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SWP-Studie Volker Stanzel / Daniel Voelsen Diplomatie und Künstliche Intelligenz Überlegungen zur praktischen Hilfestellung für diplomatische Verhandlungen Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 18 Oktober 2021, Berlin
Kurzfassung ∎ Künstliche Intelligenz (KI) birgt das Versprechen, große Datenmengen schneller und zuverlässiger zu analysieren, als Menschen dies können. Ist es also auch möglich, mit KI-Systemen die für diplomatische Verhandlun- gen relevanten Informationen so auszuwerten, dass dadurch ein signifi- kanter strategischer Mehrwert entsteht? ∎ Wir gehen dieser Frage zunächst anhand von zwei explorativen Fallstu- dien nach. Die erste dreht sich um die Verhandlungen für eine deutsch- österreichische Zollunion in den Jahren 1930/31. Hier zeigen wir, wie KI- Systeme genutzt werden könnten, um für Zwecke der Strategiebildung automatisiert ein Spektrum möglicher Szenarien zu entwickeln. ∎ In der zweiten Fallstudie geht es um die Verhandlungen um die soge- nannte Cybercrime-Resolution im Rahmen der Vereinten Nationen (VN). In Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt wurde für die Studie untersucht, ob und in welcher Form KI-Systeme geeignet sind, das Verhal- ten von Staaten in der VN-Generalversammlung zu prognostizieren. ∎ Ausgehend von den beiden Fallstudien nehmen wir in einer systemati- schen Zusammenschau weitere Möglichkeiten in den Blick, KI als Instru- ment für die Diplomatie zu nutzen, zum Beispiel beim automatisierten Monitoring öffentlicher Medien rund um einen Verhandlungsprozess. ∎ KI ist heute noch oft fehleranfällig und wird absehbar nicht die Urteils- kraft erfahrener Diplomaten ersetzen können. Als unterstützendes In- strument jedoch hat KI das Potenzial, einen möglicherweise unverzicht- baren Beitrag zur Vorbereitung und Durchführung diplomatischer Ver- handlungen zu leisten. ∎ Die deutsche Außenpolitik sollte die Voraussetzungen dafür schaffen, die Einsatzmöglichkeiten von KI und anderen Methoden der Datenanalyse für die Zwecke der Verhandlungsdiplomatie weiter zu explorieren; außer- dem sollte sie eine »außenpolitische Datenstrategie« entwickeln und nor- mative Leitlinien für die Nutzung von KI im Kontext der Diplomatie einziehen.
SWP-Studie Volker Stanzel / Daniel Voelsen Diplomatie und Künstliche Intelligenz Überlegungen zur praktischen Hilfestellung für diplomatische Verhandlungen Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 18 Oktober 2021, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Verfahren der Begut- achtung durch Fachkolle- ginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review), sie werden zudem einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https:// www.swp-berlin.org/ueber- uns/qualitaetssicherung/. SWP-Studien geben die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2021 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-200 www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org ISSN (Print) 1611-6372 ISSN (Online) 2747-5115 doi: 10.18449/2021S18
Inhalt 5 Problemstellung und Empfehlungen 7 Diplomatische Verhandlungen 7 Der Charakter diplomatischer Kommunikation und Interaktion 8 Raster für die Beurteilung der Erfolgsaussichten von Verhandlungen 9 Künstliche Intelligenz 9 Die Logik maschinellen Lernens 10 Analysen und Prognosen 11 Zwei Fallstudien 11 Fallstudie 1: Die deutsch-österreichische Zollunion 17 Fallstudie 2: Die Cybercrime-Resolution der VN-Generalversammlung 25 KI als Instrument für diplomatische Verhandlungen 25 Machtressourcen 26 Strategie 27 Persönlichkeiten 29 Das Zusammenspiel verschiedener Einflussfaktoren 31 Empfehlungen für die deutsche Diplomatie 33 Abkürzungsverzeichnis
Dr. Volker Stanzel ist Senior Distinguished Fellow bei der Institutsleitung. Dr. Daniel Voelsen ist Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen. Danksagung: Die Verfasser haben für die Studie die zugängliche Literatur geprüft und Gespräche mit mehreren Außenministerien sowie Unternehmen im Bereich der Entwicklung und Anwendung von KI geführt. Wir danken all unseren Gesprächspartnern für ihr Vertrauen und viele wichtige inhaltliche Hin- weise. Da es sich hierbei um vertrauliche Gespräche handelte, stützt sich die Darstellung in der Studie nur auf öffentlich zugängliche Quellen. Für intensiven Austausch und die Arbeit an einem gemeinsamen Pilotprojekt (siehe hierzu S. 23) gilt unser besonderer Dank dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland und hier insbesondere dem Referat S05- 09/PREVIEW – Krisenfrüherkennung, Analyse und Informationsmanagement. Für die gute Zusammen- arbeit möchten wir hier besonders Hans-Christian Mangelsdorf und Kathrin Weny danken. Seitens der SWP hat Luisa Boll hat von Anfang an das Projekt mit großem Engagement als studentische Hilfskraft unter- stützt, Paul Bochtler und Rebecca Majewski waren unverzichtbar für die Durchführung der Daten- analysen im Rahmen des Pilotprojekts.
Problemstellung und Empfehlungen Diplomatie und Künstliche Intelligenz. Überlegungen zur praktischen Hilfe- stellung für diplomatische Verhandlungen Kann Künstliche Intelligenz (KI) der Praxis der Diplo- matie neue Wege erschließen? Durch die Geschichte hindurch meint »Diplomatie« das Bemühen mensch- licher Gemeinschaften, ihre Interessen friedlich mit- einander auszugleichen, jeweils vor oder nach dem Versuch, sie gewaltsam durchzusetzen. Für die Ana- lyse von Verhandlungen lassen sich, ausgehend von der politikwissenschaftlichen Forschung, hinsichtlich des Umfelds von Verhandlungen vor allem drei zen- trale Aspekte in den Blick nehmen: die Machtressour- cen der beteiligten Staaten, ihre Strategie sowie die Persönlichkeit der beteiligten Individuen. KI birgt das Versprechen, große Datenmengen schneller und zuverlässiger auszuwerten, als dies Menschen möglich ist. KI-Anwendungen werden heute bereits in vielen Bereichen von Verwaltung und Wirtschaft genutzt – und die Corona-Pandemie war Anlass, solche Anwendungen erheblich auszuweiten. Es gibt auch Versuche, KI oder andere Formen der Datenanalyse in dafür geeigneten Bereichen einzuset- zen, etwa in der Verwaltung von Außenministerien, im Konsularwesen oder für Zwecke der teilautoma- tisierten public diplomacy. In dieser Studie aber geht es explizit um den Kern der diplomatischen Praxis: Verhandlungen. Unsere Leitfrage lautet: Ist es möglich, mit KI-Sys- temen die für eine Verhandlung relevanten Informa- tionen so auszuwerten, dass dadurch ein signifikanter Mehrwert gegenüber den traditionellen Methoden der Datenanalyse zur Vorbereitung und Durchführung einer Verhandlung entsteht? Der Mehrwert bemisst sich dabei einerseits an einem formalen Kriterium von Effizienz: Lässt sich mithilfe von KI der Ressour- cenaufwand bei der Auswertung reduzieren, so dass man zum Beispiel schneller zu Ergebnissen kommt und dadurch einen wesentlichen Informations- vorsprung gegenüber anderen Akteuren gewinnt? Andererseits ist aber letztlich die Güte der Analyse entscheidend: Gewährt sie strategische Einsichten, durch die sich die Erfolgsaussichten von Verhandlern entscheidend verbessern? Da die Bestimmung des »Ergebnisses« von Verhandlungen durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird, lässt sich der Mehrwert SWP Berlin Diplomatie und Künstliche Intelligenz Oktober 2021 5
