Diplomatie und Künstliche Intelligenz - SWP-Studie - Stiftung Wissenschaft ...

Die Seite wird erstellt Frank Reimer
 
WEITER LESEN
Diplomatie und Künstliche Intelligenz - SWP-Studie - Stiftung Wissenschaft ...
SWP-Studie

  Volker Stanzel / Daniel Voelsen

Diplomatie und
Künstliche Intelligenz
         Überlegungen zur praktischen Hilfestellung für
         diplomatische Verhandlungen

                                                    Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                                Deutsches Institut für
                                                 Internationale Politik und Sicherheit

                                                                       SWP-Studie 18
                                                                  Oktober 2021, Berlin
Diplomatie und Künstliche Intelligenz - SWP-Studie - Stiftung Wissenschaft ...
Kurzfassung

∎ Künstliche Intelligenz (KI) birgt das Versprechen, große Datenmengen
  schneller und zuverlässiger zu analysieren, als Menschen dies können. Ist
  es also auch möglich, mit KI-Systemen die für diplomatische Verhandlun-
  gen relevanten Informationen so auszuwerten, dass dadurch ein signifi-
  kanter strategischer Mehrwert entsteht?
∎ Wir gehen dieser Frage zunächst anhand von zwei explorativen Fallstu-
  dien nach. Die erste dreht sich um die Verhandlungen für eine deutsch-
  österreichische Zollunion in den Jahren 1930/31. Hier zeigen wir, wie KI-
  Systeme genutzt werden könnten, um für Zwecke der Strategiebildung
  automatisiert ein Spektrum möglicher Szenarien zu entwickeln.
∎ In der zweiten Fallstudie geht es um die Verhandlungen um die soge-
  nannte Cybercrime-Resolution im Rahmen der Vereinten Nationen (VN).
  In Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt wurde für die Studie
  untersucht, ob und in welcher Form KI-Systeme geeignet sind, das Verhal-
  ten von Staaten in der VN-Generalversammlung zu prognostizieren.
∎ Ausgehend von den beiden Fallstudien nehmen wir in einer systemati-
  schen Zusammenschau weitere Möglichkeiten in den Blick, KI als Instru-
  ment für die Diplomatie zu nutzen, zum Beispiel beim automatisierten
  Monitoring öffentlicher Medien rund um einen Verhandlungsprozess.
∎ KI ist heute noch oft fehleranfällig und wird absehbar nicht die Urteils-
  kraft erfahrener Diplomaten ersetzen können. Als unterstützendes In-
  strument jedoch hat KI das Potenzial, einen möglicherweise unverzicht-
  baren Beitrag zur Vorbereitung und Durchführung diplomatischer Ver-
  handlungen zu leisten.
∎ Die deutsche Außenpolitik sollte die Voraussetzungen dafür schaffen,
  die Einsatzmöglichkeiten von KI und anderen Methoden der Datenanalyse
  für die Zwecke der Verhandlungsdiplomatie weiter zu explorieren; außer-
  dem sollte sie eine »außenpolitische Datenstrategie« entwickeln und nor-
  mative Leitlinien für die Nutzung von KI im Kontext der Diplomatie
  einziehen.
SWP-Studie

Volker Stanzel / Daniel Voelsen

Diplomatie und
Künstliche Intelligenz
Überlegungen zur praktischen Hilfestellung für diplomatische Verhandlungen

                                                         Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                                     Deutsches Institut für
                                                      Internationale Politik und Sicherheit

                                                                            SWP-Studie 18
                                                                       Oktober 2021, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Abdruck oder vergleichbare
Verwendung von Arbeiten
der Stiftung Wissenschaft
und Politik ist auch in Aus-
zügen nur mit vorheriger
schriftlicher Genehmigung
gestattet.

SWP-Studien unterliegen
einem Verfahren der Begut-
achtung durch Fachkolle-
ginnen und -kollegen und
durch die Institutsleitung (peer
review), sie werden zudem
einem Lektorat unterzogen.
Weitere Informationen
zur Qualitätssicherung der
SWP finden Sie auf der SWP-
Website unter https://
www.swp-berlin.org/ueber-
uns/qualitaetssicherung/.
SWP-Studien geben die
Auffassung der Autoren und
Autorinnen wieder.

© Stiftung Wissenschaft und
Politik, Berlin, 2021

SWP
Stiftung Wissenschaft und
Politik
Deutsches Institut für
Internationale Politik und
Sicherheit

Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-200
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org

ISSN (Print) 1611-6372
ISSN (Online) 2747-5115
doi: 10.18449/2021S18
Inhalt

5    Problemstellung und Empfehlungen

7    Diplomatische Verhandlungen
7    Der Charakter diplomatischer
     Kommunikation und Interaktion
8    Raster für die Beurteilung der
     Erfolgsaussichten von Verhandlungen

 9   Künstliche Intelligenz
 9   Die Logik maschinellen Lernens
10   Analysen und Prognosen

11   Zwei Fallstudien
11   Fallstudie 1: Die deutsch-österreichische Zollunion
17   Fallstudie 2: Die Cybercrime-Resolution der
     VN-Generalversammlung

25   KI als Instrument für diplomatische Verhandlungen
25   Machtressourcen
26   Strategie
27   Persönlichkeiten
29   Das Zusammenspiel verschiedener Einflussfaktoren

31   Empfehlungen für die deutsche Diplomatie

33   Abkürzungsverzeichnis
Dr. Volker Stanzel ist Senior Distinguished Fellow
bei der Institutsleitung.
Dr. Daniel Voelsen ist Leiter der Forschungsgruppe
Globale Fragen.

Danksagung: Die Verfasser haben für die Studie die
zugängliche Literatur geprüft und Gespräche mit
mehreren Außenministerien sowie Unternehmen im
Bereich der Entwicklung und Anwendung von KI
geführt. Wir danken all unseren Gesprächspartnern
für ihr Vertrauen und viele wichtige inhaltliche Hin-
weise. Da es sich hierbei um vertrauliche Gespräche
handelte, stützt sich die Darstellung in der Studie nur
auf öffentlich zugängliche Quellen. Für intensiven
Austausch und die Arbeit an einem gemeinsamen
Pilotprojekt (siehe hierzu S. 23) gilt unser besonderer
Dank dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik
Deutschland und hier insbesondere dem Referat S05-
09/PREVIEW – Krisenfrüherkennung, Analyse und
Informationsmanagement. Für die gute Zusammen-
arbeit möchten wir hier besonders Hans-Christian
Mangelsdorf und Kathrin Weny danken. Seitens der
SWP hat Luisa Boll hat von Anfang an das Projekt mit
großem Engagement als studentische Hilfskraft unter-
stützt, Paul Bochtler und Rebecca Majewski waren
unverzichtbar für die Durchführung der Daten-
analysen im Rahmen des Pilotprojekts.
Problemstellung und Empfehlungen

Diplomatie und Künstliche Intelligenz.
Überlegungen zur praktischen Hilfe-
stellung für diplomatische Verhandlungen

