DIE VERMESSUNG DER BELEGSCHAFT - MITBESTIMMUNGSPRAXIS Mining the Enterprise Social Graph - Hans-Böckler-Stiftung

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DIE VERMESSUNG DER BELEGSCHAFT - MITBESTIMMUNGSPRAXIS Mining the Enterprise Social Graph - Hans-Böckler-Stiftung
MITBESTIMMUNGSPRAXIS
Nr. 10 · Januar 2018

DIE VERMESSUNG
DER BELEGSCHAFT
Mining the Enterprise Social Graph

Heinz-Peter Höller, Peter Wedde
DIE VERMESSUNG DER BELEGSCHAFT - MITBESTIMMUNGSPRAXIS Mining the Enterprise Social Graph - Hans-Böckler-Stiftung
AUTOREN                                                                                                            WEITERE TITEL UNTER

                        Prof. Dr. Heinz-Peter Höller                                                               www.boeckler.de/62346.htm
                        vertritt das Gebiet Rechnernetze und Telekommunikation an der
                        Hochschule Schmalkalden. Er hat an der Technischen Universität
                        Darmstadt Informatik studiert und an der Universität Bremen pro-
                        moviert. Er forscht und publiziert zu interdisziplinären Fragen der
                        Informatik in ihrem Anwendungskontext.                                                     MITBESTIMMUNGSPORTAL

                        Prof. Dr. Peter Wedde                                                                      Der Böckler-Infoservice bietet
                        ist Professor für Arbeitsrecht und Recht der Informationsgesell-                           Mitbestimmungsakteuren spezi-
                        schaft an der Frankfurt University of Applied Sciences. Er ist                             fisches Handlungs- und Orientie-
                        außerdem wissenschaftlicher Leiter der Beratungsgesellschaft                               rungswissen, u. a. Branchenmoni-
                        d+a consulting GbR in Eppstein und wissenschaftlicher Berater                              tore, Themenradar, Wissen kom-
                        der Kanzlei steiner mittländer fischer in Frankfurt a. M. Seine Tä-                        pakt, Szenarien Mitbestimmung
                        tigkeitsschwerpunkte sind Datenschutz- und Beschäftigtendaten-
                                                                                                                   2035.
                        schutzrecht, Kollektives Arbeitsrecht und Internetrecht.
                                                                                                                   Jetzt kostenlos anmelden auf:
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                                                                                                                   PRAXISWISSEN
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                                                                                                                   Analysen und Gestaltungshilfen,
                                                                                                                   Beispiele aus der Praxis.
                                                                                                                   www.boeckler.de/
                                                                                                                   betriebsvereinbarungen

IMPRESSUM

                        Herausgeber                                                           Redaktion
                        Hans-Böckler-Stiftung                                                 Dr. Manuela Maschke, Referatsleiterin Arbeit und Mitbestimmung
                                                                                              Hans-Böckler-Stiftung, Telefon: +49 (211) 77 78-224
                        Hans-Böckler-Straße 39, 40476 Düsseldorf
                                                                                              manuela-maschke@boeckler.de
                        Telefon +49 (2 11) 77 78-0, Telefax +49 (2 11) 77 78-12 0

                        www.boeckler.de                                                       Ausgabe
                        www.mitbestimmung.de                                                  Mitbestimmungspraxis Nr. 10
                        Pressekontakt: Rainer Jung, +49 (2 11) 77 78-150                      ISSN 2366-0449
                        rainer-jung@boeckler.de                                               Nachdruck und sonstige Verbreitung – auch Auszugsweise –
                        Satz: Yuko Stier                                                      nur mit Quellenangabe zulässig.

Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 2
DIE VERMESSUNG DER BELEGSCHAFT - MITBESTIMMUNGSPRAXIS Mining the Enterprise Social Graph - Hans-Böckler-Stiftung
MITBESTIMMUNGSPRAXIS
Nr. 10 · Januar 2018

DIE VERMESSUNG
DER BELEGSCHAFT

ABSTRACT
Heute fallen am Arbeitsplatz auf Schritt und Tritt digitale Daten an – bei allem, was man tut: Beim Betreten
des Betriebs, beim Telefonieren, beim Bezahlen in der Kantine, beim Betreten von Räumen, beim Arbeiten an
Maschinen oder Dokumenten. Es entstehen riesige Datensätze darüber, wer was wann wo gesagt, getan oder
geschrieben hat. Genau das bezeichnet der Begriff Big Data.
   Es geht nicht mehr nur um die vielen Einzelangaben zu einem Arbeitnehmer; es geht immer mehr um die
Beziehungen, die Beschäftigte unterhalten und in denen sie zusammen kommunizieren und kooperieren. Wel-
che Probleme können entstehen, wenn massenhaft Beziehungsdaten von Beschäftigten erfasst werden? Wie
kann sich das womöglich auswirken?
   Ziel der Publikation ist, den Blick der betrieblichen Interessenvertretung, der sich derzeit stark auf Fragen
der Leistungs- und Verhaltenskontrollen und den Arbeitnehmerdatenschutz konzentriert, zu weiten und ihn
auch auf Probleme zu richten, die durch die massenhafte Erfassung von Beziehungsdaten und deren Auswei-
tung für die Belegschaft insgesamt entstehen können.

                                                                                            Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 3
DIE VERMESSUNG DER BELEGSCHAFT - MITBESTIMMUNGSPRAXIS Mining the Enterprise Social Graph - Hans-Böckler-Stiftung
INHALT
                        Vorwort........................................................................................................................ 5

                        1     Einleitung.............................................................................................................. 6

                        2     Kommunikativ isoliert, schlechter Social Score:
                              Der soziale Graph im KDO-Konzern (Szenario).......................................................7

                        3   Entstehung des innerbetrieblichen sozialen Graphen.......................................... 9
                        3.1 Innerbetriebliche digitale soziale Netzwerke...................................................................9
                        3.2 Der innerbetriebliche soziale Graph............................................................................... 10

                        4   Graphen in der Mathematik................................................................................. 12
                        4.1 Graphen und Matrizen zur Veranschaulichung.............................................................. 12
                        4.2 Eigenschaften von Graphen........................................................................................... 12

                        5     Sozialwissenschaftliche Analyse sozialer Netze.................................................. 14
                        5.1   Akteur............................................................................................................................. 16
                        5.2   Beziehungen zwischen Akteuren................................................................................... 18
                        5.3   Gruppen.......................................................................................................................... 19
                        5.4   Gesamtnetzwerke........................................................................................................... 21

                        6     Netzwerkanalytische Interpretationen, Konzepte und Auswertungen............... 22
                        6.1   Zusammenfassung netzwerkanalytischer Interpretationen..........................................22
                        6.2   Macht und Einfluss.........................................................................................................23
                        6.3   Informationsausbreitung................................................................................................23
                        6.4   Empfehlungen in sozialen Medien.................................................................................24

                        7   Der innerbetriebliche soziale Graph im elektronischen Zugriff.......................... 24
                        7.1 Mutmaßungen zu innerbetrieblichen netzwerkanalytischen Auswertungen
                            des sozialen Graphen.....................................................................................................25
                        7.2 Erste marktgängige Systeme......................................................................................... 27

                        8   Rechtliche Einordnung........................................................................................ 34
                        8.1 Datenschutzrecht...........................................................................................................34
                        8.2 Betriebliche Handlungsmöglichkeiten...........................................................................35

                        9     Zusammenfassung und Ausblick........................................................................ 36

                        Literatur.......................................................................................................................37

Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 4
DIE VERMESSUNG DER BELEGSCHAFT - MITBESTIMMUNGSPRAXIS Mining the Enterprise Social Graph - Hans-Böckler-Stiftung
VORWORT
Es gibt Statistiken, wonach inzwischen weltweit 95 %     Auf welche Interpretation habe ich Einfluss? Wer ana-
der Menschen ein Handy / Mobiltelefon haben sollen,      lysiert und interpretiert meine Daten, ohne dass ich
42 % hätten ein Smartphone, 58 % planten sich ein        es kontrollieren kann? Wer nutzt diese Interpretation,
Smartphone zu kaufen. Nahezu jeder Mensch hinter-        ohne dass ich davon etwas mitbekomme, für sein ei-
lässt Datenspuren. „Na und, ich habe nichts zu ver-      genes Geschäftsmodell? „Spooky“!
bergen!“ Diese Meinung kann man vertreten. Aber             Am Arbeitsplatz fallen jede Menge Daten an – mit
ist es wirklich egal welche Daten ich erzeuge, wo sie    und ohne Bezug zur Person: Betreten, Verlassen des
gespeichert werden und wer meine Daten nutzt – ge-       Betriebes, Arbeitszeit, Kantinenkasse, Telefon, Doku-
fragt und ungefragt? Zugegeben, es ist eine rhetori-     mente, Maschinen, etc. Dem Schutz vor Leistungs-
sche Frage und leider wird man meist erst dann sen-      und Verhaltenskontrolle und dem Schutz personen-
sibel, wenn unerwünschte Ereignisse zum eigenen          beziehbarer Daten widmen Betriebsräte daher viel
Nachteil eintreffen. Erst wenn Datenmissbrauch öf-       Energie. Die Autoren dieser MB-Praxis betonen, dass
fentlich wird wie etwa Edward Snowden gezeigt hat,       es inzwischen nicht mehr nur um die vielen Einzelan-
entstehen Unsicherheit, Skepsis und zugleich Frust-      gaben zu einem Arbeitnehmer geht, sondern es gehe
ration, denn: „Die wissen doch eh schon alles über       immer mehr um die Beziehungen, die Beschäftigte
mich. Was kann der Einzelne denn da schon tun?“ Da-      unterhalten und in denen sie zusammen kommuni-
tensparsamkeit war früher mal ein wichtiger Grund-       zieren und kooperieren. Heinz-Peter Höller beschreibt
satz im Datenschutz und eine Antwort auf diese Fra-      daher welche Probleme entstehen können, wenn
ge. Das galt zum Beispiel als es in den 1980er Jahren    massenhaft Beziehungsdaten von Beschäftigten er-
um die Volkszählung ging und sehr viele Menschen         fasst werden. Das heisst nicht nur die Kommunikation
sich weigerten dem Staat Informationen über die pri-     wird erfasst, sondern auch in welcher Netzwerkbe-
vaten Lebenssituationen zu geben. Im Zeitalter digita-   ziehung die Beschäftigten miteinander arbeiten. Wer
ler und globaler Kommunikation und Konsumption ist       wird oft kontaktiert? Wer hat viele Likes? Was fängt
Datensparsamkeit nahezu aussichtslos. Könnte dieser      man an mit den Ergebnissen? Die erste juristische
Grundsatz vielleicht irgendwann wieder wichtiger         Einordnung macht Peter Wedde.
werden, wenn mit Big Data immer mehr und kleintei-          Ziel der Publikation ist, den Blick der betrieblichen
liger Personendaten analysiert werden?                   Interessenvertretung, der sich derzeit stark auf Leis-
    Datenschutz und Datensicherheit sind Herkules-       tungs- und Verhaltenskontrollen und Arbeitnehmer-
aufgaben. Dabei geht es nicht nur um die Nutzung         datenschutz konzentriert, zu weiten und ihn auch
und Verfügbarkeit von Daten, sondern auch um die         auf Probleme zu richten, die durch die massenhafte
Interpretation, um Zusammenhänge und Kontexte.           Erfassung von Beziehungsdaten für die Belegschaft
Wer heute zum Beispiel ein privates Schnappschuss-       insgesamt entstehen können. Das dürfte letztlich
foto von sich auf einer Party bei Facebook postet,       auch für Unternehmen von Interesse sein: Denn wer
kann Morgen schon in einem Bewerbungsgespräch            weiss am Ende des Tages mehr vom Unternehmen,
gefragt werden, ob man Probleme mit Alkohol habe.        der Software-Hersteller, der alle Daten seiner Kunden
Das Foto kann harmlos sein, aber der Kontext kann        speichert oder das Unternehmen selbst?
zu sehr unterschiedlich interpretierbaren Geschichten
führen und sich der Kontrolle des Einzelnen entziehen.                 Wir wünschen eine anregende Lektüre!
Welche Geschichte ist wahr? Welche ist nicht wahr?                                     Dr. Manuela Maschke

                                                                                             Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 5
DIE VERMESSUNG DER BELEGSCHAFT - MITBESTIMMUNGSPRAXIS Mining the Enterprise Social Graph - Hans-Böckler-Stiftung
1      EINLEITUNG                                  ziehungen, die Beschäftigte unterhalten und in denen
                                                                           sie zusammen kommunizieren und kooperieren. Und
              Seit Jahrzehnten verändern informations- und kom-            diese Beziehungen werden in immer stärkerem Maße
              munikationstechnische Systeme die Arbeitswelt, im-           selbst zum Gegenstand der digitalen Erfassung. Wie
              mer schneller, immer radikaler. Es ist ein umfassen-         wichtig diese digitalen Beziehungen sind und was mit
              der Prozess der digitalen Transformation im Gange,           diesen Beziehungsdaten alles bewerkstelligt werden
              der die gesamte Gesellschaft und insbesondere die            kann, lässt sich in den sozialen Netzen sehen. Dort
                                       betriebliche      Arbeitsrealität   dreht sich alles um Beziehungen. Mal sind es Freund-
                                       erfasst hat. Die mit Industrie      schaftsbeziehungen (Facebook), mal folgen die einen
DIE MIT INDUSTRIE 4.0, BIG             4.0, Big Data und Data Mi-          den anderen (Twitter). Diese relationalen Daten ent-
                                       ning aufgeworfenen Fragen           stehen seit einiger Zeit in großem Umfang auch in-
DATA UND DATA MINING AUF-
                                       sind nicht völlig neu. Sie wer-     nerhalb der Betriebe. Die Beschäftigten arbeiten an
GEWORFENEN FRAGEN SIND                 den aber in einer neuen Radi-       gemeinsamen Dokumenten, sie schicken sich Mails,
                                       kalität gestellt.                   telefonieren miteinander und tauschen Kurzmitteilun-
NICHT VÖLLIG NEU. SIE WER-
                                          Zu diesen Fragen gehört          gen aus. Und innerbetriebliche soziale Netzwerke ver-
DEN ABER IN EINER NEUEN                weiterhin diejenige nach dem        breiten sich in den Unternehmen immer stärker. Das
                                       Schutz der Beschäftigten bei        alles stellt Arbeitnehmer in Beziehungen zueinander,
RADIKALITÄT GESTELLT.
                                       der Verarbeitung ihrer per-         die pausenlos erfasst und abgespeichert werden. Im
                                       sonenbezogenen Daten und            Hintergrund entsteht dabei der innerbetriebliche sozi-
              nach der Eindämmung der möglichen Leistungs- und             ale Graph, der in dieser Ausarbeitung im Mittelpunkt
              Verhaltenskontrollen. Die betrieblichen Interessenver-       steht. Er erfasst die Beziehungen innerhalb der Beleg-
              tretungen haben sehr viele Erfahrungen auf diesem            schaft, macht informelle Strukturen sichtbar, erlaubt
              Gebiet gesammelt, aber die damit verbundenen He-
              rausforderungen sind immer nur gewachsen. Wa-
              ren anfangs die Datenschutzprobleme auf wenige               ZIEL DER VORLIEGENDEN PUBLIKATION IST
              Arbeitsplätze beschränkt, waren wenige Jahre spä-
                                                                           ES, DEN BLICK ZU WEITEN UND IHN AUCH AUF
              ter schon nahezu alle Arbeitnehmer betroffen. Spei-
              cherten Personalinformationssysteme zunächst nur             PROBLEME ZU RICHTEN, DIE DURCH DIE MAS-
              wenige personenbezogene Daten, so fallen heute
                                                                           SENHAFTE ERFASSUNG VON BEZIEHUNGSDATEN
              in den Betrieben digitale Daten an – auf Schritt und
              Tritt und bei allem, was man tut: Beim Betreten des          UND DEREN AUSWEITUNG FÜR DIE BELEG-
              Betriebs, beim Telefonieren, beim Bezahlen in der
                                                                           SCHAFT INSGESAMT ENTSTEHEN KÖNNEN.
              Kantine, beim Betreten von Räumen, beim Arbeiten
              an Maschinen oder Dokumenten. Es entstehen rie-
              sige Datensätze darüber, wer was wann wo gesagt,             das Miteinander der Arbeitnehmer zu beobachten
              getan oder geschrieben hat. Genau das bezeichnet             und zu analysieren. Diese Beziehungsdaten sind über-
              der Begriff Big Data: ungeheure Datenmengen, die in          raschend aussagekräftig. Das weist die sozialwissen-
              kürzesten Intervallen an allen möglichen Stellen ent-        schaftliche Netzwerkanalyse nach, die schon lange
              stehen. Big Data ist in der Personaldatenverarbeitung        bevor es digital festgehaltene Beziehungen dieses
              angekommen und verschärft die Gefahren für die Per-          Ausmaßes gab, soziale Netzwerke analysiert hat und
              sönlichkeitsrechte von Arbeitnehmern.                        zu bemerkenswerten Aussagen über die Stellung und
                 Dieser Blick auf die Problemstellung muss ange-           das Ansehen von Menschen und deren Gruppenbil-
              sichts der Entwicklungen, die sich aktuell vollziehen,       dung kommt.
                                          geweitet werden. Das Den-            Ziel der vorliegenden Publikation ist es, den Blick
                                          ken in ungeheuer großen          der betrieblichen Interessenvertretung, der sich
ES GEHT NICHT MEHR NUR UM                 Datensätzen, die Men-            derzeit stark auf Fragen der Leistungs- und Verhal-
                                          schen, aber auch Geräte          tenskontrollen und den Arbeitnehmerdatenschutz
DIE VIELEN EINZELANGABEN ZU
                                          und Maschinen unge-              konzentriert, zu weiten und ihn auch auf Probleme
EINEM ARBEITNEHMER; ES GEHT               heuer genau beschreiben          zu richten, die durch die massenhafte Erfassung von
                                          und sich in Excel-Tabel-         Beziehungsdaten und deren Ausweitung für die Be-
IMMER MEHR UM DIE BEZIEHUN-
                                          len darstellen lassen, be-       legschaft insgesamt entstehen können. Dazu wird
GEN, DIE BESCHÄFTIGTE UNTER-              zieht sich auf die soge-         zunächst ein Szenario entworfen (Kapitel 2), das die
                                          nannten kategorialen Da-         teilweise doch neuen Sichtweisen in einen zukünf-
HALTEN UND IN DENEN SIE ZU-
                                          ten: auf die Einzelmerk-         tig möglichen betrieblichen Kontext stellt. Wie im
SAMMEN KOMMUNIZIEREN UND                  male von Objekten, nicht         Szenario geschildert, könnten künftig die Daten des
                                          aber auf die Beziehungen         sozialen Graphen in der unternehmerischen Reali-
KOOPERIEREN.
                                          zwischen den abgebilde-          tät auch zum Nachteil der Beschäftigten verwendet
                                          ten Objekten. Auf die Ar-        werden. Danach wird aufgezeigt, was unter einem
              beitnehmerschaft bezogen bedeutet dies konkret: Es           innerbetrieblichen sozialen Graphen genau zu ver-
              geht nicht mehr nur um die vielen Einzelangaben zu           stehen ist und wie dieser derzeit tagtäglich in den
              einem Arbeitnehmer; es geht immer mehr um die Be-            Unternehmen, aber auch in der Cloud großer Anbie-

Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 6
DIE VERMESSUNG DER BELEGSCHAFT - MITBESTIMMUNGSPRAXIS Mining the Enterprise Social Graph - Hans-Böckler-Stiftung
ter wächst und wächst. Graphen sind mathematische          dern auch die Einbindung klassischer E-Mails und Ka-
Gebilde, deren formale Eigenschaften die Grundlage         lender sowie den Zugriff auf das Internet. Man kann
dafür bilden, dass man sie automatisch analysieren         bloggen, posten, kommentieren und „liken“ – alles
und „befragen“ kann. Auf diese formalen Aspekte            auf einer einheitlichen Bildschirmoberfläche.
der Graphen muss ein Blick geworfen werden, bevor              Parallel zur Einführung von Ai1 wurde ab dem
sich zeigen lässt, wie sich die sozialwissenschaftli-      1. April 2017 unter dem Motto „Vom Einzelwesen zur
che Netzwerkanalyse diese Eigenschaften zu Nutze           Schwarmintelligenz“ mit der Einführung einer neuen
macht und Aussagen trifft zu Stellung und Ansehen          Unternehmenskultur begonnen. Im Schwarm gibt es
von Akteuren und sozialen Gruppen. Die Anwendung           nur noch Vornamen, man duzt sich. Krawatten und
der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse auf           große Firmenwagen gehören hingegen nach offiziel-
den innerbetrieblichen sozialen Graphen im Kontext         ler Mitteilung der Konzernspitze an alle Schwarmmit-
unternehmerischen Handelns und die damit verbun-           glieder der Vergangenheit an. Weltweit werden alle
denen Herausforderungen für die Arbeitnehmerver-           Beschäftigten aufgefordert, Ai1 etwa auch dafür zu
tretung sind bislang kaum Gegenstand von Veröf-            nutzen, ihr Fachwissen in einem Wiki allen Konzern-
fentlichungen. Dennoch werden einige diesbezüglich         beschäftigten zur Verfügung zu stellen. Sie sollten
offensichtliche Potenziale und auch Gefährdungen           sich zudem von bestehenden Hierarchiestrukturen
beleuchtet, bevor dann ein Blick auf die derzeit sicht-    verabschieden und auf allen Ebenen agil zusammen-
baren Softwarelösungen großer Hersteller geworfen          arbeiten. Die neue Zusammenarbeit sollte sich durch
wird. Es wird nämlich deutlich: Die Analyse des so-        ein hohes Maß an persönlicher und zeitlicher Flexibi-
zialen Graphen steckt zwar in seinen Anfängen, aber        lität manifestieren. Wer irgendwo auf der Welt Unter-
die damit verbundenen Potenziale sind sehr wohl            stützung oder Hilfe brauchte, soll sie unverzüglich aus
erkannt. Für die betriebliche Interessenvertretung         dem Schwarm bekommen.
stellt sich dann die Frage: Wie sind solche Analysen           Mit dem Betriebsrat hat der Arbeitgeber für die LEP
der Belegschaftsbeziehungen rechtlich zu bewerten?         GmbH vor der Einführung von Ai1 eine umfangreiche
Eine entsprechende rechtliche Einordnung erfolgt           Betriebsvereinbarung abgeschlossen. Darin ist insbe-
abschließend.                                              sondere festgelegt, dass die in Ai1 enthaltenen perso-
                                                           nenbezogenen Daten nur in wenigen klar umrissenen
                                                           Ausnahmefällen für Verhaltens- und Leistungskon­
                                                           trollen der Beschäftigten verwendet werden dürfen.
                                                           Weiterhin wurde vereinbart, dass personenbezogene
2    KOMMUNIKATIV ISOLIERT,                                Daten weder an andere Konzernunternehmen noch
                                                           an Dritte übermittelt werden dürfen. Der Betriebsrat
     SCHLECHTER SOCIAL SCORE: DER
                                                           wurde vom Arbeitgeber während der Verhandlungen
     SOZIALE GRAPH IM KDO-KONZERN                          über die Betriebsvereinbarung auch darüber infor-
     (SZENARIO)                                            miert, dass die Firma HIG als Hersteller der Software
                                                           Zugriff auf anonyme Metadaten hat. Der Arbeitgeber
Die LEP GmbH gehört als deutsches Unternehmen              versicherte, dass diese Metadaten ausschließlich da-
zum KDO-Konzern. Um den Konzern fit für die Ar-            für genutzt werden können, um die im Paket Ai1 an-
beitswelt 4.0 zu machen, wird im März 2017 in allen        gebotenen Produkte zu verbessern. Zur neuen Unter-
KDO-Konzernunternehmen das neue Bürokommuni-               nehmenskultur ist in der Betriebsvereinbarung festge-
kationssystem „All in 1 / 2017“ (Ai1) des internationa-    schrieben, dass auch künftig alle Mitwirkungs- und
len Softwareanbieters HIG eingeführt. Bei Ai1 handelt      Mitbestimmungsrechte beachtet werden.
es sich um Software as a Service. Das Programm                 Die Beschäftigten sind vom System Ai1 absolut be-
wird ausschließlich online aus der Cloud angeboten.        geistert – nicht zuletzt weil sie zum Start des Systems
   Mit Ai1 werden den Mitarbeitern nicht nur Stan-         ein aktuelles Top-Smartphone und einen Tablett-PC
dardbüroprogramme für Textverarbeitung, Tabel-             erhalten haben. Beide Geräte können natürlich auch
lenkalkulation oder Präsentationen zur Verfügung           privat genutzt werden. Darüber hinaus haben die
                           gestellt, sondern auch eine     Beschäftigen die Möglichkeit, die in Ai1 enthalte-
                           Fülle spezieller Software für   nen Standardbüroprogramme gegen eine einmalige
                           verschiedene Zwecke. Dazu       Lizenzzahlung von 50 Euro auch auf ihren privaten
SZENARIO                   gehören beispielsweise Pro-
                           gramme für die gemeinsa-
                                                           Computern zu verwenden.
                                                               Als im Herbst 2017 die Umsätze des KDO-Konzerns
                           me Dokumentenablage und         weltweit einbrechen, verkündet die Konzernspitze
                           -bearbeitung, für die Voice-    Anfang 2018 ein umfangreiches und nachhaltiges
                           over-IP-Telefonanlage,    für   Restrukturierungsprogramm. Dieses beinhaltet ins-
Audio- und Videokonferenzen sowie ein Tool für Wis-        besondere einen massiven weltweiten Stellenabbau.
sensaustausch und -management. Hinzu kommt die             Von der Konzernspitze erhalten in der Folge alle Kon-
Softwareoberfläche „Jammern“. Dabei handelt es             zernunternehmen detaillierte Einsparvorgaben. Diese
sich um ein internes soziales Netzwerk, das nicht nur      beinhalten auch Listen der Beschäftigten, die gekün-
den Informationsaustausch per Chat oder das schnel-        digt werden sollen. Das Entsetzen in der LEP GmbH
le Auffinden anderer Beschäftigter ermöglicht, son-        ist groß. Das deutsche Management teilt dem Be-

