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Dieser Artikel ist ein Auszug aus: Thomas Hardwig, Marliese Weißmann (Hrsg.) Eine neue Qualität der Zusammenarbeit im Unternehmen Die Arbeit mit Kollaborationsplattformen gestalten DOI: https://doi.org/10.3249/ugoe-publ-9
Fazit: Das Arbeiten mit Kollaborationsplattformen iterativ und ganzheitlich gestalten 10 Fazit: Das Arbeiten mit Kollaborationsplattformen iterativ und ganzheitlich gestal- ten Thomas Hardwig und Marliese Weißmann In neun Beiträgen wurde in diesem Buch der Einsatz und Lernprozess zu finden, der keineswegs linear von Kollaborationsplattformen bei wissensorien- verläuft und von Trial-and-Error-Erfahrungen ge- tierten Tätigkeiten aus verschiedenen Perspektiven prägt wird. Bei der Gestaltung und Implementierung beleuchtet. Was können wir festhalten? der Technik ist eine Vielfalt von Einflussfaktoren zu berücksichtigen, die nur begrenzt absehbar sind. Die drei Unternehmen haben sehr unterschiedliche 10.1 Potenziale und Herausforderungen Schwerpunkte für den Einsatz einer Kollaborations- des Arbeitens mit Kollaborations- plattform gesetzt und zeigen damit, welche Vielfalt plattformen an Möglichkeiten sich bieten. Die Xenon Automatisierungstechnik GmbH hat das Zunächst ging es darum, die Spezifika dieser Tech- Management von großen und kleinen Aufgaben in nik zu verstehen, um herauszufinden wo das beson- den Mittelpunkt der Entwicklung des digitalen Ar- dere Potenzial liegt, mit dem die Zusammenarbeit in beitsplatzes gestellt. In vier Teilprojekten wurden und zwischen Teams in einer Organisation sowie Lösungen für drei unterschiedlich komplexe Aufga- mit Personen oder Teams anderer Organisationen bentypen (Standardprozesse, Projektprozesse, Füh- verbessert werden kann. Hinsichtlich Transparenz rungsprozesse) entwickelt. In Kapitel 5 wird das und Vernetzung wird eine neue Qualität der Zusam- Teilprojekt der digitalen Prozessautomatisierung menarbeit möglich, die sich wesentlich von der bis- von Standardprozessen genauer beschrieben, wel- her durch E-Mail geprägten Form des Zusammenar- ches die Ausführung digitaler Workflows auf der beitens unterscheidet (Kapitel 3). Kollaborations- Kollaborationsplattform erreicht hat. Selbst wenn plattformen bieten dafür vielgefragte Kommunika- alle Teilprojekte erfolgreich waren, bleiben noch ei- tionsmöglichkeiten über Video-Konferenzen bzw. nige Schritte zu gehen bis die Vision eines digitalen Social-Media-Funktionen. Sie integrieren weitere Arbeitsplatzes, der alle erforderlichen Anwendun- Funktionen, damit an einem digitalen Arbeitsplatz gen einbindet und die zugehörige Kommunikation im Netz gemeinsam gearbeitet werden kann (Doku- aufgabenorientiert strukturiert, erreicht sein wird. menten-Verwaltung, gemeinsame Dateibearbei- Die Umsetzung der Vision hat sich als anspruchs- tung, Wissensaustausch) (Kapitel 5 bis 7). Sie kön- voller erwiesen als erwartet. nen auch Funktionen zur Digitalisierung von Stan- dardprozessen integrieren, um Arbeitsprozesse zu Bei der GIS Gesellschaft für InformationsSysteme optimieren und transparenter zu gestalten (Kapitel AG wurden ältere IT-Systeme zur Kollaboration 5). durch eine leistungsfähigere, zunehmend von Kun- den nachgefragte Kollaborationsplattform ersetzt Anhand von Umfragen bei Klein- und Mittelunter- und damit die interne Zusammenarbeit v.a. in der nehmen wurden zudem die Erfahrungen mit dem Projektarbeit vereinfacht und verbessert, u.a. durch Arbeiten mit kollaborativen Anwendungen aufge- Erleichterung des mobilen Arbeitens, Intensivie- zeigt. In hohem Maße wurde von positiven Erfah- rung der Teamkommunikation und mehr Möglich- rungen sowohl aus Sicht des Managements als auch keiten für das „Socializing“ (Kapitel 6). Das Bei- aus Sicht von Beschäftigten berichtet (Kapitel 2). spiel beschreibt eine schrittweise und beteiligungs- Jedoch wurden ebenso Risiken identifiziert, die auf- orientierte Vorgehensweise bei der Weiterentwick- grund der besonderen Merkmale von Kollaborati- lung des digitalen Arbeitsplatzes und steht für qua- onsplattformen (z.B. Transparenz, Vernetzung, Ge- litative Veränderungen in der Zusammenarbeit, die staltungsoffenheit) auftreten. Als Erfolgsbedingung durch die stärkere Durchgängigkeit und die Bedie- wurde eine menschenorientierte Arbeitsgestaltung nungsfreundlichkeit der Plattform angestoßen wur- identifiziert (Kapitel 3). den. Zudem wird sichtbar, wie schwierig in gewach- Die drei Unternehmensbeispiele (Kapitel 5 bis 7) senen Strukturen eine Ablösung von Alt-Systemen dokumentierten, dass Unternehmen sich – wie ein ist, welche einmal für bestimmte Organisationsbe- Projektpartner es ausdrückt – auf eine „Reise“ bege- reiche und Zwecke angepasst worden waren. ben, wenn sie die Zusammenarbeit mit Hilfe von Das dritte Beispiel von Carl Zeiss Digital Innova- Kollaborationsplattformen verbessern wollen. Trag- tion GmbH (Kapitel 7) beschäftigt sich mit der Un- fähige Lösungen für den Technikeinsatz und die Im- terstützung der räumlich verteilten Zusammenarbeit plementierung sind in einem längerfristigen Such- 147
