Digitalisierung der gesundheitlichen Versorgung - Kompetenzentwicklung im Dialog: smart, flexibel, professionsübergreifend - Praeview
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Digitalisierung der gesundheitlichen Versorgung. Kompetenzentwicklung im Dialog: smart, flexibel, professionsübergreifend Impulse für Arbeit, Bildung, Gesundheit, Lebensqualität 10,– Euro | ISSN 2198-9273 1 | 2022
Digitalisierung der gesundheitlichen Versorgung. Kompetenzentwicklung im Dialog: smart, flexibel, professionsübergreifend 2 Inhaltsverzeichnis 3 Geleitwort/Impressum 4 Digitale Kommunikation als Chance für eine multiprofessionelle und sektorübergreifende Gesundheitsversorgung Diane Langel, Martina Schrage 6 Digitale Transformation in der (physio-)therapeutischen Praxis Martin Helmes 8 Digitale Transformation in der Pflege – Chancen und Grenzen der technischen Unterstützung von Interaktionsarbeit Heidrun Großmann, Lena Hintzen, Paul Fuchs-Frohnhofen 10 Die elektronische Fallakte: Zentraler Baustein der digitalisierten sektoren- und professionsübergreifenden Versorgung Rainer Fehling 12 Unterstützung der Digitalisierung im Gesundheitswesen durch systematische Kompetenzentwicklung – Das Projekt DIKOMP Rainer Ollmann, Philipp Topp, Kurt-Georg Ciesinger 14 „Digitalisierung ist eine Haltungsfrage der Menschen in der Versorgungskette“ Doppelinterview mit Cornelia Schlebusch und Dr. Volker Schrage 16 DIKOMP – Die smarte App zur Erfassung digitaler Kompetenzen Kurt-Georg Ciesinger, Philipp Topp 18 Von der individuellen zur organisationalen Weiterbildungsplanung – Einsatz der App DIKOMP in Praxen und Einrichtungen Philipp Topp, Kurt-Georg Ciesinger 20 Mit Selbstmonitoring gegen „digitalen Stress“ – Die App DOSIMIRROR Kurt-Georg Ciesinger 22 „Man kann nicht nicht lernen“ – Weiterbildung im Dialog Philipp Topp, Kurt-Georg Ciesinger 24 Von Bildungsnuggets und Selbstlernmedien – Die DIKOMP Weiterbildungsangebote Philipp Topp, Kurt-Georg Ciesinger 26 Weiterbildung in einer digitalisierten Zeit – Oder: Was wir aus der Coronakrise gelernt haben (könnten) Jörg Schlüpmann 2
GELEITWORT Die Corona-Pandemie hat mehr als deutlich ge- terbildung eine zentrale Rolle. Bei fast vier Mil- zeigt, dass die im Gesundheitswesen arbeiten- lionen Beschäftigten und rund dreißig sehr un- den Menschen für das Funktionieren und den terschiedlichen Kernberufen im Gesundheits- Zusammenhalt unserer Gesellschaft enorm wesen erfordert eine rasche „digitale Kompetenz- wichtig sind. Und sie hat gezeigt: Digitalisierung entwicklung“ in der Fläche ein breites Bündnis in der Breite ist der Schlüssel für eine bessere aus Politik, institutionellen Gesundheitsak- Information und Kommunikation, für mehr Fle- teur*innen und Weiterbildungsdienstleister*in- xibilität, Effizienz und Behandlungssicherheit – nen. Das Projekt DIKOMP ist ein wichtiger und kurz: für eine qualitativ hochwertige gesund- nachhaltiger Baustein einer solchen Weiterbil- heitliche Versorgung. Menschen und Technik dungsinitiative. müssen aber auch zusammenkommen, sie müs- sen möglichst optimal zusammenwirken. Und Thomas Müller, Vorstand der Kassenärztlichen hier wiederum spielen Qualifizierung und Wei- Vereinigung Westfalen-Lippe Thomas Müller Impressum transfær – Digitalisierung der gesundheitlichen Abbildungen: stock.adobe.com: sdecoret (Titel o., S. 2,), Halfpoint (Titel u., S. 2, S. 3, S. 5), greenbutterfly Versorgung. Kompetenzentwicklung im Dialog: (S. 2, S. 28 o.), Robert Kneschke (S. 2. S. 9, S. 28 u.), Jacob Lund (S. 2.), twinsterphoto (S. 2.), WavebreakMe- smart, flexibel, professionsübergreifend diaMicro (S. 6), teroveslainen (S. 11), daniilvolkov (S. 12), sebra (S. 16), AnnaStills (S. 18), Tiko (S. 21), fizkes 9. Jahrgang 2022 – ISSN 2198-9273 (S. 22), insta_photos (S. 25), Studio_East (S. 27). Erscheinungsort Essen Verlag: GMF / Gathmann Michaelis und Freunde Diese Ausgabe der Zeitschrift transfær basiert auf Konzepten und Ergebnissen der folgenden Projekte: Kommunikationsdesign æ „DIKOMP – Digitale Kompetenzen. Unterstützung von Telemedizin und E-Health-Anwendungen durch v.i.S.d.P.: Andre Michaelis systematische Kompetenzentwicklung“ (EFRE 0801856; AZ: GE-2-2-001A/B) Lektorat: Sabine Schollas æ „AIDA – Arbeitsentwicklung in der Altenpflege durch Einführung eines telemedizinischen Notdienst- Druck: print24.de Konzeptes“ (EFRE 0801891; AZ: GE-2-2-009D) Layout: Q3 design GbR, Dortmund æ „I/E-Health NRW – Hand in Hand bestens versorgt“ (EFRE: EFRE-0800604; AZ: GE-1-1-046) Bezugsadresse / Kontakt: Zeitschrift præview c/o GMF Diese Projekte werden/wurden aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) vom Rosastraße 36, 45130 Essen Land Nordrhein-Westfalen gefördert und von der Leitmarkt Agentur NRW (Projektträger ETN) betreut. https://gmf-design.de, sk@gmf-design.de Abbildungen: Portraits: KVWL (S. 3, Müller); Privat (S. 5, Langel), Stefan Kuberka (S. 5, Schrage); Eva Hilger (S. 7, Helmes); Michale Kosel (S. 9, Großmann, Hintzen, æ „Care and Mobility Innovation – In Zukunft gut versorgt und intelligent mobil“ Fuchs-Frohnhofen); Privat ( S. 11, Fehling); Nicole Mit- (EFRE-0500132; AZ: 34.01.Regio.NRW) tendorf (S. 13; Ollmann), Dieckmann Fotodesign (S. 13, Dieses Projekt wird vom Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie sowie von S. 17, S. 19, S. 23, S. 25, Topp), Dagmar Siebecke (S. 13, der Europäischen Union – Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) im Rahmen des Aufrufs S. 17, S. 19, S. 21, S. 23, S. 25, Ciesinger); DAA West- „Regio.NRW – Innovation und Transfer“ gefördert. falen (S. 27, Schlüpmann). transfær 1 | 2022 3
Digitale Kommunikation als Chance für eine multiprofessionelle und sektorübergreifende Gesundheitsversorgung Diane Langel, Martina Schrage Der demografische Wandel zeigt in Deutschland eine Entwicklung hin zu einer stetig älter werdenden Gesellschaft. Parallel zur Lebenserwartung wächst auch die Wahrscheinlichkeit für altersassoziierte chronische Erkrankungen und Multimorbidität. Es ist davon auszugehen, dass zukünftig viele Patient*in- nen von einer ganzen Reihe verschiedener Gesundheitsakteur*innen unterschiedlicher Fachrichtungen betreut werden. Demzufolge wird der sektorenübergreifende Informationsaustausch an den Schnitt- stellen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung sowie zwischen den einzelnen am Behand- lungsprozess beteiligten Professionen an Bedeutung gewinnen. In diesem Rahmen kommt der Telemedizin, ver- Ziel war es, reibungslose Prozessabläufe und di- mente in elektronischer Form bündelt, z.B. Be- standen als Therapie, Beratung und Diagnostik gitale Kommunikationsstrukturen über Sektor- funde, Röntgenbilder, OP-Berichte, Entlassbrie- unter Zuhilfenahme moderner Telekommuni- grenzen hinweg zu etablieren. Das