereits gestorben wa-
                                                 CVP macht gleich mit zwei Initiativen              die Mehrheit der Belegschaft ausgemacht».       ren oder keine Zeit für ihren Nachwuchs
                                                 Druck, die dieses Jahr zu reden geben wer-         Zuvor waren die Frauen einfach zu Hause         hatten – weil sie arbeiten mussten. Noch
S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2

                                                 den. Mit einem der Volksbegehren will sie          berufstätig –zum Beispiel in der Heim­           bis zur Einführung der AHV 1948 war es
                                                 die Kinder- und Ausbildungszulagen von             textilindustrie.                                üblich, Kinder in fremden Familien zu
                                                 den Steuern befreien, mit dem andern die             Die Fremdbetreuung der Kinder ist eben-       ­platzieren, wenn ein Elternteil starb. Und
                                                 sogenannte Heiratsstrafe abschaffen, also          falls keine junge Entwicklung. «Neu» ist das    überhaupt: «Der Anspruch, dass Kinder
                                                 die Schlechterstellung der Verheirateten bei       Phänomen nur, wen man nicht weiter als bis       ­einer besonderen Sorge bedürfen, eben
                                                 der AHV. Heute beträgt die Rente eines ver-        in die Sechzigerjahre des letzten Jahr­         dass sie betreut werden müssen, entstand
                                                 heirateten Paars 150 Prozent, Konkubinats-         hunderts zurückblickt. Sehr viele Kinder         erst im 19. Jahrhundert und konnte bis weit
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                                                                                                  Die gläserne Familie
                                                                                                   Wen es trifft, der staunt – und stöhnt. In der Schweiz wollen die Statisti­
                                                                                                   ker nämlich sehr genau wissen, was die Familie tut, wie sie sich organi­
                                                                                                   siert, wer in der Familie wofür Geld ausgibt und wer womit wie viel Geld
                                                                                                   verdient. Seit dem Jahr 2000 werden jährlich 3000 Familien, eine soge­
                                                                                                   nannte Stichprobe, mit Akribie untersucht. Wer einwilligt, ist verblüfft
                                                                                                   über den Aufwand. Einkäufe müssen minutiös erfasst und detailliert auf­
                                                                                                   geschlüsselt werden. Erfasst wird, ob Freunde einen zum Brunch einladen
                                                                                                  – und wie viel diese Einladung monetär wert ist. Erfasst werden die Ge­
                                                                                                   sangsstunden der Gattin, die Krippenkosten des Zöglings, die freiwillige
                                                                                                   Unterstützung der Tante, die Jahresspende an die Vereinigung der
                                                                                                   Freunde des mongolischen Urpferdes. Und selbst im eisigen Januar ist täg­
                                                                                                   lich die Frage zu beantworten: «Haben Sie heute Gemüse aus dem eigenen
                                                                                                   Garten geerntet?» Zwei Monate dauert das statistische Spektakel – mit
                                                                                                   Vorgesprächen, Instruktionen, Testerfassungen und der darauf folgenden
                                                                                                   täglichen Niederschrift aller Details während vier Wochen. Dazu gesellen
                                                                                                   sich telefonische Zusatzinterviews – zu Gesundheit und Wohlbefinden,
                                                                                                   zum Körpergewicht des jüngsten Sprosses, zu diesem und jenem.
                                                                                                      Dank der Erhebung hat die helvetische Durchschnittsfamilie klare Kon­
                                                                                                   turen. Wir wissen, dass sie 2,23 Personen umfasst und pro Monat und Per­
                                                                                                   son 2,945 Kilogramm Fleisch konsumiert – fast doppelt so viel wie 1950. Wir
                                                                                                   wissen, dass ihr Warenkorb mit Lebensmitteln halt nur noch knapp sieben
                                                                                                   Prozent des Haushaltseinkommens beansprucht. Dafür ist der Aufwand für
                                                                                                  «Wohnen und Energie» auf 15,356 Prozent, respektive 1474 Franken 78 Rap­
                                                                                                   pen, geklettert. Wir wissen, dass besagter Haushalt monatlich 768 Franken
                                                                                                   und 34 Rappen für seine Mobilität ausgibt – 621 Franken 24 Rappen fürs
                                                                                                   Auto, aber nur 2 Franken 89 Rappen für die «Beförderung von Personen auf
                                                                                                   Wasserwegen». Sehr genusssüchtig ist der Durchschnittshaushalt nicht: Er
                                                                                                   bescheidet sich mit einem monatlichen Konsum von 0,449 Liter Schweizer
                                                                                                   Weisswein und 2,946 Liter Bier, während der Qualm von Zigaretten im Wert
                                                                                                   von 38 Franken 51 Rappen die Luft schwängert. In «andere Tabakwaren in­
                                                                                                   klusive Drogen» werden 2 Franken 44 Rappen investiert.
                                                                                                      Warum das Bundesamt für Statistik (BFS) nicht Familien, sondern expli­
                                                                                                   zit Haushalte untersucht, ist rasch erklärt: Die Formen des Zusammenle­
                                                                                                   bens wandeln sich stark und das Bild der «bürgerlichen Kernfamilie» ver­
                                                                                                   blasst. Vor diesem Hintergrund ist der «Haushalt» heute für Statistiker
                                                                                                   das Synonym für familiäres Zusammenleben, ungeachtet seiner Form. Wer
                                                                                                   wissen will, ob der eigene Haushalt trotzdem halbwegs ins schweizerische
                                                                                                   Familienbild passt, erfährt vom BFS aber Trost: «Die klassische Kleinfami­
                                                                                                   lie ist in der Schweiz nach wie vor stark verankert und prägt den Lebens­
                                                                                                   alltag einer Mehrheit der Bevölkerung.» Bei genauerem Hinsehen wird‘s
                                                 ins 20. Jahrhundert nicht erfüllt werden.         aber recht bunt. Von den 2011 gezählten 1 139 800 Einfamilienhaushalten
                                                 Auch nicht von den leiblichen Eltern, weil        mit Kindern – im Volksmund spräche man hier wohl einfach von Familien –
                                                 sie keine Zeit dafür hatten», sagt Regina
                                                                                                   sind lediglich deren 769 100 klassische Gebilde aus einem verheirateten
                                                 Wecker.
                                                                                                   Paar mit eigenem Nachwuchs im Kindes- oder Jugendalter. Die zweit­
                                                   Es wäre im weiteren familienpolitischen
                                                                                                   grösste Gruppe bilden die Alleinerziehenden – mit 166 900 alleinlebenden
                                                 Schlagabtausch schon viel gewonnen, wenn
                                                                                                   Müttern und 29 500 alleinlebenden Vätern mit Kindern. Dazu gesellen
S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2