                                                                                              Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 7
DIE VERMESSUNG DER BELEGSCHAFT - MITBESTIMMUNGSPRAXIS Mining the Enterprise Social Graph - Hans-Böckler-Stiftung
triebsrat unter der Hand mit, dass es keine Ahnung       Wer nicht die notwendigen Mindestpunkte bei seinen
                        habe, wie diese Listen entstanden seien. Auf entspre-    Kommentaraktivitäten hat, den hält die Software für
                        chende Nachfragen nach der Herkunft der Listen in-       wenig engagiert und entbehrlich. Entsprechendes gilt
                        formiert die Konzernspitze das Management darüber,       für die persönliche Stellung einzelner Beschäftigter.
                        dass sie die umzustrukturierenden Bereiche und die       Wer in der Informationskette immer am Rande liegt,
                        hier durchzuführenden Maßnahmen anhand von Big-          wer in Informationsströmen oft umgangen wird, wer
                        Data-Analysen ausgewählt habe. Grundlage für die         selbst oft nach Rat fragt und nur selten zu Rate gezo-
                        Analysen seien die im System Ai1 enthaltenen Meta-       gen wird, dessen Scores sind niedrig und die Kündi-
                        daten gewesen und insbesondere der Enterprise So­        gungsgefahr hoch. Auch die persönliche Umsetzung
                        cial Graph. Auf der Grundlage der sich aus diesen Ana-   der neuen Unternehmenskultur lässt sich elektro-
                        lysen ableitenden anonymen Verhaltensraster sei es       nisch beobachten. Wer etwa in internen E-Mails nach
                        „ganz einfach“, die in den Problembereichen Beschäf-     dem 1. April 2017 weiter das „Sie“ verwendet hat, der
                        tigten zu identifizieren und für diese die notwendigen   muss nach Abschluss der automatischen Analyse al-
                        personellen Einzelmaßnahmen festzulegen. Man habe        ler Mailtexte ebenso um seine Weiterbeschäftigung
                        nur prüfen müssen, welche Personen mit den Vorga-        fürchten wie Kollegen, die auf Fotos weiterhin mit
                        ben des anonymen Rasters übereinstimmen.                 Schlips zu sehen sind.
                            Nach Meinung der Rechtsanwälte einer großen              Die sich bei der LEP GmbH ausbreitende Sorge um
                        internationalen Anwaltskanzlei, die für den KDO-         den eigenen Arbeitsplatz veranlasst zahlreiche Be-
                        Konzern alle arbeits- und datenschutzrechtlichen         schäftigte, sich auf dem Arbeitsmarkt nach Alternati-
                        Themen bearbeitet, ist dieser Abgleich weder ein         ven umzusehen. Das sind zumeist am Markt gesuch-
                        Verstoß gegen die bei der LEP GmbH abgeschlosse-         te Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die der Konzern
                        nen Betriebsvereinbarung noch eine Verletzung des        eigentlich nicht verlieren will. Für die Erkennung von
                        geltenden Datenschutzrechts. Es seien ja schließlich     Abwanderungsgedanken gibt es ebenfalls anonyme
                        für die Erstellung der allgemeinen Raster mittels der    Verhaltensraster. Entsprechende Big-Data-Analysen
                        Big-Data-Analyse keinerlei personenbezogene Daten        haben beispielsweise festgestellt, dass ehemalige
                        verwendet worden. Dass die so gewonnenen Verhal-         Beschäftigte vor ihrer Kündigung deutlich weniger
                        tensmuster sich zur Identifikation bestimmter Perso-     und kürzere interne E-Mails geschrieben haben als
                        nen nutzen ließen, sei weder eine mitbestimmungs-        vorher. Dafür wurden ihre Posts im internen sozialen
                        pflichtige Verhaltens- oder Leistungskontrolle noch      Netzwerk länger und ihre Bewertungen der Arbeits-
                        eine unzulässige Verarbeitung von Daten. Vielmehr        ergebnisse von Kolleginnen und Kollegen kritischer.
                        handele es sich um eine datenschutzrechtlich legiti-     Werden diese Kriterien von im Konzern Beschäftig-
                        me Umsetzung berechtigter Interessen von Konzern         ten erfüllt, die über wichtige Qualifikationen verfü-
                        und Unternehmen mit dem Ziel, den wirtschaftlichen       gen, werden die zuständigen Personaler vom System
                        Bestand zu sichern. Eine derartige Verarbeitung sei      automatisch aufgefordert, ihnen attraktive interne
                        sowohl nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des noch gelten-    Weiterentwicklungsangebote zu machen. Die von
                        den Bundesdatenschutzgesetzes legitimiert als auch       der Software für entbehrlich gehaltenen Mitarbeiter
                        nach Artikel 6 Abs. 1 Buchstabe f) der künftigen Euro-   sollen hingegen mit Gerüchten über den Wegfall aller
                        päischen Datenschutzgrundverordnung.                     Arbeitsplätze in ihren Arbeitsfeldern versorgt werden,
                            Ein vom Betriebsrat eingeschalteter Datenschutz-     um ihre Entscheidungsfindung zu beschleunigen.
                        rechtsexperte bestätigt zwar, dass die Verarbeitung          Da in der Folge zahlreiche wichtige und gesuchte
                        anonymer Metadaten mangels Personenbezug so-             Spezialisten den KDO-Konzern verlassen, nehmen die
                        wohl vom aktuellen deutschen als auch vom künfti-        wirtschaftlichen Probleme zu. Nicht zuletzt deshalb
                        gen europäischen Datenschutzrecht nicht erfasst sei.     ist es im Herbst 2018 für einen Mitbewerber ganz ein-
                        Er verweist aber gleichzeitig darauf, dass einer Beru-   fach, den gesamten KDO-Konzern auf der Grundlage
                        fung auf die von den Arbeitgeberanwälten genannten       eines milliardenschweren „feindlichen“ Übernahme-
                        Anspruchsgrundlagen überwiegende Interessen der          angebots günstig zu kaufen. Dem Mitbewerber wur-
                        Beschäftigten entgegenstehen. Damit sei die Anwen-       de die Übernahme durch Informationen und Poten-
                        dung des anonymen Rasters auf Beschäftigte der LEP       zialanalysen erleichtert, die seit Anfang 2018 in der
                        GmbH nach seiner Meinung datenschutzrechtlich            „Platin Grasshooper-Business-Version“ von Ai1 ent-
                        unzulässig.                                              halten sind. Grundlage dieser Informationen sind un-
                            Die Konzernleitung hat kein Problem damit, der       ter anderem die Vergleiche und Analysen der sozialen
                        Geschäftsleitung der LEP GmbH und dem Betriebsrat        Graphen, die HIG über alle Kundenunternehmen des-
                        die Eckpunkte der vorgenommenen Rasterung mit-           halb vornehmen kann, weil ihm alle Beziehungsdaten
                        zuteilen. So sollen beispielsweise jene Beschäftigte     als Metadaten zur Weiterentwicklung von Ai1 zur Ver-
                        gekündigt werden, die dank des sozialen Graphen          fügung stehen. So ist es möglich, strukturelle Ähn-
                        nachweisbar innerhalb des Gesamtunternehmens nur         lichkeiten zwischen den sozialen Graphen erfolgrei-
                        unzureichend vernetzt sind. Definiert wird die unzu-     cher Unternehmen herauszufiltern und Erfolg-Scores
                        reichende Vernetzung von der Konzernspitze nach all-     zu berechnen. Diese Metadaten haben nach Aussage
                        gemeinen Richtwerten und nach sogenannten Social         von HIG keinen Personenbezug und werden deshalb
                        Scores – „sozialen Punkte“, die mittels der Big-Data-    vom deutschen und europäischen Datenschutzrecht
                        Analyse für den Gesamtkonzern errechnet wurden.          nicht geschützt.

Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 8
DIE VERMESSUNG DER BELEGSCHAFT - MITBESTIMMUNGSPRAXIS Mining the Enterprise Social Graph - Hans-Böckler-Stiftung
Der Softwarehersteller HIG verzeichnet 2018 den                Heutzutage wird eine große Anzahl solcher Sys-
höchsten weltweiten Nettogewinn der Unterneh-                 teme angeboten. Zu den bekanntesten und wohl
mensgeschichte. Die Mitglieder des Top-Manage-                am weitesten entwickelten gehören beispielsweise
ments des KDO-Konzerns, die die Einführung von Ai1            Yammer, Connections, Sharepoint, Jive und Chatter.1
beschlossen haben, scheiden nach Zahlung hoher                Schauen wir uns zunächst die Funktionalität dieser
Abfindungssummen aus. Der Betriebsrat der LEP                 innerbetrieblichen sozialen Netze etwas genauer an
GmbH versucht im Rahmen seiner kollektivrechtli-
chen Möglichkeiten, zu retten, was noch zu retten ist.
                                                              DIE EINEN WURDEN ZUNÄCHST ALS KOMFORTABLE DATEI-
                                                              ABLAGESYSTEME FÜR DIE GEMEINSAME NUTZUNG KON-
                                                              ZIPIERT. ANDERE SYSTEME WURDEN VON ANFANG AN ALS
3     ENTSTEHUNG DES INNER-                                   INNERBETRIEBLICHE SOZIALE NETZE KONZIPIERT.
      BETRIEBLICHEN SOZIALEN
      GRAPHEN                                                 und beginnen beim Profil. In diesen Systemen legt
                                                              der einzelne Nutzer ein Profil an, das einerseits Fakten
Arbeit ist immer auch Zusammenarbeit, Kommunika-              enthält wie den Namen, die organisatorische Zugehö-
tion und Kooperation mit anderen. Tatsächlich dauerte         rigkeit und die Adresse. Ergänzt wird das Profil meist
es eine Weile, bis das überhaupt zum Gegenstand der           durch Texte, in denen man sich etwas genauer oder
Informationstechnik geworden ist. Digitale Telefon­           auf besondere Weise vorstellt. Das Profil kann mit Bil-
anlagen kamen auf und irgendwann war es möglich,              dern versehen sein. Mit dem Profil existiert der Nut-
anderen eine E-Mail zu schicken. Das hat sich in den          zer im System, andere können auf das Profil zugreifen
letzten Jahren grundlegend geändert: Kommunikation            und sich einen Eindruck von dieser Person verschaf-
und Kooperation wurden zum zentralen Gegenstand               fen. Der Netzwerkcharakter tritt besonders durch
informationstechnischer Unterstützung. Anfangs dis-           den Newsfeed bzw. Social Feed zu Tage – mitunter
kutierte man unter dem Begriff Computer Support for           schlicht als Unterhaltung bezeichnet. Man kennt es
Cooperative Work (CSCW) zunächst einfache Formen              von Facebook: Im Social Feed erscheinen all die Neu-
der Zusammenarbeit, etwa das gemeinsame Arbeiten              igkeiten und Mitteilungen (Posts) von anderen Men-
an Dokumenten, die gemeinsame Ablage von Datei-               schen, mit denen man verbunden ist. Verbunden sein
en und die Organisation von Projekten. Heute werden           heißt, man „folgt“ diesen Personen: Man registriert
alle Formen der Kommunikation und Kooperation un-             alles, was diese Person „postet“, weil man annimmt,
terstützt. Die entsprechenden Systeme sind hochinte-          dass es für den eigenen Job hilfreich sein könnte.
griert, bieten verschiedenste Medienformate (Video,           Man folgt aber nicht nur anderen Personen – man
Telefon, Mail) und eine große Vielfalt kooperativer           kann auch Dokumenten folgen,
Werkzeuge. Sie unterstützen nahezu jede Form der              indem man im Social Feed da-
Zusammenarbeit von Beschäftigten in den Unterneh-             rüber informiert wird, wenn je-         DER NETZWERKCHARAKTER
men und auch über deren Grenzen hinweg, kennen                mand an dem Dokument wei-
                                                                                                      TRITT BESONDERS DURCH
ihre Abläufe und zeichnen sie mit ungeheurer Präzisi-         tergearbeitet, es verändert oder
on minutiös auf. Es entsteht der sogenannte Enterpri-         auch gelöscht hat. Auch wenn            DEN NEWSFEED ZU TAGE.
se Social Graph: der innerbetriebliche soziale Graph.         das Dokument einem Dritten
                                                                                                      MAN REGISTRIERT AL-
                                                              weitergegeben bzw. mit ihm
                                                              „geteilt“ wurde (engl. sharing),        LES, WAS DIESE PERSON
3.1   Innerbetriebliche digitale soziale Netzwerke            erscheint das im Feed. Ebenso
                                                                                                      „POSTET"
                                                              kann man interessanten The-
Es ist nicht leicht, einen Begriff zu finden, der alle Sys-   men folgen (sogenannten Hash-
teme umfasst, die die innerbetriebliche Kommunika-            tags, siehe im Folgenden): In diesem Fall erscheint
tion und Zusammenarbeit komplex unterstützen. Die             ein Post im Feed, wenn jemand etwas Neues zu die-
Entstehungsgeschichte ist so manchem System noch              sem Thema schreibt.
heute anzumerken aber die Konvergenz ist deutlich                Die Posts, die im Feed erscheinen, sind oft sehr
sichtbar. Die einen wurden zunächst als komfortab-            kurz und werden auch Microblogs genannt. Von ei-
le Dateiablagesysteme für die gemeinsame Nutzung              nem Blog spricht man, wenn sich ein Nutzer mit einer
konzipiert. Es handelte sich eher um Dokumenten-              gewissen Regelmäßigkeit an andere wendet, um sei-
managementsysteme mit gleichzeitiger Organisation             ne Gedanken und Ideen zu bestimmten Dingen zu for-
von Teamarbeit. Andere Systeme wurden von Anfang              mulieren und zur Diskussion zu stellen. Blogs kennt
an als innerbetriebliche soziale Netze konzipiert, an-        man in diesem Zusammenhang von bestimmten Ex-
gelehnt an das, was etwa mit Facebook öffentlich              perten und auch das Management wendet sich gerne
intensiv genutzt wird. Dieser Begriff des innerbetrieb-       per Blog direkt an die Belegschaft. In einem Forum
lichen bzw. internen sozialen Netzes wird fortan un-
ter Vernachlässigung der bestehenden Unterschiede             1   Im Internet finden sich manche Gegenüberstellungen sol-
verwendet.                                                        cher Systeme: vgl. Rothstein 2013 und Weck 2013.

                                                                                                      Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 9
– oft einfach Diskussion genannt – wirft jemand eine      wird, dass man etwas gut findet, dass man freudig
                        Frage auf und bittet andere darum, ihm eine mög-          überrascht wird oder dass der Beitrag einfach weiter-
                                     lichst passende Antwort zu geben. Das        hilft. Neben diesem Like kann es auch differenziertere
                                     Grundprinzip eines Wikis kennen viele von    Wertungen, eine Art „reputation score“ geben. Damit

  MICROBLOG,                         Wikipedia. In einem solchen Wiki werden
                                     zumeist fachliche Inhalte verwaltet und
                                                                                  kann man sein Lob differenzierter, vielleicht auf einer
                                                                                  Skala von eins bis fünf abgeben. Man kann Personen
  FORUM, WIKI                        miteinander vernetzt. Mit ihnen kann Wis-    und Inhalte sogar lobpreisen (praise)2. Üblich ist auch,
                                     sen verwaltet werden, das z. B. in einem     dass beispielsweise derjenige, der eine Frage zur Dis-
                                     Projekt aufgebaut und allen Projektmit-      kussion gestellt hat, eine Auszeichnung für die beste
                                     arbeitern zur Verfügung gestellt wird. Im    Antwort vergeben kann. Allerdings kann man ein Like
                        dienstlichen Umfeld ist natürlich auch die Verwal-        auch mit einem „Unlike“ zurücknehmen und sein vor-
                        tung gemeinsamer Dokumente eine sehr wichtige             heriges Urteil revidieren.
                        Funktion.                                                     Alle Bewertungen können von Systemmanagern
                            In innerbetrieblichen sozialen Netzen werden also     in verschiedenste Rankings überführt werden. Erhält
                        – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise – In-         jemand viele Likes oder viele hohe Scores für seine
                        formationseinheiten wie Posts, Blogs, Diskussions-        Beiträge, kann er ausgezeichnet werden, oft symboli-
                        beiträge, Dokumente, etc. erzeugt, verwaltet und          siert durch einen Pokal, Diamant oder eine Krone. Der
                        bereitgestellt. Darauf kann man inhaltlich reagieren.     Score „Activity“ für besonders fleißige und rührige
                        Man kann dem Verfasser eines Posts antworten (re-         Beschäftigte kann aus verschiedenen Merkmalen ge-
                        ply), um vielleicht etwas zu ergänzen, zu loben oder      bildet werden: der Anzahl der erstellten Posts sowie
                        sich zu bedanken. Man kann solche Inhalte teilen,         der verfassten Antworten, der Rating-Werte und der
                        also an andere weitergeben, weil man der Meinung          „Besten Antwort“. Mit einem solchen Score kann ein
                        ist, dass das Geteilte auch für andere interessant sein   Nutzer dann gekennzeichnet werden – das Spektrum
                        könnte. Man kann solchen Inhalten folgen, weil man        reicht von „Anfänger“ bis „Superstar“.
                        wissen will, wie sich etwas entwickelt und weil man           Man sollte festhalten: In innerbetrieblichen sozi-
                        auf dem Laufenden gehalten werden möchte. Man             alen Netzwerken haben Nutzer die Möglichkeit auf
                        kann zu Blogbeiträgen oder in Diskussionen auch           vielfältige Art und Weise miteinander zu kommuni-
                        Kommentare abgeben, die für alle anderen, die dem         zieren und zu kooperieren. Jeder Kooperationsakt
                        Blog oder der Diskussion folgen, sichtbar sind. Wenn      setzt Nutzer und Dokument in eine Beziehung und
                        man sich auf einen Blog bezieht, dann kann man dem        wenn diese auch nur darin bestünde, dass eine Per-
                        Verfasser beipflichten, vielleicht etwas ergänzen oder    son A den Blog einer Person B gelesen hätte. Man-
                        auch widersprechen. Im Kontext eines Forums bzw.          che dieser Beziehungen sind quasi neutral. A hat eine
                        einer Diskussion, bei der am Anfang immer eine Fra-       Nachricht von B erhalten: Wie gezeigt, gibt es auch
                        ge steht, kann man versuchen, eine gute, passende         Beziehungen, die wertenden Charakter haben (like,
                        Antwort zu geben, um dem Fragenden weiterzuhel-           praise, unlike).
                        fen. Man hat auch die Möglichkeit, Informationsinhal-         Nahezu jeder kennt die Office-Produkte, mit de-
                        te zu verschlagworten. Dadurch entstehen Themen,          nen man Tabellenkalkulationen durchführen, Briefe
                        die mit einem bestimmten Begriff (Tag oder Hashtag)       schreiben und E-Mails verschicken kann. Das sieht
                        belegt werden. Diesen Themen kann man folgen und          zunächst nicht aus, wie ein soziales Netz. Erwähnen
                        erfahren, wie sie sich entwickeln. Man kann solche        muss man in diesem Zusammenhang Office 365, bei
                        Hashtags in Posts einfügen (meist versehen mit ei-        dem diese Beziehungsartigkeit auf der Hand liegt. Of-
                        nem vorangestellten #), womit dieser Post dann ein        fice 365 ist das Office-Angebot in der Cloud. Damit
                        Beitrag zur Diskussion dieses Themas wird, der wie-       liegen die gesamten Softwarebestandteile und alle
                        derum von Dritten als zum Thema gehörend gefunden         Dokumente in der Cloud. Was welcher Nutzer mit
                        werden kann. Man kann andere Personen erwähnen            welchem Softwaretool an welchem Dokument macht
                        (mention). In einem Post an eine Person nimmt man         oder was er wem schickt, alles wird aufgezeichnet.
                        Bezug auf einen Dritten und kennzeichnet den Namen        So bildet sich ein sozialer Graph gigantischen Ausma-
                        mit einem vorangestellten „@“. Das führt dazu, dass       ßes – und das nicht alleine bei einem Unternehmen.
                        der so Erwähnte auch diesen Post bekommt. So kann         Er entsteht zusammen mit allen anderen sozialen Gra-
                        er erfahren, wenn an anderer Stelle Dinge geschehen,      phen der Unternehmen, die Office365 nutzen. Alle
                        die für ihn relevant sein könnten oder mit denen er in    diese sozialen Graphen entstehen bei Microsoft.
                        Verbindung gebracht wird.
                            Besonders beliebt ist es, in sozialen Netzen Wer-
                        tungen vorzunehmen. Das gilt auch für innerbetrieb-       3.2    Der innerbetriebliche soziale Graph
                        liche soziale Netze, allerdings mit dem wichtigen
                        Unterschied, dass diese Wertungen in einem dienst-        Wir nähern uns dem Kern dieser Ausarbeitung: dem
                        lichen Kontext innerhalb der betrieblichen Hierarchie     innerbetrieblichen sozialen Graphen oder dem Enter-
                        vorgenommen werden. Man kann andere Personen              prise Social Graph, wie er im Englischen zuweilen ge-
                        loben (like) und damit zum Ausdruck bringen, dass         nannt wird. Zunächst: Das Thema ist nicht ganz neu.
                        man diesen Menschen einfach gut findet. Zumeist
                        werden aber Inhalte „geliked“, womit wohl gesagt          2   Microsoft 2011

Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 10
Telefonanlagen halten fest, wer wie lange mit wem                              allen Empfängern entsteht eine Beziehung mit der Be-
telefoniert hat. Das rückte diese Anlagen früh in den                          deutung „Post empfangen“. Zwischen dem Verfasser
Blick der betrieblichen Interessenvertretung. Hät-                             eines Blogs und seinen Lesern entstehen Beziehun-
te die Telefonanlage alle Gespräche umfassend und                              gen mit der Bedeutung „Blog gelesen“. Kommentiert
dauerhaft danach ausgewertet, mit wem die beiden                               jemand einen Blog, entsteht eine Beziehung in die
Telefonbenutzer ansonsten noch telefoniert haben,                              andere Richtung. Viele Aktionen in den Netzwerken,
wäre schon damals ein sozialer Graph „Telefonieren“                            wie etwa das Liken, und die Formen des Ratings und
entstanden, aus dem man hätte lesen können, wer                                Scorings haben wertenden Charakter. Sie sagen aus,
mit wem wie oft bzw. nie telefoniert etc. Heute ist das                        dass jemand einen anderen mag oder dass er mag,
Telefonieren als direkte Form der persönlichen Kom-                            begrüßt, gut findet, was der andere gemacht hat. Es
munikation zusammen mit dem Chatten, Mailen und                                entsteht also eine positive Beziehung zwischen die-
dem Videogespräch nur noch eine – an Bedeutung                                 sen beiden Personen – zunächst einseitig, denn es
                               verlierende – Art der                           ist nicht impliziert, dass sie auf Gegenseitigkeit be-
                               Kommunikation,       die                        ruht. Eine gegensätzliche, Ablehnung ausdrückende
                               mit allen anderen For-                          Beziehung entsteht, wenn jemand sein Like wieder
 TELEFONIEREN /                men der Kommunika-                              zurücknimmt.
                               tion und Kooperation                               In den innerbetrieblichen sozialen Netzen werden
       E-MAIL
                               in den hochintegrier-                           alle diese Ereignisse minutiös aufgezeichnet und aus
 AUSGETAUSCHT /                ten innerbetrieblichen                          ihnen wird der soziale Graph erstellt.3 Er hält umfas-
POST EMPFANGEN/                Netzwerken      zusam-                          send und präzise fest, wer mit wem auf welche Weise
   BLOG GELESEN                mengefasst ist. Große                           interagiert. Es entsteht das Abbild des innerbetrieb-
                               Teile der betrieblichen                         lichen Zusammenhangs, des sozialen, kommunika-
                               Zusammenarbeit wer-                             tiven Miteinanders (vgl. Abbildung 1). Solche Graphen
                               den damit digital un-                           sind in der Mathematik sehr gut untersucht und in
                               terstützt und vom Sys-                          der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse nutz-
                               tem genauestens auf-                            bar gemacht worden. Letztere ist in der Lage, auf der
gezeichnet. Es entsteht der soziale Graph. Verschickt                          Basis des sozialen Graphen weitreichende Aussagen
ein Absender eine E-Mail an einen Empfänger, ent-                              zu Stellung, Bedeutung und Ansehen von Akteuren
steht dadurch eine Beziehung zwischen den beiden                               zu machen. Durch sie können Gruppen erkannt und
mit der Bedeutung „E-Mail ausgetauscht“. Postet ein                            deren Zusammenhalt bewertet werden. Sie ist in der
Mitarbeiter eine Mitteilung, wird sie von allen emp-
fangen, die ihm folgen. Zwischen dem Verfasser und                             3   Vgl. Vala 2015

                                                                                                                                            Abbildung 1

Office Graph von Microsoft

Quelle: Microsoft Support Office Online, https://support.office.com/en-us/article/How-does-Office-Delve-know-what-s-relevant-to-me-
048d502e-80a7-4f77-ac5c-f9d81733c385 [17.11.2017])