Kann Künstliche Intelligenz (KI) der Praxis der Diplo-
matie neue Wege erschließen? Durch die Geschichte
hindurch meint »Diplomatie« das Bemühen mensch-
licher Gemeinschaften, ihre Interessen friedlich mit-
einander auszugleichen, jeweils vor oder nach dem
Versuch, sie gewaltsam durchzusetzen. Für die Ana-
lyse von Verhandlungen lassen sich, ausgehend von
der politikwissenschaftlichen Forschung, hinsichtlich
des Umfelds von Verhandlungen vor allem drei zen-
trale Aspekte in den Blick nehmen: die Machtressour-
cen der beteiligten Staaten, ihre Strategie sowie die
Persönlichkeit der beteiligten Individuen.
    KI birgt das Versprechen, große Datenmengen
schneller und zuverlässiger auszuwerten, als dies
Menschen möglich ist. KI-Anwendungen werden
heute bereits in vielen Bereichen von Verwaltung und
Wirtschaft genutzt – und die Corona-Pandemie war
Anlass, solche Anwendungen erheblich auszuweiten.
Es gibt auch Versuche, KI oder andere Formen der
Datenanalyse in dafür geeigneten Bereichen einzuset-
zen, etwa in der Verwaltung von Außenministerien,
im Konsularwesen oder für Zwecke der teilautoma-
tisierten public diplomacy. In dieser Studie aber geht
es explizit um den Kern der diplomatischen Praxis:
Verhandlungen.
    Unsere Leitfrage lautet: Ist es möglich, mit KI-Sys-
temen die für eine Verhandlung relevanten Informa-
tionen so auszuwerten, dass dadurch ein signifikanter
Mehrwert gegenüber den traditionellen Methoden der
Datenanalyse zur Vorbereitung und Durchführung
einer Verhandlung entsteht? Der Mehrwert bemisst
sich dabei einerseits an einem formalen Kriterium
von Effizienz: Lässt sich mithilfe von KI der Ressour-
cenaufwand bei der Auswertung reduzieren, so dass
man zum Beispiel schneller zu Ergebnissen kommt
und dadurch einen wesentlichen Informations-
vorsprung gegenüber anderen Akteuren gewinnt?
Andererseits ist aber letztlich die Güte der Analyse
entscheidend: Gewährt sie strategische Einsichten,
durch die sich die Erfolgsaussichten von Verhandlern
entscheidend verbessern? Da die Bestimmung des
»Ergebnisses« von Verhandlungen durch eine Vielzahl
von Faktoren beeinflusst wird, lässt sich der Mehrwert

                                               SWP Berlin
                      Diplomatie und Künstliche Intelligenz
                                             Oktober 2021

                                                         5
Problemstellung und Empfehlungen

            von KI nur im Verlauf der Verhandlungen bemessen.         von KI als Instrument für die Diplomatie, etwa beim
            Die Erwartung ist aber natürlich, dass die Verbesse-      automatisierten Monitoring öffentlicher Medien rund
            rung von Erfolgsaussichten durch KI-Analysen tat-         um einen Verhandlungsprozess.
            sächlich dem diplomatischen Erfolg zugutekommt.              Am Ende der Studie steht mithin die Schlussfolge-
               Im Prinzip lassen sich konkrete KI-Anwendungen         rung, dass Künstliche Intelligenz das Potenzial hat,
            anhand dieses zweifachen Maßstabes bewerten. Da           nach aktuellem Stand vor allem mittels der Lieferung
            es bislang keine belastbaren Hinweise gibt, dass KI       von Szenarien und Prognosen zu einem wichtigen,
            irgendwo bereits systematisch für Zwecke diplomati-       möglicherweise unverzichtbaren Instrument für die
            scher Verhandlungen eingesetzt wird, ist es für eine      Vorbereitung und Durchführung diplomatischer Ver-
            solch konkrete Prüfung allerdings noch zu früh. Das       handlungen zu werden. Daraus ergeben sich drei
            Ziel dieser Studie lautet stattdessen, durch ein explo-   Empfehlungen:
            ratives Vorgehen das Potenzial von KI für diesen             Erstens sollte die deutsche Außenpolitik die Voraus-
            Bereich auszuloten und daraus Empfehlungen für            setzungen dafür schaffen, das Potenzial von KI und
            die deutsche Außenpolitik zu entwickeln.                  anderen Methoden der Datenanalyse für die Zwecke
               Den Ausgangspunkt bilden dabei zwei Fallstudien.       der Verhandlungsdiplomatie weiter zu explorieren.
            Die erste Fallstudie befasst sich mit den Verhandlun-        Zweitens empfehlen wir eine »außenpolitische Da-
            gen über eine deutsch-österreichische Zollunion in        tenstrategie«. Die Möglichkeiten von Datenanalysen
            den Jahren 1930/31 und insofern mit einem Fall, der in    für Zwecke der Diplomatie hängen davon ab, welche
            vielerlei Hinsicht typisch für bilaterale Verhandlun-     Daten zur Verfügung stehen. Vorausschauend wäre
            gen ist. Deutlich zeigt sich hier, wie schnell und oft    es daher sinnvoll, gezielt und strukturiert Daten aus
            schwer vorhersehbar sich die Dynamik von Verhand-         der diplomatischen Praxis zu sammeln und aufzube-
            lungen verändert. Die explorativen Annäherungen           reiten. Dafür sollten die Datenanalyse-Einheiten in
            zeigen aber auch, dass gerade in solchen Fällen KI-       allen beteiligten Ressorts der Regierung – wie auch
            Systeme geeignet sein können, automatisiert ein           im Parlament – dem Bedarf entsprechend ausgerüs-
            Spektrum möglicher Szenarien zu entwickeln, aus           tet werden.
            dem sich verwendbare Hinweise für die Strategiebil-          Drittens schließlich gilt es, von Anfang an norma-
            dung der Verhandler ableiten lassen.                      tive Leitlinien für die Nutzung von KI im Kontext der
               In der zweiten Fallstudie geht es mit den Verhand-     Diplomatie einzuziehen. Dies betrifft Fragen der Sys-
            lungen über die sogenannte Cybercrime-Resolution          temsicherheit, des Datenschutzes sowie vor allem der
            im Rahmen der Vereinten Nationen (VN) um einen            menschlichen Kontrolle und Verantwortung. Denn
            aktuellen Fall multilateraler Verhandlungen. Eine         es wäre ein Fehler, politische Werturteile an ein KI-
            besondere Herausforderung besteht hier darin, eine        System zu delegieren.
            Vielzahl an Informationen zu Zielen und strategi-
            schen Erwägungen einer Vielzahl von Akteuren aus-
            zuwerten. Im Rahmen eines Pilotprojektes in Zusam-
            menarbeit mit dem Auswärtigen Amt (AA) wurde für
            die Studie untersucht, ob und in welcher Form KI-
            Systeme eine Prognose dazu erlauben, wie sich Staa-
            ten in der VN-Generalversammlung verhalten wer-
            den. Noch sind die Ergebnisse zu unscharf, doch
            zeichnet sich auch hier ein verwertbares Potenzial
            von KI ab.
               Ausgehend von der vertieften Diskussion der zwei
            Fallstudien wird im letzten Teil der Studie systema-
            tisch zusammengefasst, welche Ansätze im Bereich
            von KI für welche Aspekte diplomatischer Verhand-
            lungen geeignet sein könnten. Einige solcher Aspekte
            werden sich wohl niemals in einer Weise objektiv
            und quantitativ erfassen lassen, wie es für KI-basierte
            Analysen notwendig wäre. Doch gibt es über die Fall-
            studien hinaus Beispiele für den möglichen Mehrwert

            SWP Berlin
            Diplomatie und Künstliche Intelligenz
            Oktober 2021