GG.WML – fe, Medikamenten- und Therapiepläne. Dabei kations- und Informationstechnik über räum- Gesundheitsnetz Gemeinsam Westmünsterland versteht sich die EFA als zweckgebunden und liche Grenzen hinweg, eine wichtige Rolle zu. e.V. wurde für die Testung der EFA für demen- bezieht sich lediglich auf einen (komplexen) Be- Während die Einstellung zur Nutzung teleme- ziell erkrankte Menschen ausgewählt. handlungsfall, d.h. die Daten werden nur tem- dizinischer Systeme lange Zeit eher skeptisch porär gespeichert und ein halbes Jahr nach Be- war, zeichnet sich in den letzten Jahren ein Pa- Das Prinzip der EFA besteht darin, dass die erst- handlungsabschluss wieder gelöscht. Viele radigmenwechsel ab, der auch durch verschie- behandelnden Ärzt*innen die Akte nach Zu- bisher analog oder in Papierform ablaufende dene gesetzliche Bestimmungen und Vorhaben stimmung der jeweiligen Patient*innen anlegen Arbeitsschritte können durch die EFA digitali- deutlich wird, beispielsweise durch die Einfüh- (sogenannte arztgeführte Akte). Dabei entschei- siert werden, wodurch z.B. zeitintensive Tele- rung des Termin- und Servicegesetzes (TSVG) den die Patient*innen selbst, welche beteiligten fonate zur Befundanforderung entfallen. Die im Mai 2019, des Digitale-Versorgung-Gesetzes Gesundheitserbringer auf die EFA zugreifen dür- Planung von Folgetherapien kann durch die ge- (DVG) im Dezember 2019 oder des Kranken- fen und können auch die Löschung der Akte meinsame, multiprofessionelle Sicht auf die Pa- hauszukunftsgesetzes (KHZG) im Oktober 2020. jederzeit einfordern. Das Datenschutzkonzept tient*innen sowie den direkten Zugriff auf alle hinter der EFA wurde juristisch geprüft und Behandlungsinformationen zeitnah und lücken- Es herrscht zunehmend Konsens darüber, dass entspricht höchsten europäischen Sicherheits- los erfolgen. sich durch die Telemedizin unnötige Arztkon- und Datenschutzstandards, sodass die Patient*- takte und Doppeluntersuchungen vermeiden innen sich auf einen vertraulichen Austausch Das Erstellen einer EFA ist für alle beteiligten lassen und Patient*innen insbesondere in struk- zwischen allen am Behandlungsprozess Betei- Professionen einfach handhabbar. Das EFA-Por- turschwachen, ländlichen Regionen trotz großer ligten verlassen können. Ambulante und statio- tal wird über das Internet bereitgestellt und ist Entfernungen eine qualitativ hochwertige, näre (Fach-)Ärzt*innen sowie Therapeut*innen ohne vorherige Installation nutzbar. Benötigt wohnortnahe, ineinandergreifende und kosten- können datenschutzgerecht auf alle gespei- werden lediglich eine permanente Internetver- effiziente Betreuung erhalten können. Im Mit- cherten Informationen zum Behandlungspro- bindung und ein normaler Internetbrowser. Die telpunkt stehen dabei zum einen der distanz- zess zugreifen und eigene Befunde hinzufügen. Browsereinstellung muss Cookies und die Ver- überbrückende Austausch von wissenschaft- Das gilt auch für nicht-ärztliche Leistungser- wendung von JavaScript zulassen sowie Pop- licher Expertise (z.B. telemedizinische Konsile), bringende, wie z.B. den Pflegedienst, der im Be- ups für die Domäne des EFA-Providers erlauben. zum anderen der Austausch von diagnostischen handlungsverlauf viel intensiver im täglichen Die Anmeldung erfolgt über spezielle EFA-Zu- und therapeutischen Informationen (z.B. Video- Austausch mit den Patient*innen steht. Dem- gangsdaten. Alternativ gibt es Anwendungs- sprechstunden, Telenotarzt, telemedizinisches zufolge ermöglicht die EFA eine verlässliche, systeme, über die eine EFA genutzt werden Vitalmonitoring). stets aktuelle Befundvollständigkeit und kommt kann, wie z.B. Praxisverwaltungssysteme der der in § 67 SGB V verankerten Kommunikation ambulanten Arztpraxen und das Krankenhaus- Auch die elektronische Fallakte (EFA) dient dem entlang der multiprofessionellen und interdis- informationssystem im stationären Bereich. Hier digitalen Informationsaustausch. Ihre Imple- ziplinären Versorgung nach. liegt bereits eine integrierte Schnittstelle vor, mentierung wurde im Rahmen des Projektes auf die ein direkter Zugriff erfolgen kann, bei- „I/E-Health NRW“ im Leitmarktwettbewerb Ge- Die EFA bietet vom Aufbau her ein strukturiertes spielsweise im ambulanten Bereich über das sundheit.NRW in vier Modellregionen erprobt. Inhaltsverzeichnis, das alle verfügbaren Doku- Netz der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV- 4
INFORMATIONSAUSTAUSCH SafeNet). Die Authentifizierung ist dann mit Umsetzungsschwierigkeiten ab, die an dieser KV-Connect-Zugangsdaten möglich. Stelle aber nur kurz angerissen werden sollen, da die Evaluation noch aussteht: Ein direkter, schneller Zugriff auf die EFA erfolgt über einen verschlüsselten QR-Code auf dem æ Performance der EFA als Engpass im gesam- Überweisungsschein. Dieser sogenannte Token ten Praxisworkflow, gibt den mitbehandelnden Facharzt- und The- æ Behinderung der intersektoralen Kommuni- rapiepraxen oder der Klinik an, dass eine EFA kation durch fehlende Kompatibilität, existiert und sie geöffnet und bearbeitet werden æ fehlende technische Grundkenntnisse der kann. Die Patient*innen erhalten zudem einen Mitarbeiter*innen, Diane Langel, Martina Schrage zusätzlichen Lesezugang über einen Token, der æ Herausforderungen beim flächendeckenden dann im medizinischen Notfall als Zugriffsmög- Einsatz z.B. in Kliniken mit einer Vielzahl von lichkeit auf die Fallakte zur Verfügung stehen Stationen, Krankheitsbildern und Stand- kann. orten, æ Veränderung eingespielter Arbeitsabläufe Mit der EFA liegt somit ein digitales Instrument durch den Einsatz der EFA, vor, das eine koordinierte, effiziente und quali- æ mangelnde Akzeptanz der EFA bei den An- tativ hochwertige Versorgung unter Einhaltung wender*innen, des Daten- und Informationsschutzes ermög- æ mangelnde Akzeptanz der Videosprechstunde licht. Zudem erbringt die EFA eine wichtige Inte- seitens der Patient*innen. grationsleistung in der Überwindung sektoraler Grenzen. Damit das gesamte Gesundheitswesen Hierüber wird zu einen späteren Zeitpunkt zu davon profitieren kann, ist die EFA in ein flä- berichten sein, wenn die Anlaufschwierigkeiten chendeckendes, professions- und sektorenüber- überwunden sind und sich ein klareres und be- greifendes Digitalisierungsmodell zu integrieren, lastbares Bild abzeichnet. das auch weitere telemedizinische Ansätze in den Blick nimmt, etwa die Videosprechstunde, Die Autorinnen das Vitaldatenmonitoring und telemedizinische Dr. PH Diane Langel ist wissenschaftliche Mit- Konsile. Die Bündelung mehrerer telemedizini- arbeiterin, Martina Schrage Geschäftsführerin scher Ansätze auf verschiedenen Ebenen bietet des GG.WML – Gesundheitsnetz Gemeinsam die große Chance, insbesondere die Gesund- WestMünsterLand e.V., einem Zusammen- heitsversorgung von Patient*innen mit multi- schluss von Haus- und Fachärzt*innen aus morbiden Problemlagen und/oder in struktur- Praxis, MVZ und Klinik sowie niedergelassenen schwachen Regionen zukunftsfest zu gestalten. Psychotherapeut*innen in Kooperation mit weiteren nichtärztlichen Leistungserbringer*- In der alltäglichen Praxis zeichnen sich heute innen im Gesundheitswesen. (Stand Frühjahr 2021) aber noch eine Reihe von transfær 1 | 2022 5