Thomas Hardwig und Marliese Weißmann von hochintegrierten Teams in der Software-Ent- kann. Aber auch um Fragen der Autonomie im Ar- wicklung sowie der Nutzung einer Kollaborations- beitsprozess und der Transparenz bzw. öffentlichen plattform für die Förderung des unternehmenswei- Zugänglichkeit der Inhalte, und darum, welche For- ten Zusammenhalts („Community“). Die autonom men der Kontrolle realisiert werden. Die arbeitsbe- handelnden selbstgesteuerten, agilen Teams sollen zogenen Interessen der unterschiedlichen Beschäf- sich stärker als Teil einer gemeinsamen Firma wahr- tigtengruppen bei der Nutzung müssen sowohl in nehmen. Auslöser des Vorhabens war die – durch der betrieblichen Roadmap für die Kollaboration die Zusammenarbeit mit Kunden getriebenen – (d.h. der Unternehmensstrategie) berücksichtigt als wachsende Vielfalt der verwendeten Anwendungen, auch in betrieblichen (Betriebs-)Vereinbarungen ge- Kommunikationskanäle, Regularien und Arbeits- regelt werden. Dabei ist immer wieder aufs Neue weisen. Das im Rahmen einer partizipativen Projek- eine angemessene Balance zwischen Vorgaben und tarchitektur realisierte Vorhaben einer Plattform für Selbstorganisation in der Gestaltung zu finden. die „Community“ umfasste den gesamten Prozess der Bedarfsdefinition, Auswahl und Implementie- Bedeutung ganzheitlicher Arbeitsgestaltung rung der Anwendung. Das zentrale Ergebnis dieses Buches lautet, dass Die im Verbundprojekt CollaboTeam gemachten Unternehmen davon profitieren, wenn sie sich für betrieblichen Erfahrungen und der Stand der ein- die Nutzung einer Kollaborationsplattform einen schlägigen wissenschaftlichen Literatur mündeten ganzheitlichen Prozess der Arbeitsgestaltung vor- schließlich in zwei Gestaltungskonzepten zum Ein- nehmen und dabei nicht technikfixiert vorgehen, satz von Kollaborationsplattformen, um den Perso- sondern soziale und technische Aspekte integrativ nen, die in Unternehmen für die Arbeitsgestaltung behandeln. verantwortlich zeichnen oder sich daran aktiv betei- Sicherlich geht es am Ende darum, die Technik un- ligen, Orientierungswissen an die Hand zu geben, ter Beteiligung der Nutzerinnen und Nutzer auszu- wie sie die Arbeitssituation der Beschäftigten durch wählen und zu implementieren. Wozu eine aktive gezielte Maßnahmen verbessern können. Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Ar- Beide Modelle zielen auf eine menschenorientierte beitsanforderungen erfolgen sollte, um eine opti- Gestaltung der Arbeitsbedingungen und sind bei der male Unterstützung für die Ausführung der unter- Anwendung komplementär: Das Modell zur Gestal- schiedlichen Tätigkeiten zu finden. Dabei müssen tung des Arbeitens mit Kollaborationsplattformen auch konkurrierenden Ansprüche von Beschäftig- (Kapitel 4 und 8) gibt Hinweise zum Prozess der Ar- tengruppen verhandelt werden, um eine insgesamt beitsgestaltung und stellt die typischen Herausfor- gute Lösung zu finden. Viel wichtiger erscheinen derungen und möglichen Lösungsansätzen zu den uns anhand der gemachten Erfahrungen jedoch zwei inhaltlich zu bearbeitenden Gestaltungsfeldern vor. andere Ergebnisse zu sein: In den drei Betriebsbeispielen (Kapitel 5 bis 7) wer- den die Aktivitäten, die darauf bezogen im Einzel- Erstens müssen Unternehmen eine Zielvorstellung nen ergriffen worden waren, reflektiert. Sie zeigen für sich entwickeln, wie ihre Beschäftigten und wie betriebsspezifisch bei der Arbeitsgestaltung auf Teams in Zukunft effektiver und mit weniger Belas- die konkreten Bedingungen des Kontextes und auf tungen zusammenarbeiten sollen und welche exter- die Anforderungen der verschiedenen Beschäftig- nen Beschäftigten oder Teams dabei zu integrieren tengruppen reagiert werden musste. Mit unter- sind. Jedenfalls hat den drei Unternehmen (Kapitel schiedlicher Gewichtung waren in der Praxis jeweils 5 bis 7) eine solche Zielvorstellung sehr dabei ge- alle sechs Gestaltungsfelder zu bearbeiten, was be- holfen, die vielen kleineren und größeren Kurskor- legt, wie wichtig eine ganzheitliche Gestaltungsper- rekturen auf der Reise vornehmen zu können, ohne das Reiseziel aus den Augen zu verlieren. Denn es spektive für den Erfolg der Maßnahmen gewesen ist bei der Arbeitsgestaltung immer wieder notwen- ist. dig, auf neue Gegebenheiten und Erkenntnisse zu Die Gestaltungsempfehlungen zum Arbeiten mit reagieren und Anpassungen vorzunehmen, dabei Kollaborationsplattformen (Kapitel 9) zeigen den spielte dann die Gestaltung der technischen und or- möglichen Korridor der Gestaltung von Kollabora- ganisatorischen Mittel ebenso eine Rolle wie Füh- tionsplattformen in sieben Dimensionen auf. Dabei rung und Personalentwicklung. sind in sozio-technischer Perspektive sowohl gegen- Zweitens haben alle drei Unternehmen die Erfah- standsbezogene Entscheidungen über die Einsatz- rung gemacht, dass sie die Technik beherrschen, zwecke der Kollaborationsplattform und die Form der angestrebten Zusammenarbeit zu entscheiden, aber die Integration in die Arbeitsprozesse eine als auch weitergehende Ansprüche der Beschäftig- enorme Herausforderung darstellt. Dabei muss die Vielfalt der berechtigten Erwartungen und Ansprü- ten zu verhandeln. Hierbei geht es um das Lernen, che der verschiedenen Organisationsbereiche, wie die Kollaborationsplattform genutzt werden 148