                                                 wenigstens nicht mit historisch unhaltbaren
                                                 Mythen argumentiert würde. Die gesell-            sich je Zehntausende sogenannter «Fortsetzungsfamilien» – verheiratete
                                                 schaftlich einzig statthafte Normfamilie          Paare mit Kindern aus früheren Beziehungen –, Konkubinatspaare mit
                                                 gibt es nicht – es gab sie nie.                   eigenen Kindern, sowie nichteheliche Lebensgemeinschaften, die sich
                                                                                                   ihrerseits als «Fortsetzungsfamilien» verstehen. Und am Rand tummeln
Foto: Keystone

                                                                                                   sich auch noch einige Dutzend gleichgeschlechtlicher Paare mit Kindern.
                                                 Jürg Müller ist Redaktor der «Schweizer Revue»                                                                   Marc Lettau
12        politik – Abstimmung vom 9. Februar 2014

                                                 Schweizer Diplomatie vor einer Herkulesaufgabe
                                                 Das Ja zur sogenannten Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar 2014 wirft die bisherige
                                                 Europapolitik der Schweiz aus der Bahn. Die konkreten Auswirkungen bleiben vorerst unklar.
                                                 Klar ist jedoch: Es folgt eine längere Zeit der Ungewissheit.
                                                 Von Jürg Müller