Digitale Transformation in der (physio-)therapeutischen Praxis Martin Helmes Die Digitalisierung ist mittlerweile in allen Therapiebereichen an- gekommen. Das gilt sowohl für die Prävention und Rehabilitation als auch für die Akut- und Notfallbehandlung. Diverse digitale Hilfsmittel für Analyse- und Trainingsfunktionen sowie unterstüt- zende Onlineangebote für die Patient*innen stehen mittlerweile flächendeckend zur Verfügung. Die zukünftigen Physiotherapeut*innen sind in Wichtig bei allem Einsatz digitaler die Telematikinfrastruktur eingebunden. Idea- Unterstützungssysteme ist, dass die lerweise nutzen sie die elektronische Patien- Therapierenden – wie bei analogen tenakte und möglichst die digitalen Hilfsmittel, Behandlungen auch – immer genau die die Behandlung effektiver und effizienter wissen, auf welche Art und Weise die Sys- machen. Hierzu gibt es schon einige Möglich- teme funktionieren und was das konkrete keiten, wie z.B. hybride Behandlungsansätze Ziel einer Maßnahme (Behandlung) ist. Da- mit gekoppelten E-Learnings z.B. zur Verhal- durch wird verhindert, dass angeschaffte tensänderung oder zur Schmerzedukation. Systeme aus ökonomischen Gesichtspunk- ten eingesetzt werden, ohne dabei wirklich Bei diesen Ansätzen werden therapeutische einen Nutzen für Patient*innen sicherzu- Testverfahren bzw. Assessments, Präsenzthera- stellen. Dieses Thema ist nicht zu unterschät- pie, Videotherapie und digital begleitete Heim- zen, da die Anschaffung von z.B. Robotik- übungsprogramme sinnvoll miteinander kom- Systemen immer mit einem hohen finanziellen biniert. Der Behandlungsverlauf wird digital Aufwand verbunden ist. erfasst und eine Abrechnung erfolgt einfach durch eine Leistungsfreigabe aus der Dokumen- Den Patient*innen wird in der digitalisierten tationssoftware. Dabei kennen die Therapeut*- Therapiepraxis mehr Eigenverantwortung zu- innen die gesetzlichen Bestimmungen zum gesprochen und „Hands-on-Behandlungen“ Auch Gruppentherapien können in Form von Datenschutz und haben Rechtssicherheit bei nehmen stetig ab, während „Hands-off-Behand- Onlinekursen durchgeführt werden. Hierzu müs- der Videobehandlung von Patient*innen. lungen“ wie die Bewegungs- und Trainings- sen die Patient*innen ihre Einwilligung geben, therapie, Edukation und Videobehandlungen sodass die Therapeut*innen Rechtssicherheit für Robotik-Systeme und KI unterstützen die the- zunehmen. Dabei kennen die Therapeut*innen den Fall haben, dass den Patient*innen während rapeutische Arbeit, insbesondere wenn es um die Patient*innen auch persönlich und zumin- der Videotherapie etwas zustößt. Da digitale häufig zu wiederholende – repetitive – Aufga- dest die Erstbehandlung hat vis-à-vis stattge- Behandlungen problemlos grenzübergreifend ben geht: Gangtraining, Balancetraining, neu- funden. Therapeut*innen sind kommunikativ stattfinden können, muss hier auch internatio- rologische Rehabilitation. Biofeedback oder gut geschult und können reflektierend und mo- nal Rechtssicherheit bestehen. Gaming, die mit Sensorik oder Messtechnik ar- tivierend kommunizieren. Hierdurch wird eine beiten, werden ebenfalls unterstützend einge- notwendige Vertrauensbasis aufgebaut und die Idealerweise verfügen die Teilnehmenden über setzt. Therapeut*innen arbeiten dabei mit ler- Compliance der Patient*innen ist, gegenüber Sensortechnik, die den Therapierenden z. B. nenden Systemen, welche Auffälligkeiten bei einer ausschließlich digitalen Behandlung, eher Vitalparameter auf einen Monitor spielt und Bewegungsmustern oder Vitalwerten registrie- sichergestellt. Auffälligkeiten anzeigt. Durch Elektromyografie ren und unmittelbar anzeigen. sehen Therapeut*innen und Patient*innen via Für den interdisziplinären Austausch nutzen die Biofeedback, ob die Übungen die Muskelgrup- Angebrachte oder implantierte Messsysteme er- Therapeut*innen DSGVO-konforme Messenger- pen beanspruchen, welche erreicht werden heben Daten und machen Therapievorschläge Dienste und können in allen Konstellationen sollen. bzw. berechnen Indizes, die spezielle Fähigkeiten zwischen Therapeut*innen, Ärzt*innen und Pa- bzw. Risiken anzeigen. So kann z.B. das Sturz- tient*innen auf Augenhöhe kommunizieren. Bei verschiedenen Indikationen können verord- risiko anhand eines standardisierten Tests er- nete Videobehandlungen, Onlineberatungen mittelt werden. 6
therapeutische Praxis Martin Helmes Prävention · Präventions-Apps · Fitness-Apps · Online-Präventions- angebote · Video-Fitnessangebote und Onlinecoachings durchgeführt werden, welche von Berufs- oder sportart- etc. Notfallbehandlung den Krankenkassen leistungsgerecht vergütet werden. spezifische Rehabilitation · E-Patientenakte Die Therapeut*innen nutzen Präsentationstechniken, er- · Wearables · Videosprechstunde stellen individuelle Übungsvideos oder entwickeln eigene · Leistungsdiagnostik · Notrufsysteme · Elektromyografie (EMG) etc. Onlineprogramme, welche von der Zentralen Prüfstelle · Digitaler Therapie- und Prävention (ZPP) evaluiert werden. Trainingsplan etc. Akutbehandlung Um immer auf dem Laufenden zu bleiben, erhalten The- · Operationsroboter rapeut*innen regelmäßig die aktuelle Evidenz, kompakt Rehabilitation · E-Medikationsplan zusammengefasst per Onlinefortbildung. Dabei erhalten · Medical Messenger sie priorisiert die Informationen, die aktuell für die Be- · Online-Assessments · Patientenverwaltung etc. handlung der Patient*innen wichtig sind. Parallel erhal- · Therapieroboter ten die Patient*innen, ebenfalls online, Edukationspro- · E-Rezept gramme, die sinnvoll in die Behandlung eingebunden etc. werden können. Durch den direkten Austausch im mul- tiprofessionellen Netzwerk können in Onlinefallkonfe- renzen problematische Fälle diskutiert und interdiszip- Bereiche therapeutischer Intervention, bei denen Digitalisierung eine Rolle spielt. linär besprochen werden. Trotzt der Digitalisierung verlieren jedoch die klassischen Der Autor Fähigkeiten der Therapeut*innen nicht ihre Bedeutung, Martin Helmes ist als Diplom-Sportwissen- da diese Softskills durch Digitalisierung (noch) nicht er- schaftler im Rehaktiv Oberberg GmbH, einem setzt werden können. Therapeut*innen können die Di- ambulanten orthopädisch-traumatologischen gitalisierung nutzen, um Therapien in vielfältiger Weise Rehabilitationszentrum in Gummersbach, tätig. besser zu gestalten. Die wirklichen therapeutischen Neben der medizinischen Trainingstherapie ist Kompetenzen dürfen dabei aber nicht auf der Strecke er dort für die Patientenedukation und die bleiben. Hier ist vor allem die Fähigkeit zu nennen, Em- Konzeption von digitalen Fortbildungsange- pathie zu zeigen, zuzuhören und in Einzelfällen auch boten für Patient*innen und Therapeut*innen mal anders zu entscheiden, als es eine künstliche Intel- verantwortlich. ligenz vorschlägt. Auch gute und schlechte Nachrichten emotional angepasst zu übermitteln, Einfühlungsver- mögen zu zeigen und eine Beziehung bzw. eine thera- peutische Allianz aufzubauen, sind und bleiben trotz Digitalisierung wichtige Eigenschaften, welche Thera- peut*innen mitbringen müssen. Die Fähigkeit, Patient*in- nen im Bereich des Selbstmanagements anzuleiten, wird wahrscheinlich auch kaum auf ausschließlich digitalem Wege möglich sein. transfær 1 | 2022 7