            6
Der Charakter diplomatischer Kommunikation und Interaktion

Diplomatische Verhandlungen

Der Charakter diplomatischer                                      ten Gesprächen und dem Griff zu Instrumenten zur
Kommunikation und Interaktion                                     Durchsetzung eigener Wünsche scheint auf den ers-
                                                                  ten Blick weit zu sein. Dennoch zeigen etwa schon
Für die diplomatische Interessenvertretung durch                  die Geschehnisse der Jahre 2020/21, wie schnell selbst
Kommunikation und Interaktion hat sich in der Pra-                Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) Schen-
xis eine Vielzahl von Instrumenten und Institutionen              gen-Regelungen und Erfordernisse der Konsultation
herausgebildet. Zu diesen zählen: fest etablierte oder            innerhalb der EU beiseiteschieben, um die Grenzen
ad hoc geschaffene bi- oder multilaterale Gesprächs-              mit Waffengewalt gegen das Eindringen des Corona-
plattformen; Gesprächskanäle in Gestalt diploma-                  Virus zu schützen. Immer steht daher bei Verhand-
tischer Vertretungen; technische Kommunikations-                  lungen – mit unterschiedlicher Deutlichkeit, jedoch
einrichtungen (zum Beispiel »rote Telefone«); gere-               unübersehbar – im Raum, was in der Geschichte der
gelter mündlicher oder schriftlicher Austausch sowie              Normalfall war: der Einsatz von Zwangsmitteln. Da-
indirekte Kommunikation über Medien, Öffentlich-                  bei werden neben militärischen Maßnahmen immer
keiten und andere Zwischenträger.                                 häufiger wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen ergrif-
                                                                  fen – die Wirtschaft als eigenes »Schlachtfeld«.2
    Diplomatische Verhandlungen sind                                 Selbst nach dem Einsatz von Zwangsmitteln gilt
         der Kern von Diplomatie.                                 jedoch ein Grundprinzip diplomatischer Verhandlun-
                                                                  gen weiterhin: Sie enden nie. Richelieus Begriff
    Diplomatische Verhandlungen sind der Kern von                 »négociation continuelle« spiegelt die Erkenntnis
Diplomatie. Sie können zu einem neuen oder bestä-                 wider, dass die Veränderung der Grundbedingungen
tigten Status in den Beziehungen zwischen den betei-              von Verhandlungsergebnissen diese rasch wieder in
ligten Staaten führen, zu gemeinsamen oder unilate-               toto hinfällig machen können – mit der Konsequenz,
ralen Maßnahmen, sie können aber auch scheitern                   dass man sich am Verhandlungstisch oder auf dem
oder in einen anderen zeitlichen, geographischen                  Schlachtfeld neu gegenübertritt.3
oder institutionellen Rahmen verlagert werden.
Enden die Verhandlungen, ist zunächst auch die
Arbeit der Diplomatie erledigt.
    Die Konsequenz eines Scheiterns von Verhandlun-                 2 Sascha Lohmann, »Diplomaten und der Einsatz von Wirt-
                                                                    schaftssanktionen«, in: Volker Stanzel (Hg.), Die neue Wirklich-
gen wiederum kann der Einsatz von militärischen oder
                                                                    keit der Außenpolitik. Diplomatie im 21. Jahrhundert, Baden-
nichtmilitärischen Zwangsmitteln sein. Die Lösung
                                                                    Baden: Nomos, 2019, S. 23–33 (25).
von Konflikten ohne den Rückgriff auf Zwangsmittel
                                                                    3 G. R. Berridge/Maurice Keens-Soper/T. G. Otte, Diplomatic
ist also – im Sinne von Kapitel VI der VN-Charta –                  Theory from Machiavelli to Kissinger, Basingstoke: Palgrave Mac-
grundsätzlich Ziel diplomatischer Verhandlungen. 1                  millan, 2001, S. 73ff. Hier eignen sich die Verhandlungen
Der Abstand zwischen friedlichen, konsensorientier-                 der E3+3 mit dem Iran als Beispiel: Die Verhandlungen
                                                                    begannen (zunächst nur zwischen den Europäern und dem
                                                                    Iran) im Schatten des Zweiten Golfkrieges; sie endeten vor-
  1 Christer Jönsson/Martin Hall, Essence of Diplomacy, Basing-     läufig durch das Eingreifen Präsident Barack Obamas, schei-
  stoke: Palgrave Macmillan, 2005, S. 82; dies., »Communi-          terten dann vorläufig durch den Austritt der USA unter Prä-
  cation: An Essential Aspect of Diplomacy«, in: International      sident Donald Trump aus dem mit dem Iran ausgehandelten
  Studies Perspectives, 4 (2003) 2, S. 195–210 (196). Andreas       Abkommen und finden nun in einem erneut veränderten
  Wilhelm, »Diplomatie«, in: Carlo Masala/Frank Sauer/              Umfeld wieder statt. Vgl. Brigid Starkey/Mark A. Boyer/
  Andreas Wilhelm (Hg.), Handbuch der Internationalen Politik,      Jonathan Wilkenfeld, International Negotiation in a Complex
  Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010,              World, Lanham, MD: Rowman & Littlefield, 2015 (New
  S. 337–352.                                                       Millennium Books in International Studies), S. 27ff.

                                                                                                                     SWP Berlin
                                                                                            Diplomatie und Künstliche Intelligenz
                                                                                                                   Oktober 2021

                                                                                                                                  7
Diplomatische Verhandlungen

            Raster für die Beurteilung der                                          nicht zum Verhandlungspatt führen muss, sondern
            Erfolgsaussichten von Verhandlungen                                     der Kompromissbereitschaft förderlich sein kann.6
                                                                                       (b) Ein weiterer Faktor, der Aufschluss über den
            Um die Erfolgsaussichten von Verhandlungen im                           zu erwartenden Verlauf von Verhandlungen geben
            Voraus einschätzen oder den Verhandlungsverlauf                         kann, ist die Strategie der beteiligten Akteure. Im
            rückwirkend analysieren zu können, bedarf es eines                      Kern geht es hier um die Definition von Zielen und
            analytischen Rasters. Ausgehend von der politikwis-                     die Auswahl geeigneter diplomatischer Instrumente.
            senschaftlichen Forschung nehmen wir dabei vor-                         Dazu kann auch gehören, die Parameter der Verhand-
            rangig drei Aspekte in den Blick: die Machtressourcen                   lungen zum eigenen Vorteil zu verschieben: indem
            der Staaten, ihre Strategie sowie die Persönlichkeit                    man etwa den Kontext einer konkreten Verhandlung
            der beteiligten Individuen.                                             durch die Verbindung mit anderen Auseinander-
               (a) Die grundsätzlichen Überlegungen zum Verhält-                    setzungen verändert oder einen neuen institutionel-
            nis von Verhandlungen auf der einen und Gewalt-                         len Rahmen wählt, den Akteurskreis erweitert, neue
            einsatz auf der anderen Seite verweisen auf das wich-                   Forderungen und Bedingungen aufbringt oder durch
            tigste Kriterium für Verlauf und Ausgang von Verhand-                   Beeinflussung der Öffentlichkeiten und ihrer media-
            lungen: die Machtressourcen eines Staates, die er in                    len Plattformen neue Ausgangsbedingungen schafft.
            den Verhandlungen oder direkt zur Geltung bringen                          (c) Diplomatische Verhandlungen finden in einer
            kann.                                                                   spezifischen sozialen Sphäre statt, in der eigene Regeln
               In ihrer heutigen Form sind die Staaten an die                       für die Kommunikation und Interaktion unter den
            Normen des Völkerrechts gebunden. Es gibt jedoch,                       Beteiligten gelten – beginnend bei den Normen des
            trotz des in Artikel 2 der VN-Charta festgeschriebenen                  Völkerrechts. Zugleich können Faktoren Einfluss auf
            allgemeinen Gewaltverbots, keine globale Instanz, die                   die Verhandlungen nehmen, die von den Verhand-
            mit ausreichend Zwangsmitteln ausgestattet wäre,                        lern im Vorhinein nicht ausreichend wahrgenommen
            um Normverletzungen zu ahnden.                                          wurden und sie mit nicht erwarteten Momenten kon-
               Die Durchsetzungsfähigkeit eines Staates ist dabei                   frontieren, so etwa immer öfter »uneingeladene
            nicht gleichbedeutend mit seiner militärischen oder                     Verhandler«7 wie die elektronischen und traditionel-
            wirtschaftlichen Stärke.4 Sie ergibt sich aus materiel-                 len Medien. Gerade deshalb ist als ein weiterer Faktor
            len Mitteln, technischem Know-how, institutionellen                     die Persönlichkeit der Individuen, die verhandeln,
            diplomatischen Kapazitäten und Fähigkeiten, dem                         nicht zu unterschätzen. Sie ist ein wesentliches Ele-
            internationalen und nationalen Umfeld sowie der                         ment von Verhandlungen, bei denen es immer wie-
            Möglichkeit auch plötzlicher Veränderungen.5 Folg-                      der darum geht, gegenseitig die Positionen der Betei-
            lich wird mit Blick auf die verhandelnden Parteien                      ligten abzutasten. Das bedeutet, dass Eigenheiten
            die Bewertung der ihnen zur Verfügung stehenden                         zwischenmenschlicher Kommunikation wie Freude,
            Machtressourcen zum ersten Kriterium, um den Ver-                       Ärger, Verlegenheit, Überraschung, Lüge, Offenheit
            lauf eines Verhandlungsprozesses einzuschätzen.                         und vieles andere mehr eine oft auch unerwartete
               Genauso wenig allerdings, wie sich der Ausgang                       wesentliche Rolle für Verlauf und Ergebnis von Ver-
            bewaffneter Konflikte durch Gegenrechnung von                           handlungen spielen können – und wegen eben die-
            Truppenstärken und Panzerzahlen vorhersagen lässt,                      ses Charakters eine systematische Analyse erschweren.8
            erlaubt die Gesamtheit der Mittel eines Staates zum
            Einsatz von Zwangsmaßnahmen zuverlässige Progno-                          6 Klaus Citron, »Experiences of a Negotiator at the Stock-
            sen über das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses.                        holm Conference«, in: Mautner-Markhof (Hg.), Processes of
            Schon die verschiedenen Abkommen, die während des                         International Negotiations [wie Fn. 5], S. 79–84. Vgl. auch
            Kalten Krieges zwischen Ost und West zustande kamen,                      Christer Jönsson, »Situation-Specific vs. Actor-Specific
            zeigen, dass weitgehende Symmetrie der Machtmittel                        Approaches to International Bargaining«, in: European Journal
                                                                                      of Political Research, 6 (1978) 4, S. 381–398; I. William Zart-
                                                                                      man, The Negotiation Process, Beverly Hills/London: Sage, 1978.
                4 Michael Barnett/Raymond Duvall, »Power in International             7 Starkey/Boyer/Wilkenfeld, International Negotiation in a
                Politics«, in: International Organization, 59 (2005) 1, S. 39–75.     Complex World [wie Fn. 3], S. 109; zur Rolle der Medien vgl.
                5 Marcel Merle, »International Negotiation: A Process                 ebd., S. 108ff.
                Worthy of Reexamination«, in: Frances Mautner-Markhof                 8 Zur Bedeutung der »Reputation« von Verhandlern siehe
                (Hg.), Processes of International Negotiations, Boulder/San Fran-     Fred Charles Iklé, How Nations Negotiate, London: Harper &
                cisco/London: Westview Press, 1989, S. 233–240 (235).                 Row, 1964, Kap. 9.