Problemstellung und Empfehlungen von KI nur im Verlauf der Verhandlungen bemessen. von KI als Instrument für die Diplomatie, etwa beim Die Erwartung ist aber natürlich, dass die Verbesse- automatisierten Monitoring öffentlicher Medien rund rung von Erfolgsaussichten durch KI-Analysen tat- um einen Verhandlungsprozess. sächlich dem diplomatischen Erfolg zugutekommt. Am Ende der Studie steht mithin die Schlussfolge- Im Prinzip lassen sich konkrete KI-Anwendungen rung, dass Künstliche Intelligenz das Potenzial hat, anhand dieses zweifachen Maßstabes bewerten. Da nach aktuellem Stand vor allem mittels der Lieferung es bislang keine belastbaren Hinweise gibt, dass KI von Szenarien und Prognosen zu einem wichtigen, irgendwo bereits systematisch für Zwecke diplomati- möglicherweise unverzichtbaren Instrument für die scher Verhandlungen eingesetzt wird, ist es für eine Vorbereitung und Durchführung diplomatischer Ver- solch konkrete Prüfung allerdings noch zu früh. Das handlungen zu werden. Daraus ergeben sich drei Ziel dieser Studie lautet stattdessen, durch ein explo- Empfehlungen: ratives Vorgehen das Potenzial von KI für diesen Erstens sollte die deutsche Außenpolitik die Voraus- Bereich auszuloten und daraus Empfehlungen für setzungen dafür schaffen, das Potenzial von KI und die deutsche Außenpolitik zu entwickeln. anderen Methoden der Datenanalyse für die Zwecke Den Ausgangspunkt bilden dabei zwei Fallstudien. der Verhandlungsdiplomatie weiter zu explorieren. Die erste Fallstudie befasst sich mit den Verhandlun- Zweitens empfehlen wir eine »außenpolitische Da- gen über eine deutsch-österreichische Zollunion in tenstrategie«. Die Möglichkeiten von Datenanalysen den Jahren 1930/31 und insofern mit einem Fall, der in für Zwecke der Diplomatie hängen davon ab, welche vielerlei Hinsicht typisch für bilaterale Verhandlun- Daten zur Verfügung stehen. Vorausschauend wäre gen ist. Deutlich zeigt sich hier, wie schnell und oft es daher sinnvoll, gezielt und strukturiert Daten aus schwer vorhersehbar sich die Dynamik von Verhand- der diplomatischen Praxis zu sammeln und aufzube- lungen verändert. Die explorativen Annäherungen reiten. Dafür sollten die Datenanalyse-Einheiten in zeigen aber auch, dass gerade in solchen Fällen KI- allen beteiligten Ressorts der Regierung – wie auch Systeme geeignet sein können, automatisiert ein im Parlament – dem Bedarf entsprechend ausgerüs- Spektrum möglicher Szenarien zu entwickeln, aus tet werden. dem sich verwendbare Hinweise für die Strategiebil- Drittens schließlich gilt es, von Anfang an norma- dung der Verhandler ableiten lassen. tive Leitlinien für die Nutzung von KI im Kontext der In der zweiten Fallstudie geht es mit den Verhand- Diplomatie einzuziehen. Dies betrifft Fragen der Sys- lungen über die sogenannte Cybercrime-Resolution temsicherheit, des Datenschutzes sowie vor allem der im Rahmen der Vereinten Nationen (VN) um einen menschlichen Kontrolle und Verantwortung. Denn aktuellen Fall multilateraler Verhandlungen. Eine es wäre ein Fehler, politische Werturteile an ein KI- besondere Herausforderung besteht hier darin, eine System zu delegieren. Vielzahl an Informationen zu Zielen und strategi- schen Erwägungen einer Vielzahl von Akteuren aus- zuwerten. Im Rahmen eines Pilotprojektes in Zusam- menarbeit mit dem Auswärtigen Amt (AA) wurde für die Studie untersucht, ob und in welcher Form KI- Systeme eine Prognose dazu erlauben, wie sich Staa- ten in der VN-Generalversammlung verhalten wer- den. Noch sind die Ergebnisse zu unscharf, doch zeichnet sich auch hier ein verwertbares Potenzial von KI ab. Ausgehend von der vertieften Diskussion der zwei Fallstudien wird im letzten Teil der Studie systema- tisch zusammengefasst, welche Ansätze im Bereich von KI für welche Aspekte diplomatischer Verhand- lungen geeignet sein könnten. Einige solcher Aspekte werden sich wohl niemals in einer Weise objektiv und quantitativ erfassen lassen, wie es für KI-basierte Analysen notwendig wäre. Doch gibt es über die Fall- studien hinaus Beispiele für den möglichen Mehrwert SWP Berlin Diplomatie und Künstliche Intelligenz Oktober 2021 6
Der Charakter diplomatischer Kommunikation und Interaktion Diplomatische Verhandlungen Der Charakter diplomatischer ten Gesprächen und dem Griff zu Instrumenten zur Kommunikation und Interaktion Durchsetzung eigener Wünsche scheint auf den ers- ten Blick weit zu sein. Dennoch zeigen etwa schon Für die diplomatische Interessenvertretung durch die Geschehnisse der Jahre 2020/21, wie schnell selbst Kommunikation und Interaktion hat sich in der Pra- Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) Schen- xis eine Vielzahl von Instrumenten und Institutionen gen-Regelungen und Erfordernisse der Konsultation herausgebildet. Zu diesen zählen: fest etablierte oder innerhalb der EU beiseiteschieben, um die Grenzen ad hoc geschaffene bi- oder multilaterale Gesprächs- mit Waffengewalt gegen das Eindringen des Corona- plattformen; Gesprächskanäle in Gestalt diploma- Virus zu schützen. Immer steht daher bei Verhand- tischer Vertretungen; technische Kommunikations- lungen – mit unterschiedlicher Deutlichkeit, jedoch einrichtungen (zum Beispiel »rote Telefone«); gere- unübersehbar – im Raum, was in der Geschichte der gelter mündlicher oder schriftlicher Austausch sowie Normalfall war: der Einsatz von Zwangsmitteln. Da- indirekte Kommunikation über Medien, Öffentlich- bei werden neben militärischen Maßnahmen immer keiten und andere Zwischenträger. häufiger wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen ergrif- fen – die Wirtschaft als eigenes »Schlachtfeld«.2 Diplomatische Verhandlungen sind Selbst nach dem Einsatz von Zwangsmitteln gilt der Kern von Diplomatie. jedoch ein Grundprinzip diplomatischer Verhandlun- gen weiterhin: Sie enden nie. Richelieus Begriff Diplomatische Verhandlungen sind der Kern von »négociation