Digital + geschlechtergerecht - Digitaler Strukturwandel und Geschlechterverhältnisse - Katholische Sozialakademie ...
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01 | 2019 digital + geschlechtergerecht SCHWERPUNKT EINSCHÄTZUNG PUNKT_GENAU Digitaler Strukturwandel Genderkompetenz Digitale Technologien – und Geschlechterverhältnisse in Startups Ethische Prinzipien
ksoe blog Alternatives Wirtschaften Führung & Partizipation Soziale Gerechtigkeit Sie möchten immer aktuell informiert sein über das Erscheinen des neuesten blog-Beitrags? ksoe blog abonnieren unter https://blog.ksoe.at Impressum und Offenlegung nach § 25 MedienG Medieninhaberin und Herausgeberin: Diese Veröffentlichung wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission finanziert. Die Verantwortung Katholische Sozialakademie Österreichs für den Inhalt tragen allein die VerfasserInnen; die Kom- Schottenring 35/DG, A-1010 Wien, vertreten durch mission haftet nicht für die weitere Verwendung der darin Dr.in Magdalena M. Holztrattner M.A., Direktorin enthaltenen Angaben. Herstellerin: Medienfabrik Graz GmbH, Dreihackengasse 20, 8020 Graz Herstellungsort: 8020 Graz Verlagsort: 1010 Wien Blattlinie: Nachrichten und Stellungnahmen der Katholischen Sozialakademie Österreichs zu Fragen des gesellschaftlichen Lebens entsprechend dem in ihrem Statut definierten Auftrag und den Kriterien der Sozialdokumente des kirchlichen Lehramtes. Bildnachweis: Es werden keine Beteiligungen an Medienunter- Titelbild: maximmmmum, shutterstock nehmen oder Mediendiensten gehalten. S.5: peakpx.com S.9: Sebastien Gabriel, unsplash Heftredaktion: S.11: © Heike Wiesner Margit Appel, Gerlinde Schein S.13: © Heike Wiesner (Foto), © Elif Erol (Grafik) Grafische Produktion: Ulrike Faltin S.15: Leah Kelly, pexels Alle: Schottenring 35/DG, 1010 Wien S.19: pixel2013, pixabay Tel. +43-1-310 51 59, redaktion@ksoe.at S.20: Alexandre Godreau, unsplash S.23: Chris Barbalis, unsplash Grafikdesign: Christoph Almasy, www.almasy.at S.24: pxhere.com Papier: chlorfrei gebleichtes Biotop 3; Nachdruck S.25: Frank V., unsplash mit Quellenangabe (ksoe) gestattet. S.26: © Luiza Puiu (Porträt Köszegi) 2
ZUM DOSSIER INHALT digital + 4 gestaltungs_räume 16 Digitalisierung Digitalisierung? innovativ und gender- geschlechter Grundeinkommen! gerecht gestalten Frauenbranche? gerecht Männerbranche? 18 praxis_nah Wohin geht die Reise? Der AMS-Algorithmus Algorithmen in der 6 Digitaler Struktur- Personalauswahl Anstöße und Anregungen, wie Entwick- wandel und lung und die Folgen der Digitalisierung Geschlechter- 20 Gründen Frauen so gestaltet werden können, dass verhältnisse anders? Frauen nicht die Verlierinnen sind! Das vorliegende Dossier will genau dafür 10 Digitale Souveräni- 22 Wie Gender- einen Beitrag leisten. Der Blick auf tät und Geschlecht - kompetenz den unterschiedlichste Orte der Digitalisie- das geht uns alle an! Erfolg von Startups rung war uns dabei wichtig. erhöhen kann Wir wünschen Ihnen eine anregende 12 Emanzipations- 24 freies_gut Lektüre! prozesse im Rück- Digitalisierungsfonds spiegel Robotik und Gender Erasmus+ Projekt 14 Geschlechter- 26 punkt_genau gerechtigkeit in der Digitale Technologien - digitalen Stadt Ethische Prinzipien EDITORIAL Dieses Dossier entstand im Rahmen Für die ksoe erwuchs mit diesem des Erasmus+ Projekts EQUAL Projekt die Möglichkeit, sich in die Digitalent, das sich dem Thema Digitalisierungsdebatten verstärkt „Gender Equality in Digital Entrepre- einzumischen. Es gilt das Verständnis neurship“ widmete. Die ksoe koope- zu fördern, dass Technologiedebatten rierte in diesem interdisziplinären immer auch Auseinandersetzungen Projekt mit WissenschafterInnen über Gesellschafts-, Arbeits- und der Universität Liechtenstein, der Menschenbilder sind und zentral die Gerlinde Schein Wirtschaftsuniversität Wien sowie Geschlechterverhältnisse betreffen. der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Denn: Technologie wird genauso durch und in der sozialen Praxis ge- Die unterschiedliche Expertise und macht wie die soziale Dimension von die Erfahrungen der Projektpart- Geschlecht. nerInnen zeigen sich in einzelnen Beiträgen dieses Hefts. Ergänzend luden wir weitere AutorInnen ein, um zusätzliche Perspektiven zu Digitali- Margit Appel sierung abzubilden. 3
gestaltungs_räume FRANKFURTER MANIFEST Digitalisierung? Grundeinkommen! Silicon Valley UnternehmerInnen, Manager von Tech-Konzernen und auch Wissen- schafterInnen aus dem IT-Zusammenhang äußerten sich in letzter Zeit auffallend positiv zur Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens. Im Vordergrund steht dabei die Prognose des Wegfalls einer großen Zahl von Erwerbsarbeitsplätzen durch die Digitalisierung. Im Hintergrund geht es wohl auch darum, Menschen nicht als DatenproduzentInnen – der Form der Wertschöpfung im Datenkapitalismus - zu verlieren, wenn sie aufgrund von Langzeiterwerbslosigkeit bzw. überhaupt aufgrund des Misslingens der Integration in den Erwerbsarbeitsmarkt ihr Konsu- mentInnenpotential (Shoppen im Internet) ebenso wie ihr gesellschaftliches Betei- ligungspotential (Informationsbedarf, Nutzung sozialer Medien) einbüßen könnten. Jedenfalls kam tagespolitischer Druck in die Debatte und die emanzipatori- schen Kräfte der Grundeinkommensbewegung sahen sich veranlasst, Stellung zu nehmen. Es entstand das sogenannte „Frankfurter Manifest“, darum herum entwickelte sich die im Frühjahr 2019 beim Wiener Mandelbaum Verlag erschie- nene Publikation „Digitalisierung? Grundeinkommen!“ herausgegeben von Wer- ner Rätz, Dagmar Paternoga, Jörg Reiners, Gernot Reipen. Zu den Möglichkeiten einer emanzipatorischen Gestaltung der Digitalisierung und der Bedeutung eines Grundeinkommens mit emanzipatorischer Wirkung äußern sich im vorliegenden Buch bekannte GrundeinkommensaktivistInnen ebenso, wie VertreterInnen von Parteien und Gewerkschaft, sowie eine Reihe von WissenschafterInnen. Manche der Beiträge sind dem Grundeinkommen gegenüber reserviert, aber alle Beiträ- ge setzen an zentralen Punkten der Technologie und Gesellschaft-Debatte an: Arbeitsbegriff, Wertschöpfung, Verteilung, sozial-ökologische Transformation, Geschlechterverhältnis, Bildung, Gesundheit – um nur einige zu nennen. ARBEIT Wohin geht die Reise? Eine Industriemechanikerin, die mit einer Augmented Reality Brille arbeitet und mit ihr sowohl reale als auch virtu- elle Welt wahrnehmen kann. Ein Physiotherapeut, dessen Arbeit in der Reha-Klinik zum Teil von einem Roboter übernommen wird. Dies sind nur zwei der Beispiele, die im Film vorkommen. Die 3sat-Dokumentation „Kollege Roboter: Schöne neue Arbeitswelt?“ stellt technologische Innovationen vor und zeigt, wie sich Arbeit durch Ro- botik und künstliche Intelligenz radikal verändern kann, könnte, wird. Ein Film von Angela Scheele, ca. 28 Minuten. www.3sat.de/gesellschaft/makro/kollege-roboter-102.html 4