Digitale Transformation in der Pflege – Chancen und Grenzen der technischen Unterstützung von Interaktionsarbeit Heidrun Großmann, Lena Hintzen, Paul Fuchs-Frohnhofen Die Sicherstellung der Pflege gehört zu den größten Herausforderungen der Zukunft. Um diese Herausforderung auch in Deutschland bewältigen zu können, müssen viele Menschen für die Pflegeberufe gewonnen werden. Und die Arbeit in der Pflege muss wertgeschätzt und so gestaltet werden, dass es möglich ist und Freude macht, Pflegeberufe bis zur Rente auszuüben. Dabei ruhen auf der Digitalisierung in der Pflege Mensch-Mensch-Technik. Pflege und Digitali- Das Projekt Care and Mobility Innovation große Hoffnungen und ihr werden vielfältige sierung stehen dabei in einem ambivalenten (https://careandmobility.de), ein regionales In- Potenziale zugeschrieben: Verhältnis. Digitalisierung basiert auf dem Prin- novationsprojekt für die Leitmärkte Mobilität zip der Standardisierung. Pflegearbeit ist Arbeit und Gesundheitswirtschaft, hat mit einer um- æ den Zugriff auf Informationen und die Ver- am und mit Menschen und weist von daher fangreichen Potenzialanalyse der Digitalisierung netzung zu verbessern, eine begrenzte Standardisierbarkeit auf. Im im Gesundheitssektor begonnen, welche He- æ Personaleinsatz und Arbeitsabläufe effizien- Selbstverständnis ist Pflege vor allem Interak- rausforderungen aber auch Chancen der Region ter zu gestalten, tionsarbeit, die durch Gefühls- und Emotions- Aachen aufdecken soll. Bei der folgenden Im- æ die Arbeitsbelastung zu verringern und durch arbeit und Arbeit in unvorhersehbaren, indivi- plementierung von Innovationspartnerschaften Aufwertung und Erweiterung des Kompe- duell geprägten Situationen charakterisiert ist. zur Realisierung digitaler Forschungs- und Pra- tenzprofils die Attraktivität des Pflegeberufs Digitale Technologien geraten, selbst wenn sie xisprojekte und der Entwicklung innovativer, zu erhöhen sowie interaktive Möglichkeiten umfassen, an Grenzen. aber vor allem bedarfsgerechter Technologien æ die Pflegequalität zu verbessern. soll ein partizipatives Vorgehen, das die An- Die Standardisierungslogik und ein effizienteres wender*innen aus den Pflegeeinrichtungen Die Pflege gilt dabei im Branchenvergleich als Pflegemanagement stehen z.T. in einem kon- frühzeitig beteiligt, im Vordergrund stehen. Da- Nachzügler der Digitalisierung. Ungeachtet der trären Verhältnis zum Anspruch guter Pflege, rüber hinaus möchte das Projekt den Problemen Potentiale und Bekenntnisse zur Förderung ist die sich in erster Linie durch menschlichen Kon- der mangelnden Digitalkompetenz und daten- der Verbreitungsgrad digitaler Technologien in takt und Zuwendung auszeichnet. Zielkonflikte schutzrechtlichen Unsicherheit vieler Fachkräfte der Pflege gering. Lediglich digitalisierte Sys- zwischen technisch Machbarem, ökonomisch in der Gesundheitswirtschaft begegnen. teme Wünschenswertem und den Zielen, die sich aus æ zur Gewährleistung von Sicherheit in der den Leitbildern guter Pflege und guter Arbeit Die Ergebnisse von Befragungen und Workshops häuslichen Umgebung (Hausnotruf) sowie ableiten, müssen bereits bei der Entwicklung im Rahmen des Projektes mit dem Ziel, den æ zur Unterstützung von administrativen und und nicht erst bei der Implementierung der Qualifizierungsbedarf aufzudecken, deuten da- organisatorischen Aspekten der Pflegearbeit Technologien berücksichtigt werden. Die Be- rauf hin, dass die befragten Pflegekräfte in der (Dienst- und Tourenplanung, Abrechnungs- trachtungsweise der digitalen Transformation Region eine positive Einstellung gegenüber dem und Dokumentationssysteme) in der Pflege als soziotechnischen Innovations- Technikeinsatz in der Gesundheitsbranche auf- sind mittlerweile breiter etabliert.1 prozess scheint hierfür ein zielführendes Kon- weisen. Jedoch wird auch die Herausforderung zept zu sein. Ein solches Konzept partizipativer bestätigt, dass viele bereits vorhandene tech- Telecare-Anwendungen oder robotische Syste- nutzerintegrierender Technikentwicklung soll nische Hilfsmittel noch nicht flächendeckend me haben es bislang selten über den Status von u.a. im Projekt „Care and Mobility Innovation“ eingesetzt werden. Die Erkenntnisse sollen in Modellprojekten oder Selektivverträgen hinaus- in der Region Aachen umgesetzt werden, das der Entwicklung von Qualifizierungslehrgängen geschafft. Ein Grund dafür ist, dass Digitalisie- im Folgenden kurz skizziert wird. münden, welche auf die Bedarfe und Heraus- rungslösungen nicht per se mit positiven Effek- forderungen der Branche abgestimmt sind. Da- ten verbunden sind, sondern solche Systeme Akzeptanzprobleme bei unzureichender Benut- rüber hinaus möchte das Projekt die Potenziale auch nicht intendierte negative Effekte für Ge- zerfreundlichkeit und Vernachlässigung von technischer Innovationen nutzen, um die Ge- pflegte wie für die Pflegenden mit sich bringen Qualifizierungs-, Betreuungs- und Wartungs- sundheitswirtschaft für junge und neue poten- können. aspekten werden u.a. als Hemmnisse für eine tielle Fachkräfte attraktiv zu halten. breitere Digitalisierung angeführt. Wie diese Die digitale Transformation beschränkt sich Hürden im Rahmen nutzerorientierter Technik- Im Projekt „AIDA – Arbeitsentwicklung in der nicht auf den Austausch analoger durch digi- entwicklung und Implementation bewältigt Altenpflege durch Einführung eines teleme- talbasierte Technik, sondern verändert den Pfle- werden können, wird exemplarisch am AIDA- dizinischen Notdienst-Konzeptes“ (https:// geprozess als Ganzen auf der Makro-, Meso- Projekt aufgezeigt. projekt-aida.org) werden Televisiten von Haus- und Mikroebene2, also das Zusammenspiel und Fachärzt*innen in Pflegeheimen umgesetzt, 8