continuelle« spiegelt die Erkenntnis Diplomatie. Sie können zu einem neuen oder bestä- wider, dass die Veränderung der Grundbedingungen tigten Status in den Beziehungen zwischen den betei- von Verhandlungsergebnissen diese rasch wieder in ligten Staaten führen, zu gemeinsamen oder unilate- toto hinfällig machen können – mit der Konsequenz, ralen Maßnahmen, sie können aber auch scheitern dass man sich am Verhandlungstisch oder auf dem oder in einen anderen zeitlichen, geographischen Schlachtfeld neu gegenübertritt.3 oder institutionellen Rahmen verlagert werden. Enden die Verhandlungen, ist zunächst auch die Arbeit der Diplomatie erledigt. Die Konsequenz eines Scheiterns von Verhandlun- 2 Sascha Lohmann, »Diplomaten und der Einsatz von Wirt- schaftssanktionen«, in: Volker Stanzel (Hg.), Die neue Wirklich- gen wiederum kann der Einsatz von militärischen oder keit der Außenpolitik. Diplomatie im 21. Jahrhundert, Baden- nichtmilitärischen Zwangsmitteln sein. Die Lösung Baden: Nomos, 2019, S. 23–33 (25). von Konflikten ohne den Rückgriff auf Zwangsmittel 3 G. R. Berridge/Maurice Keens-Soper/T. G. Otte, Diplomatic ist also – im Sinne von Kapitel VI der VN-Charta – Theory from Machiavelli to Kissinger, Basingstoke: Palgrave Mac- grundsätzlich Ziel diplomatischer Verhandlungen. 1 millan, 2001, S. 73ff. Hier eignen sich die Verhandlungen Der Abstand zwischen friedlichen, konsensorientier- der E3+3 mit dem Iran als Beispiel: Die Verhandlungen begannen (zunächst nur zwischen den Europäern und dem Iran) im Schatten des Zweiten Golfkrieges; sie endeten vor- 1 Christer Jönsson/Martin Hall, Essence of Diplomacy, Basing- läufig durch das Eingreifen Präsident Barack Obamas, schei- stoke: Palgrave Macmillan, 2005, S. 82; dies., »Communi- terten dann vorläufig durch den Austritt der USA unter Prä- cation: An Essential Aspect of Diplomacy«, in: International sident Donald Trump aus dem mit dem Iran ausgehandelten Studies Perspectives, 4 (2003) 2, S. 195–210 (196). Andreas Abkommen und finden nun in einem erneut veränderten Wilhelm, »Diplomatie«, in: Carlo Masala/Frank Sauer/ Umfeld wieder statt. Vgl. Brigid Starkey/Mark A. Boyer/ Andreas Wilhelm (Hg.), Handbuch der Internationalen Politik, Jonathan Wilkenfeld, International Negotiation in a Complex Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010, World, Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 2015 (New S. 337–352. Millennium Books in International Studies), S. 27ff. SWP Berlin Diplomatie und Künstliche Intelligenz Oktober 2021 7
Diplomatische Verhandlungen Raster für die Beurteilung der nicht zum Verhandlungspatt führen muss, sondern Erfolgsaussichten von Verhandlungen der Kompromissbereitschaft förderlich sein kann.6 (b) Ein weiterer Faktor, der Aufschluss über den Um die Erfolgsaussichten von Verhandlungen im zu erwartenden Verlauf von Verhandlungen geben Voraus einschätzen oder den Verhandlungsverlauf kann, ist die Strategie der beteiligten Akteure. Im rückwirkend analysieren zu können, bedarf es eines Kern geht es hier um die Definition von Zielen und analytischen Rasters. Ausgehend von der politikwis- die Auswahl geeigneter diplomatischer Instrumente. senschaftlichen Forschung nehmen wir dabei vor- Dazu kann auch gehören, die Parameter der Verhand- rangig drei Aspekte in den Blick: die Machtressourcen lungen zum eigenen Vorteil zu verschieben: indem der Staaten, ihre Strategie sowie die Persönlichkeit man etwa den Kontext einer konkreten Verhandlung der beteiligten Individuen. durch die Verbindung mit anderen Auseinander- (a) Die grundsätzlichen Überlegungen zum Verhält- setzungen verändert oder einen neuen institutionel- nis von Verhandlungen auf der einen und Gewalt- len Rahmen wählt, den Akteurskreis erweitert, neue einsatz auf der anderen Seite verweisen auf das wich- Forderungen und Bedingungen aufbringt oder durch tigste Kriterium für Verlauf und Ausgang von Verhand- Beeinflussung der Öffentlichkeiten und ihrer media- lungen: die Machtressourcen eines Staates, die er in len Plattformen neue Ausgangsbedingungen schafft. den Verhandlungen oder direkt zur Geltung bringen (c) Diplomatische Verhandlungen finden in einer kann. spezifischen sozialen Sphäre statt, in der eigene Regeln In ihrer heutigen Form sind die Staaten an die für die Kommunikation und Interaktion unter den Normen des Völkerrechts gebunden. Es gibt jedoch, Beteiligten gelten – beginnend bei den Normen des trotz des in Artikel 2 der VN-Charta festgeschriebenen Völkerrechts. Zugleich können Faktoren Einfluss auf allgemeinen Gewaltverbots, keine globale Instanz, die die Verhandlungen nehmen, die von den Verhand- mit ausreichend Zwangsmitteln ausgestattet wäre, lern im Vorhinein nicht ausreichend wahrgenommen um Normverletzungen zu ahnden. wurden und sie mit nicht erwarteten Momenten kon- Die Durchsetzungsfähigkeit eines Staates ist dabei frontieren, so etwa immer öfter »uneingeladene nicht gleichbedeutend mit seiner militärischen oder Verhandler«7 wie die elektronischen und traditionel- wirtschaftlichen Stärke.4 Sie ergibt sich aus materiel- len Medien. Gerade deshalb ist als ein weiterer Faktor len Mitteln, technischem Know-how, institutionellen die Persönlichkeit der Individuen, die verhandeln, diplomatischen Kapazitäten und Fähigkeiten, dem nicht zu unterschätzen. Sie ist ein wesentliches Ele- internationalen und nationalen Umfeld sowie der ment von Verhandlungen, bei denen es immer wie- Möglichkeit auch plötzlicher Veränderungen.5 Folg- der darum geht, gegenseitig die Positionen der Betei- lich wird mit Blick auf die verhandelnden Parteien ligten abzutasten. Das bedeutet, dass Eigenheiten die Bewertung der ihnen zur Verfügung stehenden zwischenmenschlicher Kommunikation wie Freude, Machtressourcen zum ersten Kriterium, um den Ver- Ärger, Verlegenheit, Überraschung, Lüge, Offenheit lauf eines Verhandlungsprozesses einzuschätzen. und vieles andere mehr eine oft auch unerwartete Genauso wenig allerdings, wie sich der Ausgang wesentliche Rolle für Verlauf und Ergebnis von Ver- bewaffneter Konflikte durch Gegenrechnung von handlungen spielen können – und wegen eben die- Truppenstärken und Panzerzahlen vorhersagen lässt, ses Charakters eine systematische Analyse erschweren.8 erlaubt die Gesamtheit der Mittel eines Staates zum Einsatz von Zwangsmaßnahmen zuverlässige Progno- 6 Klaus Citron, »Experiences of a Negotiator at the Stock- sen über das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses. holm Conference«, in: Mautner-Markhof (Hg.), Processes of Schon die verschiedenen Abkommen, die während des International Negotiations [wie Fn. 5], S. 79–84. Vgl. auch Kalten Krieges zwischen Ost und West zustande kamen, Christer Jönsson, »Situation-Specific vs. Actor-Specific zeigen, dass weitgehende Symmetrie der Machtmittel Approaches to International Bargaining«, in: European Journal of Political Research, 6 (1978) 4, S. 381–398; I. William Zart- man, The Negotiation Process, Beverly Hills/London: Sage, 1978. 