GESCHICHTE Frauenbranche? Männerbranche? Blickt man in die Geschichte der Informatik zu- warb vor allem um Programmierinnen und das rück zeigt sich: in den Anfängen der Computer, Cosmopolitan-Magazin schlagzeilte 1967 «Es ist wie wir sie heute kennen – es ist die Zeit des die Zeit der Computermädels». Bis in den Anfang 2. Weltkriegs - , waren Frauen als Program- der 80er Jahre wuchs die Zahl der IT-Studentin- miererinnen besonders begehrt. Das Prestige nen stetig und schneller als die der Männer. In war allerdings nicht sehr hoch. Zunächst den USA lag der Anteil 1983 bei 37%. Heute sind etablierten sich die Computerwissenschaf- weniger als 20% der Informatik-AbsolventInnen ten zu einem relativ populären Berufsweg für in den USA weiblich. Eindeutige Erklärungen für Frauen. Mittlerweile sind Informatikerinnen diese Abwärtsspirale gibt es nicht. Viele bringen wie Grace Hopper, die wesentlich an der sie mit dem Aufstieg der Personal Computers Entwicklung der ersten Programmiersprachen (PC) und mit dem Aufstieg der Entwicklung von mitarbeitete, Katherine Jones und Margaret Videospielen in Verbindung. Hamilton, die mit ihrer Programmierarbeit zur Landung des ersten Menschen auf dem Mond beitrugen, nicht mehr ganz unbekannt. IBM Quelle: Der Standard, 7. März 2019, S. 18 5
SCHWERPUNKT Digitaler Strukturwandel und Geschlechterverhältnisse Digitalisierung ist in aller Munde, nicht aber ihre Auswirkungen auf Geschlechterverhältnisse. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Formen der Digitalisierung, und deren durchaus gegensätzlichen Gender-Implikationen und stellt die Möglichkeiten wie Notwendig- keiten der (politischen) Gestaltung von Digitalisierung dar. 6
Der Begriff der Digitalisierung ist derzeit ein schäftigung in der Landwirtschaft schon seit häufig verwendeter und auch – hinsichtlich Jahrzehnten abnehmend, folgt nun auch der seiner Auswirkungen – heiß diskutierter Beschäftigungsrückgang in der Industrie. Noch Terminus. sind Dienstleistungsbranchen weniger betrof- fen, zu konstatieren ist aber eine Veränderung in Was bedeutet „Digitalisierung“? Richtung „ArbeitskraftunternehmerIn“, und die zunehmende Digitalisierung verstärkt auch eine Keinesfalls so eindeutig fällt der Befund aus, Auflösung der Arbeit-Freizeit-Unterscheidung. was denn nun eigentlich unter Digitalisierung zu verstehen sei: Von der Robotisierung der Während der Befund, dass wir uns in Zeiten Produktion, der Fabriken wird da oft gespro- eines großen technologischer Wandels befinden, chen, zunehmend auch im Zusammenhang mit ein einheitlicher ist, fallen die Prognosen, wie selbstlernenden Maschinen („Industrie 4.0“). sich dies auf die Arbeitsmärkte und Beschäfti- Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive ist gungsstruktur auswirken wird, weniger eindeutig hier die dahinterliegende Frage der Entwick- aus. Während die einen von einem „Skill Bias“ lung von Arbeit zentral, verbunden mit der sprechen, d.h. einer Verlagerung zugunsten gut Befürchtung von Arbeitsplatzverlusten. Oft geschulter Arbeitskräfte, sehen andere die Ge- werden aber auch Fragen der Internetnutzung fahr eines großflächigen Wegfalls von sowohl gut unter dem Schlagwort der Digitalisierung sub- Ausgebildeten als auch von Hilfstätigkeiten. summiert: Wer nutzt die Vielzahl an Informa- tionen in welcher Weise, und wer vermarktet Entscheidend in einer volkswirtschaftlichen sie? Wie kann gleicher Zugang hergestellt wer- Betrachtung ist auch, wie die entstehende Wert- den und eine Demokratisierung des Internets schöpfung, der entstehende ökonomische Reich- erreicht werden? In Diskussionen zu diesem tum in einer Gesellschaft verteilt werden. Das Themenkomplex fällt auch häufig der Begriff „Laissez faire“ der Industrialisierung, dann die „Digital Divide“ (bezeichnet ungleiche Chancen regulierten Arbeits- und Sozialgesetze, später beim physischen, technischen sowie sozialen der Wohlfahrtsstaat und heute der Wettbewerbs- Zugang zu Neuen Medien). Zuletzt, aber nicht staat sind unterschiedliche Verteilungsformen, weniger bedeutend, wird unter dem Stichwort die mit unterschiedlichen politischen Maßnah- der Digitalisierung über neue, oftmals derzeit men, Besteuerungen und einem unterschiedli- boomende, Branchen gesprochen – von der chen Menschenbild einhergehen. Telekom-Branche über den neuen Beruf des/r WebdesignerIn zu neuen Großkonzernen wie Digitalisierung und Gender Google, Facebook oder Amazon, letzteres als Synonym für Online-Handel. Im Gegensatz Es steht außer Frage, dass Digitalisierung ein zu Großunternehmen früherer Industriali- wesentliches Element des derzeitigen und sierungsschritte stellen diese Unternehmen künftigen Strukturwandels darstellt. Nicht so häufig kein eigenes Produkt mehr her und häufig wird hingegen die Frage gestellt, ob dieser besitzen auch nicht Produktionsmittel im klas- digitale Strukturwandel Gender-Gerechtigkeit sischen Sinne (eigene Fabriken, Maschinen oder -Gleichheit herstellen kann. Im Gegenteil, oder Fahrzeuge), sondern stellen spezialisierte eine geschlechterbezogene Perspektive auf die Plattformen dar, die selbst keine bzw. kaum Prozesse der Digitalisierung von Wirtschaft und eigene Inhalte erstellen, sondern „User Gene- Arbeit fehlt bislang großteils – trotz omni- rated Content“ nutzen, um diesen zu moneta- präsenter Digitalisierungs-Debatten. risieren, besonders auch über personalisierte Werbung. Betrachten wir nun den genderspezifischen Digital Divide so sind durchaus hartnäckige Strukturwandel geschlechterspezifische Unterschiede festzu- stellen. Die Wissenschaft führt diese auf die Wie ist solch ein Strukturwandel in der histo- unterschiedliche Sozialisierung von Männern und rischen Perspektive zu sehen? Wurde früher Frauen basierend auf gesellschaftlichen Normen die Wertschöpfung vor allem in der Landwirt- zurück, aber auch auf einen Teufelskreis sich schaft generiert, später in der Massenproduk- gegenseitig verschärfender geschlechtsspezifi- tion industrieller Güter, so verschiebt sie sich scher Beschränkungen, Bildungsrückstände und nun in sogenannte immaterielle Bereiche: auf Geschlechterstereotypen. Dies kann bereits in Rechte und Patente, aber ebenso in die Ver- jungen Jahren zu „Computer Anxiety“ bei Mäd- marktung von Big Data, die über oben bereits chen führen, die sich empirisch über alle Staaten genannten User-generierten Inhalt entsteht. und soziodemographischen Merkmale hinweg Was und wie wird gearbeitet? Ist die Be- beobachten lässt. 7