Fazit: Das Arbeiten mit Kollaborationsplattformen iterativ und ganzheitlich gestalten Teams und Beschäftigtengruppen zusammengeführt und spezialisiertes Personal ohne definierte Aufga- werden. Zentraler Erfolgsfaktor für eine erfolgrei- ben in beliebigen Kombinationen selbstorganisiert che Nutzung von Kollaborationsplattformen bildet zusammenfindet, um anstehende Aufgaben zu erle- die Motivation der Beschäftigten, sich die neue digen. Auch virtuelle Organisationen sind ohne ihre Form des Zusammenarbeitens individuell aktiv an- IT-Infrastruktur nicht denkbar (Child 2015, S. 242), zueignen, die Nützlichkeit für ihre Teams zu entde- wobei es auch hier mehr um den imaginären virtu- cken und sie gemeinsam mitzugestalten. Dazu be- ellen Raum geht, in dem die Organisation in Erman- darf es einer klaren Nutzenerwartung für die kon- gelung physischer Gebäude und Artfakte existiert, kreten Tätigkeiten und die Kooperationszusammen- als um die Technik per se (Warner und Witzel 2004, hänge. Insofern muss die Arbeitsgestaltung gemein- S. 21). sam mit den Beschäftigten überzeugende Lösungen Generell befördern Globalisierung und Digitalisie- zur leichteren Arbeitsausführung, für Entlastungen rung die Auflösung klassischer Teams im Sinne bei der Kommunikation und Informationsversor- stabiler sozialer Gruppen mit klarer Mitgliedschaft gung sowie weitere Vorteile durch die Techniknut- und einem gemeinsamen Ziel (Wageman et al. zung erreichen. 2012). Auflösungen sind in verschiedener Hinsicht Je nach Reichweite der bei der Gestaltung verfolg- und teilweise überschneidend zu beobachten: Team- ten Lösungen verändert die Nutzung einer Kollabo- mitgliedschaften sind nicht nur bei Projektarbeit rationsplattform die Transparenz von Inhalten, die vielfach wechselnd und zeitlich begrenzt. Beschäf- Art und Weise wie Wissen geteilt wird und die Mög- tigte in der Wissensarbeit sind zudem parallel in un- lichkeiten, sich mit anderen zu vernetzen unter- terschiedlichen Teams tätig, die je eigene Ziele ver- schiedlich stark. Die Nutzung von Kollaborations- folgen. Bei virtuellen Teams können die Mitglieder plattformen wirft deshalb auch Fragen auf, wie weit darüber hinaus geografisch so verteilt sein, dass sie Selbstorganisation, Autonomie und die Verantwor- Schwierigkeiten bekommen, einen sozialen Team- tung der Beschäftigten reichen und wie Führung und zusammenhalt zu entwickeln. Zudem überschreiten die Kontrolle durch das Management gestaltet wer- viele Teams heute die Organisationsgrenzen, so den sollen (Kapitel 9). Insofern gehört auch die Be- dass beispielsweise ein gemeinsames Team mit Mit- wältigung von Veränderungen in der Kultur des Un- gliedern der Kundenorganisation gebildet wird ternehmens zu den Themen, die bei der Arbeitsge- (siehe Kapitel 8), was eigene Probleme erzeugt staltung berücksichtigt werden müssen. (Neumer und Nicklich 2021). In der Praxis treten diese Merkmale in Kombination auf und führen dazu, dass „fluide Teams“ entstehen, also Teams 10.2 Kollaborationsplattformen als Teil mit nicht immer eindeutiger Mitgliedschaft. Sie be- des Strukturwandels der Arbeit nötigen Unterstützung, um leistungsfähig zu sein (Bushe und Chu 2011). Viel spricht dafür, das Arbeiten mit Kollaborations- Kollaborationsplattformen könnten dabei helfen, plattformen nicht als eine temporäre Erscheinung zu zwei Kernprobleme fluider Teams abzumildern: betrachten, sondern als Teil des Strukturwandels Das fehlende Gefühl der Zugehörigkeit und die re- insbesondere wissensorientierter Arbeit. Die Ar- duzierte Leistungsfähigkeit (Bushe und Chu 2011, beitswelt verändert sich, auch unter Ausbreitung S. 183). Das Gefühl der Zugehörigkeit kann durch agiler Arbeitsformen (Boes et al. 2017), zu einer eine virtuelle Repräsentanz des Teams in einem stärker selbstorganisierten, vernetzten Zusammen- Teamraum einer Kollaborationsplattform gefördert arbeit in flexiblen, sich in immer neuen Kombinati- werden. Und die dort erzeugte Transparenz über die onen temporärer zusammenfindenden Formen der aktuelle Teamkonstellation und die individuellen Zusammenarbeit (Child 2015). Dafür stellen Kolla- Rollen und Verantwortlichkeiten in diesem Team borationsplattformen eine wichtige Voraussetzung können das Commitment für den Teamerfolg stär- dar. Denn umso dynamischer und wechselhafter die ken. Die Leistungsfähigkeit eines fluiden Teams jeweiligen Teamkonstellationen in Unternehmen kann dadurch verbessert werden, dass der Aufbau sind, desto mehr benötigen die Beschäftigten einen gemeinsam geteilter mentaler Modelle durch ein festen Bezugspunkt, an dem die Informationen zu- systematisches Wissensmanagement im Teamraum sammenlaufen und sie zumindest virtuell an einem beschleunigt wird (Bushe und Chu 2011, S. 185). digitalen Arbeitsplatz zusammenarbeiten können. Es wäre also im Strukturwandel durchaus ein wech- Beispiele für diese durch die Digitalisierung der Ar- selseitiger Bedingungszusammenhang vorstellbar: beit beförderten Trends ist das neue Organisations- Einerseits werden bei fluiden Teamkonstellationen leitbild der „Schwarm-Organisation“ (Neef und Kollaborationsplattformen verstärkt genutzt, um Burmeister 2005; Hirsch-Kreinsen 2015; Langes die Teamleistung abzusichern, andererseits verführt und Vogl 2019, S. 162), in der hochqualifiziertes die Verfügbarkeit von Kollaborationsplattformen 149