            SWP Berlin
            Diplomatie und Künstliche Intelligenz
            Oktober 2021

            8
Die Logik maschinellen Lernens

Künstliche Intelligenz

In den letzten Jahren hat das Thema »Künstliche                 Die Logik maschinellen Lernens
Intelligenz« erheblich an Aufmerksamkeit gewonnen.
So überzogen der öffentliche Hype bisweilen ist,                Im Kern sind heutige ML-Verfahren besonders dafür
stehen dahinter doch genuine technologische Fort-               geeignet, in großen Datenmengen Muster zu erken-
schritte: Die Leistungsfähigkeit von Computer-Prozes-           nen. Sie brechen solche Datenmengen dazu in eine
soren nimmt jedes Jahr zu, hinzu kommen Fortschritte            Vielzahl einzelner Datenpunkte auf, die anschließend
in der Speichertechnik und in der Forschung zu KI-              mit statistischen Methoden verarbeitet werden kön-
Algorithmen. In der Summe ist es heute möglich,                 nen. Bei der Analyse von Sprache etwa wird der Audio-
mehr Daten schneller als je zuvor zu verarbeiten –              Input digital erfasst und dann mit enormer Geschwin-
mit Konsequenzen, die bereits im Alltag sichtbar sind,          digkeit immer feingliedriger analysiert: Enthalten die
denkt man an Gesichts- und Spracherkennung.                     Daten menschliche Sprechakte? Welche Klänge hän-
   Der Begriff der künstlichen Intelligenz wird oft so          gen zusammen und bilden Worte? Welcher Sprache
verstanden, als gehe es darum, mithilfe von Maschi-             entstammen diese Worte? Welche Worte bilden
nen Aufgaben zu erfüllen, für die zuvor menschliche             einen Satz? Was ist der Inhalt dieses Satzes? Auf diese
Intelligenz als notwendig galt. Das Problem aber ist,           Weise lassen sich unterschiedlichste Daten-Inputs
dass sich diese Marke mit dem Fortschritt der Technik           analysieren: zum Beispiel Text, Bild/Video, Ton, Wet-
immer weiter verschiebt – und damit auch die                    terdaten, Ereignisdaten, Metadaten.
Vorstellung davon, was KI ist. Einem Taschenrechner                Grundlage dafür ist, dass das System zunächst mit
würde man wohl kaum künstliche Intelligenz zu-                  einem Satz von »Trainingsdaten« vorbereitet wird.
schreiben, auch wenn er Aufgaben erfüllt, für die               Für Zwecke der Bilderkennung enthalten solche Trai-
man zuvor menschliche Intelligenz für unerlässlich              ningsdaten zum Beispiel Hinweise dazu, was auf
hielt. Nicht zufällig lösen die Entwicklungen im                einem Foto oder einer Abbildung dargestellt ist. ML-
Bereich von KI schon seit Jahrzehnten lebhafte Debat-           Algorithmen nutzen diese Trainingsdaten, indem sie
ten über das Wesen menschlicher Intelligenz aus. 9              analysieren, welche visuellen Eigenschaften Rück-
                                                                schlüsse darauf erlauben, um welche Art von Objekt
       KI wird hier als Chiffre für                             es sich handelt.
   Methoden maschinellen Lernens (ML)                              Ist ein System mit einem Trainingsdatensatz ein-
              verstanden.                                       gerichtet worden, kann es weitere, neue Daten ana-
                                                                lysieren. Je nach Konfiguration ist ein System von
   Unseren Überlegungen liegt im Folgenden ein                  diesem Punkt an entweder statisch einsatzfähig oder
enges Verständnis von KI zugrunde, das KI als Chiffre           in der Lage, sich durch neue Datenpunkte aus der
für Methoden maschinellen Lernens (ML) versteht.                praktischen Anwendung weiterzuentwickeln. Such-
Diese Methoden zeichnen sich dadurch aus, dass die              maschinen etwa »lernen« aus dem Klickverhalten der
entsprechenden Algorithmen – also die Regeln, nach              Nutzer, ob ein angezeigtes Suchergebnis »passend« war.
denen ein Programm eine Aufgabe bearbeitet – so
ausgelegt sind, dass sie sich innerhalb bestimmter                     Die heutigen KI-Methoden sind
Parameter eigenständig weiterentwickeln können. In                      (noch) nicht geeignet, kausale
diesem begrenzten technischen Sinne handelt es sich                    Zusammenhänge aufzudecken.
um lernende Maschinen.
                                                                   So beeindruckend die Analyse-Möglichkeiten von
                                                                KI sind, bleibt zu beachten, dass die heutigen Metho-
  9 Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen,   den von ML weit entfernt sind von der Leistungsfähig-
  2. Aufl., München: C. H. Beck, 2018.                          keit menschlicher Intelligenz. Menschen etwa ver-

                                                                                                               SWP Berlin
                                                                                      Diplomatie und Künstliche Intelligenz
                                                                                                             Oktober 2021