Geschlechterstereotype und Neue ist dort immer noch der Frauenanteil an den Technologien Beschäftigten unter 40%, der weibliche Anteil der Führungskräfte liegt bei mageren 6%. Dies Auf männliche Benutzer ausgerichtete Software wird unter anderem damit erklärt, dass Frauen und genderunsensibler Informatikunterricht in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, leisten einen Beitrag dazu. Viele LehrerInnen Naturwissenschaft und Technik) noch immer und Eltern perpetuieren bestehende geschlech- stark unterrepräsentiert sind: In Europa liegt terspezifische Zuschreibungen und Stereotype die Frauenquote bei MINT-Studienabschlüs- in Bezug auf neue Technologien, oft unwissent- sen gerade einmal bei 25%. lich. Wenn unterschiedliche Dimensionen im Internetzugang definiert werden, so ist zwar ein Die Rolle der Politik geschlechtsspezifischer Digital Divide festzu- stellen, allerdings weniger in der Dimension des Die soeben beschriebenen Strukturverände- Zugangs per se, sondern vor allem in der Inter- rungen erfordern ständige Anpassungspro- netnutzung, bzw. dem Selbstvertrauen hierbei. In zesse und vorausschauende Maßnahmen der einer Studie zur Rolle von IKT (Informations- und Politik. Das Ziel, digitale Talente gendersensi- Kommunikationstechnologien) und geschlech- bel zu fördern, und somit zu einer verstärkten terspezifischen Unterschieden - in diesem Falle Integration von Frauen in digitale Innovations- für Entwicklungsländer durchgeführt - wird klar prozesse beizutragen, ist notwendig, um das ersichtlich, dass die Gründe für den geringeren gesamte vorhandene Potenzial einer Gesell- Zugriff von Frauen auf IKT in ihren schlech- schaft auszuschöpfen. Somit ist der „Blind teren Bedingungen bezüglich Beschäftigung, Spot Gender“ explizit zu thematisieren, sind sowohl Auswirkungen auf Arbeit und Beschäf- tigung zentral, die digitale Entwicklungen po- sitiv gestalten können. Die Maßnahmen hierzu Technologien sind sind mannigfaltig, es können hier nur einige genannt werden: Von der Entwicklung gender- neutraler Software, separaten Informatik- immer umkämpft unterricht für Mädchen/Frauen, welche noch wenig Übung im Umgang mit Neuen Technolo- gien haben, bis zur Aufklärung von Eltern und LehrerInnen über Stereotype im Zusammen- hang mit Gender und Neuen Technologien. Ausbildung und Einkommen zu suchen sind. Werden diese Unterschiede berücksichtigt, so Es braucht jedenfalls politische Regelungen, sind Frauen sogar aktivere Nutzerinnen digitaler damit sich Digitalisierung nicht zum Nachteil Gerätschaften als vergleichbar ausgebildete und der Arbeitenden, oder besonders auch zum beschäftigte Männer. Nachteil von Frauen, auswirkt. Denn Digi- talisierung führt keineswegs automatisch Generell ist die politische und ökonomische oder selbstverständlich zu einer stärkeren Position von Frauen in den letzten Jahrzehnten Gendergerechtigkeit, sondern ist differenziert gleichermaßen von Stillstand wie von Bewegung zu analysieren: Während von Industrie 4.0 ver- gekennzeichnet. Die Frauenerwerbsbeteiligung stärkt männliche Arbeitskräfte betroffen sein hat in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zu- werden, da der Männeranteil an Industrie- genommen, im weiblichen Bildungsniveau zeigte beschäftigten höher ist, ist auch in vielen sich eine bemerkenswerte Verbesserung, es wur- Digitalisierungsbranchen der Frauenanteil den rechtliche Diskriminierungen von Frauen auf- eher gering. Die feststellbaren Unterschiede gehoben. Trotz Fortschritten bei der Repräsenta- in der Beteiligung als KonsumentInnen oder tion von Frauen in Politik und Beschäftigung gibt ProsumentInnen (VerbraucherInnen, die auch es wichtige Gründe, die immer noch bestehende ProduzentInnen sind), sind den unterschied- Kluft zwischen den Geschlechtern zu bekämpfen. lichen Lebensrealitäten von Frauen geschul- Während die stattfindende Verschiebung der Be- det. Auch daher ist ein vorrangiges Ziel für schäftigung in den Dienstleistungsbereich Frau- Geschlechtergerechtigkeit, die bestehenden en eher zu Gute kommen sollte - sind sie doch ökonomischen und sozialen Ungerechtigkeiten überproportional in diesem Wirtschaftssektor tä- egalitärer zu gestalten, sowohl was bezahlte, tig - so ist doch eine genauere Analyse notwen- aber auch, was unbezahlte Arbeit betrifft. Dies dig. Betrachten wir z.B. spezifisch jene Branchen, aus humanitären Gründen, aber auch, um die die mit dem Digitalisierungsprozess wachsen, Gesamtheit der Potentiale in einer Gesell- zum Beispiel die Telekommunikationsbranche, so schaft produktiv zu nutzen. 8
Neue Formen der Verteilung vorgegebene, von der Technologie determi- nierte Richtung der Entwicklung, sondern Vorsicht ist allerdings geboten bei manch unterschiedliche Gruppierungen ringen um positiver Zeichnung der Entwicklungen: Wenn Dominanz. Daher müssen wir, neben den oben Internet und neue Technologien als Chance beschriebenen unmittelbaren Maßnahmen, auch für Frauen angeführt werden, da damit die eine Diskussion um neue Formen der Verteilung Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und un- führen. Und es werden ja auch bereits alterna- bezahlter Care-Tätigkeit leichter bewältigbar tive Ansätze wie eine Robotersteuer oder ein wird, denn es werden doch zeitliche und räum- bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert, liche Restriktionen aufgebrochen, so muss es wird nachgedacht über Faktoren, die die hier klar sein, dass dadurch aber traditionelle soziale Gerechtigkeit und den gesellschaftli- Rollenbilder nur verfestigt werden. chen Zusammenhalt fördern. Ganz im Sinne des großen Ökonomen John Maynard Keynes, der in Es wird jedenfalls Zeit und Energie brauchen, einem Artikel zu den „wirtschaftlichen Möglich- eine nachhaltige Wirkung in Richtung Gender- keiten für unsere Enkel“ bereits 1930 die Vision diversität zu erreichen, sei es in MINT- geäußert hat, dass in 100 Jahren aufgrund des Fächern oder in IT-Branchen, aber die Poten- technischen Fortschritts die Menschen nur tiale, die sozialen wie ökonomischen Vorteile mehr wenige Stunden am Tage werden arbeiten einer stärker ausdifferenzierten Belegschaft müssen, sind sowohl Arbeitszeitverkürzung als sind diesen Aufwand sicher wert. auch Formen von Grundeinkommen für alle zu diskutieren. Mit einer extrem ungleichen Vertei- Abschließend ist festzuhalten, dass Techno- lung von Einkommen und Vermögen wird dies logien immer „umkämpft“ sind, es gibt keine aber nicht zu bewerkstelligen sein. Andrea Grisold, Universitätsprofessorin für Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien, Institutsvorständin des Instituts für Heterodoxe Ökonomie. Arbeitsschwerpunkte: Gender und Arbeitsmärkte, Strukturelle Veränderungen der Wirtschaftspolitik, Politische Ökonomie der Medien. 9