Thomas Hardwig und Marliese Weißmann vielleicht auch dazu, allen Erkenntnissen der Team- damit Teamräume angeboten und Netzwerke ge- forschung zuwiderlaufende Teamkonstellationen schaffen werden können, in denen sich die Einzel- (also Teams mit hochgradig fluider Zugehörigkeit; nen wieder als Teil einer sozialen Einheit erleben vielfache Multi-Teamzugehörigkeiten; räumliche können, eines Teams, einer Abteilung oder einer Isolation der Teammitglieder) in der Praxis verstärkt Community. einzusetzen. Andererseits besteht bei der Implementierung von Auch der Trend zu neuen offenen Bürokonzepten, Kollaborationsplattformen auch die Gefahr, dass der sehr stark durch kulturelle Vorstellungen und diese aufgrund ihrer Gestaltungsoffenheit und indi- Erwartungen an „New Work“ getrieben wird viduellen Nutzungsmöglichkeiten umgekehrt Frag- (Kingma 2019), benötigt einen virtuellen digitalen mentierungs- und Desintegrationstendenzen im Un- Arbeitsplatz, der von jedem Ort aus erreichbar ist. ternehmen verstärken; dieses Desintegrationspoten- Anders ist es nicht möglich, den festen individuellen tial wird in der Praxis oft mit Bildern wie „Wild- Arbeitsplatz im Büro abzuschaffen und auf ein orts- wuchs“ oder „Chaos“ umschrieben. flexibles und papierloses Arbeiten umzustellen. Eine wesentliche Ursache dafür ist der prinzipiell Diese Umstellung erfolgt mit der klaren Erwartung einfache Zugang zu verschiedenen digitalen Werk- erhöhter Produktivität der Wissensarbeit (Williams zeugen, der dazu verführt, individuellen Lösungen und LaBrie 2015). je nach bereichs- oder tätigkeitsspezifischen Präfe- Beschäftigte in der Wissensarbeit suchen für ihre renzen zu bevorzugen. Dies führt dazu, dass unter- Arbeit, gerade in Zeiten in denen das Homeoffice schiedliche Produkte mit vergleichbaren Funktionen der neue „normale Büroarbeitsplatz“ wird, die bes- parallel zum Einsatz kommen, an Stelle einer inte- ten Mittel, um ihre Arbeit und Zusammenarbeit zu grierten Lösung, bei der aber einzelne Nutzungs- organisieren. Dabei haben sie Erwartungen, wie sie gruppen evtl. Kompromisse machen müssten. digital kommunizieren und kooperieren wollen. Un- Je mehr die betriebliche Organisationsentwicklung ternehmen können, gerade mit Blick auf die Eng- auf Selbstorganisation setzt, desto stärker wird auch pässe bei der Suche nach Expertinnen und Experten die Verantwortung für die Gestaltung der Nutzung auf dem Arbeitsmarkt, ihren Beschäftigten diese der Kollaborationsplattform an die operative Ebene, technologischen Arbeitsmittel wie Kollaborations- an die Nutzerinnen und Nutzer selbst, vergelagert. plattformen kaum noch vorenthalten. Diese stehen Diese entwickeln bestimmte Nutzungsweisen, die symbolisch für eine „moderne“ Form der Arbeit und aber in der Kooperation mit Kolleginnen und Kolle- sind eine Form der nicht-monetären Gratifikation gen aus weiteren Teams abgestimmt werden müs- bzw. Teil eines Tauschverhältnisses von produkti- sen. Unterschiedliche Nutzungspraktiken entstehen, ver Arbeitsleistung gegen erweiterte raum-zeitliche denen z. B. ein gemeinsames Dach an Nutzungsre- Autonomiespielräume (Kleemann 2017, S. 223). geln für die Dokumentenablage etc. fehlt. Es lassen sich also unterschiedliche Treiber für eine Die Verwendung von Kollaborationsplattformen verstärkte Nutzung von Kollaborationsplattformen muss daher koordiniert werden (in Teams / Berei- identifizieren, die insbesondere mit der Hoffnung chen / der Organisation), um mit möglichen Frag- verbunden sind, zur Lösung von Integrationsproble- mentierungen umzugehen bzw. diese einzugrenzen. men der sich in verschiedener Hinsicht verflüssigen- Dass es nicht leichtfällt, die Einsatzzwecke der IT- den Organisation moderner Unternehmen beizutra- Werkzeuge festzulegen, die Vielfalt der Anwendun- gen (Hardwig 2019). gen zu begrenzen und die unterschiedlichen Rege- lungen ihrer Nutzung unternehmensweit zusam- 10.3 Gefahren der Nutzung von Kollabora- menzuführen, wurde gezeigt (Kapitel 5 bis 7). Die tionsplattformen Suche nach einem digitalen Arbeitsplatz, wie Kolla- borationsplattformen sie anstreben, bleibt eine An- näherung und bildet eine Orientierung, wie die drei Potentiale der Nutzung von Kollaborationsplattfor- Unternehmensbeispiele verdeutlichen. Die Verwen- men stehen bestimmte Gefahren gegenüber, von de- dung von Kollaborationsplattformen schafft auch nen wir drei herausheben wollen. neue Koordinationsprobleme in der Zusammenar- Desintegration beit (Weißmann 2021 i.E.). So zum Beispiel entste- hen diese angesichts der Transparenz von Daten o- Einerseits können Kollaborationsplattformen hel- der dem Ein- bzw. Ausschluss von Personen in be- fen, die desintegrativen Wirkungen verstärkter stimmte virtuelle Räume der Zusammenarbeit auf Selbstorganisation, fluider Teamkonstellationen der Kollaborationsplattform. und virtueller Zusammenarbeit zu begrenzen, indem 150