                                                 Üblicherweise wird es in der Schweiz nach      lang den Initiativgegnern nicht, glaubhaft       rat muss nun versuchen, den neuen
                                                 einem Abstimmungskampf bald einmal ru-         darzulegen, dass diese Probleme auch haus-       Verfassungstext in ein Gesetz zu giessen.
                                                 hig. Nach dem 9. Februar ist das anders.       gemacht sind. Zudem wurde es verpasst, zu-       Dabei dürfte die Verteilung der Kontingente
                                                 Denn die Schweiz steht eher vor wichtigen      sätzliche Massnahmen zu treffen, welche die      zwischen Kantonen, Regionen und Wirt-
                                                 Entscheidungen mit ungewissem Ausgang          negativen Folgen der Zuwanderung abgefe-         schaftsbranchen zu massiven Kämpfen füh-
                                                 als nach einer Volksabstimmung mit geklär-     dert hätten. Dies mit Ausnahme der bereits       ren. Denn für die bisher boomende Schwei-
                                                 ter Situation. Nun beginnt die Herkulesar-     seit Jahren bestehenden flankierenden            zer Wirtschaft ist das Reservoir
                                                 beit der Umsetzung eines Entscheids, der       Massnahmen im Bereich Arbeitsmarkt und           ausländischer Arbeitskräfte angesichts des
                                                 zur Folge hat, dass praktisch die gesamte      Löhne. Die Einwanderung von netto rund           inländischen Fachkräftemangels entschei-
                                                 schweizerische Europapolitik auf eine neue     80 000 Ausländern jährlich seit 2007 – statt     dend. Innenpolitisch wird man sich also
                                                 Basis gestellt werden muss. Nach dem Nein      der von den Bundesbehörden ursprünglich          schon an der Kontingentsfrage die Zähne
                                                 zum Europäischen Wirtschaftsraum               prognostizierten rund 8000 – verstärke die       ausbeissen, gleichzeitig muss der Bundesrat
                                                 (EWR) von 1992, den daraus resultierenden      Glaubwürdigkeitskrise.                           darauf achten, dass die Beziehungen zur EU
                                                 grossen wirtschaftlichen Problemen und           Dies alles führte dazu, dass aus unter-        nicht aus dem Ruder laufen.
                                                 jahrelangen schwierigen Verhandlungen          schiedlichsten Gründen ein Ja in die Urnen         Die Reaktionen im Ausland sind sehr un-
                                                 über den bilateralen Weg, hat das Volk seit    gelegt wurde: Da sind die fremdenfeindlich-      terschiedlich ausgefallen. EU-kritische und
                                                 dem Jahr 2000 diesen Weg in insgesamt fünf     nationalistischen Kreise, eine grosse Zahl       rechtsextreme Parteien haben offen Beifall
                                                 Abstimmungen deutlich bestätigt. Am 9.         von Protestwählern jeglicher Couleur, die        geklatscht. Offizielle Stellen in der EU-Zen-
                                                 Februar 2014 rüttelte es mit dem Ja zur        grundsätzlichen EU-Gegner, Leute mit             trale und den EU-Staaten haben bei allem
                                                 Begrenzung der Einwanderung durch Kon-         Ängsten und Befürchtungen aller Art, wie         verbalen Verständnis vor allem ihrer Sorge,
                                                 tingente an den Grundfesten der Personen-      Arbeitsplatz- und Identitätsverlust, und         teilweise auch ihrer Enttäuschung und Ent-
                                                 freizügigkeit und damit auch an den bilate-    schliesslich die links-grünen ökologischen       rüstung Ausdruck gegeben.
                                                 ralen Verträgen.                               Bedenkenträger und Wachstumskritiker.              Zu konkreten politischen Auswirkungen
                                                   Mit 50,3 Prozent Ja stimmten Volk und                                                         kam es schon wenige Tage nach der Abstim-
                                                 Stände der sogenannten Masseneinwande-         Die grosse Verunsicherung                        mung. Bereits vereinbarte Gespräche über
                                                 rungsinitiative der Schweizerischen Volks-     Die Einführung von Kontingenten wider-           ein Stromabkommen und ein institutionel-
                                                 partei (SVP) zu. Nun steht in der Bundes-      spricht dem für die EU fundamentalen Prin-       les Rahmenabkommen wurden von der EU
                                                 verfassung, dass die Zahl der Bewilligungen    zip der Personenfreizügigkeit. Der Bundes-       vorerst sistiert. Da die Schweiz das Protokoll
                                                 für den Aufenthalt von Ausländerinnen und
                                                 Ausländern in der Schweiz – «durch jährli-
                                                 che Höchstzahlen und Kontingente» be-
                                                 grenzt werden muss. Die Initiative forderte        Vom europapolitischen Mittelweg in die Gefahrenzone
                                                 zwar nicht die Kündigung der bilateralen
                                                                                                    Kommentar von Jürg Müller
                                                 Verträge, verlangte aber vom Bundesrat
                                                 Nachverhandlungen mit der EU über die              Der europapolitische Mittelweg ist in Gefahr, der Mittelweg zwischen Abseitsstehen
                                                 Personenfreizügigkeit und damit über die           und EU-Beitritt. Dank den erfolgreichen bilateralen Verträgen konnte die Schweiz
                                                 eigenständige Steuerung und Kontrolle der          bisher massgeschneidert von einem hohen Grad an europäischer Integration und vom
                                                 Zuwanderung.                                       Binnenmarktzugang profitieren, ohne EU-Mitglied mit vollen Rechten und Pflichten
                                                                                                    zu werden: ein äusserst attraktives, austariertes Spezialarrangement mit unserem
                                                 SVP profitiert von Unmut                           wichtigsten Wirtschaftspartner. Das alles ist mit der Annahme der sogenannten Mas-
                                                 Die SVP hat praktisch im Alleingang gegen          seneinwanderungsinitiative und damit der faktischen Aufkündigung des für die EU
                                                 Bundesrat, Parlament, alle anderen Parteien,       fundamentalen Prinzips der Personenfreizügigkeit in Frage gestellt.
S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2