                                                                                                                               Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 11
Lage einflussreiche Personen zu bestimmen, Einfluss-      anhand eines Graphen formal nachgewiesen hat,
                        sphären abzugrenzen und den Informationsfluss an-         dass es in Königsberg, wo damals sieben Brücken
                        hand sozialer Graphen zu erklären.                        über die Pregel führten, keinen Weg gab, bei dem
                                                                                  man jede Brücke nur einmal überquerte und dann
                                                                                  zum Ausgangspunkt zurückkam.4
                                                                                     Betrachtet man den mathematischen Graphen
                                                                                  genauer, muss man grundlegend unterscheiden zwi-
                        4      GRAPHEN IN DER MATHEMATIK                          schen ungerichteten und gerichteten Graphen. Dies
                                                                                  hängt mit den Merkmalen der Beziehungen zusam-
                                                                                  men, die er abbildet. Es gibt Beziehungen, die gelten
                                                                                  in beide Richtungen gleichermaßen (= ungerichtet)
                        4.1    Graphen und Matrizen zur Veranschaulichung         – etwa die Direktflugverbindungen (vgl. Abbildung 2):
                                                                                  Die Maschinen der Fluggesellschaft fliegen sowohl
                        Wir alle kennen Graphen und nutzen sie, meist ohne        in die eine Richtung als auch in die andere Richtung.
                        uns für die mathematischen Eigenschaften zu interes-      Diese Symmetrie gilt nicht mehr bei einem Graphen,
                        sieren: Wir sind es gewohnt, dass ein Familienstamm-      der abbildet, wer wen kennt. Freunden kennen sich
                        baum mit Kästchen und Pfeilen dargestellt wird; wir       gegenseitig; einen Schauspieler kennen viele Men-
                        lesen aus einer ähnlichen Skizze heraus, wie eine         schen, doch er kennt viele dieser Menschen nicht. Im
                        Verwaltung aufgebaut ist. Auch aus Abbildung 2 las-       sozialen Graphen gibt es viele gerichtete (= einseitige)
                        sen sich schnell die europäischen Flugstrecken einer      Beziehungen: wenn jemand einen anderen liked oder
                        Fluggesellschaft lesen – mit wenigen Zusatzinforma-       eine E-Mail versendet. Ein Graph, der nur festhält,
                        tionen (mathematische Begriffe in Klammern): Krei-        dass telefoniert wurde, wäre dagegen ungerichtet.
                        sen (Knoten), in denen der Name der Stadt mit dem            Ein ungerichteter Graph kann nur symmetrische
                        Flughafen steht; Linien (Kanten) zeigen die Direktflü-    Beziehungen abbilden. In einem gerichteten Graphen
                        ge der Fluggesellschaft an – in beide Richtungen (un-     dagegen lassen sich Beziehungen darstellen, die nur
                        gerichtet); Zahlen (Bewertungen) an den Linien geben      in die eine, nur in die andere oder auch in beide Rich-
                        die Luftlinienentfernung zwischen zwei Städten an.        tungen gleichermaßen bestehen. Bei gerichteten Gra-
                           Graphen und Tabellen, in der Mathematik Matrizen       phen wird die Richtung der Beziehung durch Pfeile
                        genannt, hängen eng zusammen. Auch Tabellen kön-          verdeutlicht.
                        nen wir gut lesen. Die nachfolgende Tabelle hat grund-       Ein Graph G besteht – mathematisch gesehen –
                        sätzlich den gleichen Aussagewert wie der Graph in        aus zwei Mengen: der Menge von Knoten K und der
                        Abbildung 2: In der obersten Zeile und der linken Spal-   Menge von Kanten k. Anders ausgedrückt:
                        te stehen die Städte mit Flughafen; die Zahlen in den                               G=(K,k)
                        Zellen dazwischen zeigen die Flüge zwischen den je-          Im Beispiel der Fluglinien entsprechen die Städte
                        weiligen Städten inklusive der Entfernung. Bei fehlen-    den Knoten. Die Kanten sind die Beziehungen zwi-
                        der Zahl besteht keine Flugstrecke dieser Gesellschaft    schen den Knoten. Sie verbildlichen die Tatsache,
                        zwischen diesen Städten. Bei Betrachtung von Graph        dass zwischen zwei Städten, die mit einer Linie ver-
                        und Matrix fällt auf, dass von manchen Städten viele,     bunden sind, Flugzeuge einer bestimmten Fluggesell-
                        von anderen nur wenige Flugstrecken ausgehen und          schaft hin und auch her fliegen.
                        dass zwischen bestimmten Städten gar keine Verbin-           Zu Graphen lassen sich viele, oft unmittelbar ein-
                        dungen bestehen.                                          sichtige Aussagen treffen, die einiger grundlegender
                           Solche Graphen sind für uns Menschen deshalb so        Begriffe bedürfen: Kanten verbinden zwei Knoten.
                        nützlich, weil sie uns nach wenigen Blicken bestimm-      Letztere werden als Endpunkte der Kante bezeichnet.
                        te Fragen beantworten: Von wo kann ich nach War-          In einem ungerichteten Graphen ist eine Kante durch
                        schau fliegen? Kann ich mit dieser Fluggesellschaft       die Nennung der beiden Endpunkte bestimmt: besteht
                        von Madrid nach Prag fliegen? Welcher ist der kürzes-     etwa die Kante Rom / Madrid, ist das die gleiche Kante
                        te Weg von Prag nach Rom (vgl. Abbildung 3)?              wie Madrid / Rom. In einem gerichteten Graphen wä-
                           Zwar fehlen dem Graphen und der Tabelle not-           ren das zwei unterschiedliche Kanten. Ein Pfeil würde
                        wendige Angaben für eine konkrete Reiseplanung            von Rom nach Madrid, der andere von Madrid nach
                        (Flugstrecken anderer Gesellschaften, Abflug- und         Rom zeigen. Ein Pfeil könnte fehlen, wenn man zwar
                        Ankunftszeiten etc.); dennoch beantworten beide           von Madrid nach Rom, aber nicht von Rom nach Ma-
                        Darstellungsformen schnell die wichtigsten Fragen.        drid fliegen könnte.
                                                                                     Die Endpunkte müssen nicht verschieden sein, wie
                                                                                  es in der Mathematik formuliert wird. Das bedeutet,
                        4.2    Eigenschaften von Graphen                          eine Kante beginnt und endet an demselben Knoten
                                                                                  – eine sogenannte Schlinge. Im Beispiel der Fluglinien
                        Die Graphentheorie ist das Gebiet in der Mathema-         macht das allerdings wenig Sinn; es würde nämlich
                        tik, das sich mit den formalen Eigenschaften von Gra-     bedeuten, dass ein Flugzeug in Frankfurt startet, um
                        phen beschäftigt und in anderen wissenschaftlichen        dann unmittelbar wieder in Frankfurt zu landen. So-
                        Disziplinen, z. B. der Informatik, vielfach Anwendung
                        findet. Sie soll auf Leonhard Euler zurückgehen, der      4   Vgl. Krumke / Noltemeier 2012

Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 12
Abbildung 2

Fluglinien als Graph*

Quelle: Eigene Darstellung, * Zahlen entsprechen Kilometern

                                                                                                                                            Abbildung 3

Fluglinien als Tabelle oder Matrix *

                   Frank-        Paris       London           Madrid   Rom     War-   Moskau   Prag     Wien       Brüssel       Lissa-      Dublin
                    furt                                                      schau                                               bon

Frankfurt                         479           639                            891     2023    410                    318
Paris                                           344            1054                    2489                                       1455
London                                                         1264           1450                                    321
Madrid                                                                 1365                             1811         1318
Rom                                                                           1316     2377                          1174
Warschau                                                                                                 556
Moskau                                                                                         1669
Prag                                                                                                     251
Wien                                                                                                                  915
Brüssel
Lissabon                                                                                                                                      1640
Dublin