Fazit: Das Arbeiten mit Kollaborationsplattformen iterativ und ganzheitlich gestalten Autonomie oder erweiterte Management-Kontrolle Scheideweg befindet: Auf der einen Seite zeichnet sich das Bild einer Arbeitswelt ab, in der auch Kopf- Das zweite Risiko liegt in dem Potenzial erweiterter arbeit ‚wie am Fließband‘ organisiert und zuneh- Management-Kontrolle. Dieses Problem tauchte in der vom Projekt CollaboTeam verkörperten Welt mend austauschbar wird. Diese verbindet sich mit hochqualifizierter Wissensarbeit mit sehr kundenin- einer neuen Qualität von Kontrolle im Zuge der in- dividuellen Produkten nur am Rande auf. Es war formatorischen Durchdringung der Arbeit und des aber deutlich zu spüren, dass sowohl die Berechti- Einzugs von Transparenz sowie mit einem massiven gungen bei der Nutzung (Ausschluss, Limitierun- Anstieg der Belastungen im Büro. Auf der anderen gen) als auch der Umgang mit der Transparenz von Seite lassen sich aber durchaus die Potenziale für Inhalten (z.B. Stand der Aufgabenerfüllung; offene einen Aufbruch in eine neue ‚Humanisierung der Diskussion von Fehlern) von den Beschäftigten sehr Arbeitswelt‘ erkennen. Diese bestehen in der Aus- sensibel wahrgenommen und unter dem Gesichts- weitung der Autonomie- und Handlungsspielräume für wirklich empowerte Teams, in persönlichen Ent- punkt der Managementkontrolle beleuchtet wurde. wicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten im Zuge Es wurde uns in Gesprächen sehr deutlich gemacht, dass die Nutzung der neuen Möglichkeiten mit der kollektiven Lernens und der Selbstorganisation des Erwartung verbunden wird, dass sich dadurch die Teams sowie in den darin liegenden salutogenen Autonomie der Beschäftigten bei der Kommunika- Potenzialen für eine präventive Gesundheitsförde- tion und der Aufgabenerfüllung erweitern muss und rung.“ (Boes et al. 2017, S. 207) keinesfalls verengen darf. Autonomieerweiterung Damit wird die Bedeutung betrieblicher Entschei- ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Regellosigkeit. dungen über die grundlegende Orientierung der Ar- Autonomiegewinne können nur unter der Maßgabe beitsgestaltung sehr klar herausgestellt. Die strategi- erzielt werden, dass bestimmte Rahmenlinien der schen Entscheidungen über die Roadmap für den Nutzung ausgehandelt, festgelegt und angepasst Einsatz der Kollaborationsplattform bestimmen die werden – und zwar in solcher Reichweite und auf Zukunft der Arbeit in der digitalen Transformation solchen Ebenen, dass sie für die Beschäftigten und und keineswegs vermeintliche Sachzwänge der Vorgesetzten Sinn ergeben (Team-Bereich-Organi- Technik. sation-im Umgang mit Externen). Digitaler Stress Gerade beim Thema Management-Kontrolle gibt es aber in Branchen mit stärkerer Standardisierung der Das dritte Risiko für das die Akteure der betriebli- Produkte und höherem Automatisierungsgrad (Ban- che Arbeitsgestaltung sensibilisiert werden sollen, ken, Versicherungen, Logistik, Automobilindustrie) ist der „Technostress“ (Ragu-Nathan et al. 2008) o- auch dezidierte Ansätze zum „digitalen Tayloris- der „digitale Stress“ (Gimpel et al. 2018) auf Seiten mus“. „Gemeint ist damit der Einsatz neuerer digi- der Wissensarbeiterinnen und Wissensarbeiter. Di- taler Technologien zur radikalen Zergliederung von gitaler Stress umfasst eine Reihe an psychischen Be- Arbeitsschritten sowie insbesondere die direkte und lastungen, die mit dem Einsatz von Informations- weitgehend automatisierte Kontrolle von Tätigkei- techniken verbunden sind: Ihre Omnipräsenz, die ten.“ (Staab und Prediger 2019, S. 46) Ansätze in Überflutung mit neuen Anforderungen, die hohe dieser Richtung betreffen ebenso die Wissensarbeit, Komplexität der Beherrschung des Technikeinsat- wie Boes et al. (2017) aus Unternehmen berichten, zes sowie die Entgrenzung von Arbeit und Privatle- die in einer Verbindung von Lean Management und ben (Papsdorf 2019, 43f). Die zum Teil unübersicht- agiler Organisation „neue Formen der Kollabora- lichen IT-Landschaften mit verschiedenen Werk- tion“ etablieren. Damit werde auf eine Aufhebung zeugen auch mit gleichen Funktionalitäten und die des Expertenmodus in der hochqualifizierten Kopf- damit einhergehende Gefahr der Desintegration sind arbeit abgezielt (hier: Software-Entwicklung und in- eine weitere mögliche Quelle für digitalen Stress. dustrielle Forschung und Entwicklung). „Sie versu- Wir haben zwar (siehe Kapitel 3) aus dem Verbund- chen die Abhängigkeit von individuell gebundenem projekt CollaboTeam eher Anzeichen dafür gefun- Expertenwissen zu reduzieren und es zu ‚kollektivie- den, dass sich die Arbeitssituation der Beschäftigten ren‘ bzw. in transparentes und jederzeit zugängli- durch den Einsatz der Kollaborationsplattform ver- ches Organisationswissen zu überführen.“ (Boes et bessert. Wir wissen aber aus anderen Untersuchun- al. 2017, S. 191) Dabei würden IT-Systeme (kolla- gen, dass z.B. in der IT-Branche das Ausgangsni- borative Entwicklungsplattformen, Wiki-Systeme, veau der psychischen Beanspruchung ausgespro- Aufgabensteuerungssysteme wie Jira) eine wichtige chen hoch ist und die Fähigkeiten der Unternehmen Rolle spielen. Sie kommen auf der Grundlage ihrer psychischen Belastungen mit präventiven Maßnah- Ergebnisse zu folgender Schlussfolgerung: men zu begegnen sehr gering ausgeprägt ist „Zugespitzt formuliert zeigen unsere Ergebnisse, (Gerlmaier und Latniak 2011). Die Lage hat sich in dass sich die Entwicklung gegenwärtig an einem 151