                                                 Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände               Starke Zuwanderung bringt immer Probleme, das erleben alle prosperierenden Re-
                                                 für ihre Initiative gekämpft. Die Befürwor-        gionen der Welt. Aber die Probleme, welche die Schweiz sich nun eingehandelt hat,
                                                 ter haben volle Züge, verstopfte Strassen,         sind um einige Dimensionen erweitert. Unsicherheit macht sich in Wirtschaft und Ge-
                                                 Wohnungsnot, Lohndruck, verstärkte Kon-            sellschaft breit. Und das ist Gift. Die politische Stabilität steht als Folge der Polarisie-
                                                 kurrenz am Arbeitsplatz, zubetonierte              rung auf dem Prüfstand, die Planungssicherheit für die Wirtschaft gibt es nicht mehr.
                                                 Landschaften und anderes mehr allein der           Es wird ein unerspriessliches Gezerre um die Ausgestaltung des bürokratischen Kon-
                                                 starken Zuwanderung zugeschrieben. Es ge-          tingentssystems geben. Von der europapolitischen Ungewissheit gar nicht zu reden.
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                                                 Folgen für die Auslandschweizer                                                                     auch in Richtung Entspannung der Lage in
                                                 Das Ja zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» wird in nächster Zukunft keine di-            diesen und anderen Dossiers.
                                                 rekten juristischen Auswirkungen für die im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schwei-               Gross ist die Verunsicherung in der Wirt-
                                                 zer haben. Das Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union über die Frei-              schaft. Es wurde bekannt, dass vereinzelt In-
                                                 zügigkeit wird weiterhin angewendet. Auch im Falle einer Kündigung der Verträge würden              vestitionsentscheide zurückgestellt und
                                                 die wohlerworbenen Rechte von Personen, die bereits in einem EU-Land leben, nicht ange-             Überlegungen zu Verlagerungen ins Ausland
                                                 tastet. Eine Klausel im Vertrag über den freien Personenverkehr (Art. 23) garantiert ihnen          angestellt worden sind. Die Grossbank Cre-
                                                 die Möglichkeit des Verbleibs in ihrem Wohnsitzland. Für Staaten ausserhalb der EU bestehen         dit Suisse prophezeit, dass in den kommen-
                                                 schon heute Kontingente für die Einwanderung. Diese Zulassungsbedingungen für Personen              den drei Jahren rund 80 000 Stellen weniger
                                                 aus Drittstaaten bleiben bis zu einer allfälligen Gesetzesrevision in Kraft, deshalb sollten für    neu geschaffen werden.
                                                 Auslandschweizer in Drittstaaten ebenfalls keine neuen Bestimmungen gelten.                 (BE)
                                                                                                                                                     Kaffeesatzlesen zu den Entwicklungen
                                                                                                                                                     Über die weitere Entwicklung darf gerätselt
                                                                                                                                                     werden. Grundsätzlich sind fünf Szenarien
                                                                                                                                                     möglich:

                                                                                                                                                     n Szenario 1: Die EU steigt auf Nachver-
                                                                                                                                                     handlungen zur Personenfreizügigkeit ein,
                                                                                                                                                     obschon dies bisher sämtliche EU-Vertreter
                                                                                                                                                     ausgeschlossen haben: «Nicht verhandelbar»
                                                                                                                                                     hiess es bisher kategorisch. Käme es trotz-
                                                                                                                                                     dem zu formellen Verhandlungen, wäre völ-
                                                                                                                                                     lig offen, ob es auch zu einem allseits akzep-
                                                                                                                                                     tierten Ergebnis käme.
                                                                                                                                                     n Szenario 2: Die Schweiz setzt die Initiative
                                                                                                                                                     einseitig um und führt Kontingente ein. Das
                                                                                                                                                     muss laut neuem Verfassungstext innert
                                                                                                                                                     dreier Jahre geschehen, entweder in Geset-
                                                                                                                                                     zesform oder durch eine Verordnung des
                                                                                                                                                     Bundesrates. Ist es einmal so weit, muss die
                                                                                                                                                     Schweiz zwar formell das Freizügigkeitsab-
                                                 für die Ausdehnung der Personenfreizügig-         tenaustauschprogramm «Erasmus» auf Eis.           kommen nicht kündigen, faktisch hat sie
                                                 keit auf Kroatien aufgrund der neuen Lage         Gekippt wurden zudem Verhandlungen zur            aber die Spielregeln geändert. Die EU wird
                                                 derzeit nicht unterzeichnen kann, legte die       Erneuerung des Filmförderungsprogramms            reagieren müssen und vorerst prüfen, ob die
                                                 EU die Verhandlungen über das Forschungs-         «Media». Es gab bei Redaktionsschluss Sig-        Kontingente die Personenfreizügigkeit ver-
                                                 abkommen «Horizon 2020» und das Studen-           nale sowohl in Richtung Verschärfung als          letzen. Die EU wird dabei nebst juristischen
                                                                                                                                                     auch politische Überlegungen anstellen.
                                                                                                                                                     Sollte die Personenfreizügigkeit durch sehr
                                                                                                                                                     grosse Kontingente zwar rechtlich, aber
                                                    Gewiss ist eines: Die Schweiz ist abhängiger von der EU als je zuvor. Denn jetzt gibt            nicht faktisch tangiert werden, könnte die
                                                 Brüssel den Takt vor, die Schweiz hat sich freiwillig in die Rolle des Bittstellers manöv-          EU gnädig reagieren. Brüssel würde erst Ge-
                                                 riert. Es nützt nichts, auf die Durchhalteparolen der SVP zu bauen, man müsse sich                  genmassnahmen ergreifen, wenn die
                                                 nur genug selbstsicher geben, die EU sei schliesslich auch auf die Schweiz angewiesen.              Schweiz dann trotzdem einmal EU-Bürgern
                                                 Ganz falsch ist das nicht, es gibt immer gegenseitige Interessen. Aber: Man muss sich,              das Aufenthaltsrecht verweigert. Einem
                                                 für den Fall eines Konflikts, auch die Grössenverhältnisse vor Augen führen. Die EU                 Ausführungsgesetz droht aber auch die in-
                                                 wird auf die Einhaltung der bilateralen Regeln pochen, denn sie kann kaum laufend                   nenpolitische Hürde des Referendums.
                                                 helvetische Sonderwünsche erfüllen, die sie den eigenen Mitgliedstaaten nicht ge-                   n Szenario 3: Die EU kündigt das Freizügig-
                                                 währt.                                                                                              keitsabkommen. Wegen der «Guillotine-
                                                   Irgendeine Lösung wird es nach langen Verhandlungen sicher geben, dabei wird eine                 Klausel» würden dann automatisch die fünf
                                                 mehr oder weniger folgenschwere integrationspolitische Rückstufung der Schweiz                      weiteren Abkommen der bilateralen Ver-
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                                                 wohl kaum zu vermeiden sein. Es wäre jedoch blauäugig, das unangenehme Szenario ei-                 träge I hinfällig, was für den Zugang zum
                                                 ner Zuspitzung des Konflikts mit der EU vollständig zu verdrängen. In einem solchen                 europäischen Binnenmarkt verheerende
                                                 Fall kämen Schweizerinnen und Schweizer dann nicht darum herum, die Frage zu be-                    Auswirkungen hätte. Gleichzeitig könnten
                                                 antworten: Wollen sie nun konsequent den vollständigen Rückzug ins europapolitische                 dann auch weitere Abkommen in den Ab-
Karikatur: Chappatte