4 Michael Barnett/Raymond Duvall, »Power in International 7 Starkey/Boyer/Wilkenfeld, International Negotiation in a Politics«, in: International Organization, 59 (2005) 1, S. 39–75. Complex World [wie Fn. 3], S. 109; zur Rolle der Medien vgl. 5 Marcel Merle, »International Negotiation: A Process ebd., S. 108ff. Worthy of Reexamination«, in: Frances Mautner-Markhof 8 Zur Bedeutung der »Reputation« von Verhandlern siehe (Hg.), Processes of International Negotiations, Boulder/San Fran- Fred Charles Iklé, How Nations Negotiate, London: Harper & cisco/London: Westview Press, 1989, S. 233–240 (235). Row, 1964, Kap. 9. 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Die Logik maschinellen Lernens Künstliche Intelligenz In den letzten Jahren hat das Thema »Künstliche Die Logik maschinellen Lernens Intelligenz« erheblich an Aufmerksamkeit gewonnen. So überzogen der öffentliche Hype bisweilen ist, Im Kern sind heutige ML-Verfahren besonders dafür stehen dahinter doch genuine technologische Fort- geeignet, in großen Datenmengen Muster zu erken- schritte: Die Leistungsfähigkeit von Computer-Prozes- nen. Sie brechen solche Datenmengen dazu in eine soren nimmt jedes Jahr zu, hinzu kommen Fortschritte Vielzahl einzelner Datenpunkte auf, die anschließend in der Speichertechnik und in der Forschung zu KI- mit statistischen Methoden verarbeitet werden kön- Algorithmen. In der Summe ist es heute möglich, nen. Bei der Analyse von Sprache etwa wird der Audio- mehr Daten schneller als je zuvor zu verarbeiten – Input digital erfasst und dann mit enormer Geschwin- mit Konsequenzen, die bereits im Alltag sichtbar sind, digkeit immer feingliedriger analysiert: Enthalten die denkt man an Gesichts- und Spracherkennung. Daten menschliche Sprechakte? Welche Klänge hän- Der Begriff der künstlichen Intelligenz wird oft so gen zusammen und bilden Worte? Welcher Sprache verstanden, als gehe es darum, mithilfe von Maschi- entstammen diese Worte? Welche Worte bilden nen Aufgaben zu erfüllen, für die zuvor menschliche einen Satz? Was ist der Inhalt dieses Satzes? Auf diese Intelligenz als notwendig galt. Das Problem aber ist, Weise lassen sich unterschiedlichste Daten-Inputs dass sich diese Marke mit dem Fortschritt der Technik analysieren: zum Beispiel Text, Bild/Video, Ton, Wet- immer weiter verschiebt – und damit auch die terdaten, Ereignisdaten, Metadaten. Vorstellung davon, was KI ist. Einem Taschenrechner Grundlage dafür ist, dass das System zunächst mit würde man wohl kaum künstliche Intelligenz zu- einem Satz von »Trainingsdaten« vorbereitet wird. schreiben, auch wenn er Aufgaben erfüllt, für die Für Zwecke der Bilderkennung enthalten solche Trai- man zuvor menschliche Intelligenz für unerlässlich ningsdaten zum Beispiel Hinweise dazu, was auf hielt. Nicht zufällig lösen die Entwicklungen im einem Foto oder einer Abbildung dargestellt ist. ML- Bereich von KI schon seit Jahrzehnten lebhafte Debat- Algorithmen nutzen diese Trainingsdaten, indem sie ten über das Wesen menschlicher Intelligenz aus. 9 analysieren, welche visuellen Eigenschaften Rück- schlüsse darauf erlauben, um welche Art von Objekt KI wird hier als Chiffre für es sich handelt. Methoden maschinellen Lernens (ML) Ist ein System mit einem Trainingsdatensatz ein- verstanden. gerichtet worden, kann es weitere, neue Daten ana- lysieren. Je nach Konfiguration ist ein System von Unseren Überlegungen liegt im Folgenden ein diesem Punkt an entweder statisch einsatzfähig oder enges Verständnis von KI zugrunde, das KI als Chiffre in der Lage, sich durch neue Datenpunkte aus der für Methoden maschinellen Lernens (ML) versteht. praktischen Anwendung weiterzuentwickeln. Such- Diese Methoden zeichnen sich dadurch aus, dass die maschinen etwa »lernen« aus dem Klickverhalten der entsprechenden Algorithmen – also die Regeln, nach Nutzer, ob ein angezeigtes Suchergebnis »passend« war. denen ein Programm eine Aufgabe bearbeitet – so ausgelegt sind, dass sie sich innerhalb bestimmter Die heutigen KI-Methoden sind Parameter eigenständig weiterentwickeln können. In (noch) nicht geeignet, kausale diesem begrenzten technischen Sinne handelt es sich Zusammenhänge aufzudecken. um lernende Maschinen. So beeindruckend die Analyse-Möglichkeiten von KI sind, bleibt zu beachten, dass die heutigen Metho- 9 Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, den von ML weit entfernt sind von der Leistungsfähig- 2. Aufl., München: C. H. Beck, 2018. keit menschlicher Intelligenz. Menschen etwa ver- SWP Berlin Diplomatie und Künstliche Intelligenz Oktober 2021 9
Künstliche Intelligenz stehen das Konzept »Hund«, auch ohne Millionen eigenständig durchgeführte Identifikation zentraler von Hundefotos analysiert zu haben. Zudem verfügen Inhalte und der damit verknüpften Emotionen. wir als Menschen über eine Form von Intelligenz, Auf Basis der Analyse vergangener Ereignisse wer- die Lernprozesse und gedankliche Verknüpfungen den KI-Systeme auch eingesetzt, um Prognosen für zu- zwischen verschiedenen, teils weit entfernten Sach- künftige Entwicklungen zu erstellen. Jede KI-Prognose gebieten ermöglicht. Auch ist zu betonen, dass die fußt also auf einer Analyse; aber nicht jede KI-basierte heutigen Formen von ML (zumindest bisher) nicht ge- Analyse muss für Zwecke der Prognose genutzt werden. eignet sind, kausale Zusammenhänge aufzudecken.10 Das wohl bekannteste Beispiel sind Empfehlungs- Neuronale Netzwerke arbeiten mit Wahrscheinlich- systeme, wie sie zum Beispiel für zielgruppengenaue keiten, um Muster zu erkennen; sie können aber Werbung (targeted advertising) genutzt werden. Aus- diese Muster nicht auf Kausalitäten hin überprüfen. gehend von der Analyse des bisherigen Kundenverhal- Sollen kausale Effekte analysiert werden, ist daher tens werden Prognosen über zukünftige Präferenzen weiterhin eine »klassische« wissenschaftliche Unter- der Person angestellt. Auch dienen solche Empfeh- suchung notwendig. lungssysteme vielen Social-Media-Anbietern dazu, Der Vorteil von KI-Systemen ist hingegen, dass sie ihren Nutzern jene Informationen anzuzeigen, die wie jeder Computer in der Regel besser als Menschen für sie wahrscheinlich am interessanten sind. darin sind, große Datenmengen zu durchforschen, Ein politisch besonders