Thomas Hardwig und Marliese Weißmann den letzten Jahren auch nicht grundlegend verbes- Vielfalt der Akteure der betrieblichen Arbeitsgestaltung sert (Gerlmaier und Latniak 2019). Das gesetzliche Als erstes muss in der betrieblichen Praxis die Frage Instrument der Gefährdungsbeurteilung psychischer beantwortet werden, an wen die Verantwortung für Belastungen kommt in den Unternehmen zumeist eine professionelle Arbeitsgestaltung der Nutzung nicht zur Anwendung dabei wäre es in Analyse- von Kollaborationsplattformen übertragen werden workshops mit Beschäftigten sehr unbürokratisch kann. möglich, mit begrenztem Aufwand konkrete Ver- besserungen zu erzielen. Vorhandene Erkenntnisse Anders als bei Produktionsarbeit, in der eine Fach- zur Arbeitsgestaltung fließen nicht in die Arbeitsge- abteilung (Arbeitsplanung, Industrial Engineering) staltung ein (Sträter 2019, S. 254), dabei ist die Qua- mit arbeitswissenschaftlicher Kompetenz zuständig lität der Arbeitsplätze in der Regel verbesserungs- ist, ist es bei Wissensarbeit in erster Linie die Auf- würdig (Mütze-Niewöhner et al. 2021, S. 16). Inso- gabe der Vorgesetzten, die Arbeit in ihrem Verant- fern besteht weiterhin Handlungsbedarf, um z.B. wortungsbereich zu gestalten. Bei Projektarbeit sind konzentriertes Arbeiten zu ermöglichen und psychi- es die Personen in der Projektleitung. Da sie zumeist sche Belastungen zu reduzieren. über keine dezidiert arbeitswissenschaftliche Aus- bildung verfügen, lassen sie sich dabei durch unter- schiedliche Fachabteilungen (z.B. Informations- 10.4 Aufbau von Kompetenz für eine ganz- technologie, Qualitätssicherung) oder andere be- heitliche menschenorientierte Ar- triebliche Expertinnen und Experten (z.B. Consul- beitsgestaltung tants, „Collaboration-Experts“ o.ä.) unterstützen. Hinzu kommt, dass sich hochqualifizierte Beschäf- Angesichts der aufgezeigten Herausforderungen tigten in der Wissensarbeit durch ein sehr ausge- und Risiken stellt sich die Frage nach den prakti- prägtes Streben nach Autonomie in ihrem Aufga- schen Konsequenzen für Unternehmen, die das Ar- benfeld auszeichnen (Kotthoff 1997, S. 31), so dass beiten mit Kollaborationsplattformen gestalten und sie oftmals die Gestaltung ihres Arbeitsfeldes mit dabei die Möglichkeiten einer Humanisierung der übernehmen. In vielen Unternehmen sind auch Arbeit nutzen wollen. Teams in die Arbeitsgestaltung eingebunden. Dar- Allgemein gilt, dass Prozesse der Digitalisierung aus ergibt sich in den meisten Unternehmen ein Ge- zielgerichtet und bewusst gestaltet werden müssen wirr von gewachsenen formellen Zuständigkeiten (Latniak und Gerlmaier 2019, S. 32) und zwar im und informellen Handhabungen. Sinne einer proaktiven Arbeitsgestaltung (Sträter Dabei dürfte die allgemeine „Arbeitsgestaltungs- 2019, S. 257). Dies gilt auch für hochqualifizierte kompetenz“ je nach fachlichem Hintergrund der Ak- Arbeit, für die aufgrund ihrer Arbeitsmarktposition teure sehr unterschiedlich ausgeprägt und in vielen im Gegensatz zur niedrigqualifizierter Arbeit eine Unternehmen verbesserungsbedürftig sein optimistische Entwicklungsperspektive gezeichnet (Gerlmaier und Geiger 2019). Hinzu kommt, dass wird (Spreitzer et al. 2017, S. 485). Denn die neuen spezielle Kenntnisse zur Gestaltung von Kollabora- Arbeitsformen sind durchaus janus-köpfig und be- tionsplattformen derzeit nicht ausreichend zur Ver- dürfen der gezielten Gestaltung und Regulierung fügung stehen. Die fehlenden Erfahrungen bringen (Popma 2013), um zur Humanisierung der Arbeit die Akteure in Schwierigkeiten sowohl bei der Ar- beizutragen. Im Zuge der Digitalisierung und der beitsgestaltung als auch bei der Regelung beispiels- extrem schnellen technologische Entwicklung weise in Betriebsvereinbarungen (Matuschek und kommt es besonders darauf an, den menschlichen Kleemann 2018). Die Akteure bewegen sich Bedürfnissen und den Anforderungen sozialer Sys- schließlich in einem Feld, das durch eine hohe Ent- teme bei der Arbeitsgestaltung Geltung zu verschaf- wicklungsdynamik gezeichnet wird, welche dafür fen. Dies gelingt am besten im Rahmen eines sozio- sorgt, dass das vorhandene Gestaltungswissen auch technischen Gestaltungsansatzes (Pasmore et al. immer wieder schnell veraltet. 2019). Dies wirft die Frage auf, wie die im Unternehmen Bezogen auf das Arbeiten mit Kollaborationsplatt- verteilt vorhandene Kompetenz für eine ambitio- formen im Besonderen sehen wir auf der Grundlage niertere Gestaltung gezielt zusammengeführt wer- unserer Erfahrungen im Projektverbund Collabo- den und die Arbeitsgestaltungskompetenz systema- Team spezifische Herausforderungen für Unterneh- tisch weiterentwickelt werden kann. Wir denken, men, die sich auf Veränderungen der Akteure, der dass die Antwort darin bestehen wird, ein Netzwerk Strukturen und der Prozesse der Arbeitsgestaltung der betrieblichen Arbeitsgestaltung zu bilden, in beziehen. Darauf gehen wir im Folgenden näher ein. dem die Akteure daran arbeiten anhand von bewusst 152