                                                 Réduit – und ins wirtschaftliche Jammertal? Oder werden sie, wenn ihnen das Wasser                  wärtsstrudel geraten, etwa die Schengen/
                                                 bis zum Hals steht, als Bittsteller an die Tür in Brüssel klopfen und der EU beitreten,             Dublin-Verträge.
                                                 weil die Alternative eines europapolitischen Mittelwegs endgültig vom Tisch ist?                                             Fortsetzung Seite 14
14        politik – Abstimmung vom 9. februar 2014

                                                 n Szenario 4: Es gelingt der Schweizer       gebunden in ein von der EU gewünsch-             Ja zur Bahn
                                                 Diplomatie, mit einer breiten Verhand-       tes weitgehendes institutionelles Rah-           Das Volk setzte am 9. Februar einen Meilen-
                                                 lungsmasse der EU ein grosses Paket          menabkommen – und den von der                    stein der Schweizer Bahngeschichte: Die
                                                 schmackhaft zu machen, möglichst ein-        Schweiz gewünschten Abstrichen an der            Vorlage zur Finanzierung und zum Ausbau
                                                                                              Personenfreizügigkeit. Ein Szenario,             der Bahninfrastruktur (Fabi) wurde mit
                                                                                              das der Quadratur des Zirkels gleich-            62 % Jastimmen angenommen. Damit kön-
                                                 Auslandschweizer sagen Nein                  käme.                                            nen Betrieb, Substanzerhalt und Ausbau der
                                                 Deutlich haben die Auslandschweizerin-                                                        Eisenbahn einheitlich aus einem neuen
                                                 nen und -schweizer die Initiative gegen      n   Szenario 5: Bei der Abstimmung über          Bahninfrastrukturfonds finanziert werden.
                                                 Masseneinwanderung abgelehnt. In den          die Ecopop-Initiative mit dem Titel             Bis ins Jahr 2025 soll auch das Bahnnetz
                                                 acht Kantonen, welche die Stimmen der        «Stopp der Überbevölkerung» zur Si-              für 6,4 Milliarden Franken ausgebaut wer-
                                                 Auslandschweizer separat ausweisen, lag      cherung der natürlichen Lebensgrund-             den; dieser Kredit wurde ebenfalls gespro-
                                                 der Anteil der Neinstimmen zwischen          lagen», die voraussichtlich noch in              chen. Die Schweizerinnen und Schweizer
                                                 knapp über 50 % und 71 %. Am deutlichs-      ­d iesem Jahr stattfindet, sagen die             zeigen sich gegenüber der Bahn traditions-
                                                 ten war die Ablehnung in Genf und Basel      Schweizerinnen und Schweizer noch-               gemäss grosszügig: Sie haben in den ver-
                                                 mit 71 %, in der Waadt stimmten 69 %, im     mals Ja. Ecopop versteht sich zwar als           gangenen Jahrzehnten immer wieder milli-
                                                 Aargau 65 % und im Thurgau 63 % dage-         ökologische Bewegung mit Blick auf Be-          ardenschwere Ausbauten abgesegnet.
                                                 gen. In Appenzell Innerrhoden mit dem        völkerungsfragen, doch das Volksbegeh-
                                                 zweithöchsten Jastimmenanteil der            ren will die Zuwanderung noch viel               Abtreibungen bleiben versichert
                                                 Schweiz (63,5 %) waren es bei den Stim-      drastischer einschränken als die ange-           Die Krankenversicherungen bezahlen
                                                 menden aus dem Ausland nur gerade zwei       nommene SVP-Initiative. Sollte diese             die Kosten für Schwangerschaftsab­
                                                 Neinstimmen mehr. Am höchsten war die        Initiative bei der Mehrheit des Volkes           brüche auch in Zukunft. Das Volk
                                                 Zustimmung zur Initiative im Kanton Tes-     Gnade finden, dann wird guter Rat                lehnte die von religiösen und konserva-
                                                 sin, dort sagten 68,2 % der Stimmenden       noch sehr viel teurer sein, als er jetzt         tiven Gruppierungen lancierte Volksini-
                                                 Ja. Die Stimmen der Auslandschweizer          schon ist.                                      tiative «Abtreibungsfinanzierung ist
                                                 werden im Tessin nicht separat ausgewie-                                                      Privat­s ache» mit knapp 70 Prozent
                                                 sen.                                 (BE)   Jürg Müller ist Redaktor der «Schweizer Revue»   Neinstimmen deutlich ab.            (JM)