DIGITALE TRANSFORMATION um den zunehmenden Bedarf an ärztlicher Ver- rausfordernd. Im Projekt AIDA werden daher sorgung von Pflegeheimbewohner*innen – auch auch Fragen der Organisationsentwicklung, Ar- in der aktuellen Corona-Situation – besser beitsgestaltung und Qualifizierung bei der Ein- sicherstellen zu können. führung von Televisiten in Altenheimen und Arztpraxen bearbeitet sowie Lösungen für die Mit dem System TeleDoc, einer speziell für den rechtlichen und ökonomischen Fragen entwi- Pflegebereich entwickelten telemedizinischen ckelt, die bei der Vorbereitung der Übertragung Arbeitsstation, können die Pflegefachkräfte in der Ergebnisse des Projektes in die Regelver- der Altenpflege den Dialog zwischen Bewoh- sorgung entstehen. Heidrun Großmann ner*innen und Ärzt*innen organisieren, ohne dass diese vor Ort sein müssen. Wenn die Chancen von Digitalisierung in der Pflege auf breiter Ebene genutzt werden sollen, Die Hausärzt*innen der Pflegeheime können bedarf es mehr solcher Projekte, die die Bedarfe sich via datenschutzkonformer Videokonferenz der Anwender*innen frühzeitig einbeziehen, und nicht nur ein Bild vom Gesundheitszustand der nicht nur als kreative Ideen begeisterter Soft- Patient*innen machen, sondern haben in Echt- ware- bzw. Technikentwickler*innen auf sprach- zeit Zugriff auf wichtige medizinische Vital- lose Pflegekräfte losgelassen werden, ohne ihren daten. In Zusammenarbeit mit den Pflegekräf- Nutzen im Feld der pflegerischen Interaktions- Lena Hintzen ten ist es so u.a. möglich, Herz und Lunge der arbeit unter Beweis gestellt zu haben. Patient*innen aus der Ferne abzuhören. Es ist zudem vorgesehen, einen telemedizinischen Die Autor*innen Notdienst einzurichten, um eine 24/7-Überbrü- Dr. phil. Heidrun Großmann (Soziologin) und ckung bei Nicht-Erreichbarkeit der behandeln- Lena Hintzen (B.Sc. Psychologie) sind wissen- den Hausärzt*innen zu gewährleisten. schaftliche Mitarbeiterinnen, Dr. Paul Fuchs- Frohnhofen (Arbeitswissenschaftler) ist Ge- Übergreifende Ziele von AIDA sind, schäftsführer bei der MA&T Sell & Partner æ die ärztliche Betreuung von Bewohner*innen GmbH in Würselen. im Altenheim zu verbessern, Paul Fuchs-Frohnhofen æ durch die interprofessionelle digitale Vernet- zung die ärztlichen und pflegerischen Perso- nalkapazitäten effektiver nutzbar zu machen und æ unnötige Krankenhauseinweisungen zu redu- 1 Software-Lösungen in der ambulanten Pflege sind zur Ab- zieren. rechnung von Leistungen (ca. 88%), zur Erstellung von Dienst- plänen (ca. 77%) und zur Tourenplanung (ca. 75%) zu finden, in 70% der Pflegeeinrichtungen wurde 2017 eine elektronische Dadurch werden nicht nur erhebliche Kosten Dokumentation genutzt (Quellennachweise bei den Autor*in- eingespart, sondern auch negative Folgen für nen abfragbar). die Patient*innen vermieden, die sonst aus ihrer 2 Digitale Technologien haben Einfluss auf die Arbeitsteilung gewohnten Umgebung gerissen werden, woraus und Organisation von Gesundheits- und Pflegeleistungen so- wie die Rollen der beteiligten Akteur*innen in der Zusammen- zahlreiche Komplikationen resultieren können. arbeit (Makroebene). Sie verändern Arbeitsprozesse/-abläufe; Die Umsetzung dieser Ziele ist nicht nur mit vermittelnde Technik beeinflusst die Arbeit an und mit dem Menschen (Mesoebene); sie generieren neue Aufgaben und technischen Herausforderungen verbunden, Verantwortungsfelder und erfordern neue Kompetenzen (Mi- sondern auch das Change Management ist he- kroebene). transfær 1 | 2022 9
Die elektronische Fallakte: Zentraler Baustein der digitalisierten sektoren- und professionsübergreifenden Versorgung Rainer Fehling Die digitale Kommunikation zwischen den verschiedenen an der Behandlung von Patient*innen beteiligten Leistungserbringenden ist auch in der Zeit von Telematikinfrastruktur, Videosprech- stunden und elektronischer Terminvergabe noch nicht so selbstverständlich, wie es für eine optimale Versorgung sinnvoll wäre. Einen wesentlichen Baustein für die digitale zum Beispiel auch im Rahmen einer Fallkonfe- zer*innen sowie der IT-Sicherheit. Zum Schutz Kommunikation, auch über die Grenzen der renz auf Basis der in die EFA eingestellten Do- von Nutzer*innen mit weniger guter Netzan- Sektoren und Professionen hinweg, hat das Ver- kumente über die weitere Behandlung abstim- bindung lässt sich die Größe der einstellbaren bundprojekt „I/E-Health NRW – Hand in Hand men können. Dateien begrenzen. bestens versorgt“ mit der Bereitstellung einer umfassenden elektronischen Fallakte (EFA) ge- Die Akte nimmt alle zwischen den Behandeln- Auch einzelne Datensätze mit „strukturierten liefert. Unter Einbeziehung verschiedener Soft- den auszutauschenden Dokumente auf, bei- Daten“ lassen sich mit der EFA erfassen und warehersteller auf der einen und etlicher Insti- spielsweise Befunde, OP-Berichte, Entlassbriefe bearbeiten, wenn sie in entsprechenden Dateien tutionen aus dem Gesundheitswesen (Kran- oder Therapiepläne. Auch nicht-ärztliche Leis- (etwa im Format XML) gespeichert werden. So kenhäuser, Ärztenetze usw.) auf der anderen tungserbringer wie z.B. Pflegedienste oder Phy- kommen zum Beispiel für die Covid-19-Version Seite wurden EFA-Provider-Systeme, verschie- siotherapeut*innen, die häufig ein vertrauteres des „Virtuellen Krankenhauses NRW“ im EFA- dene Primärsysteme, ein EFA-Portal sowie KV- Verhältnis zu den Patient*innen haben, können Portal zusätzliche Onlineformulare zum Ein- Connect (der gesicherte Nachrichtendienst der mittels der EFA ihre Beobachtungen leicht bei- satz, die eine direkte Erfassung und Bearbeitung KVen) mittels standardisierter Schnittstellen zu steuern (wichtig z.B. bei Demenzerkrankten). der Konsildaten zu stationär behandelten Pa- einem komfortabel zu nutzenden Gesamtsystem Kurzberichte lassen sich bei Bedarf direkt im tient*innen ermöglichen. weiterentwickelt. EFA-Portal erfassen. Damit bietet die EFA allen beteiligten Behan- Die elektronische Fallakte wird – anders als die Soweit die eingesetzten Primärsysteme die EFA- delnden in der ambulanten und stationären patientengeführte elektronische Patientenakte Schnittstelle und die zugehörige Funktionalität Versorgung neue Möglichkeiten für eine ver- (ePA) – von den Ärzt*innen und Therapeut*in- für die Nutzenden integriert haben, erhalten besserte sektoren- und professionsübergrei- nen gepflegt. Sie ist streng zweckgebunden, die behandelnden Ärzt*innen und Krankenhäu- fende Kommunikation. Auf diese Weise werden d.h. sie darf nur Informationen enthalten, die ser direkt aus ihrer Klinik- bzw. Praxissoftware zum Wohle der Patient*innen zielgerichtete, für den betroffenen Krankheitsfall relevant sind. heraus geschützten Zugriff auf die Daten. Wo enge Kooperationen möglich, die ohne ein sol- Was „relevant“ ist, richtet sich nach der Ein- eine solche Integration nicht vorliegt, kann die ches Werkzeug nicht denkbar wären. Davon schätzung der jeweiligen Akteur*innen bzw. Akte über das EFA-Portal, eine Browser-Anwen- profitieren nicht nur Patien*innten mit kom- nach den Vereinbarungen zwischen den Behan- dung, bedient werden. plexen gesundheitlichen Problemen, die nur mit delnden. Die Einschränkung auf genau einen der Expertise unterschiedlicher Fachrichtungen Krankheitsfall erhöht die Übersicht für die be- Der Zugriff auf das EFA-Backend, in dem alle vollständig und sicher diagnostiziert werden teiligten Ärzt*innen und nicht-ärztlichen Be- Daten verschlüsselt gespeichert werden, erfolgt können. Mindestens genauso wichtig ist eine handelnden und ermöglicht es, allen Beteiligten in der Regel über das „Sichere Netz der KVen“ für alle nutzbare Dokumentation auch für das den vollständigen Inhalt der Akte zugänglich bzw. die Telematikinfrastruktur mit Zugang über Management der Behandlung in einem Versor- zu machen. den TI-Konnektor. Daneben ist auch der Zugriff gungsnetzwerk inklusive regelmäßiger, zeitna- über das Internet mittels Zwei-Faktor-Authen- her Rückmeldungen über die gesundheitliche Eine EFA kann umgehend angelegt werden, tifizierung möglich. Das Datenschutzkonzept Entwicklung der Patient*innen. wenn sich der Bedarf an einem umfassenden wurde juristisch geprüft. Informationsaustausch zwischen mehreren Be- handelnden ergibt und die Patient*innen der Als Format der hochgeladenen Dateien wird Nutzung der EFA für diesen Fall zustimmen. Die oftmals .pdf oder .jpg gewählt, aber auch andere Nutzung der Akte – insbesondere das Einstellen Dateitypen wie Textdokumente oder Office-For- und Lesen von Dokumenten – kann anschlie- mate nimmt die Akte auf. Die Grenzen liegen ßend ohne das Zutun der Patient*innen erfol- hier weniger in der Aktentechnik an sich, als in gen, sodass sich die behandelnden Ärzt*innen der Lesbarkeit der Daten durch andere Nut- 10
ELEKTRONISCHE FALLAKTE Rainer Fehling Das Projekt „I/E-Health NRW – Hand in Hand bestens ver- sorgt“ wurde als ein Siegerprojekt des Leitmarkt- wettbewerbs Gesundheit.NRW vom 1. Septem- ber 2016 bis zum 30. Juni 2020 mit Mitteln des Landes NRW und des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gefördert. Initiiert Die EFA im Einsatz und geleitet wurde das Projekt vom Digital He- althcare NRW e.V., der von den Kassenärztlichen beauftragt einen behandelnden Arzt (z.B. den Hausarzt); Vereinigungen Westfalen-Lippe und Nordrhein, erteilt diversen Leistungserbringern die Genehmigung für der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-West- den Zugriff auf die EFA falen e.V. sowie der Healthcare IT Solutions Patient GmbH der Uniklinik Aachen getragen wird. ie-health.nrw, www.kvwl.de/efa Arzt Der Autor Dr. Rainer Fehling, Dipl.-Inform., ist als Projekt- EFA legt im Auftrag des Patienten die manager im Bereich eHealth der KVWL tätig Fallakte an und hat als einer der Projektleitenden von I/E-Health NRW dazu beigetragen, die vielen EFA-Komponenten zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzubringen. greifen auf die EFA zu, fügen Dokumente hinzu, entfernen sie und tauschen sie aus Haus-/Facharzt Krankenhaus, weitere Leistungserbringer „Der Vorteil liegt klar auf der Hand: „Es ist widersinnig, dass wir eine digitale Akte in der Die aktuelle Situation ist, dass die Klinik führen, dann drucken wir alles aus, schicken es Patient*innen die Informationen mit- mit der Post, um es dann wieder in ein digitales Praxis- bringen oder dass wir auf Arztbriefe EDV-System zu überführen, möglicherweise durch Ein- aus dem Krankenhaus warten. Mit scannen. Der eine muss wissen, was im anderen Sektor der Elektronischen Fallakte haben wir läuft, und wir müssen auch Folgetherapien möglichst die Möglichkeit, die Befunde direkt kontinuierlich planen. Das geht natürlich besser, wenn einzusehen.“ wir eine gemeinsame Sicht auf die Patientenunter- (Hausarzt Bernd Balloff, Legden) lagen haben.“ (Prof. Dr. med. Dominik Schneider, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Westfälisches Kinder- zentrum, Klinikum Dortmund) transfær 1 | 2022 11
Unterstützung der Digitalisierung im Gesundheits- wesen durch systematische Kompetenzentwicklung – Das Projekt DIKOMP Rainer Ollmann, Philipp Topp, Kurt-Georg Ciesinger Neue digitale Lösungen in der gesundheitlichen Versorgung, wie etwa die elektronische Fallakte, Telemonitoring oder die digitale Fallkonferenz, werden im praktischen Alltag nur dann erfolgreich zum Einsatz kommen, wenn die beteiligten Fachkräfte aus dem ambulanten und dem stationären Sektor neben ihren beruflich-fachlichen Qualifikationen auch über die notwendigen digitalen Kom- petenzen im Umgang mit den neuen technischen Lösungen und Einsatzmöglichkeiten verfügen. Die institutionellen Akteur*innen wie z.B. die Erst die systematische Kombination aus berufs- wurde von uns ein Modell basaler Digitalkom- Ärztekammer haben darauf reagiert, indem sie fachlicher digitaler Fortbildung, intensiven An- petenzen als Leitidee für das zu entwickelnde telemedizinische Inhalte und digitale Themen wendungsschulungen und dem Aufbau von neue Bildungsangebot ausgearbeitet (s. Abb.). (z.B. IT-Sicherheit) in die fachliche Fortbildung grundlegenden Kommunikations- und Digital- integriert haben. Die Anwendungsschulungen kompetenzen bei allen beteiligten Berufsgrup- Das Projekt gliedert sich in drei Phasen: In der der Technikanbieter tragen ebenfalls zum pen wird nach unserer Einschätzung die digi- ersten, mittlerweile abgeschlossenen Phase schrittweisen Aufbau von technischen Hand- talisierte Versorgung in der Fläche auf ein wurden die digitalen Anwendungen bei den ko- habungsqualifikationen in der digitalisierten stabiles und hochwertiges Niveau führen. operierenden Einrichtungen und Dienstleister*- Versorgung bei. innen aus dem ambulanten und stationären Das zentrale Ziel des Projektes besteht daher in Bereich installiert und die beteiligten Fachkräfte Die Schwierigkeiten dabei liegen oftmals we- der Entwicklung eines grundlegenden digitalen auf den konkreten Einsatz und die anstehende niger in der Handhabung der technischen Sys- Weiterbildungsangebotes für möglichst viele Kompetenzbedarfserhebung vorbereitet. In der teme und Geräte, sondern in den damit ein- Berufsgruppen des Gesundheitssektors. Em- zweiten (aktuell laufenden) Projektphase wird hergehenden neuen organisations- und pirische Grundlage für dieses neue Weiter- die Kompetenzbedarfsanalyse durchgeführt, aus sektorenübergreifenden Verfahren. Diese bein- bildungsangebot zu den notwendigen basalen der dann die Kompetenzprofile abgeleitet wer- halten neue Informations- und Kommunikati- Digitalkompetenzen sind eine Qualifikations- den, die