Fazit: Das Arbeiten mit Kollaborationsplattformen iterativ und ganzheitlich gestalten reflektierter Praxiserfahrung sowie unter Einbezie- Arbeitsbedingungen zu vermeiden (Latniak und hung externen Fachwissens ihr Gestaltungswissen Schäfer 2021, S. 91). Im agilen Konzept wird die Ar- kollaborativ weiterzuentwickeln. beitsgestaltung sogar an selbstverantwortliche Teams delegiert, durch Scrum-Master gestaltet und im Rah- Übergreifende Strukturen der Arbeitsgestaltung men von regelmäßigen Retrospektiven durchgeführt. In Retrospektiven werden Maßnahmen zur Verbesse- Zu dieser Antwort findet man, wenn man über die rung der Arbeitsweise eines Teams entwickelt und Strukturen nachdenkt, die für Arbeitsgestaltung von durch die Scrum-Master umgesetzt. Kollaborationsplattformen aufgebaut werden sollten. Da es sich bei Kollaborationsplattformen um eine be- Die Dezentralisierung der Verantwortung für die Ar- triebliche Infrastruktur handelt, die für unterschiedli- beitsgestaltung an die ausführenden Teams, kann che Organisationsbereiche bereitgestellt wird, liegt es eine Chance zur Humanisierung der Arbeit darstel- nahe hierfür auch eine betriebliche Gestaltungsebene len, wenn zwei Bedingungen erfüllt werden: Erstens einzuziehen. Diese ist erforderlich, um eine strategi- müssen die Teams in diesem Prozess durch kompe- sche Roadmap für den Einsatz einer Kollaborations- tente Akteure der Arbeitsgestaltung begleitet werden plattform zu entwickeln und dabei die verschiedenen (wie z.B. Scrum Master oder Coaches dies tun), die Anforderungen aus den Organisationsbereichen zu Teil des vorgeschlagenen Netzwerks der Arbeitsge- integrieren. Dort wo eine Kollaborationsplattform staltenden wären und über professionelle Arbeitsge- Teil eines geplanten Veränderungsprozesses ist, wer- staltungskompetenz verfügen. Zweitens müssen die den zumeist temporäre Projektteams gebildet, welche Teams substantielle Gestaltungsspielräume und Res- die Implementierung und die Neubestimmung der sourcen eingeräumt bekommen, damit sie wirklich Arbeitsorganisation vornehmen. Nach der Einfüh- zur Reduktion ihrer Belastungen und zur Optimie- rung wird die weitere Gestaltung der Arbeit mit Kol- rung der Qualität der Zusammenarbeit beitragen kön- laborationsplattformen allerdings zu einer Dauerauf- nen (Wille und Müller 2018). Damit würde auch den gabe, dies machen die Komplexität der Gestaltungs- Ansprüchen an Autonomie in der Arbeit dieser Ziel- themen, der Koordinationsbedarf der Aktivitäten und gruppe Rechnung getragen. die eröffneten Entwicklungsmöglichkeiten ebenso Unter den Bedingungen des ständigen Wandels be- notwendig wie die rasche technische Entwicklung. darf es verlässlicher Rahmenbedingungen für diese Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese Auf- operative Arbeitsgestaltung, damit das Vertrauen ent- gabe nicht von einer IT-Abteilung allein erfüllt wer- stehen kann, dass die verschiedenen Ansprüche bei den kann, sondern am besten als übergreifende Akti- der Gestaltung immer wieder ausbalanciert und zum vität unter intensiver Einbindung der verschiedenen Ausgleich gebracht werden. Organisationsbereiche anzulegen ist, um die be- Wir vermuten, dass für das Arbeiten mit Kollaborati- reichsspezifischen Interessen bei der Gestaltung auf- onsplattformen ein Zusammenspiel von operativer nehmen zu können. Dort wo Betriebsratsgremien Arbeitsgestaltung in den Teams mit einem definierten vorhanden sind, besteht zudem aus betriebsverfas- Netzwerk der betrieblichen Arbeitsgestaltungsperso- sungsrechtlichen Gründen eine betriebliche Informa- nen, die für die gesamtbetriebliche Integration und tions- und Aushandlungsebene, die vertrauensvoll Professionalisierung zuständig sind, die beste Chance auszugestalten ist (vgl. das Kapitel 9 von Weißmann bietet, dass die Humankriterien bei der Gestaltung mit Empfehlungen zur Regelung der Arbeit mit Kol- und Nutzung verwirklicht werden. laborationsplattformen). Den Beschäftigten in den Teams fehlt es vielleicht an Es erscheint aus unserer Sicht notwendig, komple- arbeitswissenschaftlich fundierten Erkenntnissen, mentär dazu auch die dezentrale Ebene der Arbeits- aber sie eint das Interesse an einer Verbesserung ihrer gestaltung zu stärken: Führungskräfte können hierzu konkreten Arbeitssituation und sie können unge- gezielt unterstützt werden, die neue Infrastruktur für wollte Wirkungen im Zuge iterativer Gestaltung die weitere Entwicklung der Arbeitsprozesse ihres selbst korrigieren. Zudem sollen sie von der professi- Organisationsbereiches zu nutzen. Die Gestaltung der onellen Expertise profitieren, die im Netzwerk der Nutzung der Technik, die Festlegung der Regeln und Verantwortlichen für die Arbeitsgestaltung stetig Regularien der Kommunikation, des Wissensmana- wächst. gements und der Zusammenarbeit setzen sie zumeist gemeinsam mit den Arbeitsteams um. In Meetings, Dessen ungeachtet bleibt es – wie bisher – ein noch Workshops oder etwa in Retrospektiven bei agilen ungelöstes Problem, wie das gesicherte arbeitswis- Arbeitsformen können die Erfahrungen gemeinsam senschaftliche Wissen in der Praxis vermehrt Anwen- reflektiert und weiterentwickelt werden. Insbeson- dung findet. Unter Umständen muss ebenfalls eine dritte Ebene der Arbeitsgestaltung mitbedacht wer- dere bei dynamischen Organisationstrukturen wird eine regelmäßige Reflexion der Arbeitssituation für den: Dort wo gemeinsame Teams mit Beschäftigen notwendig gehalten, um leistungsbeeinträchtigende 153