kontroverses Beispiel sind ohne zu ermüden, nachlässig zu werden oder sich Prognosen im Rahmen der Polizeiarbeit (predictive schlicht fürchterlich zu langweilen. Für einen policing). Dahinter steht die Vorstellung, jene Orte aus- Menschen wäre es eine Zumutung, das Geburtsregis- machen zu können, an denen mit großer Wahrschein- ter einer Stadt manuell daraufhin durchzusehen, lichkeit in naher Zukunft gegen Gesetze verstoßen welche Trends sich bei der Namensgebung in den werden wird – und dies durch die Entsendung von letzten Jahrzehnten abzeichnen. KI-Systeme sind Polizeikräften zu verhindern. Ein ungelöstes Problem hingegen gerade für solche »Fleißarbeiten« geeignet. hierbei ist, dass predictive policing selbst die Daten ver- ändern kann, die Grundlage für zukünftige Prognose sind: Womöglich hat das Erscheinen der Polizei einen Analysen und Prognosen abschreckenden Effekt, so dass es nicht zu einem Gesetzesverstoß kommt. Oder es ergibt sich eine Ver- Zu den prominentesten Beispielen für KI-basierte zerrung dadurch, dass Polizisten eher Gesetzes- Analysen gehören die Spracherkennung sowie die verstöße feststellen werden, wenn sie vor Ort sind. Erkennung von Objekten verschiedener Art in Bild- Die Prognose würde so zu einer selffulfilling prophecy material. Diese Analysen sind mittlerweile so weit führen: Weil Polizisten auf Basis einer Prognose an gediehen, dass es sogar möglich ist, Sprache und einen Ort entsandt werden, stellen sie dort Gesetzes- äußeres Erscheinen von Menschen zu simulieren. verstöße fest, wodurch sich die Statistik für den Ort Seit nun schon einigen Jahren arbeitet zum Beispiel weiter verschlechtert, was wiederum Anlass gibt, Poli- die Organisation OpenAI an einem System (Genera- zisten dorthin zu entsenden.11 tive Pretrained Transformer, GPT), das es erlaubt, Eine weitere Form der Prognose besteht darin, Sze- auf Grundlage weniger Hinweise Texte zu generieren, narien bis hin zu konkreten Handlungsempfehlun- die von Menschen geschrieben zu sein scheinen. gen zu entwickeln. Bei Spielen wie Schach und Go Eng hiermit verbunden ist die Analyse von Ein- etwa sind KI-Systeme mittlerweile menschlichen Spie- stellungen gegenüber Personen, Institutionen und lern überlegen. Sie können auf enorme Datenmengen Produkten (sentiment analysis). Dabei werden zumeist zurückgreifen und diese schneller verarbeiten, als Zeitungsberichte und Darstellungen in öffentlich es ihrem menschlichen Gegenüber möglich ist. Inter- zugänglichen Social-Media-Profilen ausgewertet. Es essanterweise haben die KI-Systeme dabei zum Teil braucht keine KI-Systeme, um die Häufigkeit bestimm- Strategien entdeckt, auf die Menschen bisher nicht ter Begriffe in Texten zu erfassen. Was KI aber einer gekommen waren. solchen Textanalyse hinzufügen kann, das ist eine 10 Bernhard Schölkopf, »Causality for Machine Learning«, ArXiv.org (2019), (ein- 11 Sarah Brayne, »Big Data Surveillance: The Case of Polic- gesehen am 23.8.2021). ing«, in: American Sociological Review, 82 (2017) 5, S. 977–1008. SWP Berlin Diplomatie und Künstliche Intelligenz Oktober 2021 10
Fallstudie 1: Die deutsch-österreichische Zollunion Zwei Fallstudien Im Folgenden sollen zwei historische Verhandlungs- wärtigen Politik12 dokumentiert. Bewusst folgt die Dar- situationen betrachtet werden. Ausgehend von einer stellung diesen – auf die deutschen Akten beschränk- Darstellung des tatsächlichen Verlaufs soll dabei am ten – Aufzeichnungen, nimmt damit also die Per- konkreten Beispiel kontrafaktisch ausgelotet werden, spektive und den Wissensstand eines der beteiligten ob es für die Beteiligten einen strategischen Vorteil Akteure zum Ausgangspunkt. bedeutet hätte, wenn sie auf KI-Analysen hätten zurückgreifen können. Die beiden Fälle sind wegen Hintergrund ihrer Unterschiedlichkeit ausgewählt worden. Der erste aus den Jahren 1930/31 ist typisch für bilaterale Der Versailler Vertrag, der im Jahr 1919 den Ersten Verhandlungen. Der zweite ist ein aktuelles Beispiel Weltkrieg rechtlich beendete, beschnitt die Territo- für multilaterale Verhandlungen im Rahmen der VN. rien Deutschlands und Österreichs erheblich; Öster- Das Ziel ist nicht ein strukturierter Vergleich dieser reich, der ehemals – nach Russland – zweitgrößte Fälle, sondern eine explorative Untersuchung des Ein- Staat Europas, verfügte nur noch über eine Fläche, satzes von KI in unterschiedlichen Verhandlungs- die etwa der des heutigen Österreichs entspricht. situationen. Das Genfer Protokoll von 1922 verbot zudem explizit einen deutsch-österreichischen Zusammenschluss. Der Völkerbund überwachte die Einhaltung aller Fallstudie 1: Nachkriegsabkommen, einschließlich des Genfer Die deutsch-österreichische Zollunion Protokolls. Wirtschaftsangelegenheiten wurden von der durch den Briand-Plan von 1929/30 im Rahmen Die Fallstudie befasst sich mit einem deutsch-öster- des Völkerbundes ins Leben gerufenen »Studien- reichischen Vorhaben der Jahre 1930/31, eine bilate- kommission für die europäische Union« behandelt. rale Zollunion zu gründen. Die Verhandlungen ver- Deutschland erholte sich zunächst wirtschaftlich liefen bilateral, bis dritte Parteien intervenierten; eine rasch vom Krieg, und die Außenpolitik der Weimarer davon brachte das Zollunion-Projekt schließlich zu Republik nahm bald revisionistische Züge an. 1925 Fall. Dieses Ergebnis hatten die beiden Hauptparteien beschloss das Kabinett die Schaffung eines Landes, von Anfang an befürchtet, konnten es letztlich aber das alle beitrittswilligen ethnischen Gruppen um- nicht verhindern. fassen sollte. Wirtschaftsminister Julius Curtius – Nun entstehen Erfolg oder Misserfolg nicht aus später, zum Zeitpunkt der Verhandlungen über das sich heraus, sondern sind immer Ergebnis der Ver- Zollunion-Projekt, Außenminister – betrachtete den handlungen. Unsere Frage lautet daher, ob KI-Ana- Handel mit Österreich als Instrument, um beide Län- lysen den deutschen Diplomaten hätten Hinweise der zur politischen Vereinigung hinzuführen. liefern können, mit denen sich die Chance auf einen In Österreich, das den größten Teil des ehemali- erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen erhöht gen Habsburgerreiches eingebüßt hatte, verschlech- hätte. Die zeitliche Distanz hat dabei einen wohl- terte sich die Wirtschaftslage von 1925 an. Große tuenden Verfremdungseffekt: Sie verschafft auch Teile der österreichischen Wirtschaft kooperierten in Distanz zum Inhalt und erlaubt so einen unvorein- der Folge enger mit der deutschen und veranlassten genommenen Blick auf die Probleme, mit denen die Regierung in Wien, rechtliche, konsularische und die Verhandler zu kämpfen hatten. Der gesamte Verhandlungsprozess ist in seinen 12 Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945, Serie B: wesentlichen Zügen in den Akten zur Deutschen Aus- 1925–1933, Bd. XIV–Bd. XVIII, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1980 (Bd. XV) und 1982 (Bde. XIV, XVI, XVII, XVIII). SWP Berlin Diplomatie und Künstliche Intelligenz Oktober 2021 11