Digitale Souveränität und Geschlecht – das geht uns alle an! Digitale Souveränität setzt den selbstbestimmten Einsatz und die Gestaltung digitaler Techno- logien voraus, unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen, Schichten und Altersklassen. Doch wie kann diesem Vorsatz Rechnung getragen werden, wenn die Digitalisierungsbeteiligten alles andere als divers, sondern tendenziell männlich, weiß und jung sind? Die Digitalisierung der Gesellschaft ist allgegen- desagentur für Arbeit, 2019). Auch fällt der wärtig. Digitale Produkte, Instrumente und Frauenanteil unter den IT-Beschäftigten mit Dienstleistungen durchdringen heute den Alltag 16% sehr niedrig aus. von VerbraucherInnen. Zu der rein quantitativen Unterrepräsentation Die damit verbundene Politik steht vor der von Frauen in Technikberufen kommt auch Herausforderung, die individuelle Souveräni- eine qualitative Diskriminierung hinzu. So fin- tät bzw. digitale Selbstbestimmung innerhalb den sich Frauen in Technikberufen in bestimm- wirtschaftlicher Mechanismen zu gewährleisten. ten, dem weiblichen Geschlecht tendenziell (vgl. dazu u.a. Rau 2016, BITKOM 2015). Der zugeschriebenen Rollen wieder. Softwareent- deutsche Sachverständigenrat für Verbraucher- wicklerinnen zum Beispiel arbeiten oftmals in fragen (SVRV) identifiziert vier Dimensionen, die Gebieten, die als sozialorientiert gelten, wie im engen Zusammenhang mit digitaler Souve- z.B. dem Projektmanagement. Die technikna- ränität stehen: Wahlfreiheit, Selbstbestimmung, hen Bereiche hingegen bleiben eher männ- Selbstkontrolle und Sicherheit. Unter digitaler lichen Kollegen vorbehalten. Zudem ist der Souveränität werden Handlungsfähigkeit, aber Frauenanteil im Topmanagement im IT-Bereich auch Entscheidungsfreiheit der VerbraucherIn- von nur 6,3% verschwindend gering. Somit nen verstanden, in der digitalen Welt in verschie- kommt zu dem Gender Pay Gap im Informa- denen Rollen (gleichzeitig) zu agieren, z.B. als tions- und Kommunikationstechnikbereich MarktteilnehmerInnen, als KonsumentInnen aber (IKT) auch noch das Problem der mangelnden auch als aktive ProduzentInnen in Netzwerken Identifikationsmöglichkeit für weibliche Young (SVRV, 2017). Professionals hinzu (Bisnode Studie 2016). Digitalisierung und Geschlecht Teufelskreis oder Hamsterrad? In jedem Fall manifestieren und reproduzieren sich der- Seit dem Entstehen der industriellen Gesell- zeit Geschlechterverhältnisse im IT-Bereich. schaft ist die Teilung des Arbeitsmarktes aktuell Technische Produkte für Menschen werden immer noch stark „eingeschrieben“: Es existiert von Menschen hergestellt. Doch werden diese nach wie vor eine deutliche Trennung zwischen Produkte hauptsächlich von Männern her- sogenannten Frauen- und Männerberufen. gestellt, fließen in erster Linie auch männlich Besonders augenfällig ist dies in den MINT- geprägte Vorstellungen in die Produktgestal- Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissen- tung ein. Dieses Wechselspiel wird im wissen- schaft und Technik) wo durch diverse Initia- schaftlichen Diskurs auch als I-Methodology tiven in den letzten Jahren bereits sichtbare bezeichnet: ihr liegt das Prinzip zugrunde, Fortschritte erzielt wurden, gleichzeitig ist man dass Entscheidungen in Softwarewicklungs- jedoch immer noch von einer äquivalenten prozessen auf Basis eigener individueller Geschlechterverteilung weit entfernt. So sind Präferenzen getroffen werden (Oudshoorn beispielsweise auf die Informatik bezogen nur u.a., 2004). Gibt es einen Ausweg aus der 19% der StudienanfängerInnen weiblich (Bun- I-Methodology? 10
Partizipative Technikgestaltung Tools sind konfigurierbar, ob Kamera, Roboter- arm oder Sensorik oder auch alles gleichzeitig. Im Rahmen digitaler Transformation der Der Vorteil dieser Technologie liegt in der Mög- Gesellschaft stellt sich nun die Frage, wie Par- lichkeit, dass Technik als Prozess verstanden und tizipation erhöht und erlangt werden kann. erfahrbar gemacht werden kann und nicht als undurchdringbares Produkt unberührt bleibt. Der Begriff „Partizipative Softwaregestaltung“ geht im deutschsprachigen Kontext wesent- Die zweite Dimension ist der Inhalt (2). Die lich auf die Arbeiten von Christiane Floyd Aufgabenstellung bezieht sich auf den gesell- – der ersten Informatik-Professorin Deutsch- schaftlichen Anwendungsbereich Gesundheit lands an der TU Berlin – zurück. Bekannt und Pflege. Abbildung 2 stellt die Arbeit einer wurde sie mit STEPS, der „Softwaretechnik Studentin dar, die eine Programmieraufgabe in für evolutionäre, partizipative Systement- der häuslichen Pflege in enger Zusammenarbeit wicklung“ (Floyd u.a. 1989). Dabei handelt es mit einer pflegenden Angehörigen konzipiert und sich um einen prozessorientierten Ansatz der programmierseitig umsetzt. Der Roboter ersetzt Softwaregestaltung, der die funktionale Rolle hierbei nicht die Pflegekraft, sondern unterstützt der Nutzenden beim Arbeiten mit dem System die pflegende Angehörige. Die Unterstützungs- in den Vordergrund rückt und in den Software- gestaltungsprozess von Beginn an partizipativ mit einbezieht. Dieser Ansatz zeitigte in der Informatik einen Paradigmenwechsel im Um- gang mit den – bis dahin tendenziell unbetei- ligten – Nutzenden. Partizipative Softwarege- staltung wird als ein zentraler Ansatz für die Einbeziehung der Geschlechterperspektive eingeschätzt, um der I-Methodology-Proble- matik entgegenzuwirken und den Frauenanteil in der IT insgesamt zu stärken. Somit reicht es keinesfalls aus, einfach nur mehr InformatikerInnen auszubilden. Diese Fachkräfte müssen auch neue partizipative Methoden der Technikgestaltung erlernen. Auch müssen Maßnahmen umgesetzt werden, die Diversität/Gender beinhalten. Wie lassen sich insbesondere diese Gender-Aspekte in die praxisbezogene IT-Lehre umsetzen? (Wirtschafts-)Informatik und Gender in Aktion Abb. 1: Volksbot Die Einbeziehung von Gender-Aspekten vollzieht sich im Rahmen der IT-Lehre an der leistung ist das Bringen von Wasser oder Tab- Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) letten durch den Roboter, sowie der autonome Berlin im Rahmen der Lehrveranstaltung Wäschetransport in das Badezimmer. „Projekt Software Engineering“ auf vier Ebe- nen: Technologien (1), Inhalt (2), Didaktik (3) Die dritte Dimension bezieht sich auf die Didaktik und Vernetzung (4). (3). Um der Gefahr der I-Methodology zu begeg- nen wird darauf geachtet, dass die Projektgrup- Im Folgenden werden diese vier Dimensionen pen divers ausgerichtet sind. Die Roboter werden beispielhaft für den Robotik-Bereich kurz nur an Gruppen vergeben, die einen Frauenanteil skizziert: Die eingesetzte Technologie (1) von 50% und/oder einen hohen Anteil an muss gestaltbar und offen sein, um zu ge- Personen mit Migrationshintergrund aufweisen. währleisten, dass die InformatikerInnen die Außerdem wird von der Betreuungsseite her auf Roboter an die Bedürfnisse der Nutzenden eine gender/diversity-bewusste Didaktik geach- anpassen können. Der Volksbot des Fraunho- tet. fer Instituts (Abb. 1) bietet die ideale Voraus- setzung, um die Nutzungsperspektive einzu- Als vierte und letzte Dimension kommt der Punkt beziehen. Alle Komponenten, Instrumente und Vernetzung (4) zum Tragen. Alle Projektgruppen 11