                                                                                                                         9
Künstliche Intelligenz

              stehen das Konzept »Hund«, auch ohne Millionen                    eigenständig durchgeführte Identifikation zentraler
              von Hundefotos analysiert zu haben. Zudem verfügen                Inhalte und der damit verknüpften Emotionen.
              wir als Menschen über eine Form von Intelligenz,                     Auf Basis der Analyse vergangener Ereignisse wer-
              die Lernprozesse und gedankliche Verknüpfungen                    den KI-Systeme auch eingesetzt, um Prognosen für zu-
              zwischen verschiedenen, teils weit entfernten Sach-               künftige Entwicklungen zu erstellen. Jede KI-Prognose
              gebieten ermöglicht. Auch ist zu betonen, dass die                fußt also auf einer Analyse; aber nicht jede KI-basierte
              heutigen Formen von ML (zumindest bisher) nicht ge-               Analyse muss für Zwecke der Prognose genutzt werden.
              eignet sind, kausale Zusammenhänge aufzudecken.10                    Das wohl bekannteste Beispiel sind Empfehlungs-
              Neuronale Netzwerke arbeiten mit Wahrscheinlich-                  systeme, wie sie zum Beispiel für zielgruppengenaue
              keiten, um Muster zu erkennen; sie können aber                    Werbung (targeted advertising) genutzt werden. Aus-
              diese Muster nicht auf Kausalitäten hin überprüfen.               gehend von der Analyse des bisherigen Kundenverhal-
              Sollen kausale Effekte analysiert werden, ist daher               tens werden Prognosen über zukünftige Präferenzen
              weiterhin eine »klassische« wissenschaftliche Unter-              der Person angestellt. Auch dienen solche Empfeh-
              suchung notwendig.                                                lungssysteme vielen Social-Media-Anbietern dazu,
                 Der Vorteil von KI-Systemen ist hingegen, dass sie             ihren Nutzern jene Informationen anzuzeigen, die
              wie jeder Computer in der Regel besser als Menschen               für sie wahrscheinlich am interessanten sind.
              darin sind, große Datenmengen zu durchforschen,                      Ein politisch besonders kontroverses Beispiel sind
              ohne zu ermüden, nachlässig zu werden oder sich                   Prognosen im Rahmen der Polizeiarbeit (predictive
              schlicht fürchterlich zu langweilen. Für einen                    policing). Dahinter steht die Vorstellung, jene Orte aus-
              Menschen wäre es eine Zumutung, das Geburtsregis-                 machen zu können, an denen mit großer Wahrschein-
              ter einer Stadt manuell daraufhin durchzusehen,                   lichkeit in naher Zukunft gegen Gesetze verstoßen
              welche Trends sich bei der Namensgebung in den                    werden wird – und dies durch die Entsendung von
              letzten Jahrzehnten abzeichnen. KI-Systeme sind                   Polizeikräften zu verhindern. Ein ungelöstes Problem
              hingegen gerade für solche »Fleißarbeiten« geeignet.              hierbei ist, dass predictive policing selbst die Daten ver-
                                                                                ändern kann, die Grundlage für zukünftige Prognose
                                                                                sind: Womöglich hat das Erscheinen der Polizei einen
              Analysen und Prognosen                                            abschreckenden Effekt, so dass es nicht zu einem
                                                                                Gesetzesverstoß kommt. Oder es ergibt sich eine Ver-
              Zu den prominentesten Beispielen für KI-basierte                  zerrung dadurch, dass Polizisten eher Gesetzes-
              Analysen gehören die Spracherkennung sowie die                    verstöße feststellen werden, wenn sie vor Ort sind.
              Erkennung von Objekten verschiedener Art in Bild-                 Die Prognose würde so zu einer selffulfilling prophecy
              material. Diese Analysen sind mittlerweile so weit                führen: Weil Polizisten auf Basis einer Prognose an
              gediehen, dass es sogar möglich ist, Sprache und                  einen Ort entsandt werden, stellen sie dort Gesetzes-
              äußeres Erscheinen von Menschen zu simulieren.                    verstöße fest, wodurch sich die Statistik für den Ort
              Seit nun schon einigen Jahren arbeitet zum Beispiel               weiter verschlechtert, was wiederum Anlass gibt, Poli-
              die Organisation OpenAI an einem System (Genera-                  zisten dorthin zu entsenden.11
              tive Pretrained Transformer, GPT), das es erlaubt,                   Eine weitere Form der Prognose besteht darin, Sze-
              auf Grundlage weniger Hinweise Texte zu generieren,               narien bis hin zu konkreten Handlungsempfehlun-
              die von Menschen geschrieben zu sein scheinen.                    gen zu entwickeln. Bei Spielen wie Schach und Go
                 Eng hiermit verbunden ist die Analyse von Ein-                 etwa sind KI-Systeme mittlerweile menschlichen Spie-
              stellungen gegenüber Personen, Institutionen und                  lern überlegen. Sie können auf enorme Datenmengen
              Produkten (sentiment analysis). Dabei werden zumeist              zurückgreifen und diese schneller verarbeiten, als
              Zeitungsberichte und Darstellungen in öffentlich                  es ihrem menschlichen Gegenüber möglich ist. Inter-
              zugänglichen Social-Media-Profilen ausgewertet. Es                essanterweise haben die KI-Systeme dabei zum Teil
              braucht keine KI-Systeme, um die Häufigkeit bestimm-              Strategien entdeckt, auf die Menschen bisher nicht
              ter Begriffe in Texten zu erfassen. Was KI aber einer             gekommen waren.
              solchen Textanalyse hinzufügen kann, das ist eine

                   10 Bernhard Schölkopf, »Causality for Machine Learning«,
                   ArXiv.org (2019),  (ein-     11 Sarah Brayne, »Big Data Surveillance: The Case of Polic-
                   gesehen am 23.8.2021).                                         ing«, in: American Sociological Review, 82 (2017) 5, S. 977–1008.

              SWP Berlin
              Diplomatie und Künstliche Intelligenz
              Oktober 2021

              10
Fallstudie 1: Die deutsch-österreichische Zollunion

Zwei Fallstudien

Im Folgenden sollen zwei historische Verhandlungs-           wärtigen Politik12 dokumentiert. Bewusst folgt die Dar-
situationen betrachtet werden. Ausgehend von einer           stellung diesen – auf die deutschen Akten beschränk-
Darstellung des tatsächlichen Verlaufs soll dabei am         ten – Aufzeichnungen, nimmt damit also die Per-
konkreten Beispiel kontrafaktisch ausgelotet werden,         spektive und den Wissensstand eines der beteiligten
ob es für die Beteiligten einen strategischen Vorteil        Akteure zum Ausgangspunkt.
bedeutet hätte, wenn sie auf KI-Analysen hätten
zurückgreifen können. Die beiden Fälle sind wegen            Hintergrund
ihrer Unterschiedlichkeit ausgewählt worden. Der
erste aus den Jahren 1930/31 ist typisch für bilaterale      Der Versailler Vertrag, der im Jahr 1919 den Ersten
Verhandlungen. Der zweite ist ein aktuelles Beispiel         Weltkrieg rechtlich beendete, beschnitt die Territo-
für multilaterale Verhandlungen im Rahmen der VN.            rien Deutschlands und Österreichs erheblich; Öster-
Das Ziel ist nicht ein strukturierter Vergleich dieser       reich, der ehemals – nach Russland – zweitgrößte
Fälle, sondern eine explorative Untersuchung des Ein-        Staat Europas, verfügte nur noch über eine Fläche,
satzes von KI in unterschiedlichen Verhandlungs-             die etwa der des heutigen Österreichs entspricht.
situationen.                                                 Das Genfer Protokoll von 1922 verbot zudem explizit
                                                             einen deutsch-österreichischen Zusammenschluss.
                                                             Der Völkerbund überwachte die Einhaltung aller
Fallstudie 1:                                                Nachkriegsabkommen, einschließlich des Genfer
Die deutsch-österreichische Zollunion                        Protokolls. Wirtschaftsangelegenheiten wurden von
                                                             der durch den Briand-Plan von 1929/30 im Rahmen
Die Fallstudie befasst sich mit einem deutsch-öster-         des Völkerbundes ins Leben gerufenen »Studien-
reichischen Vorhaben der Jahre 1930/31, eine bilate-         kommission für die europäische Union« behandelt.
rale Zollunion zu gründen. Die Verhandlungen ver-               Deutschland erholte sich zunächst wirtschaftlich
liefen bilateral, bis dritte Parteien intervenierten; eine   rasch vom Krieg, und die Außenpolitik der Weimarer
davon brachte das Zollunion-Projekt schließlich zu           Republik nahm bald revisionistische Züge an. 1925
Fall. Dieses Ergebnis hatten die beiden Hauptparteien        beschloss das Kabinett die Schaffung eines Landes,
von Anfang an befürchtet, konnten es letztlich aber          das alle beitrittswilligen ethnischen Gruppen um-
nicht verhindern.                                            fassen sollte. Wirtschaftsminister Julius Curtius –
   Nun entstehen Erfolg oder Misserfolg nicht aus            später, zum Zeitpunkt der Verhandlungen über das
sich heraus, sondern sind immer Ergebnis der Ver-            Zollunion-Projekt, Außenminister – betrachtete den
handlungen. Unsere Frage lautet daher, ob KI-Ana-            Handel mit Österreich als Instrument, um beide Län-
lysen den deutschen Diplomaten hätten Hinweise               der zur politischen Vereinigung hinzuführen.
liefern können, mit denen sich die Chance auf einen             In Österreich, das den größten Teil des ehemali-
erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen erhöht             gen Habsburgerreiches eingebüßt hatte, verschlech-
hätte. Die zeitliche Distanz hat dabei einen wohl-           terte sich die Wirtschaftslage von 1925 an. Große
tuenden Verfremdungseffekt: Sie verschafft auch              Teile der österreichischen Wirtschaft kooperierten in
Distanz zum Inhalt und erlaubt so einen unvorein-            der Folge enger mit der deutschen und veranlassten
genommenen Blick auf die Probleme, mit denen                 die Regierung in Wien, rechtliche, konsularische und
die Verhandler zu kämpfen hatten.
   Der gesamte Verhandlungsprozess ist in seinen
                                                               12 Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945, Serie B:
wesentlichen Zügen in den Akten zur Deutschen Aus-
                                                               1925–1933, Bd. XIV–Bd. XVIII, Göttingen: Vandenhoeck &
                                                               Ruprecht, 1980 (Bd. XV) und 1982 (Bde. XIV, XVI, XVII,
                                                               XVIII).