                                                            Heimweh?
                                                                     Mit Swisscom iO kostenlos und un-
                                                                     begrenzt nach Hause telefonieren.
S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2

                                                                                                           io.swisscom.ch
politik – Abstimmung vom 18. mai 2014                                                                                                             15

                                                 Luftkampf um neue Flugzeuge                                                                      mand könne für die nächsten Jahrzehnte Be-
                                                                                                                                                  drohungen aus der Luft völlig ausschliessen.
                                                 Die Schweiz soll 22 neue Kampfflugzeuge des Typs Gripen erhalten.                                   Obschon der Gripen der kostengünstigste
                                                 Das Volk muss dem Rüstungsgeschäft mit unklaren Folgekosten zustimmen.                           der geprüften Flugzeug-Typen ist, spielen die
                                                 Von Jürg Müller                                                                                  Finanzen im Abstimmungskampf eine grosse
                                                                                                                                                  Rolle. Etwas über drei Milliarden Franken
                                                                                                                                                  kosten die Gripen-Flugzeuge insgesamt. Un-
                                                 Braucht die Schweiz als Ersatz für die in      Folge so weit zerstreuen, dass sich auch die      terhalt und Betriebskosten treiben aber laut
                                                 die Jahre gekommene Tiger-Flotte 22            einstigen bürgerlichen Kritiker hinter Ver-       der Gegnerschaft die Kosten über die ge-
                                                 schwedische Kampfjets des Typs Gripen?         teidigungsminister Ueli Maurer (SVP) stell-       samte Betriebsdauer gerechnet auf zehn Mil-
                                                 Dies ist die Frage, welche die Stimmbürger     ten. Nur die Linke lehnte den Kauf des            liarden Franken hoch. Das VBS spricht je-
                                                 am 18. Mai zu beantworten haben. Der Ab-       Kampfjets einhellig ab. So stimmten beide         doch von «nur» sechs Milliarden Franken für
                                                 stimmungskampf wird von viel politischem       Parlamentskammern dem Geschäft zu.                Beschaffung und Betrieb über eine Einsatz-
                                                 Lärm begleitet, die Übungsanlage ist aller-                                                      dauer von 30 Jahren. Das VBS weist auch das
                                                 dings weitgehend bekannt: Bundesrat, Par-      Sind 32 F/A-18 genug?                             Argument der Gegner weit von sich, der Gri-
                                                 lament, bürgerliche Parteien sowie Miliz-      Nun ist das Volk an der Reihe. Die Gegner         pen sei ein «Papierflieger» und insofern ein
                                                 und Wehrorganisationen wollen das neue         stellen die Beschaffung grundsätzlich in          Risiko, weil Dutzende Komponenten des
                                                 Flugzeug, ein armeekritisches Bündnis von      Frage. Ein wirksamer Luftschirm ist aus ih-       Flugzeugs erst noch entwickelt werden müss-
                                                 Sozialdemokraten, Grünen und der               rer Sicht auch ohne neue Jets gewährleistet       ten. Der Gripen sei kein von Grund auf neu
                                                 Gruppe für eine Schweiz ohne Armee             und auch nach der Ausmusterung der 54 Ti-         konzipiertes Flugzeug, schreibt das VBS, es
                                                 (GSoA) bekämpfen den Kauf. Sie haben er-       ger-Flugzeuge sei die Schweiz im internati-       handle sich lediglich um eine Weiterentwick-
                                                 folgreich das Referendum ergriffen. In be-     onalen Vergleich sehr gut gerüstet. Die 32        lung und technische Vervollkommnung des
                                                 scheidenem Umfang hat auch ein «Libera-        F/A-18 genügten vollauf                                               bestehenden Typs.
                                                 les Komitee Nein zum Gripen»                   für den Luftpolizei-                                                     Entscheidend für den
                                                 Unterschriften beigesteuert. Es besteht        dienst. Ein veritabler                                                Ausgang der Abstim-
                                                 hauptsächlich aus Exponenten der Grün­         Luftkrieg sei im heuti-                                               mung dürfte sein, welche
                                                 liberalen Partei (GLP).                        gen sicherheitspoliti-                                                Argumente im Zentrum
                                                                                                schen Umfeld kein rea-                                                der Debatte stehen: Rü-
                                                 Heftige Turbulenzen                            listisches Szenario.                                                  cken technische Argu-
                                                 Die Skepsis gegenüber der Typenwahl war        Ohne neue Flugzeuge                                                   mente und die Milliar-
                                                 ursprünglich weit verbreitet – nicht nur bei   sei die Durchhaltefähig-                                              deninvestition in den
                                                 der Linken. Die Evaluation sei nicht sauber    keit der Luftwaffe nicht                                              Vordergrund, können die
                                                 abgelaufen, hiess es immer wieder. Die si-     gewährleistet, heisst es                                              Gegner punkten. Gelingt
                                                 cherheitspolitische Kommission des Natio-      dagegen bei den Befür-                                                es den Befürwortern, die
                                                 nalrats liess die Vorwürfe abklären und kam    wortern. Diese sei heute                                              Abstimmung zur Schick-
                                                 zu einem zwiespältigen Ergebnis: Das Aus-      noch wichtiger als frü-                                               salsfrage «Armee Ja oder
                                                 wahlverfahren sei korrekt über die Bühne       her, weil Angriffe –                                                  Nein?» zu stilisieren,
                                                 gegangen, allerdings habe sich der Bundes-     selbst Terrorangriffe ‑                                               wird der Gripen wohl
                                                 rat für den Jet mit dem grössten Risiko ent-   immer mehr aus der                                                    dereinst in der Schweiz
                                                 schieden. Dieser konnte die Bedenken in der    Luft erfolgten. Nie-                                                  landen.