STIMME Emanzipationsprozesse im Rückspiegel Die Revolte Revolte der späten 1960er Jahre hatte vielen Studierenden in Österreich neue Impulse gegeben und ihnen Mut gemacht, innovative gesellschaftlich-emanzipatorische Ansätze zu ver- ver- folgen. Bei mir führte dies zur Verstärkung meiner persönlichen persönlichen Neigungen. Schon als 14-jähriger Mittelschüler habe ich freiwillig am Bau gearbeitet, um das Leben der Arbeiter kennenzuler- kennenzuler- nen. Später, als Mitarbeiter Mitarbeiter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, beschäftigte ich mich mit den damals neuesten Technologien und vertiefte diese Erfahrung, indem ich an der verstaatlichten verstaa tlichten Werft Korneuburg regelmäßig den Arbeiter- und Angestellten-Betriebsrat besuchte. Damals wurde gerade der Konstruktionsprozess von Schiffsbauteilen von Handzeichnun- Handzeichnun- gen auf Papier in tatsächlicher tatsächlicher Größe auf Computerunterstütztes Design umgestellt, was mit großen Produktivitätszuwächsen Produktivitätszuwächsen verbunden war. Ich versuchte, die Betriebsräte dafür zu gewinnen, eine Technolo- Technolo- giekommission zu gründen, die gegenüber der Geschäftsleitung als Gegenleistung für die technische Umstellung zusätzliche Freizeit oder höhere Bezahlung fordern könnte. Anfangs verliefen meine Bemühungen im Sande, da die ArbeiterInnen sich nicht für die technischen Veränderungen im Betrieb interessierten und alle derartigen Überlegungen den Angestellten überließen, die sich wiederum den ArbeiterInnen überlegen fühlten und daher kaum intensiven Kontakt zu ihnen hielten. hielten. Erst nach einigen Monaten gelang es, die beiden Betriebsratsgruppen zum gemeinsamen Vorgehen zu bringen und eine Technologiekommission zu fordern. Aber da war es zu spät. 1991 wurde die Werft mangels Aufträgen (sie hatte vor allem für die Sowjetunion und für das Bundesheer produziert) privatisiert und 1993 geschlossen. Aber auch in die Büros der Akademie selbst drangen in den 1980er Jahren die elektronischen Technologien ein, hier in Form der Textverarbeitung, die das unflexible und unbequeme Schreib- Schreib- maschinenschreiben ablöste und den Output zumindest quantita- quantita- tiv steigerte. Mein Vorschlag war daher, die dadurch gewonnene Freizeit in die Weiterbildung der MitarbeiterInnen MitarbeiterInnen zu investieren. Unsere erste Publikation wurde daher von WissenschaftlerInnen und SekretärInnen gemeinsam gemeinsam geschrieben (umgekehrt kochten auch die Wissenschaftler Kaffee) – eine allerdings nur kurzlebige Praxis. Immerhin hat eine der Sekretärinnen – angeregt angeregt durch diese Möglichkeit – später ein Studium als Doktorin der Geschich- Geschich- te abgeschlossen. Peter Karl Fleissner, geb. 1944. Bis 2006 o.Univ.-Prof. für Sozialkybernetik an der TU Wien, dazwischen Abteilungsleiter am Institut für Prospektive Technologische Studien der Europäischen Kommission in Sevilla und an der Europäischen Europäischen Beobach- Beobach- tungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Wien. 12
Abb. 2: Einsatzszenario Robotik in der häuslichen Pflege müssen im Rahmen einer öffentlichen Präsenta- Durch die konsequente Einbeziehung der Ge- tion ihre Produkte zusammen mit den Auftragge- schlechterperspektive können neue Lehr- und berInnen vorstellen. Will man die Stellschrauben Lernkonzepte in der Informatik einen niedrig- einer anwendungsbezogenen partizipativen schwelligen Einstieg und Sensibilisierung in Softwareentwicklung richtig einstellen, muss der die aktuelle Debatte der digitalen Transforma- Zusammenhang von IT-Entwicklung und Diver- tion bieten. Kurzum: Partizipation + Gender = sität/Gender konsequent ins Zentrum gerückt digitale Souveränität - und da wollen wir doch werden. Durch die Präsentation der Projekt- alle hin. gruppen wird der Zusammenhang von Diversität/ Gender und Technikgestaltung im Rahmen einer breiten Öffentlichkeit thematisiert und diskutiert. Literatur Bisnode-Studien (2016): Industrie 4.0; Frauen im Managment;Studie in Kooperation des Kompetenzzentrums Frauen im Ma- nagement, Hochschule Osnabrück mit Bisnode Deutschland GmbH, April 2016 BITKOM (2015): Digitale Souveränität, Positionsbestimmung und erste Handlungsempfehlungen für Deutschland und Europa. Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V., Berlin, 1-24 Bundesagentur für Arbeit (BA) (2019): Statistik der Bundesagentur für Arbeit Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt–IT-Fachleu- te, Nürnberg, April 2019. Online unter: https://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Berufe/ generische-Publikationen/Broschuere-Informatik.pdf. Abgerufen am 11.05.2019 Floyd, Christiane; Reisin, Fanny-Michaela; Schmidt, Gerthardt (1989): STEPS to Software Development with Users., In: C. Ghezzi, J.A. McDermid (Hrsg.). ESEC ‘89, Lecture Notes in Computer Science no. 387. Springer, 1989. S. 48–64. SVRV (2017): Sachverständigenrat für Verbraucherfragen ; Digitale Souveränität, Gutachten des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen; Seite 1-38; Zugriff: 16.4.2919: http://www.svr-verbraucherfragen.de/wp-content/uploads/Gutachten_Di- gitale_Souver%C3%A4nit%C3%A4t_.pdf Oudshoorn, Nelly; Els Rommes, Els and Stienstra, Marcelle (2004): Configuring the User as Everybody: Gender and Design Cultures in Information and Communication Technologies, Science, Technology & Human Values Rau, Harald (2016): Der Souverän – wir haben ihn längst zu Grabe getragen. In M. Friedrichsen & P.-J. Bisa (Hrsg.), Digitale Souveränität: Vertrauen in der Netzwerkgesellschaft Wiesbaden: Springer VS, S. 79-92. Heike Wiesner ist seit 2009 Professorin für „Betriebliche Informations- und Kommunikations- systeme“ im Studiengang Wirtschaftsinformatik an der Hochschule für Wirtschaft und Recht, Berlin. Ihre aktuellen Forschungen sind: Transformative Technologien, Partizipative Softwaregestaltung sowie Diversity/Gender-Forschung. Mitautorinnen: Ina Tripp, Judith Schütze und Elif Erol, alle Hochschule für Wirtschaft und Recht, Berlin 13