Zwei Fallstudien verkehrsrechtliche Bestimmungen den deutschen Phase 1: Deutsch-österreichische Einigung auf anzugleichen. 1930 gelangte Bundeskanzler Johann das Zollunion-Projekt Schober – in einer anderen Koalition im Jahr 1931 Einem Bericht des deutschen Botschafters in Öster- Außenminister – zu der Ansicht, dass Österreich reich an Außenminister (AM) Curtius vom 25. Dezem- wirtschaftlich und finanzpolitisch nur würde über- ber 1929 zufolge wünschte die österreichische Indus- leben können, sofern es sich mit einem größeren trie eine deutsch-österreichische Zoll- und Wirt- Wirtschaftsraum zusammenschlösse. Er dachte dabei schaftsunion. Eine auf dieses Ziel gerichtete Politik an Deutschland, während andere, insbesondere könne als basierend auf »internationalen oder pan- faschistische, Gruppierungen im Land einen öster- europäischen Prinzipien« dargestellt werden. Darauf reichisch-ungarisch-italienischen Block anstrebten. erging am 4. Februar 1930 eine Weisung des deutschen Ein wichtiges Element der Außenpolitik Frank- Staatssekretärs (StS) Carl von Schubert an den Bot- reichs war das Ziel, jede Stärkung Deutschlands zu schafter in Wien, dieser möge der österreichischen verhindern. Frankreich hatte deshalb im Jahr 1924 Seite mitteilen, dass eine Zollunion ein Fortschritt ein Bündnis mit der Tschechoslowakei geschlossen, in den beiderseitigen Beziehungen wäre, die Sieger- das beide Länder verpflichtete, sich gemeinsam gegen mächte sie aber als Verletzung des Vereinigungs- Verletzungen der Nachkriegsverträge zu stellen. Im verbots betrachten könnten. Am 23./24. Februar 1930 Jahr 1929 stellte Außenminister Aristide Briand dem fanden Konsultationen der beiden Bundeskanzler (BK) Völkerbund ein »Memorandum zur Schaffung einer in Berlin statt. In einer Aufzeichnung hielt StS von europäischen Union« vor – in den Augen von Teilen Schubert dazu fest, es sei entschieden worden, eine der deutschen Öffentlichkeit hätte solch eine Union Zollunion vorzubereiten und dazu vorab die Pro- allerdings die Nachkriegsgrenzen festgeschrieben. bleme der (schwachen) österreichischen Textil- und Konkret kam es zunächst nur zur Einsetzung der Holzindustrien zu lösen sowie sich auf möglichen bereits erwähnten Studienkommission für die euro- Widerstand der Tschechoslowakei vorzubereiten. Der päische Union. österreichische BK Johann Schober habe gesagt, »dass, Die Tschechoslowakei, erst nach dem Weltkrieg wenn wir die Zollunion machten, wir dadurch den als souveräner Staat geschaffen, hing wirtschaftlich ganzen Balkan bekämen«. von Deutschland und Österreich ab. Eine Vereinigung In dieser ersten Phase vermuteten beide Seiten, dieser beiden hätte Prag politisch erheblich geschwächt. dass es in der Tschechoslowakei und unter den Sieger- So erklärte Außenminister Edvard Beneš im Jahr mächten Widerstand gegen das Projekt geben könnte. 1924, ein deutsch-österreichischer Zusammenschluss Zudem rechnete man damit, dass nach Errichtung werde Krieg bedeuten. der Zollunion für Teile der österreichischen Wirt- schaft Probleme auftreten könnten. Zum Umgang Die Verhandlungen13 mit diesen Schwierigkeiten teilte das Auswärtige Amt am 4. Juni 1930 den Botschaften in Bern, Brüssel, Der Verhandlungsprozess lässt sich in vier Phasen Budapest, Bukarest, London, Paris, Prag und Rom zu unterteilen. Von Phase zu Phase dringlicher stellte den deutsch-österreichischen Konsultationen vom sich die Frage, wie mit dem teils antizipierten, teils 23./24. Februar auf BK-Ebene mit, die innere Lage für die beiden Protagonisten Deutschland und Öster- Österreichs verlange gemeinsame Anstrengungen für reich aber auch überraschenden und vor allem über- die wirtschaftliche Erholung. Eine geschwächte öster- raschend wachsenden Widerstand anderer – ent- reichische Volkswirtschaft drohe das Land stärker scheidender – Staaten umzugehen sei. Erschwerend von Frankreich und Italien abhängig machen. Die kam dabei in der ersten Hälfte des Jahres 1931 infolge politische Konstellation in Europa mache gegenwärtig der Weltwirtschaftskrise eine unvorhergesehen dras- eine politische Vereinigung beider Staaten allerdings tische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage unmöglich. Damit wurde die Ausgangslage für die Österreichs hinzu. Zollunion-Verhandlungen bestimmt. Darüber hinaus hielt das AA am 26. Juni 1930 fest, der Entwurf eines deutsch-österreichischen Handelsvertrags enthalte 13 Die Darstellung folgt ausgewählten Akten, deren Inhalt eine Meistbegünstigungsklausel und sehe vor, deut- knapp zusammengefasst wird. Die Bezugsdokumente sind sche Zölle auf Produkte schwacher österreichischer anhand des jeweiligen Datums in der Fn. 12 genannten Industrien zu senken. Aktensammlung auffindbar. SWP Berlin Diplomatie und Künstliche Intelligenz Oktober 2021 12
Fallstudie 1: Die deutsch-österreichische Zollunion Phase 2: Beginn der Verhandlungen schafter in Frankreich, mit Österreich sei weitreichen- Der deutsche AM hielt am 7. Juli 1930 schriftlich fest, der Konsens erzielt worden. Auf Nachfrage könne die Vereinigung mit Österreich sei die wichtigste der Botschafter der französischen Seite gegenüber die außenpolitische Aufgabe, um den Südwesten Europas Vermutung äußern, die deutsch-österreichischen im deutschen Interesse zu steuern. Darauf wurden Gespräche befassten sich mit der europäischen Wirt- die ersten Verhandlungen aufgenommen. Über diese schaftskrise und mit Bemühungen um eine stärkere hielt der deutsche Sonderbeauftragte Karl Ritter am Verknüpfung der Volkswirtschaften beider Länder. 