                                                                                                               SWP Berlin
                                                                                      Diplomatie und Künstliche Intelligenz
                                                                                                             Oktober 2021

                                                                                                                          11
Zwei Fallstudien

             verkehrsrechtliche Bestimmungen den deutschen                     Phase 1: Deutsch-österreichische Einigung auf
             anzugleichen. 1930 gelangte Bundeskanzler Johann                  das Zollunion-Projekt
             Schober – in einer anderen Koalition im Jahr 1931                 Einem Bericht des deutschen Botschafters in Öster-
             Außenminister – zu der Ansicht, dass Österreich                   reich an Außenminister (AM) Curtius vom 25. Dezem-
             wirtschaftlich und finanzpolitisch nur würde über-                ber 1929 zufolge wünschte die österreichische Indus-
             leben können, sofern es sich mit einem größeren                   trie eine deutsch-österreichische Zoll- und Wirt-
             Wirtschaftsraum zusammenschlösse. Er dachte dabei                 schaftsunion. Eine auf dieses Ziel gerichtete Politik
             an Deutschland, während andere, insbesondere                      könne als basierend auf »internationalen oder pan-
             faschistische, Gruppierungen im Land einen öster-                 europäischen Prinzipien« dargestellt werden. Darauf
             reichisch-ungarisch-italienischen Block anstrebten.               erging am 4. Februar 1930 eine Weisung des deutschen
                Ein wichtiges Element der Außenpolitik Frank-                  Staatssekretärs (StS) Carl von Schubert an den Bot-
             reichs war das Ziel, jede Stärkung Deutschlands zu                schafter in Wien, dieser möge der österreichischen
             verhindern. Frankreich hatte deshalb im Jahr 1924                 Seite mitteilen, dass eine Zollunion ein Fortschritt
             ein Bündnis mit der Tschechoslowakei geschlossen,                 in den beiderseitigen Beziehungen wäre, die Sieger-
             das beide Länder verpflichtete, sich gemeinsam gegen              mächte sie aber als Verletzung des Vereinigungs-
             Verletzungen der Nachkriegsverträge zu stellen. Im                verbots betrachten könnten. Am 23./24. Februar 1930
             Jahr 1929 stellte Außenminister Aristide Briand dem               fanden Konsultationen der beiden Bundeskanzler (BK)
             Völkerbund ein »Memorandum zur Schaffung einer                    in Berlin statt. In einer Aufzeichnung hielt StS von
             europäischen Union« vor – in den Augen von Teilen                 Schubert dazu fest, es sei entschieden worden, eine
             der deutschen Öffentlichkeit hätte solch eine Union               Zollunion vorzubereiten und dazu vorab die Pro-
             allerdings die Nachkriegsgrenzen festgeschrieben.                 bleme der (schwachen) österreichischen Textil- und
             Konkret kam es zunächst nur zur Einsetzung der                    Holzindustrien zu lösen sowie sich auf möglichen
             bereits erwähnten Studienkommission für die euro-                 Widerstand der Tschechoslowakei vorzubereiten. Der
             päische Union.                                                    österreichische BK Johann Schober habe gesagt, »dass,
                Die Tschechoslowakei, erst nach dem Weltkrieg                  wenn wir die Zollunion machten, wir dadurch den
             als souveräner Staat geschaffen, hing wirtschaftlich              ganzen Balkan bekämen«.
             von Deutschland und Österreich ab. Eine Vereinigung                  In dieser ersten Phase vermuteten beide Seiten,
             dieser beiden hätte Prag politisch erheblich geschwächt.          dass es in der Tschechoslowakei und unter den Sieger-
             So erklärte Außenminister Edvard Beneš im Jahr                    mächten Widerstand gegen das Projekt geben könnte.
             1924, ein deutsch-österreichischer Zusammenschluss                Zudem rechnete man damit, dass nach Errichtung
             werde Krieg bedeuten.                                             der Zollunion für Teile der österreichischen Wirt-
                                                                               schaft Probleme auftreten könnten. Zum Umgang
             Die Verhandlungen13                                               mit diesen Schwierigkeiten teilte das Auswärtige Amt
                                                                               am 4. Juni 1930 den Botschaften in Bern, Brüssel,
             Der Verhandlungsprozess lässt sich in vier Phasen                 Budapest, Bukarest, London, Paris, Prag und Rom zu
             unterteilen. Von Phase zu Phase dringlicher stellte               den deutsch-österreichischen Konsultationen vom
             sich die Frage, wie mit dem teils antizipierten, teils            23./24. Februar auf BK-Ebene mit, die innere Lage
             für die beiden Protagonisten Deutschland und Öster-               Österreichs verlange gemeinsame Anstrengungen für
             reich aber auch überraschenden und vor allem über-                die wirtschaftliche Erholung. Eine geschwächte öster-
             raschend wachsenden Widerstand anderer – ent-                     reichische Volkswirtschaft drohe das Land stärker
             scheidender – Staaten umzugehen sei. Erschwerend                  von Frankreich und Italien abhängig machen. Die
             kam dabei in der ersten Hälfte des Jahres 1931 infolge            politische Konstellation in Europa mache gegenwärtig
             der Weltwirtschaftskrise eine unvorhergesehen dras-               eine politische Vereinigung beider Staaten allerdings
             tische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage                 unmöglich. Damit wurde die Ausgangslage für die
             Österreichs hinzu.                                                Zollunion-Verhandlungen bestimmt. Darüber hinaus
                                                                               hielt das AA am 26. Juni 1930 fest, der Entwurf eines
                                                                               deutsch-österreichischen Handelsvertrags enthalte
                   13 Die Darstellung folgt ausgewählten Akten, deren Inhalt   eine Meistbegünstigungsklausel und sehe vor, deut-
                   knapp zusammengefasst wird. Die Bezugsdokumente sind        sche Zölle auf Produkte schwacher österreichischer
                   anhand des jeweiligen Datums in der Fn. 12 genannten        Industrien zu senken.
                   Aktensammlung auffindbar.

             SWP Berlin
             Diplomatie und Künstliche Intelligenz
             Oktober 2021

