Dringender denn je Gemeinsam gegen den Pflegenotstand - Arbeitnehmerkammer Bremen

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Dringender denn je Gemeinsam gegen den Pflegenotstand - Arbeitnehmerkammer Bremen
Informationen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Bremen und Bremerhaven               Mai / Juni 2020

           Dringender denn je
                            Gemeinsam gegen den Pflegenotstand

Verliebt am Arbeitsplatz            Arbeit ohne Ende?                   Konflikte auf der Arbeit
Infos aus dem Arbeitsrecht und     Was Beschäftigte zu                  Mit einer Bremer Mediatorin
Knigge-Tipps                       Überstunden wissen sollten           im Gespräch
Dringender denn je Gemeinsam gegen den Pflegenotstand - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — Mai / Juni 2020                                                                         Inhalt

      Galerie der Arbeitswelt                       Allergie am Arbeitsplatz                     Deutsch am Arbeitsplatz
      Seite 16                                      Seite 10                                     Seite 18

      Inhalt                                                                   SERVICE & BERATUNG

                                                                               10
                                                                                   Arbeit & Gesundheit
                                                                               			 Allergie am Arbeitsplatz: früh handeln

                                                                               11			 Fragen & Antworten
      THEMEN                                                                   			 Arbeit ohne Ende? — Was Beschäftigte zu
                                                                                   Überstunden wissen sollten
      			 Schwerpunkt
      6			Dringender denn je                                                   22			   Alles, was Recht ist
      			 Gemeinsam gegen den Pflegenotstand                                           Rechtstipp / Rechtsirrtum: Die Kosten eines
                                                                                       Arbeitsgerichtsprozesses trägt der Verlierer
      12			 Mehr Anerkennung für wichtige Berufe
      			 Corona und systemrelevante Jobs                                      23
                                                                                   Drei Fragen
                                                                               			 zur Arbeit in der Pflegebranche
      14
          „Ein Konflikt eskaliert, wenn er
      			 unbehandelt bleibt“
      			 Interview mit einer Mediatorin                                       IN JEDEM HEFT

      18		  Deutsch am Arbeitsplatz                                            3			Editorial
            Von einfacher Sprache profitieren alle
      			                                                                      4			Die Bremer Arbeitswelt in Zahlen
      20			 Verliebt am Arbeitsplatz                                           			 Wie Frauen arbeiten
            Infos aus dem Arbeitsrecht und
            Knigge-Tipps                                                       5			Kurz gemeldet

                                                                               16			 Galerie der Arbeitswelt

                                                                                 Die Kommunikationselektronikerin
                                                                                 bei der BSAG

                                      Aktuelle politische Inhalte              22			   Impressum
        BAM                          und Service-Informationen

       im Abo?                      von uns finden Sie auf T
                                                           ­ witter            23			   Cartoon
                                        (@ANK_HB), facebook

                                e    (Arbeitnehmerkammer Bremen),              24			   Beratungsangebote & Öffnungszeiten
                 er.d
  bam@ ehmerkamm                          ­YouTube und Xing.
         n
  arbeit

— 2
Dringender denn je Gemeinsam gegen den Pflegenotstand - Arbeitnehmerkammer Bremen
Editorial                                                              BAM — Mai / Juni 2020

                                                                EDITORIAL

                     #first7jobs

                     Unter dem Twitter-Hashtag
                                                                Corona: Mehr
                     #first7jobs erfährt man endlich,
                     wie Karrieren gestartet wurden.
                     Kellner? Babysitter? Oder doch
                                                                Unterstützung
                                                                für Beschäftigte
                     eher Marketing-Hase in der Fuß-
                     gängerzone? Wir wollten ­wissen,
                     wie prominente Bremerinnen
                     und Bremer ihre Berufslaufbahn
                     begonnen haben.