die empirische Basis für das neue onsformen, neue Arbeitsabläufe sowie neue bedarfsanalyse und daraus abgeleitete Kompe- Weiterbildungsangebot darstellen. In der drit- Aufgaben, Zuständigkeiten und Schnittstellen. tenzprofile, die im Rahmen einer einjährigen ten Phase im Jahr 2022 wird ein umfassender Wie die Ergebnisse und Erfahrungen aus den Erprobungsphase mit digitalen Unterstützungs- Transfer der Ergebnisse in die Gesundheits- Leitmarkt-NRW-Vorgängerprojekten GEMEIN- formaten (Elektronische Fallakte, Telemedizin) branche mittels digitaler Medien, Printmedien SAM, I/E-Health NRW und „Gesund älter wer- bei rund 15 ambulanten und stationären Ein- und verschiedener Veranstaltungen organi- den“1 zeigen, gewinnen dabei extrafunktionale richtungen erhoben wurden. siert. und überfachliche Qualifikationen professions- übergreifend stark an Bedeutung. Hierzu zählen Aufbauend auf eigenen konzeptionellen Vorar- Zur Diagnose der digitalen Kompetenzen und u.a. die Bereitschaft, neue Arbeitsroutinen ge- beiten, Expertengesprächen sowie Leitfadenin- der entsprechenden Bildungsbedarfe wurde im meinsam mit anderen Professionen aufzubauen, terviews und Gruppendiskussionen mit Fach- Projekt die App DIKOMP entwickelt. Die Idee sowie die Fähigkeit, mit „digitalem Stress“ um- kräften aus verschiedenen Gesundheitsberufen dahinter ist, dass die Erhebung gerade digitaler zugehen. 12
KOMPETENZENTWICKLUNG Rainer Ollmann, Philipp Topp, Kurt-Georg Ciesinger Kompetenzen mithilfe einer technischen Un- Zentrales Ergebnis des Projektes ist ein modular Die zentralen Aufgaben des GG.WML sind neben terstützung deutlich einfacher und schneller aufgebautes Weiterbildungsangebot für Be- der Projektkoordination die Umsetzung der Er- durchführbar ist. Gleichzeitig greift die Diagnose schäftigte in der Gesundheitswirtschaft zum probungsphase mit den dafür erforderlichen so bereits die Digitalisierung selbst thematisch Thema „Basale Digitalkompetenzen“. Dieses Wei- digitalen Unterstützungsformaten sowie die auf und motiviert stärker zur Teilnahme als Pa- terbildungsangebot soll Beschäftigte in die Lage Organisation des Ergebnistransfers in die in- per-and-Pencil-Erhebungen. versetzen und motivieren, sich proaktiv und stitutionellen und etablierten Strukturen des kompetent in neue professionsübergreifende Gesundheitssystems. Die App basiert auf einer Selbsteinschätzung digitale Versorgungsstrukturen und Prozesse nach dem DIGComp-Kompetenzrahmen (als Teil einzubringen sowie letztendlich deren hoch- Die Deutsche Angestellten Akademie DAA West- der Europass-Initiative der Europäischen Union). wertige Umsetzung mitzutragen. falen stellt für die Analyse- und Entwicklungs- Verwendet werden die Kategorien Datenverar- arbeit im Projekt ihre Bildungsexpertise zur Ver- beitung, Erstellung von Inhalten, Kommunika- Die Ergebnisse des Projektes DIKOMP sind ein fügung. Sie ist federführend zuständig für die tion, Problemlösung, Sicherheit. Auf dieser Basis substanzieller Beitrag, um den digitalen Um- Kompetenzbedarfsanalyse und die App-Ent- berechnet die App das individuelle Stärken- bruch der gesundheitlichen Versorgung zu wicklung, die Ausarbeitung entsprechender Cur- Schwächen-Profil, ein Benchmarkprofil im Ver- unterstützen und die Attraktivität der Gesund- ricula sowie die praktische Umsetzung in Form gleich mit verschiedenen Berufsgruppen und heitsberufe durch neue digitale Kompetenz- von modernen mediengestützten Lernkonzep- den konkreten Qualifizierungsbedarf für die zu- zuschnitte zu erhalten und darüber hinaus die ten auf der Basis eines Blended-Learning-An- künftigen Aufgaben und Abläufe in der digita- Attraktivität der Pflegeberufe weiter zu verbes- satzes. Als große Bildungsdienstleisterin ist die lisierten Versorgung. Bildungsnuggets, d.h. kurze sern. DAA dafür prädestiniert, die über den engeren motivierende Lerneinheiten, werden in der App medizinischen Bereich hinausgehenden Berufs- zur Verfügung gestellt, sodass die ersten Bil- gruppen des Gesundheitssystems anzusprechen dungsbedarfe bereits mit der App bedient wer- Projektpartnerschaft und zu bedienen. den können. Unternehmen und Organisationen Der Verein Gesundheitsnetz Gemeinsam West- können diese Auswertungen auch für ihre ge- münsterland (GG.WML) stellt seine Mitglieds- Die Autoren samte Belegschaft durchführen und so die be- einrichtungen und Kooperationspartner*innen Rainer Ollmann, Philipp Topp und Kurt-Georg triebliche Kompetenzentwicklung planen. Die als Erprobungsfeld zur Verfügung und bringt Ciesinger sind Projektkoordinatoren in der App und ihre Einsatzmöglichkeiten werden in darüber hinaus breite Erfahrungen aus der mul- Forschungs- und Entwicklungsabteilung der den Beiträgen von Ciesinger und Topp in diesem tiprofessionellen Zusammenarbeit bei der ger- Deutschen Angestellten-Akademie DAA West- Heft detailliert vorgestellt. iatrischen Versorgung in das Projekt mit ein. falen. Modell basaler Digitalkompetenzen 1 Förderkennzeichen: GEMEINSAM (GE-1-2-025A-C), I/E-Health NRW (GE-1-1-046), „Gesund älter werden“ (1230.1.1) transfær 1 | 2022 13
„Digitalisierung ist eine Haltungsfrage der Menschen in der Versorgungskette“ Doppelinterview mit Cornelia Schlebusch und Dr. Volker Schrage Im Projekt DIKOMP geht es um die Unterstützung der Digitalisierungsprozesse im Gesundheitswesen durch Kompetenzentwicklung der verschiedenen Professionen. Wir wollten von Dr. med. Volker Schrage, dem Stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL), und Cornelia Schlebusch, der Koordinatorin des Leitmarktwettbewerbs Gesundheit.NRW im Forschungszentrum Jülich, wissen, wo die Digitalisierung aus Sicht der Forschung und aus Sicht der Gesundheitsakteure vor Ort steht und welche Rolle dabei die digitalen Kompetenzen der beteiligten Dienstleistenden spielen. In der Coronakrise konnte man den Eindruck Schlebusch: Ich denke auch, dass hier eine rie- Schrage: Das stimmt absolut. Die Technik wird gewinnen, dass das deutsche Gesundheits- sige Chance liegt. Im Moment ist es aber für praktisch ohne uns Anwender*innen und ohne wesen doch einige Probleme mit der Digi- viele Akteur*innen einfacher und lukrativer, so Bezug zu unseren Anforderungen, unserer Or- talisierung hat. Wie weit sind wir in NRW? weiterzumachen wie bisher, also unvernetzt ganisation und unseren Kompetenzspektren jede*r für sich allein. Ganzheitliche Versorgung entwickelt. In der Automobilindustrie wäre es Schrage: Ich gebe sechs bis sieben Punkte auf ist die Zukunft, aber dazu gehört nicht nur die undenkbar, ein neues Modell ohne Käuferbe- einer Zehnerskala, denn wir sind schon recht Technik. Digitalisierung im Sinne einer besseren fragung und Testfahrer zu bauen, aber genau weit. In Deutschland tendieren wir dazu, uns