             12
Fallstudie 1: Die deutsch-österreichische Zollunion

Phase 2: Beginn der Verhandlungen                          schafter in Frankreich, mit Österreich sei weitreichen-
Der deutsche AM hielt am 7. Juli 1930 schriftlich fest,    der Konsens erzielt worden. Auf Nachfrage könne
die Vereinigung mit Österreich sei die wichtigste          der Botschafter der französischen Seite gegenüber die
außenpolitische Aufgabe, um den Südwesten Europas          Vermutung äußern, die deutsch-österreichischen
im deutschen Interesse zu steuern. Darauf wurden           Gespräche befassten sich mit der europäischen Wirt-
die ersten Verhandlungen aufgenommen. Über diese           schaftskrise und mit Bemühungen um eine stärkere
hielt der deutsche Sonderbeauftragte Karl Ritter am        Verknüpfung der Volkswirtschaften beider Länder.
7. Januar 1931 fest, der österreichische Sonderbeauf-      Dem ließ der StS am 17. März 1931 eine weitere Wei-
tragte Richard Schüller werde seiner Regierung die         sung an den deutschen Botschafter in Paris folgen,
Annahme des deutschen Vertragsentwurfs empfeh-             auf französische Frage nach der Zollunion solle der
len. Er habe auch die Notwendigkeit verstanden, zu         Botschafter »nicht eine Spur eines schlechten Gewis-
belegen, dass keine Seite die Nachkriegsordnung in         sens« zeigen. Es sei unbestreitbares deutsches Recht,
Europa zu ändern beabsichtige. Am 16. Januar 1931          zuerst eigene Interessen sowie die Österreichs in
wies der deutsche AM StS Bernhard von Bülow für            Betracht zu ziehen.
dessen Gespräche mit dem österreichischen AM in               Allerdings: Am gleichen Tag berichtete die Wiener
Genf an, das Projekt sei »vollständig geheim« zu hal-      Freie Presse über das Projekt der Zollunion. Damit
ten, bis die Regierungen für den Gang an die Öffent-       stellte sich nun beiden Seiten vorrangig die Aufgabe,
lichkeit vorbereitet seien. Die diplomatische Initiative   den bereits mit großer Besorgnis erwarteten französi-
dazu müsse von Österreich ausgehen, um den Ein-            schen Widerstand zu neutralisieren. Zu diesem Zweck
druck zu vermeiden, Deutschland bereite die Vereini-       erging am 18. März 1931 eine Weisung des deutschen
gung vor. Am 20. Januar 1931 teilte StS von Bülow          AM an die deutschen Botschafter in London, Paris
dem deutschen Botschafter in den USA mit, die Ab-          und Rom, diese möchten ihre Gastregierungen ge-
sicht sei, »das Projekt in ein pan-europäisches Mäntel-    meinsam mit dem österreichischen Kollegen über die
chen zu hüllen«. Schließlich unterrichtete der deut-       erzielte Übereinstimmung unterrichten, über den
sche AM am 28. Januar und am 28. Februar 1931 –            Abschluss einer Zollunion zu verhandeln, die dem
ohne das Zollunion-Projekt zu benennen – das Kabi-         Beitritt anderer Staaten offen gegenüberstehen werde.
nett, er werde im März in Wien »pan-europäische und
damit verbundene wirtschaftliche Angelegenheiten«          Phase 4: Das Ende des Zollunion-Projektes
erörtern.                                                  Der Himmel verdüsterte sich allen Bemühungen zum
    Unterdessen ließ das AA im eigenen Haus die            Trotz. So berichtete am 21. März 1931 der deutsche
völkerrechtlichen Aspekte des Projektes prüfen und         Botschafter in Paris über die weisungsgemäß gemein-
gelangte im Februar 1931 zu dem Schluss, dass die          sam mit dem österreichischen Botschafter durchge-
Beteiligung des Völkerbundes sowie des Internatio-         führte Demarche, der französische AM habe »Betrübt-
nalen Gerichtshofes vermieden werden müsse. Das            heit« ausgedrückt. Paris habe keine juristischen Ein-
Projekt solle als ein rein wirtschaftliches betrachtet     wände gegen Deutschlands Vorgehen, Österreich
und nur der Studienkommission für die europäische          dagegen verletze das Genfer Protokoll. Frankreich,
Union vorgelegt werden.                                    Großbritannien, Italien und die Tschechoslowakei
                                                           würden gemeinsam in Wien demarchieren. Am
Phase 3: Man kümmert sich um Frankreich                    26. März 1931 folgte die deutsche Botschaft in Paris
Am 6. März 1931 berichtete der deutsche Botschafter        mit einem Bericht, wonach die französischen Medien
in Paris, Leopold von Hösch, an den deutschen AM,          ihre Tonlage zum Negativen änderten. Am 29. März
Deutschland habe sechs Probleme: Österreich, die           1931 berichtete der deutsche Botschafter in Bern, seit
Reparationen, die Ostgrenze, Abrüstung, die Saar-          die Angelegenheit auf der Sitzung der Studienkom-
landfrage, die Kolonien. Keines dieser Probleme            mission für die europäische Union in Paris behandelt
könne ohne Frankreich gelöst werden. Der deutsche          worden sei, gewinne die Meinung an Zustimmung,
AM kommentierte dies mit der Anmerkung, Deutsch-           dass eine Zollunion das Genfer Protokoll von 1922
land müsse das Zollunion-Projekt weiterverfolgen,          verletzen würde. Und am 4. April 1931 hatte der deut-
ohne einen Kompromiss mit Frankreich zu suchen,            sche Botschafter in Prag über sein Gespräch mit Präsi-
der ohnehin nicht zu erreichen sein werde. Anschlie-       dent Edvard Beneš zu berichten, der tschechoslowa-
ßend erging am 9. März 1931 eine »streng geheime«          kische Präsident habe mit »Krieg« oder einem »Zoll-
Weisung von StS von Bülow an den deutschen Bot-            gebührenkrieg« gedroht.

                                                                                                          SWP Berlin
                                                                                 Diplomatie und Künstliche Intelligenz
                                                                                                        Oktober 2021

                                                                                                                    13
Zwei Fallstudien

                Entscheidend für den weiteren Verlauf der Dinge       rechtsrheinische Gebiete besetzt gehalten hatten) auf
             war jedoch ein unerwartetes, von außen hereinbre-        der anderen. Die zentrale Rolle nahm dabei Frank-
             chendes Ereignis: die Weltwirtschaftskrise. In deren     reich ein, das zudem auf die Unterstützung inter-
             Folge geriet ab April 1931 das österreichische Banken-   nationaler Institutionen zählen konnte. Selbst die
             wesen in existenzbedrohende Schwierigkeiten. Dar-        militärisch schwache Tschechoslowakei besaß durch
             aufhin unternahm der deutsche AM noch einen Ret-         ihr Bündnis mit Frankreich und Frankreichs Inter-
             tungsversuch und schrieb am 16. April 1931 an den        essenlage durchaus erheblichen Einfluss und damit
             Vorsitzenden des Direktorats der Reichsbank, ob es       eigene Machtressourcen. Das Tableau der Macht-
             möglich sei, ein umfangreiches Konto bei der gefähr-     ressourcen änderte sich mit der Weltwirtschaftskrise
             deten Österreichischen Kreditbank einzurichten. Dies     nochmals entscheidend: Nun besaßen weder Deutsch-
             war – wiewohl hierzu keine Dokumente vorliegen –         land noch Österreich die Mittel, um der wirtschaft-
             offenkundig nicht möglich. Frankreich erkannte die       lichen Notlage ohne Hilfe von außen zu entkommen.
             Lage jedoch genau: Am 17. Juni 1931 berichtete der       Diese Lage erkannte Frankreich rasch – am Ende
             deutsche Botschafter in Paris seinem AM, AM Briand       blieb den beiden Initiatoren des Zollunion-Projekts
             habe mehrere Male nachgefragt, ob er nicht zu erklä-     nur die Kapitulation.
             ren wünsche, dass Deutschland seine Zollunion-Pläne         Blicken wir auf die Strategie der beiden Initiato-
             nicht weiterverfolgen werde, um es Frankreich da-        ren, so stimmten sie offenkundig darin überein, sich
             durch zu ermöglichen, den österreichischen Wunsch        zunächst der einfacheren Probleme anzunehmen: des
             nach einem französischen Kredit zu erfüllen. Die Bot-    Ausgleichs der wirtschaftlichen Schwäche Österreichs
             schaft in Paris berichtete am selben Tag, am 16. März    und der mäßigenden Einwirkung auf die öffentliche
             sei der österreichische Botschafter in Frankreich vom    Meinung in beiden Ländern. Differenziertere Über-
             französischen AM unterrichtet worden, französische       legungen zum Umgang mit dem befürchteten Wider-
             Banken seien nur dann in der Lage, österreichischen      stand dritter Staaten und zu seinen nächsten Zügen
             Banken zu helfen, wenn die österreichische Regie-        entwickelte Deutschland erst, nachdem die Verhand-
             rung förmlich erkläre, von jeglicher Initiative zur      lungen auf gutem Weg waren. Dazu sollte das Projekt
             Veränderung des internationalen Status Österreichs       seiner weiterreichenden politischen Zielrichtung
             abzulassen. Damit blieb nur noch ein Weg: Am 3. Sep-     gänzlich entkleidet und daher nur dem für Wirt-
             tember 1931 gaben die deutschen und österreichischen     schaftsfragen zuständigen internationalen Gremium
             Außenminister beim Europaausschuss in Genf eine          in Genf vorgelegt werden. Dabei hielten beide Ver-
             Erklärung ab, dass ihre Länder das Projekt einer Zoll-   handlungspartner eine offensive Strategie für sinn-
             union nicht weiterzuverfolgen beabsichtigten.            voll, um durch Bestehen auf dem Recht zur Errich-
                                                                      tung einer rein wirtschaftlich orientierten Union
             Die Problematik                                          auch in den internationalen Gremien ihre Pläne (die
                                                                      längerfristig sehr wohl über die Zollunion hinaus-
             In jeder der dargelegten vier Verhandlungsphasen         reichten) selbst gegen Frankreich durchzusetzen. Am
             stellt sich die Frage, ob die von den deutschen und      Ende blieb als »Strategie« nur, angesichts der diplo-
             österreichischen Verhandlungspartnern gewählte           matischen Niederlage gute Miene zum bösen Spiel
             »Lösung« mithilfe des Einsatzes von KI anders            zu machen.
             und/oder besser hätte ausfallen können.                     Vielleicht ließe sich durch genauere Kenntnis der
                Analysiert man den Ablauf anhand des »Rasters für     Persönlichkeit der Verhandler noch Näheres zu
             die Beurteilung der Erfolgsaussichten von Verhand-       ihren taktischen Abwägungen erfahren, das uns Auf-
             lungen« im gleichnamigen Abschnitt (oben, S. 8),         schluss hinsichtlich eines möglichen Ansatzes für die
             zeigt sich zunächst hinsichtlich der Machtressour-       Nutzung von KI-Instrumenten geben könnte. Den AA-
             cen, dass beide Hauptakteure Deutschland als die stär-   Dokumenten ist hierzu – ihrem Charakter gemäß –
             kere Seite betrachteten. Deutschland nahm schritt-       jedoch nichts zu entnehmen; dazu müssten andere
             weise das Heft in die Hand, und Österreich zog auf       Quellen herangezogen werden.
             dem Weg mit, der letztlich zur auch politischen Ver-
             einigung führen sollte. Bald jedoch wurde ein Macht-     KI als Antwort?
             gefälle deutlich, mit Deutschland/Österreich auf der
             einen – schwächeren – Seite und den alliierten           Um den Verlauf zusammenzufassen: Zunächst kon-
             Mächten (die bis zum 30. Juni 1930 noch links- und       zentrierten sich Deutschland und Österreich darauf,