Geschlechtergerechtigkeit in der digitalen Stadt Städtische Räume sind nicht geschlechtsneutral. In den aktuellen urbanen Digitalisierungs- debatten wird eine Zukunftsnarration etabliert, die es daher offensiv im Hinblick auf soziale Verteilungs- und Geschlechtergerechtigkeit in der Stadt zu hinterfragen gilt. Urbane Räume sind mittlerweile über digitale Optimierung des städtischen Lebens beiträgt Sensoren mit ihren BewohnerInnen über Smart- oder ob sie bestehende Ungerechtigkeiten phones und andere Geräte vernetzt und dies weiter verschärft. verändert sowohl Versorgungsbeziehungen als auch Interaktionsformen. Immer mehr Stadtre- … Geschlechtergerechtigkeit gierungen verfolgen zudem das Ziel, Smart City ist es (noch) nicht! zu werden – eine Stadt, in der Infrastruktur- und Dienstleistungsangebote durch Informations- Soziale Ungerechtigkeiten lassen sich nicht und Kommunikationstechnologien (IKT) ge- technologisch angehen. Vielmehr ist das steuert werden und eine hohe Lebensqualität Vorantreiben der Digitalisierung als Akzeptanz versprechen (sauber, sicher, gesund) sowie ein eines politischen Programms zu interpretie- effizientes Management der Daseinsvorsorge. ren, das bspw. auch Gender Mainstreaming oder Diversity Management in der Stadtpolitik Digital wird normal … durchzieht. In beiden Fällen stellt die Bekämp- fung von Ungleichheitsstrukturen den Aus- Städte bekommen also eine digitale Haube: gangspunkt dar; in beiden Fällen wurde dieses Durch die Ausstattung urbaner Räume mit Anliegen strategisch so funktionalisiert, dass Sensoren lassen sich Verkehrsflüsse, Abfall- es eher in der Entpolitisierung von Ungleich- aufkommen, Umwelt- und Gesundheitsbelas- heitsstrukturen resultiert: Ziel ist dann nicht tungen uvm. in Echtzeit erfassen, verarbeiten länger soziale Gerechtigkeit, sondern – über und kommunizieren. Aus den Daten lassen sich die Anerkennung von Ungleichheit – die allgemeine Konsum- und Mobilitätsmuster sowie Akzeptanz von Ungerechtigkeit. Identitäts- individuelle Nutzungs- und Bewegungsprofile kategorien und –stereotype wie Geschlecht erstellen. Durch die Weiterverarbeitung in städti- werden zudem nicht nur im Alltag und durch schen Datenzentralen wird versucht, das urbane Institutionen normiert, sie werden auch durch Leben durch digitale Steuerung zu optimieren, die Datenerhebung und -analyse reproduziert. z.B. durch Vermeidung von Verkehrsstaus, von Die Effekte der Digitalisierung urbaner Infra- negativen Umwelteinflüssen oder ‘gefährlichen strukturen auf die Lebensumstände von Men- Orten‘. schen und auf die Qualität urbaner Diversität sind jenseits von Einzelbeispielen allerdings Die Digitalisierung öffentlicher wie privater All- bislang kaum thematisiert und untersucht – tagsräume – sofern sich diese Unterscheidung ebenso wenig wie die vergeschlechtlichten im smarten Zeitalter noch aufrechterhalten lässt oder rassifizierten Formen datenbasierter – basiert folglich auf den sich rasant entwi- Diskriminierungen. ckelnden technologischen Machbarkeiten. Doch die Möglichkeiten produzieren auch vermehrt Gerechtigkeit Unsicherheiten und Ungerechtigkeiten – und viel in der digitalen Stadt … zu selten sind sie an konkrete gesellschaftliche Probleme wie bspw. Energie- und Bildungsarmut, Durch ein Zusammenbringen von soziokultu- Bevölkerungssegregation durch Wohnraum- reller Diversität als Qualität mit der Forderung knappheit oder die Auswirkungen des Klimawan- nach sozio-ökonomischer Umverteilung lässt dels gebunden. Es stellt sich daher die Frage, sich hingegen soziale Gerechtigkeit vorantrei- inwiefern die Digitalisierung tatsächlich zur ben: Mit Blick auf die Digitalisierung urbaner 14
Infrastrukturen und Räume umfasst dies bspw. öffentlichen Mitteln subventioniert, die dann in die Finanzierung einer Rekommunalisierung anderen Bereichen fehlen. der Daseinsvorsorge (insbesondere in den Bereichen Wohnen, Gesundheit, Bildung … und Recht auf digitale Stadt und Energie) anstelle einer smarten Aufwer- tung einzelner Stadtteile; dazu gehört auch Gerade weil technologische Innovationen die eine Flächengerechtigkeit für nachhaltige Alltagspraktiken und Raumnutzungen in Städten Mobilität, die Rad-und Fußwege gegenüber beeinflussen, müssen sie sich stärker an den Straßen- und Parkraumflächen favorisiert. Lebensrealitäten aller StadtbewohnerInnen Soziokulturelle Diversität anzuerkennen ist orientieren. Die fortschreitende Digitalisierung also weder gleichzusetzen mit Akzeptanz von darf nicht länger auf technologiebasierten Ungleichheit, noch mit der Forderung nach Utopismus reduziert werden, sie muss um soziale Gleichheit. Vielmehr geht es um Respekt vor (und auch ökologische) Transformationsprozesse verschiedensten Identitätspositionen und und Gerechtigkeitspotenziale erweitert werden. um materielle Umverteilung. Denn insgesamt Es geht dabei erstens darum, die technologi- forcieren Smart Cities die Marginalisierung schen Machbarkeiten sozial – und sozial gerecht bereits benachteiligter Bevölkerungsteile: Die – zu gestalten. Dazu gehört zweitens intensiver Umsetzung von smarten Strategien in ohnehin zu diskutieren, welche Möglichkeiten die IKT zur besser ausgestatteten Stadtteilen lässt reiche Demokratisierung urbanen Zusammenlebens BewohnerInnen stärker von den öffentlichen beitragen können und drittens, ein Recht auf Investitionen profitieren als ärmere – und digitale Stadt, das auf der technologischen dies verschärft sozialräumliche Segregation. Souveränität der BewohnerInnen – nicht auf der Außerdem wird diese Aufwertung aus technologieoptimierten Stadt – basiert. Zum Ein- und Weiterlesen: Bauriedl, Sybille & Anke Strüver (Hg.)(2018): Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten. Bielefeld. Doderer, Yvonne (2016): Glänzende Städte. Geschlechter- und andere Verhältnisse in Stadtentwürfen für das 21. Jahrhundert. München. Anke Strüver ist Professorin für Humangeographie mit dem Schwerpunkt Stadtforschung am Institut für Geographie und Raumforschung der Universität Graz. Ihr thematischer Fokus liegt auf den Wechselverhältnissen von Raum- und Subjektkonstitution auf der Mikroebene städtischer Alltagsräume. 15