Quelle: Eigene Darstellung, * Zahlen entsprechen Kilometern

                                                                                                      Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 13
genannte einfachen Graphen weisen – wie im besag-          spiels aufweisen: Ein solcher Graph wäre nicht ver-
                        ten Beispiel – keine Schlingen auf.                        bunden. Er bestünde aus zwei Teilen. Eine Brücke ist
                            Zwei Knoten, die durch eine Kante verbunden sind,      eine Kante, die zwei Teilgraphen verbindet. Entfernt
                        werden als Nachbarn oder adjazent bezeichnet. Das          man aus einem zusammenhängenden Graphen eine
                        gilt etwa für die Flughäfen von Moskau und Paris, die      Brücke, ist er danach nicht mehr zusammenhängend.
                        im Graphen mit einer Kante verbunden sind und in der       Im Beispielgraphen ist die Kante Paris / Lissabon eine
                        Matrix einen gemeinsamen Eintrag haben. Dies be-           Brücke. Entfernt man sie, trennt man den Teilgraphen
                        sagt, dass man zwischen Moskau und Paris hin und           Lissabon / Dublin vom Rest des Graphen ab. Führt
                        her fliegen kann. Beide Städte sind also hinsichtlich      das Entfernen eines einzelnen Knoten dazu, dass ein
                        der Beziehung Direktflug Nachbarn – geographisch           Graph getrennt wird, also in Teile zerfällt, nennt man
                        gilt das natürlich nicht.                                  diesen Knoten einen Gelenkpunkt. Ein Graph ist voll-
                            Der Grad eines Knotens bezeichnet die Anzahl der       ständig, wenn jeder Knoten Nachbar von jedem ande-
                        Kanten, für die der Knoten Endpunkt ist. Im Beispiel       ren Knoten ist. Einen Teilgraphen in sozialen Graphen
                        der Fluglinien hat der Knoten Prag den Grad drei,          mit dieser Eigenschaft nennt man eine Clique (vgl.
                        denn Prag ist per Direktflug mit drei anderen Städten      Kapitel 5.3).
                        verbunden. Der Knoten Paris hat dagegen den Grad              Soweit einige wichtige Eigenschaften von Gra-
                        sechs. Das leuchtet direkt ein; denn man geht selbst-      phen. Mit ihnen ist man bereits in der Lage, die wich-
                        redend davon aus, dass in Paris mehr Flugverkehr           tigsten Eigenschaften und Interpretationen der sozial­
                        abgewickelt wird als in Prag – eine erste beiläufige       wissenschaftlichen Netzwerkanalyse im Folgenden
                        Interpretation einer Graph-Eigenschaft, auf die wir        nachzuvollziehen.
                        beim sozialen Graphen zurückkommen werden (vgl.
                        Kapitel 5.1.1). In einem Graphen können aber auch völlig
                        isolierte Knoten mit dem Grad Null existieren. Isolier-
                        te Knoten sind nicht erreichbar, denn es gibt keinen
                        Weg, der an dem isolierten Knoten endet. Im Beispiel       5    SOZIALWISSENSCHAFTLICHE
                        der Fluglinien wäre das sinnlos.
                                                                                        ANALYSE SOZIALER NETZE
                            In gerichteten Graphen kann man den Grad eines
                        Knotens nicht so einfach bestimmen. Dort hat ja die        Die mathematische Graphentheorie hat Eingang ge-
                        Kante die Form eines Pfeils, der von einem Knoten          funden in die sozialwissenschaftliche Netzwerkanaly-
                        ausgeht und am anderen endet. Diese Pfeile haben           se, ein Teilgebiet der Soziologie. Ihr Untersuchungs-
                        auch immer eine Bedeutung: In einem sozialen Gra-          gegenstand sind soziale Netzwerke, also soziale
                        phen etwa kann eine Person einer anderen folgen,           Handlungszusammenhänge, in denen Menschen oder
                        ohne dass dies in der umgekehrten Richtung eben-           auch Gruppen von Menschen miteinander umgehen.
                        falls gilt. In diesem Fall ist relevant, ob von einem      Eine Familie, ein Dorf, ein Verein, ein Unternehmen,
                        Knoten der Pfeil ausgeht oder ob er dort endet. In ei-     eine Abteilung, Facebook: Das alles sind soziale Netz-
                        nem Graphen, dessen Kanten zeigen, wer wen kennt,          werke. Man kann sie als Graph oder Matrix auffassen
                        werden bei einem Prominenten viele Pfeile enden;           und darstellen. Die Knoten sind dann die Akteure, die
                        von ihm werden aber nur wenige Pfeile ausgehen.            mit anderen Akteuren über Beziehungen bzw. Relatio-
                        Wegen der Bedeutung der Pfeilrichtung unterschei-          nen verbunden sind. Die Art dieser Beziehungen kann
                        det man bei einem Knoten den Eingangsgrad (gibt            sehr vielfältig sein: Verwandtschaft, Freundschaft,
                        die Zahl der Pfeile an, die am Knoten enden) und den       Weisungsrecht, Berichtspflicht etc. Der Graph kann
                        Ausgangsgrad (gibt an, wie viele Pfeile vom Knoten         auch Unterstützung ausdrücken oder Wertungen wie
                        ausgehen). Ein isolierter Knoten hat sowohl den Ein-       das Like oder das Folgen. Auch Interaktionen wie
                        gangs- als auch den Ausgangsgrad Null.                     einander zu treffen, miteinander zu sprechen oder
                            In einem Graphen spricht man von einem Weg, ei-        Mitteil­ungen auszutauschen stellen Beziehungen in
                        nem Pfad oder auch von einer Kantenfolge zwischen          einem sozialen Netz dar. Die gleiche Menge von Ak-
                        zwei Knoten und meint damit alle Kanten, die man           teuren kann in verschiedenen Beziehungen unterei-
                        „gehen“ muss, um von dem einen Knoten zu dem an-           nander verbunden sein, etwa als Arbeitskollegen in
                        deren Knoten zu gelangen. Ein Weg kann aus einer           Kooperationsbeziehungen und gleichzeitig in Freund-
                        einzelnen Kante bestehen, dann gelangt man direkt          schaftsbeziehungen. Die entsprechenden Graphen
                        zu einem Nachbarn. Ein Weg kann aber auch über             sehen naturgemäß anders aus. Man spricht auch von
                        mehrere Kanten gehen. Im Fluglinien-Beispiel gibt es       der Heterogenität oder Multiplexität der Relationen.
                        z. B. einen Weg von Brüssel nach Warschau über den             Jeder Mensch ist in verschiedene soziale Netz-
                        Knoten Frankfurt. Es gibt aber auch weitere Wege,          werke eingebunden: als Mitglied einer Familie, am
                        z. B. über die Knoten Madrid und Wien.                     Arbeitsplatz, im Verein. Dort gibt es sehr enge Bezie-
                            Man nennt einen Graphen zusammenhängend                hungen zwischen Personen, andere haben gar nichts
                        oder verbunden, wenn es – wie im Beispielgraphen           miteinander zu tun. Einige Personen sind sehr beliebt;
                        – von jedem Knoten zu jedem anderen Knoten einen           der eine erfährt fast durchgängige Wertschätzung,
                        Weg gibt. Man denke sich zwei weitere Flughäfen            ein anderer ist mehr oder weniger unbeliebt und iso-
                        dazu, die mit einer Kante verbunden sind, aber keine       liert. In sozialen Netzen gibt es Gruppen, die eng zu-
                        Kante zu einem der Flughäfen des bestehenden Bei-          sammen arbeiten und sich sichtbar von anderen ab-

Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 14
Abbildung 4                                                          Abbildung 5

Ungerichteter Graph                                              Gerichteter Graph

                 7              5              3                                  7              5                 3

    9                                4                    1          9                                  4                      1

                8               6              2                                 8               6                 2

Quelle: Tang / Liu 2010, S. 9                                    Quelle: Tang / Liu 2010, S. 9

grenzen. In sozialen Netzwerken gibt es also vieles zu           eingehen. „Soziale Netzwerke und ihre zentralen
beobachten: Menschen die Bedeutung und Ansehen                   Akteure können Wissensaustausch und Innovation,
besitzen, andere die am Rande stehen; Menschen                   Kreativität, Kooperations- und Veränderungsprozesse
nehmen Positionen ein und nehmen Rollen war; es bil-             unterstützen oder behindern.“7 Die Analyse der „auf
den sich Gruppen und es kommt zu Ausgrenzungen.                  dem Silbertablett“ präsentierten Daten des elektro-
   Die sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse setzt             nisch abgebildeten sozialen Netzwerks wird deshalb
bei den Akteuren nicht an persönlichen Merkmalen                 auf zunehmendes Interesse der Unternehmen stoßen.
(kategorialen Daten wie Alter, Geschlecht etc.) an,              (vgl. Abbildung 4 und 5)
sondern an der Art ihrer Eingebundenheit in das sozi-               In der sozialwissenschaftlichen Netzwerkanalyse
ale Netzwerk.5 Sie untersucht Stellungen und Positio-            werden verschiedene Analyseebenen unterschieden.8
nen, sucht nach Gruppen und analysiert die Qualität              Auf einer ersten Ebene werden die Merkmale und
ihres Zusammenhalts. Sie fragt nach Macht und Ein-               die soziale Stellung von einzelnen Akteuren unter-
fluss und legt Abläufe und Informationsprozesse of-              sucht. Auf der nächs-
fen. Die sozialwissenschaftliche Netzwerkanalyse ist             ten ­Ebene nimmt man
in der Lage, informelle Strukturen jenseits der formal           die Beziehungen in den      DIE SOZIALWISSENSCHAFTLICHE
intendierten sichtbar zu machen.                                 Blick. Eine Dyade ent-
                                                                                             NETZWERKANALYSE SETZT BEI DEN
   Bei der Analyse sozialer Netzwerke hat sich die               spricht der Beziehung
mathematische Graphentheorie als ein sehr hilfrei-               zwischen zwei, eine         AKTEUREN NICHT AN PERSÖNLI-
ches Instrument herausgestellt. Wissenschaftliche                Triade der Beziehung
                                                                                             CHEN MERKMALEN AN. SIE UN-
Arbeiten der Vergangenheit lassen es zu, Aussagen                zwischen drei Akteu-
zu sozialen Netzwerken auf einer sehr formalen Ba-               ren. Weiterhin unter-       TERSUCHT STELLUNGEN UND POSI­
sis zu treffen.6 Es wurden Maßzahlen und Algorith-               sucht man Gruppen
                                                                                             TIONEN, SUCHT NACH GRUPPEN UND
men entwickelt, mit denen Eigenschaften sozialer                 innerhalb eines Netz-
Netze berechnet und beschrieben werden können.                   werks und letztlich das     ANALYSIERT DIE QUALITÄT IHRES
Bemerkenswerterweise entstanden viele wichtige                   Gesamtnetzwerk.9
                                                                                             ZUSAMMENHALTS.
Arbeiten zu einem Zeitpunkt, als elektronische sozi-                Teile des sozialen
ale Netze noch völlig unbekannt waren. Heute aber                Netzes einer Beleg-
werden diese Vorarbeiten vielfach genutzt, um sie auf            schaft werden im Rahmen der innerbetrieblichen
die (öffentlichen) elektronischen sozialen Netzwerke             Kommunikations- und Kooperationssysteme elektro-
anzuwenden – zumeist zur Werbeoptimierung. Inner-                nisch auf innerbetriebliche Graphen abgebildet, die
betriebliche soziale Netze und damit die Belegschaft             man auswerten kann, um Aussagen über das soziale
mit diesen Methoden zu analysieren, ist noch nicht               Netz selbst zu machen. Bei den folgenden Erörterun-
stark verbreitet.                                                gen stehen die Auswertungen im Vordergrund, die
   Belegschaften sind soziale Netzwerke, in denen                Eigenschaftsbeschreibungen und Aussagen ermögli-
Menschen miteinander umgehen und Beziehungen                     chen, welche in einem betrieblichen Kontext relevant
                                                                 sein könnten.
5   Vgl. Thiel 2010
6   Den folgenden Ausführungen zur sozialwissenschaftlichen
    Netzwerkanalyse liegen folgende Quellen zugrunde: Was-       7   Thiel 2010, S. 79
    serman / Faust 1994; Jansen 2003; Trappmann et al. 2011;     8   Jansen 2003, S. 67
    Zafarani et al. 2014.                                        9   Jansen 2003, S. 58 ff.; vgl. auch Diaz-Bone 2006

                                                                                                         Mitbestimmungspraxis Nr. 10 · Januar 2018 Seite 15
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