Versorgung ist in erster Linie eine Haltungsfrage das haben wir im Bereich der gesundheitlichen selbst zu unterschätzen. Andere Länder wie z.B. der daran beteiligten Menschen in der Versor- Versorgung oft erlebt. Technik ist für Menschen Estland sind jedoch viel weiter als wir. Dort gibt gungskette. Wer bisher nicht oder schlecht phy- da – für uns als Gesundheitsdienstleister*innen es eine zentralisierte IT-Struktur mit 500 Mio. sisch kommuniziert, wird es auch digital nicht und für unsere Patient*innen – und kann nur Transaktionen pro Jahr – und 99% der Verord- besser tun. mit uns gemeinsam entwickelt und weiterent- nungen sind E-Rezepte. Davon sind wir noch wickelt werden. weit entfernt. Schrage: Das sehe ich anders. Wenn wir die Schwelle senken, werden sich die Akteur*innen Wenn Menschen mit der Technik arbeiten Schlebusch: Ich sehe es aus der Sicht der For- auch stärker vernetzen – ganz einfach, weil es sollen, muss dann die breite Kompetenz- schung – und da gibt es in unseren Projekten weniger Aufwand bedeutet und einen Mehrwert entwicklung nicht von Anfang an mitge- seit Jahren vielfältige und ganz hervorragende verspricht. Und wenn die Zusammenarbeit, wie dacht werden? Ansätze. Die Technik ist da. Allerdings fehlen Sie es eben angesprochen haben, auch abre- zur flächendeckenden Umsetzung noch we- chenbar wird, dann wäre dies tatsächlich die Schlebusch: Ja natürlich, das ist unser Credo sentliche Voraussetzungen wie gesetzliche Initialzündung. in allen Entwicklungsprojekten. Bildung ist ei- Grundlagen und vor allem verlässliche Abrech- nerseits wichtig, um den Menschen die Angst nungsmodelle. Solange nicht klar ist, wie genau Einige Professionen, wie etwa Therapeut*in- vor der Technik zu nehmen. Und andererseits die Technikinvestition refinanziert wird, ist die nen, beklagen die unzureichende Kommu- muss auch die intelligenteste Technik im Mo- digitalisierte Versorgung finanziell nicht attrak- nikation und Beteiligung an der Implemen- ment immer noch von Menschen gesteuert oder tiv, weder für Herstellerunternehmen noch für tierung von digitalen Lösungen. überwacht werden und das müssen die Men- die Akteur*innen im Gesundheitswesen. schen lernen. An dieser Stelle ist Bildung, Bil- Schlebusch: Das ist nach unseren Erfahrungen dung, Bildung notwendig. Die Digitalisierung könnte auch die häufig tatsächlich so. Aber es werden auch die MFA geforderte professionsübergreifende Zu- und die Pflegekräfte viel zu spät einbezogen, Schrage: Wir müssen die digitalen Kompeten- sammenarbeit intensivieren. Wird das die von Apotheken, Sanitätshäusern oder orthopä- zen umfassend stärken, nicht nur Bedienerwis- Initialzündung für ein vernetzteres Gesund- dischen Schuhmachern ganz zu schweigen. Das sen aufbauen. Unsere Beschäftigten – und wir heitswesen? ist ja eine lange Dienstleistungskette, an die wir natürlich auch – benötigen ein breites Verständ- hier denken müssen. In der Regel sind bei der nis der grundlegenden Technik und der damit Schrage: Das Gesundheitswesen ist auf der Ar- Technikentwicklung die Endnutzer*innen wie einhergehenden neuen Arbeitsprozesse. Und beitsebene schon jetzt wirklich gut vernetzt, z.B. medizinisches Personal oder andere Berufs- wir alle müssen lernen, wie wir Maschinen, Ge- das sollte man nicht unterschätzen. Das eigent- gruppen nicht eingebunden. Das ist ein sehr räte und Softwareprogramme in unserem Ar- liche Problem liegt in der Kommunikation und großer Schwachpunkt bei vielen Technikprojek- beitsalltag qualitätssteigernd und gewinnbrin- hier wird die Digitalisierung tatsächlich einen ten. In unseren Projekten versuchen wir an die- gend einsetzen können. großen Schub bringen. ser Stelle vehement entgegenzusteuern und die Anwenderseite explizit einzubeziehen. 14
interview Cornelia Schlebusch Kurt-Georg Ciesinger Rainer Ollmann Dr. Volker Schrage Cornelia Schlebusch, Kurt-Georg Ciesinger, Rainer Ollmann und Dr. Volker Schrage im Videogespräch Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass die Was sind für Sie abschließend die wichtig- Die Menschen in der Versorgungskette müssen sogenannte „sprechende und empathische sten Aufgaben bei der Digitalisierung in der die Veränderungen wollen und sie müssen be- Medizin“ durch die Digitalisierung noch gesundheitlichen Versorgung? fähigt sein mitzugestalten, sonst nützt die Di- weiter an Boden verliert? gitalisierung wenig für ein stabiles resilientes Schrage: Zusammenfassend würde ich sagen: Gesundheitssystem mit einer am Menschen ori- Schrage: Da mache ich mir weniger Sorgen, Erstens brauchen wir Technik, die von der An- entierten Medizin. Dazu müssen wir allen Be- denn die Digitalisierung unterstützt ja gerade wendung her entwickelt ist und die Versor- teiligten die Ängste vor Veränderungen nehmen, die sprechende Medizin. Als Arzt habe ich dann gungsprozesse tatsächlich unterstützt. Zweitens sie weiterbilden und einbeziehen und natürlich mehr Zeit, mit meinen Patient*innen zu spre- benötigen wir eine Weiterbildungsoffensive im die Technologien von Anfang an so gestalten chen und kann sie auf Basis besserer Informa- Bereich digitaler Kompetenzen für alle betei- und in Regelwerke einbetten, dass sie sicher tionen auch besser versorgen. Ich sehe zum Bei- ligten Professionen und drittens brauchen wir und steuerbar bleiben. spiel auch die künstliche Intelligenz sehr positiv, die Bereitschaft und die Fähigkeit, uns immer denn sie unterstützt mich, bessere Diagnosen weiter zu entwickeln. Ich glaube nicht, dass es Schrage: Das kann nun ich voll und ganz un- zu stellen und bessere Behandlungspläne auf- „die eine“ Applikation gibt, die alle Probleme terschreiben. (lacht) zustellen. lösen wird. Wir werden die Technik ständig ak- tualisieren müssen und uns selbst auch. Vielen Dank für das Gespräch. Schlebusch: Ich kenne Sie ja schon lange, Herr Dr. Schrage, und ich bin mir sicher, dass diese Schlebusch: Das kann ich nur unterschreiben. Das Interview führten Rainer Ollmann und Einschätzung in Ihrem Fall absolut zutrifft. Aber Mir wäre noch wichtig, dass wir überhaupt aus Kurt-Georg Ciesinger, Deutsche Angestellten- Digitalisierung und künstliche Intelligenz kön- der ständigen „Ja-aber-Diskussion“ ins Tun kom- Akademie Westfalen. nen andere dazu verleiten, medizinische Ver- men. Wenn es darum geht, Dinge einfach mal sorgung stärker als „technische Dienstleistung“ auszuprobieren, hat der Leitmarktwettbewerb zu verstehen. Das wäre für mich eine fatale Gesundheit.NRW schon einiges geleistet. Ich Entwicklung. Auch hier spielt die Einstellung möchte die Liste von Herrn Dr. Schrage noch der Menschen eine zentrale Rolle. um einen weiteren Punkt ergänzen: Nehmen wir die Menschen mit! transfær 1 | 2022 15
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