Digitalisierung innovativ und gendergerecht gestalten Frauenarbeitsplätze sind von den digitalen Veränderungen stark betroffen. Was braucht es, damit dieser Wandel für Arbeitsmarktchancen genutzt werden kann? Alles neu in der digitalen Arbeitswelt? Ist die vor rar. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass es, mühsame analoge Gleichstellungspolitik end- wie beispielsweise Bergmann (u.a.) feststellen, lich obsolet in den lichten Höhen der egalitären unter dem Label „Industrie 4.0“ gelungen ist, Technikwelt? Oder müssen wir uns vor massiven die eigentlich branchenübergreifend stattfin- Verlusten von Jobs fürchten wie in regelmäßigen denden Entwicklungen im Zusammenhang Abständen Beschäftigungsprognosen1 voraus- mit Digitalisierung stark auf die männlich sagen? Zwischen diesen zwei Extremen werden dominierte und konnotierte Industrie zu oftmals die Auswirkungen der Digitalisierung auf fokussieren2. Ein sehr enger Fokus, insbeson- die Frauenbeschäftigung in der Öffentlichkeit dere wenn es um die Chancen und Risiken für abgehandelt. Aber was braucht es wirklich, damit Beschäftigte geht. Denn mehr als acht von zehn Frauen und knapp sechs von 10 Männern arbeiten nicht in der Industrie, sondern im Je weniger darüber Dienstleistungssektor. Die Erwartungen auf eine deutliche Verbes- gesprochen wird, umso serung der Jobchancen in diesem Segment haben sich bislang nicht erfüllt. So beträgt beispielweise der Frauenanteil im boomenden wirkmächtiger ist die IKT-Sektor nur zwischen 10 und 12 Prozent. Hier wird zurecht auf den viel zu niedrigen Geschlechterdifferenz. Frauenanteil in den naturwissenschaftlich- technischen Ausbildungsberufen und Studien- fächern verwiesen, aber viel zu wenig wird der Fokus auf Betriebskulturen (inklusive PAULA-IRENE VILLA Arbeitszeitregime), die Zugang und Verbleib von Frauen in diesen Berufen nach wie vor schwierig gestalten, gelegt. die mit der Digitalisierung einhergehenden Ver- änderungen für Arbeitsmarktchancen von Frauen Veränderungen im Dienst- genutzt werden können? leistungsbereich Die Beschäftigungsprognosen sind sehr unter- Die klassischen Frauenbranchen im Dienst- schiedlich. Eindeutig ist, dass sich viele Tätig- leistungsbereich sind sehr stark von Ände- keitsbereiche in und zwischen verschiedenen rungen der Tätigkeitsbereiche durch Automa- Branchen stark verändern und diese Verände- tisierungen betroffen. „Überall dort, wo wir rungen auch sehr stark Frauenarbeitsplätze in den vergangenen zehn Jahren begonnen betreffen. haben Excel-Listen zu machen, machen nun mehr und mehr Computerapplikationen diese Enger Fokus „Industrie 4.0“ Arbeit.3“, veranschaulicht beispielsweise Agnes Streissler-Führer von der Gewerkschaft Analysen, die die Geschlechterdimension von di- GPA-djp das insgesamt von ExpertInnen sehr gitalen Transfomationsprozessen aufzeigen und hoch eingeschätzte Automatisierungs- die konkreten Auswirkungen auf dem Arbeits- potenzial in den Bereichen Verwaltung, Buch- markt für Frauen im Blick haben, sind nach wie haltung, Rechnungswesen, etc. 16
Am Beispiel der Banken, als wohl einer der am Und nicht zuletzt braucht es verstärkte betrieb- stärksten von digitaler Transformation betrof- liche Gleichstellungsmaßnahmen, damit die fenen Branchen, lässt sich sehr gut aufzeigen, Implementierung neuer Technologien in Richtung wie weit fortgeschritten diese Entwicklungen mehr Geschlechtergerechtigkeit genutzt werden mittlerweile bereits sind. Mit 40.000 beschäf- kann und nicht zu einem Vehikel zur Verfestigung tigten Frauen (2018), das sind 55 % aller dort von Geschlechtssegmentierung wird. Beschäftigten, ist sie nicht nur quantitativ ein wichtiger Beschäftigungsbereich von Frauen, Beschäftigte als ExpertInnen sondern auch in qualitativer Hinsicht. Denn die Banken gehören zu den (wenigen) Bran- Es bringt nicht nur den Beschäftigten Vorteile, chen im Privatsektor, in denen gut qualifizier- wenn sie bereits in die Entwicklung und Imple- te Frauen (mit einem im Branchenvergleich mentierung neuer Technologien einbezogen wer- überdurchschnittlich hohen Anteil von Frauen den. Ein Beispiel aus dem Industriebereich veran- mit Uni- und Matura-Abschluss) traditionell schaulicht das sehr gut. So hat im Rahmen eines gut bezahlte Jobs haben. Aber genau diese Projekts6 die Einbeziehung der Erfahrungen von Tätigkeiten im mittleren Qualifikationsbereich, MaschinenbedienerInnen an Lasergravurmaschi- wie Betriebsrätinnen berichten, sind stark nen unter systematischer Berücksichtigung der betroffen: Deutlich weniger MitabeiterInnen Dimension Geschlecht sehr positive Ergebnisse in den Filialen, weil vieles von KundInnen gebracht. Neben der Arbeitszufriedenheit der am Selbstbedienungsautomat oder Online Beschäftigten, die sich erhöht hat, konnten auch zuhause erledigt wird. Ebenso werden in den die Maschinen und ihre Funktionalität verbessert Bereichen Beratung, Risikobewertung und werden, was sich in höheren Verkaufszahlen nie- Vertragsabwicklung standardisierte Bank- derschlug. Ein Ansatz der sicher auch in anderen tätigkeiten zunehmend automatisiert. So ist Branchen und Tätigkeitsfeldern erfolgverspre- es bereits bei einigen Banken möglich, via chend verfolgt werden könnte. Videoidentifizierung von Ausweis und Gesicht, ein Konto zu eröffnen ohne auch nur einen Fuß in eine Bankfiliale zu setzen. Es entstehen natürlich auch neue Jobs in einigen hochqualifizierten Bereichen. Hier ist allerdings eine Verschiebung in Richtung mathematische, statistische und IT-Qualifika- tionsprofile bemerkbar, die allerdings nach wie 1 Zuletzt z.B.:https://derstandard.at/2000099585407/ vor männlich dominiert sind – und die entstan- Studie-Frauen-verlieren-Jobs-durch-Automatisie- denen Jobverluste in den letzten Jahren (bis- rung-eher-als-Maenner lang) nicht wettmachen konnten5. Weiterhin 2 Bergmann, Nadja/Lechner, Ferdinand/Gassler, Helmut/ hauptsächlich an Arbeitsplätzen zu sparen, ist Pretterhofer, Nicolas (2017): Digitalisierung–Industrie 4.0 - Arbeit 4.0 – Gender 4.0 allerdings alles andere als eine zukunftswei- 3 Agnes Streissler, in: Digitalisierung und Beschäftigung – sende Strategie. Nicht Schulung, sondern Bildung!, AMS Info 432, Oktober 2018 Neben nachhaltigen Geschäftsmodellen, die 4 Siehe dazu weitere AK-Forderungen: https://www.arbei- nur unter entsprechender Einbindung des terkammer.at/banken Betriebsrats erfolgversprechend sein werden, 5 Die Beschäftigung im Bankensektor ist von 80.293 braucht es eine vorausschauende und strate- (2008) auf 73.508 (2018= gesunken. Zusätzlich ist Teilzeit gische Um- und Aufbauqualifikation für Arbeit- überdurchschnittlich stark gestiegen. nehmerInnen, deren Arbeitsplätze wegzufallen 6 Projekt Ge:MMaS – Genderspezifische Anforderungen für die Entwicklung neuer Maschinen unter Berücksichti- drohen bzw. deren Arbeitsplätze sich massiv gung der Mensch-Maschine-Schnittstelle, beschrieben in: verändern werden. Und es braucht ein Recht Weg, Marianne, Stolz-Willig, Brigitte: Agenda Gute Arbeit: auf und Zeit für Qualifizierung4. geschlechtergerecht!, Hamburg 2014. S. 158ff. Gerlinde Hauer, Mitarbeiterin der Abteilung Frauen und Familie der AK Wien, hat mehrere Artikel zu Digitalisierung und Gleichstellung veröffentlicht, z.B. gemeinsam mit Petra Sauer und Barbara Hofmann „Digitalisierung hat (k)ein Geschlecht“, in WISO 3/2017, S. 119ff. 17