7. Januar 1931 fest, der österreichische Sonderbeauf- Dem ließ der StS am 17. März 1931 eine weitere Wei- tragte Richard Schüller werde seiner Regierung die sung an den deutschen Botschafter in Paris folgen, Annahme des deutschen Vertragsentwurfs empfeh- auf französische Frage nach der Zollunion solle der len. Er habe auch die Notwendigkeit verstanden, zu Botschafter »nicht eine Spur eines schlechten Gewis- belegen, dass keine Seite die Nachkriegsordnung in sens« zeigen. Es sei unbestreitbares deutsches Recht, Europa zu ändern beabsichtige. Am 16. Januar 1931 zuerst eigene Interessen sowie die Österreichs in wies der deutsche AM StS Bernhard von Bülow für Betracht zu ziehen. dessen Gespräche mit dem österreichischen AM in Allerdings: Am gleichen Tag berichtete die Wiener Genf an, das Projekt sei »vollständig geheim« zu hal- Freie Presse über das Projekt der Zollunion. Damit ten, bis die Regierungen für den Gang an die Öffent- stellte sich nun beiden Seiten vorrangig die Aufgabe, lichkeit vorbereitet seien. Die diplomatische Initiative den bereits mit großer Besorgnis erwarteten französi- dazu müsse von Österreich ausgehen, um den Ein- schen Widerstand zu neutralisieren. Zu diesem Zweck druck zu vermeiden, Deutschland bereite die Vereini- erging am 18. März 1931 eine Weisung des deutschen gung vor. Am 20. Januar 1931 teilte StS von Bülow AM an die deutschen Botschafter in London, Paris dem deutschen Botschafter in den USA mit, die Ab- und Rom, diese möchten ihre Gastregierungen ge- sicht sei, »das Projekt in ein pan-europäisches Mäntel- meinsam mit dem österreichischen Kollegen über die chen zu hüllen«. Schließlich unterrichtete der deut- erzielte Übereinstimmung unterrichten, über den sche AM am 28. Januar und am 28. Februar 1931 – Abschluss einer Zollunion zu verhandeln, die dem ohne das Zollunion-Projekt zu benennen – das Kabi- Beitritt anderer Staaten offen gegenüberstehen werde. nett, er werde im März in Wien »pan-europäische und damit verbundene wirtschaftliche Angelegenheiten« Phase 4: Das Ende des Zollunion-Projektes erörtern. Der Himmel verdüsterte sich allen Bemühungen zum Unterdessen ließ das AA im eigenen Haus die Trotz. So berichtete am 21. März 1931 der deutsche völkerrechtlichen Aspekte des Projektes prüfen und Botschafter in Paris über die weisungsgemäß gemein- gelangte im Februar 1931 zu dem Schluss, dass die sam mit dem österreichischen Botschafter durchge- Beteiligung des Völkerbundes sowie des Internatio- führte Demarche, der französische AM habe »Betrübt- nalen Gerichtshofes vermieden werden müsse. Das heit« ausgedrückt. Paris habe keine juristischen Ein- Projekt solle als ein rein wirtschaftliches betrachtet wände gegen Deutschlands Vorgehen, Österreich und nur der Studienkommission für die europäische dagegen verletze das Genfer Protokoll. Frankreich, Union vorgelegt werden. Großbritannien, Italien und die Tschechoslowakei würden gemeinsam in Wien demarchieren. Am Phase 3: Man kümmert sich um Frankreich 26. März 1931 folgte die deutsche Botschaft in Paris Am 6. März 1931 berichtete der deutsche Botschafter mit einem Bericht, wonach die französischen Medien in Paris, Leopold von Hösch, an den deutschen AM, ihre Tonlage zum Negativen änderten. Am 29. März Deutschland habe sechs Probleme: Österreich, die 1931 berichtete der deutsche Botschafter in Bern, seit Reparationen, die Ostgrenze, Abrüstung, die Saar- die Angelegenheit auf der Sitzung der Studienkom- landfrage, die Kolonien. Keines dieser Probleme mission für die europäische Union in Paris behandelt könne ohne Frankreich gelöst werden. Der deutsche worden sei, gewinne die Meinung an Zustimmung, AM kommentierte dies mit der Anmerkung, Deutsch- dass eine Zollunion das Genfer Protokoll von 1922 land müsse das Zollunion-Projekt weiterverfolgen, verletzen würde. Und am 4. April 1931 hatte der deut- ohne einen Kompromiss mit Frankreich zu suchen, sche Botschafter in Prag über sein Gespräch mit Präsi- der ohnehin nicht zu erreichen sein werde. Anschlie- dent Edvard Beneš zu berichten, der tschechoslowa- ßend erging am 9. März 1931 eine »streng geheime« kische Präsident habe mit »Krieg« oder einem »Zoll- Weisung von StS von Bülow an den deutschen Bot- gebührenkrieg« gedroht. SWP Berlin Diplomatie und Künstliche Intelligenz Oktober 2021 13
Zwei Fallstudien Entscheidend für den weiteren Verlauf der Dinge rechtsrheinische Gebiete besetzt gehalten hatten) auf war jedoch ein unerwartetes, von außen hereinbre- der anderen. Die zentrale Rolle nahm dabei Frank- chendes Ereignis: die Weltwirtschaftskrise. In deren reich ein, das zudem auf die Unterstützung inter- Folge geriet ab April 1931 das österreichische Banken- nationaler Institutionen zählen konnte. Selbst die wesen in existenzbedrohende Schwierigkeiten. Dar- militärisch schwache Tschechoslowakei besaß durch aufhin unternahm der deutsche AM noch einen Ret- ihr Bündnis mit Frankreich und Frankreichs Inter- tungsversuch und schrieb am 16. April 1931 an den essenlage durchaus erheblichen Einfluss und damit Vorsitzenden des Direktorats der Reichsbank, ob es eigene Machtressourcen. Das Tableau der Macht- möglich sei, ein umfangreiches Konto bei der gefähr- ressourcen änderte sich mit der Weltwirtschaftskrise deten Österreichischen Kreditbank einzurichten. Dies nochmals entscheidend: Nun besaßen weder Deutsch- war – wiewohl hierzu keine Dokumente vorliegen – land noch Österreich die Mittel, um der wirtschaft- offenkundig nicht möglich. Frankreich erkannte die lichen Notlage ohne Hilfe von außen zu entkommen. Lage jedoch genau: Am 17. Juni 1931 berichtete der Diese Lage erkannte Frankreich rasch – am Ende deutsche Botschafter in Paris seinem AM, AM Briand blieb den beiden Initiatoren des Zollunion-Projekts habe mehrere Male nachgefragt, ob er nicht zu erklä- nur die Kapitulation. ren wünsche, dass Deutschland seine Zollunion-Pläne Blicken wir auf die Strategie der beiden Initiato- nicht weiterverfolgen werde, um es Frankreich da- ren, so stimmten sie offenkundig darin überein, sich durch zu ermöglichen, den österreichischen Wunsch zunächst der einfacheren Probleme anzunehmen: des nach einem französischen Kredit zu erfüllen. Die Bot- Ausgleichs der wirtschaftlichen Schwäche Österreichs schaft in Paris berichtete am selben Tag, am 16. März und der mäßigenden Einwirkung auf die öffentliche sei der österreichische Botschafter in Frankreich vom Meinung in beiden Ländern. Differenziertere Über- französischen AM unterrichtet worden, französische legungen zum Umgang mit dem befürchteten Wider- Banken seien nur dann in der Lage, österreichischen stand dritter Staaten und zu seinen nächsten Zügen Banken zu helfen, wenn die österreichische Regie- entwickelte Deutschland erst, nachdem die Verhand- rung förmlich erkläre, von jeglicher Initiative zur lungen auf gutem Weg waren. Dazu sollte das Projekt Veränderung des internationalen Status Österreichs seiner weiterreichenden politischen Zielrichtung abzulassen. Damit blieb nur noch ein Weg: Am 3. Sep- gänzlich entkleidet und daher nur dem für Wirt- tember 1931 gaben die deutschen und österreichischen schaftsfragen zuständigen internationalen Gremium Außenminister beim Europaausschuss in Genf eine in Genf vorgelegt werden. Dabei hielten beide Ver- Erklärung ab, dass ihre Länder das Projekt einer