             SWP Berlin
             Diplomatie und Künstliche Intelligenz
             Oktober 2021

             14
Fallstudie 1: Die deutsch-österreichische Zollunion

die Sachfragen zu klären. Im Binnenverhältnis der         tegie notwendig sei. Als zentral wird hier – im Rück-
zwei Akteure erscheint dies als rational und durch-       blick zutreffend – der Widerstand der Tschecho-
dacht. Im Nachhinein ist allerdings offenkundig, dass     slowakei und ihres Bündnispartners Frankreich be-
das Problem des Widerstands anderer Parteien frühe-       schrieben. Das französische und tschechoslowakische
rer Maßnahmen bedurft hätte. Im weiteren Verlauf          Misstrauen ließe sich, so der Vorschlag Köpkes, »viel-
zeigt sich zwar in der bewussten Täuschungsabsicht        leicht« (sic!) beheben, wenn Deutschland »zweifelsfrei
der deutschen Verhandlungsseite gegenüber den             seine Bereitschaft« erklärte, »Frankreich und die
internationalen Partnern und selbst gegenüber Teilen      Tschechoslowakei in den Wirtschaftsblock als gleich-
des eigenen Kabinetts ein Bewusstsein für mögliche        berechtigte Partner aufzunehmen und dadurch unter
Widerstände. Dennoch fehlt es aus heutiger Sicht an       Verzicht auf machtpolitische Tendenzen den Frieden
einer Matrix zum differenzierten Umgang mit den           Mitteleuropas endgültig zu sichern«. Da sich andere
verschiedenen Parteien und an entsprechend an-            Versuche, die Wirtschaftslage Europas zu verbessern,
gelegten diplomatischen Maßnahmen. In den letzten         als nicht durchführbar erwiesen hätten, würde dies
Phasen der Verhandlungen lässt Deutschlands Stra-         »dem Widerstand unserer Gegner (sic!) zum mindes-
tegie nicht erkennen, wie das Zollunion-Projekt gegen     ten jede moralische Basis nehmen«. Warum diese
Frankreichs Widerstand zum Erfolg hätte geführt           Anregungen Köpkes nicht aufgegriffen wurden, ist
werden können. Im Scheitern des Projekts zeigt sich       (von uns) nicht festzustellen. Das Papier zeigt aber,
damit, dass Deutschland und Österreich nicht die          welchen Wert es haben kann, in zugespitzten Situa-
Machtmittel zur Verfügung standen, welche die             tionen out of the box zu denken.
Durchsetzung der eigenen Interessen gegen ernst-             Die Frage ist mithin, ob es hierfür erfahrener
haften Widerstand erlaubt hätten.                         Diplomaten bedarf – oder aber, ob sich zumindest in
   Es wäre nun im Nachhinein zu prüfen, ob eine           Teilen KI-Systeme zu diesem Zweck einsetzen lassen.
andere Strategie aussichtsreicher hätte verfolgt          Einen Ansatzpunkt bieten jene KI-Systeme, die gigan-
werden können. Das heißt: Hätte es Wege gegeben,          tische Mengen menschlichen Wissens durchsuchbar
prophylaktisch mit dem zu erwartenden Widerstand          machen. Eines der ambitioniertesten Projekte dieser
in einer Weise umzugehen, die dem Projekt auch            Art ist der bereits erwähnte Generative Pretrained
zum Erfolg hätte verhelfen können, als die Machtge-       Transformer von OpenAI. Ein vergleichbares Produkt
wichte sich verschoben? Und: Hätten KI-Instrumente        bietet IBM mit Watson, einem System, das öffentlich-
helfen können, solch eine Strategie zu entwickeln?        keitswirksam schon 2011 beim Quiz-Spiel »Jeopardy«
   Die Fallstudie enthüllt, wie vielfältig die Faktoren   gegen Menschen angetreten ist.14 In Deutschland
sind, die den Verlauf selbst von scheinbar überschau-     arbeitet die Firma Aleph-Alpha am Aufbau eines ähn-
baren Verhandlungen beeinflussen. Im Nachhinein,          lichen Systems.15
und mit umfangreichem Einblick in die entsprechen-           Die Grundlage für diese Systeme sind Datenbanken
den Dokumente, lassen sich diese verschiedenen Fak-       aus riesigen Mengen von Texten. Es ist wahrschein-
toren analysieren, und aus ihrem Zusammenspiel            lich nur eine geringfügige Übertreibung, wenn die
lässt sich die Dynamik der Verhandlungen erklären.        Entwickler dieser Systeme behaupten, das (verschrift-
   Nach heutigem Stand aber ist schwer vorstellbar,       lichte) »Wissen der Welt« zu verarbeiten. In einem
dass KI-Systeme konkrete strategische Empfehlungen        ersten Schritt werden diese gigantischen Daten-
für einen solchen Verhandlungsfall entwickeln. Es
scheint jedoch ein »bescheidenerer« Weg gangbar zu          14 »›Watson‹ weiß die Antwort«, in: Zeit Online, 17.2.2011,
sein, nämlich der, KI-Systeme zur automatisierten            (eingesehen am 21.6.2021). Vgl. auch »AI Is Trans-
Hinweise für die strategischen Überlegungen der Ver-        forming the Coding of Computer Programs«, in: The Economist
handler geben können.                                       (online), 10.7.2021,  (eingesehen am 21.6.2021).
entsprechendes Beispiel. Eine Vorlage des Politischen       15 Christoph Kapalschinski, »KI-Texte: Ein deutsches Start-
Abteilungsleiters Gerhard Köpke für den Besuch von          up will Open AI Konkurrenz machen«, in: Handelsblatt (on-
                                                            line), 7.5.2021, 
Ergebnis, dass eine Anpassung der verfolgten Stra-
                                                            (eingesehen am 21.6.2021).

                                                                                                           SWP Berlin
                                                                                  Diplomatie und Künstliche Intelligenz
                                                                                                         Oktober 2021

                                                                                                                     15
Sie können auch lesen