praxis_nah KRITIK Der AMS-Algorithmus und die Wirkungen auf Arbeitsmarktchancen von Frauen Im Arbeitsmarktservice wird der Einsatz eines Integrationschancen-Indikators bei der Betreuung von Arbeitsuchenden eingeführt. Seit November 2018 wird der Indikator für jede/n Arbeitsuchenden ermittelt, mit 2020 soll er auch handlungsan- leitend sein. Unterschieden wird in drei Gruppen: Personen mit hoher, mittlerer und niedriger Integrationschance. Personen mit hohen Integrationschancen sollen in erster Linie vermittelt werden. Personen mit niedrigen Integrationschancen soll nur ein eingeschränktes Förderangebot zur Verfügung stehen. Nur der mittleren Grup- pe stehen grundsätzlich alle Förderungen offen. Für die Zuteilung zu den Gruppen ist eine Vielzahl von Indikatoren wie Geschlecht, Alter, Ausbildung und Vorkarriere verantwortlich. Bei Frauen sind auch Betreuungspflichten maßgeblich. Dies löste eine Diskussion darüber aus, ob die – unbestrittene – Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt durch den Algorithmus verstärkt oder einfach abgebildet wird. Das Indikatorensetting und der Einsatz des Algorithmus sind nicht mehr beein- flussbar, daher muss der Fokus darauf liegen, dass die arbeitsmarktpolitischen Schlussfolgerungen aus der Einstufung Frauen nicht zusätzlich benachteiligen. 2018 waren 9% der arbeitslosen Frauen in der Gruppe mit hohen Vermittlungs- chancen, 62% in der mittleren und 29% waren im Segment niedrige Integrations- chancen. Ziel muss sein, dass auch Frauen mit niedrigen Integrationschancen die Möglichkeit haben, an den Frauenprogrammen wie Wiedereinstieg mit Zukunft, den Frauenberufszentren sowie anschließenden Qualifizierungen teilzunehmen. Die wenig fördernde Haltung der Sozialministerin zu Frauen in der Arbeitsmarkt- politik in ihren arbeitsmarktpolitischen Zielvorgaben ist hier leider wenig hilfreich. Es ist zu hoffen, dass der Verwaltungsrat des AMS, bestehend aus Arbeitnehmer-, Arbeitgeber- und RegierungsvertreterInnen trotzdem dafür sorgt, dass die Chancen für einen nachhaltigen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt für alle Frauen gewahrt werden. Silvia Hofbauer, stellvertretende Leiterin der Abteilung Arbeitsmarkt und Integration der Arbeiter- kammer Wien. Expertin für österreichische und internationale Arbeitsmarktpolitik. 18
HINTERFRAGEN Algorithmen in der Personalauswahl Der Einsatz von Algorithmen im Personalbereich logiebranche in den Jahren vorher meist wird heiß diskutiert. Einerseits verspricht man Männer rekrutierte, kam der Algorithmus sich davon effizientere Prozesse. Andererseits zu dem Schluss, Bewerbungen von Frauen sollen Algorithmen rein faktenbasiert bewerten schlechter einzustufen. Dies galt sogar für und menschliche Bias wie Homophilie oder genderneutrale Bewerbungen, so wurde die Gender-Diskriminierung verhindern. Die Methode Ausbildung auf rein weiblichen Universitäten beruht dabei auf Mustererkennung, bei der als Malus gewertet. Da nicht sichergestellt Software große Datenmengen aus Lebensläufen, werden konnte, dass weitere Muster nicht Zeugnissen und internen Beurteilungen auf Mus- andere Gruppen diskriminieren würden, ter erfolgreicher Besetzungen scannt. wurde der Algorithmus trotz Anpassungen kürzlich abgeschaltet. Praktisch zeigen sich aber gemischte Ergeb- nisse: So ergab eine Studie der Carnegie Mellon Es zeigt sich, dass diese vermeintlich neu- University, dass Frauen über Google deutlich tralen Algorithmen immer nur so gut wie die weniger Anzeigen für hochbezahlte Jobs ange- durch die EntwicklerInnen zur Verfügung ge- zeigt wurden. Der Algorithmus optimierte die stellten Ausgangsdaten sind und oft nur vor- Anzeigenschaltung gemäß den (vermeintlichen) handene Strukturen reproduzieren. Daher Interessen der UserInnen - und bei Frauen war besteht die große Herausforderung darin, die Wahrscheinlichkeit eines entsprechenden Algorithmen anhand explizit und implizit dis- Klicks einfach geringer als bei Männern. kriminierungsfreier Datensätze zu trainieren, meint der Forscher Sven Laumer. Dazu sei Bei Amazon wurde seit 2014 intern eine Software es wichtig, die Software immer wieder zu zum Herausfiltern der besten Bewerbungen hinterfragen und entsprechend anzupassen. entwickelt. Da Amazon als Teil der Techno- Johannes Kirch beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Personalthemen und Diversity. Nach 10 Jahren im Human Resource Consulting wechselte er in die Wissenschaft. Neben seiner Professur für Human Resource Management an der bbw Hochschule in Berlin forscht er in verschiedenen Projekten. 19
Gründen Frauen anders? Jede Person hat das Potenzial zur Unterneh- In der Folge zwei Methoden, ein Geschäfts- merIn (Faltin, 2008). Es sind die lebensoffenen, modell zu entwickeln. aufmerksamen Menschen, die anders denken, Möglichkeiten sehen und so neue Produkte, Ein erstes Tool umfasst die Beantwortung von Dienstleistungen oder innovative Projekte in die vier Fragen (Gassmann et al., 2013): Welt bringen. Unternehmerisches Potenzial ist somit keine Frage des Geschlechts, sondern des 1. Wer ist der Wunschkunde, die Wunsch- Vorgehens. Der Weg, ein eigenes Unternehmen kundin? (KundInnensegment) zu gründen, ist jedoch mitunter steinig und birgt 2. Was wird angeboten? (KundInnennutzen) allerlei Risiken und Hindernisse. Strategisches 3. Wie wird der Wert erbracht? (Leistungs- Denken und Geschäftsmodelle können unter- erstellung) stützen, neue Produkte und Dienstleistungen 4. Wie erfolgt der Ertrag? (Einnahme- strukturiert zu entwickeln und marktfähig zu ma- quellen) chen. UnternehmerInnentum ist also keine Kunst, sondern Handwerk und erlernbar. Eine andere Möglichkeit ist eine visuelle Dar- stellung von Einzelideen, die zu einem markt- Geschäftsmodell ist zentral fähigen Geschäftsmodell im „Business Model Canvas“ von Osterwalder (2011) zusammen- Ideen zu haben ist das eine, sie erfolgreich um- gefügt werden. Dabei können unterschiedliche zusetzen das andere. Die Arbeit beginnt also im Blickwinkel abgebildet und so verschiedene Kopf. Es braucht ein stimmiges Konzept, das zur Varianten des Geschäftsmodells durchdacht Person des Gründers bzw. der Gründerin passt werden. und Fähigkeiten und Talente nutzt. Das A und O ist die Ausarbeitung einer Idee zu einem trag- UnternehmerInnentum bedeutet in der heuti- fähigen Geschäftsmodell, das beschreibt, wie gen Zeit, nicht im stillen Kämmerlein ein Pro- verschiedene geschäftliche Aspekte zusam- dukt zu entwickeln, sondern gemeinsam mit menpassen und wie ein Alleinstellungsmerkmal potentiellen KundInnen deren Bedürfnisse und gegenüber potentiellen KundInnen entsteht. Wünsche frühzeitig zu integrieren. Der große 20
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