                     Der Liebe wegen kam Georg
                       ­Lippert vor zehn Jahren nach
                     ­Bremen. Hier schrieb er auch
                       das Drehbuch zum Tatort „Die
                        ­goldene Zeit“ (Februar 2020).
                     In der Schweiz studierte der
                      Österreicher Schauspiel, spielte
                      an verschiedenen Theatern                                             Peter Kruse
                      und ab­solvierte dann ein Auf­-                                    Präsident der
                      ­bau­studium Film/ Drehbuch                                 Arbeitnehmerkammer
                       in ­Hamburg. L­ ippert schrieb                                         Bremen
                       diverse Drehbücher – jüngst die
                      sechsteilige Serie „Da is‘ ja nix“
                     für den NDR.
                                                                Liebe Leserinnen, liebe Leser,
                           Flyer verteilen (oder: die
                                                                während noch vor wenigen Wochen viele freudig dem Frühling entgegenfieber-
                         Hälfte ins Altpapier und Eis
                                                                ten – mit Osterwiese, draußen sitzen und Angrillen – steht seit Mitte März das
                           essen gegangen)
                                                                öffentliche Leben weitestgehend still. Die Corona-Krise hat Gesellschaft, Wirt-
                           Security auf der Love Parade
                                                                schaft und Arbeitsmarkt fest im Griff. Erste Schätzungen gehen davon aus, dass
                           in Wien
                                                                mindestens zweieinhalb Millionen Beschäftigte in Kurzarbeit gehen.
                           Aushilfsbademeister im
                                                                        Wie groß die Not ist, zeigt unsere Beratung: Beschäftigte aus dem Einzel-
                         ­Freibad
                                                                handel fühlten sich gerade in der Anfangszeit im Stich gelassen mit der Sorge um
                           Darstellung eines betrunke-
                                                                eine mögliche Ansteckung. Vielen Minijobberinnen wurde von heute auf morgen
                           nen Weihnachtsmannes in der
                                                                gekündigt, viele wussten nicht, wie sie ihre Kinder aufgrund der Kita- und Schul-
                        ­Züricher Innenstadt (PR-Aktion
                                                                schließungen unterbringen sollten. Die Angst vor Einkommensverlusten war und
                           des schweizerischen Blauen
                                                                bleibt auch jetzt noch groß. Denn: Insbesondere in Niedriglohnbranchen wie der
                         Kreuzes: „Alkohol kann jeden
                                                                Gastronomie, dem Taxigewerbe, dem Handel oder bei kleinen Dienstleistern feh-
                         treffen“)
                                                                len den Betrieben die finanziellen Puffer – und den Beschäftigten erst recht.
                           Hilfskrankenpfleger
                                                                        Auf die Auswirkungen hat die Politik mit milliardenschweren Rettungs-
                           Hörbuchsprecher für die
                                                                paketen reagiert, die Bremen mit eigenen Förderprogrammen ergänzt hat. Es ist
                          ­Hamburger Blindenbibliothek
                                                                gut, wenn Betriebe unterstützt werden, um Entlassungen zu vermeiden. Leider
                           Schauspieler an der Landes-
                                                                ist bis zum Redaktionsschluss aber keine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes
                           bühne Nord und am Theater
                                                                beschlossen worden. Wer nur noch 60 oder 67 Prozent des wegfallenden Gehalts
                           Oberhausen
                                                                bekommt, wird häufig beim Jobcenter Leistungen beantragen müssen. Wir haben
                                                                uns dafür eingesetzt, dies den meisten zu ersparen und das Kurzarbeitergeld auf
                                                                bis zu 90 Prozent aufzustocken. Unklar blieb ebenfalls, ob Beschäftigte in stark
                                                                belasteten Berufen Bonuszahlungen erhalten. Auch das unterstützen wir – wenn-
                                                                gleich dies nur ein Anfang dafür sein kann, in der Pflege oder im Einzelhandel
                                                                grundsätzlich für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen. Wenn uns eins in die-
                                                                ser Krise besonders bewusst geworden ist: Gerade in den sogenannten system­
                                                                relevanten Berufen wird häufig schlecht verdient und unter harten Bedingungen
Foto: Jonas Ginter

                                                                gearbeitet. Das muss sich ändern!

                                                                Ihr Peter Kruse

                                Georg Lippert                   ­Kontakt:     bam@arbeitnehmerkammer.de

                                                                                                                                                    — 3
Dringender denn je Gemeinsam gegen den Pflegenotstand - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — Mai / Juni 2020

      DIE BREMER ARBEITSWELT IN ZAHLEN

      Wie Frauen arbeiten
                                                                                       Für Männer sind in den ver-
                                                                                       gangenen zehn Jahren mehr
                                                                                         als 10.000 Vollzeitstellen
                                                                                         dazugekommen, bei den
                                                                                        Frauen wurden rund 1.500
                                                                                       Arbeitsplätze in Vollzeit ab-
      In Bremen ist der Anteil von Frauen an den sozialver-
                                                                                       gebaut – die meisten davon
      sicherungspflichtig Beschäftigten im Vergleich zu                                       im Einzelhandel.

      anderen Bundesländern mit Abstand am niedrigsten:
      Die Wirtschaft wird von männerdominierten Branchen
      wie der Automobilindustrie und der Logistik geprägt.

      In diesen Berufen arbeiten die meisten Frauen                                  Dass Frauen häufiger in Teilzeit arbeiten,
      (Anteil von allen sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen            ist problematisch, da sie oft in Branchen
      im Land Bremen)                                                                mit niedrigen Löhnen beschäftigt sind.
                                                                                     Viele Teilzeitstellen sind daher nicht
                                                                                     existenzsichernd.

                                                                                                                                       Quellen: Statistik der Bundesagentur für Arbeit / Statistisches Bundesamt / WSI GenderDatenPortal
                                                                                                              50 % der Frauen
                       16,8 %                                                                                 arbeiten in Teilzeit …

                      Berufe in der Unternehmens-
                      führung und -organisation

                                                                                                              ... aber nur
                       13,7 %                                                                                 14 % der Männer.