Thomas Hardwig und Marliese Weißmann aus anderen Organisationen (z.B. Kunden, Lieferan- diese zur Bewältigung von Komplexität entwickelt ten) gebildet werden, muss auch dieser digitale Ar- worden sind (Appelo 2011). beitsraum gestaltet werden. Und zwar von beiden Die Komplexität resultiert aus dem für eine Kollabo- Herkunftsorganisationen des Teams. Bei neu gebilde- rationsplattform essentiellen Anspruch, dass ihre ten Teams empfiehlt sich ein Teambildungsprozess, Nutzung zu einer Verbesserung der Ausführung der der sich an typischen Gruppenphasen orientiert (Boos persönlichen Arbeitsaufgabe für eine Vielfalt von et al. 2017, 94ff) und die spezifischen Gestaltungsthe- Nutzerinnen und Nutzern mit je unterschiedlichen men für das verteilte Arbeiten (Tietz und Kluge 2018) Tätigkeitsanforderungen führt. Möglichst überzeu- und das Arbeiten mit Kollaborationsplattformen gende Lösungen können nur durch das Zusammen- (Kapitel 6, Kapitel 9) integriert. wirken der Akteure auf mehreren Handlungsebenen Eine verbindliche Zuständigkeit für die Arbeitsge- gefunden werden. Für das Arbeiten mit Kollaborati- staltung und die Schaffung von Arbeitsebenen dafür onsplattformen sind somit Einflussfaktoren aus den erscheinen notwendig, weil eine menschenorientierte Bereichen Mensch, Technik und Organisation ganz- Arbeitsgestaltung eine gemeinsam entwickelte Ziel- heitlich zu berücksichtigen, die in unplanbarer Weise vorstellung und ein "gemeinsames inneres Modell zusammenwirken. Da das Zusammenwirken der Ef- des Gestaltungsgegenstandes" (Kötter und Volpert fekte der Gestaltung der individuellen Arbeitsplätze 1993, S. 132) erfordert. Beides muss in der Zusam- und der organisatorischen Abläufe im Hinblick auf menarbeit im Netzwerk der Akteure gemeinsam ent- das Gesamtsystem zu betrachten ist, wird eine „sys- wickelt werden. In Beteiligungsprozessen wird dieses temische Gestaltung“ nötig (Sträter 2019, S. 253). Erfahrungswissen aufgebaut. Dabei sind alle relevan- Dabei kann es vorkommen, dass es aufgrund der zu- ten Akteure frühzeitig einzubinden, vor allem auch nehmenden Vernetzung der Prozesse – auch über die die direkt betroffenen Beschäftigten und ihre Interes- Organisationsgrenzen hinweg – schwieriger wird, senvertretungen. gute Gestaltungslösungen vor Ort zu erreichen, weil Weiterhin gilt für die Gestaltung des Arbeitens mit vor- und nachgelagerte Prozesse von den ausführen- Kollaborationsplattformen das, was über Digitalisie- den Organisationseinheiten nicht mehr hinreichend rungsprozesse gesagt worden ist: Es handelt sich bei beeinflusst werden können (Latniak und Gerlmaier der Gestaltung immer auch um „arbeitspolitisch ge- 2019, S. 30). Die in diesem Buch beschriebenen Ent- prägte Aushandlungsprozesse“, deren Qualität den wicklungsprozesse haben gezeigt, dass aufgrund der Erfolg bestimmen und es ist insofern notwendig die vielseitigen Wechselwirkungen mit zahlreichen Brü- Arbeitsgestaltungskompetenz auf allen Ebenen zu chen und Korrekturen bei der Umsetzung zu rechnen entwickeln (Latniak und Gerlmaier 2019, S. 32). ist. In allen Fällen hat sich die Umsetzung als ein viel- gestaltiger Suche-, Lern- und Entwicklungsprozess Iterative Prozesse der Arbeitsgestaltung erwiesen (Hardwig und Weißmann 2021). Weil da- von auszugehen ist, dass bei der Nutzung einer Kol- Bei der Gestaltung von Kollaborationsplattformen laborationplattform der Gestaltungsprozess unver- muss man sich von früheren Gestaltungskonzepten meidlich zur Reise wird bzw. zu einer Expedition in verabschieden, die nach REFA beispielsweise sechs Richtung „New Work“, kommt es mehr und mehr auf Stufen der Gestaltung unterschieden haben. REFA die Prozesse der Arbeitsgestaltung an. geht von einer umfangreichen Analyse aus, dann fol- Das Projekt CollaboTeam hat mit diesem Buch die gen in mehreren Schritten eine dezidierte Planung aktuellen Erfahrungen zusammengestellt, wie sowohl und Vorbereitung und dann die Einführung des neuen wirtschaftliche Zielsetzungen als auch eine Stärkung Arbeitssystems (Kötter und Volpert 1993, S. 130). humanorientierten Arbeitens beim Einsatz von Kol- Bereits vor langer Zeit haben Kötter und Volpert laborationsplattformen besser erreicht werden kön- (1993) Abschied von einem solchen „Wasserfall- nen. Wir würden uns freuen, wenn die Erkenntnisse Modell“ der Umsetzung genommen und dies sowohl dazu beitragen, dass die Verantwortlichen in den Un- mit der Beteiligung der Betroffenen als auch mit der ternehmen eine zukunftsfähige Arbeitsgestaltung des Notwendigkeit begründet, weitere Rückkopplungs- Prozesses der digitalen Transformation realisieren, schleifen im Gestaltungsprozess vorzusehen. Daraus welche die Nutzerinnen und Nutzer der Techniken ergab sich seinerzeit eine „Wendeltreppe der Arbeits- und ihre Interessenvertretungen einlädt, ihre Arbeit gestaltung“ (Kötter und Volpert 1993, S. 139), die aktiv mitzugestalten. heute weiterzuentwickeln ist in Richtung auf eine noch reflexivere, zyklische und iterative Prozessge- staltung (Mütze-Niewöhner et al. 2021, S. 18). Diese Hinwendung zu agilen Konzepten hat sich bei der Gestaltung der Digitalisierung bewährt (Winby und Mohrman 2018) und ist insofern konsequent, als 154
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