Zoll- handlungspartner eine offensive Strategie für sinn- union nicht weiterzuverfolgen beabsichtigten. voll, um durch Bestehen auf dem Recht zur Errich- tung einer rein wirtschaftlich orientierten Union Die Problematik auch in den internationalen Gremien ihre Pläne (die längerfristig sehr wohl über die Zollunion hinaus- In jeder der dargelegten vier Verhandlungsphasen reichten) selbst gegen Frankreich durchzusetzen. Am stellt sich die Frage, ob die von den deutschen und Ende blieb als »Strategie« nur, angesichts der diplo- österreichischen Verhandlungspartnern gewählte matischen Niederlage gute Miene zum bösen Spiel »Lösung« mithilfe des Einsatzes von KI anders zu machen. und/oder besser hätte ausfallen können. Vielleicht ließe sich durch genauere Kenntnis der Analysiert man den Ablauf anhand des »Rasters für Persönlichkeit der Verhandler noch Näheres zu die Beurteilung der Erfolgsaussichten von Verhand- ihren taktischen Abwägungen erfahren, das uns Auf- lungen« im gleichnamigen Abschnitt (oben, S. 8), schluss hinsichtlich eines möglichen Ansatzes für die zeigt sich zunächst hinsichtlich der Machtressour- Nutzung von KI-Instrumenten geben könnte. Den AA- cen, dass beide Hauptakteure Deutschland als die stär- Dokumenten ist hierzu – ihrem Charakter gemäß – kere Seite betrachteten. Deutschland nahm schritt- jedoch nichts zu entnehmen; dazu müssten andere weise das Heft in die Hand, und Österreich zog auf Quellen herangezogen werden. dem Weg mit, der letztlich zur auch politischen Ver- einigung führen sollte. Bald jedoch wurde ein Macht- KI als Antwort? gefälle deutlich, mit Deutschland/Österreich auf der einen – schwächeren – Seite und den alliierten Um den Verlauf zusammenzufassen: Zunächst kon- Mächten (die bis zum 30. Juni 1930 noch links- und zentrierten sich Deutschland und Österreich darauf, SWP Berlin Diplomatie und Künstliche Intelligenz Oktober 2021 14
Fallstudie 1: Die deutsch-österreichische Zollunion die Sachfragen zu klären. Im Binnenverhältnis der tegie notwendig sei. Als zentral wird hier – im Rück- zwei Akteure erscheint dies als rational und durch- blick zutreffend – der Widerstand der Tschecho- dacht. Im Nachhinein ist allerdings offenkundig, dass slowakei und ihres Bündnispartners Frankreich be- das Problem des Widerstands anderer Parteien frühe- schrieben. Das französische und tschechoslowakische rer Maßnahmen bedurft hätte. Im weiteren Verlauf Misstrauen ließe sich, so der Vorschlag Köpkes, »viel- zeigt sich zwar in der bewussten Täuschungsabsicht leicht« (sic!) beheben, wenn Deutschland »zweifelsfrei der deutschen Verhandlungsseite gegenüber den seine Bereitschaft« erklärte, »Frankreich und die internationalen Partnern und selbst gegenüber Teilen Tschechoslowakei in den Wirtschaftsblock als gleich- des eigenen Kabinetts ein Bewusstsein für mögliche berechtigte Partner aufzunehmen und dadurch unter Widerstände. Dennoch fehlt es aus heutiger Sicht an Verzicht auf machtpolitische Tendenzen den Frieden einer Matrix zum differenzierten Umgang mit den Mitteleuropas endgültig zu sichern«. Da sich andere verschiedenen Parteien und an entsprechend an- Versuche, die Wirtschaftslage Europas zu verbessern, gelegten diplomatischen Maßnahmen. In den letzten als nicht durchführbar erwiesen hätten, würde dies Phasen der Verhandlungen lässt Deutschlands Stra- »dem Widerstand unserer Gegner (sic!) zum mindes- tegie nicht erkennen, wie das Zollunion-Projekt gegen ten jede moralische Basis nehmen«. Warum diese Frankreichs Widerstand zum Erfolg hätte geführt Anregungen Köpkes nicht aufgegriffen wurden, ist werden können. Im Scheitern des Projekts zeigt sich (von uns) nicht festzustellen. Das Papier zeigt aber, damit, dass Deutschland und Österreich nicht die welchen Wert es haben kann, in zugespitzten Situa- Machtmittel zur Verfügung standen, welche die tionen out of the box zu denken. Durchsetzung der eigenen Interessen gegen ernst- Die Frage ist mithin, ob es hierfür erfahrener haften Widerstand erlaubt hätten. Diplomaten bedarf – oder aber, ob sich zumindest in Es wäre nun im Nachhinein zu prüfen, ob eine Teilen KI-Systeme zu diesem Zweck einsetzen lassen. andere Strategie aussichtsreicher hätte verfolgt Einen Ansatzpunkt bieten jene KI-Systeme, die gigan- werden können. Das heißt: Hätte es Wege gegeben, tische Mengen menschlichen Wissens durchsuchbar prophylaktisch mit dem zu erwartenden Widerstand machen. Eines der ambitioniertesten Projekte dieser in einer Weise umzugehen, die dem Projekt auch Art ist der bereits erwähnte Generative Pretrained zum Erfolg hätte verhelfen können, als die Machtge- Transformer von OpenAI. Ein vergleichbares Produkt wichte sich verschoben? Und: Hätten KI-Instrumente bietet IBM mit Watson, einem System, das öffentlich- helfen können, solch eine Strategie zu entwickeln? keitswirksam schon 2011 beim Quiz-Spiel »Jeopardy« Die Fallstudie enthüllt, wie vielfältig die Faktoren gegen Menschen angetreten ist.14 In Deutschland sind, die den Verlauf selbst von scheinbar überschau- arbeitet die Firma Aleph-Alpha am Aufbau eines ähn- baren Verhandlungen beeinflussen. Im Nachhinein, lichen Systems.15 und mit umfangreichem Einblick in die entsprechen- Die Grundlage für diese Systeme sind Datenbanken den Dokumente, lassen sich diese verschiedenen Fak- aus riesigen Mengen von Texten. Es ist wahrschein- toren analysieren, und aus ihrem Zusammenspiel lich nur eine geringfügige Übertreibung, wenn die lässt sich die Dynamik der Verhandlungen erklären. Entwickler dieser Systeme behaupten, das (verschrift- Nach heutigem Stand aber ist schwer vorstellbar, lichte) »Wissen der Welt« zu verarbeiten. In einem dass KI-Systeme konkrete strategische Empfehlungen ersten Schritt werden diese gigantischen Daten- für einen solchen Verhandlungsfall entwickeln. Es scheint jedoch ein »bescheidenerer« Weg gangbar zu 14 »›Watson‹ weiß die Antwort«, in: Zeit Online, 17.2.2011, sein, nämlich der, KI-Systeme zur automatisierten (eingesehen am 21.6.2021). Vgl. auch »AI Is Trans- Hinweise für die strategischen Überlegungen der Ver- forming the Coding of Computer Programs«, in: The Economist handler geben können. (online), 10.7.2021, (eingesehen am 21.6.2021). entsprechendes Beispiel. Eine Vorlage des Politischen 15 Christoph Kapalschinski, »KI-Texte: Ein deutsches Start- Abteilungsleiters Gerhard Köpke für den Besuch von up will Open AI Konkurrenz machen«, in: Handelsblatt (on- line), 7.5.2021, Ergebnis, dass eine Anpassung der verfolgten Stra- (eingesehen am 21.6.2021). SWP Berlin Diplomatie und Künstliche Intelligenz Oktober 2021 15
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