                                                 Hausärzte sollen                               zern unterschrieben wurde. Im Laufe der           ­Gesundheitswesen ist von Erfolg gekrönt,
                                                                                                Beratungen im Parlament kristallisierte sich      wenn das Volk am 18. Mai der Vorlage zu-
                                                 gestärkt werden                                ein Gegenvorschlag heraus, der nun dem             stimmt.
                                                                                                Volk vorgelegt wird und auch die Initianten          Der Hausärzteverband äusserte sich auch
                                                 In der Schweiz zeichnet sich seit Längerem     zufriedenstellt: Bund und Kantone sollen           sehr lobend über den zuständigen Bundes-
                                                 ein Mangel an Hausärzten ab. Lange Ar-         für eine «ausreichende, allen zugängliche          rat, Alain Berset. «Die Vertreter des Initia-
                                                 beitszeiten, viel administrativer Aufwand,     medizinische Grundversorgung von hoher             tivkomitees haben den Gesundheitsminis-
S c h w e i z e r R e v u e April 2014 / Nr. 2

                                                 Notfalldienste mit Nachteinsätzen – und        Qualität» sorgen und die Hausarztmedizin           ter als fairen und glaubwürdigen Partner
                                                 das alles bei relativ tiefem Einkommen – ma-   fördern weil «sie diese als einen wesentlichen     erlebt», heisst es in einer Medienmitteilung.
                                                 chen die Hausarztmedizin immer unattrak-       Bestandteil dieser Grundversorgung aner-          Dies auch deshalb, weil Berset es nicht bei
Foto: Sebastian Magnani

                                                 tiver. Der Berufsverband der Hausärzte         kennen».                                           einem Verfassungsartikel bewenden liess,
                                                 Schweiz lancierte deshalb 2010 die Volksin-      Die Hausärzte sehen damit die wesentli-          sondern mit den verschiedenen Akteuren
                                                 itiative «Ja zur Hausarztmedizin», die von     chen Ziele ihrer Initiative erfüllt. Ihr jahre-    parallel dazu einen Masterplan Hausarzt-
                                                 rund 200 000 Schweizerinnen und Schwei-        langer Kampf um eine Besserstellung im             medizin ausgearbeitet hat.              (JM)
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