                      Medizinische
                      Gesundheitsberufe

                       10,2 %
                      Erziehung, sozial-                                                  Vollzeit     Teilzeit (ohne Minijobs)
                      und hauswirtschaftliche
                      Berufe
                                                                Im La
                                                                       nd Br
                                                                            emen
                                                                    sind
                       8,4 %                                 147.0       rund        Im Land Bremen gibt es rund
                                                                     00 Fr           70.000 Minijobs. Der Frauenanteil
                      Verkaufsberufe                               so     auen
                                                                   zialve            liegt bei 56 Prozent.
                                                           siche           r-
                                                                 rungs
                                                                        pflich
                                                               besch           tig
                                                                      äftigt
                                                               Das i         .
                                                                     st ein
          §            6,7 %
                                                               Ante
                      Berufe in Recht und                    von 4 il                Frauen übernehmen häufiger
                                                                  4%.
                      Verwaltung                                                     Sorgearbeit: Unbezahlte Arbeit
                                                                                     macht in Deutschland bei Frauen
                                                                                     45 Prozent am Gesamtarbeitstag
                                                                                     aus, bei Männern nur 28 Prozent.

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Dringender denn je Gemeinsam gegen den Pflegenotstand - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — Mai / Juni 2020

                     Kurz
                     gemeldet
                                                                                 Online-Portal für
                                                                                 Pflegebeschäftigte
                                                                                 Pflegebeschäftigte finden im Internet unter www.arbeit-
                                                                                 nehmerkammer.de/pflege Infos zu allen relevanten
                                                                                 ­Themen rund um die Pflegebranche. Hier gibt es auch kon-
                                                                                  krete Tipps beispielsweise zu Arbeitszeit, Nebenverdienst,
                                                                                  Überstunden, Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst.
                                                                                          Rund 15.000 Menschen arbeiten im Land ­Bremen
                                                                                  in Kliniken sowie in den stationären und ambulanten
                     Entlastungstelefon für                                       Pflege­einrichtungen. Über die konkrete Arbeitssituation
                     Krankenhausbeschäftigte                                      und über die Veränderungen im Gesundheitswesen berich-
                                                                                  tet die Arbeitsnehmerkammer in Studien und Analysen.
                     Beschäftigte in den Krankenhäusern leisten unersetz­liche    Außerdem kommen Pflegebeschäftigte mit verschiedenen
                     Arbeit für unsere Gesellschaft. Stress und Aufregung im      Fragen in die Rechtsberatung der Arbeitnehmerkammer –
                     Arbeitsalltag führen jedoch manchmal an die Grenzen          etwa zu Arbeitszeit, Gehalt und Überlastung.
                     der Belastbarkeit. Ein Team von ehrenamtlichen Psycho-
                     loginnen und Psychologen hat ein Entlastungstelefon für             www.arbeitnehmerkammer.de/pflege
                     ­Bremer Krankenhausbeschäftigte eingerichtet. Sie hören
                      zu, informieren und versuchen je nach Bedarf an andere
                      Stellen weiterzuvermitteln. Vertraulich und anonym.
                                                                                 Beschäftigte im Fokus –
                       01 52 . 24 15 53 12 (von dieser zentralen Telefon­        Bericht zur Lage 2020
                     nummer wird weitervermittelt)
                                                                                                               Jedes Jahr wirft die Arbeit-
                                                                                                               nehmerkammer einen genauen
                                                                                                               Blick auf die Entwicklungen in
                                                                                                               Bremen: Wie haben die Arbeit-
                                                                                                               nehmerinnen und Arbeit­
                                                                                                               nehmer im vergangenen Jahr
                                                                                                               verdient? Wohin entwickelt
                                                                                     Bericht zur Lage
                                                                                     der Arbeitnehmerinnen     sich die Beschäftigung und der
Foto: iStock/oonal

                                                                                                               Arbeitsmarkt? Wie haben sich
                                                                                     und Arbeitnehmer
                                                                                     im Land Bremen 2020
                                                                                                               einzelne Branchen entwickelt?
                                                                                   www.arbeitnehmerkammer.de
                                                                                                                Als die Politikberatung an
                                                                                                               ­diesem Lagebericht gearbeitet
                                                                                 hat, war nicht klar, wie sehr die Corona-Krise den Arbeits-
                     Corona –                                                    markt im Griff haben würde. Insbesondere in Niedrig-
                                                                                 lohnbranchen wie der Gastronomie, dem Taxi­gewerbe,
                     was Beschäftigte                                            dem Handel oder bei kleinen Dienstleistern ­fehlen den
                     wissen müssen                                               ­Be­­trieben die finanziellen Puffer – den Beschäftigten aber
                                                                                  erst recht. Bleibt es bei diesen Szenarien, so wird es im
                     Kann mir der Arbeitgeber wegen Corona betriebsbedingt        nächsten Lagebericht ganz andere Zahlen zum Hartz-
                     kündigen? Bekomme ich während der Quarantäne ­weiter         IV-­­Bezug, zu Arbeitslosigkeit und natürlich auch zur
                     mein Gehalt? Haben Minijobber Anspruch auf Kurz­             ­Konjunktur geben.
                     arbeitergeld? Kann mein Arbeitgeber Urlaub anordnen?                  Gleichwohl sind Themen wie die Grundrente, aber
                            Auf unserer Website geben wir unseren Mit­             auch die langfristige Entwicklung der Zahl der Pflegebe-
                     gliedern Antworten auf die wichtigsten Fragen rund um         schäftigten oder der Ausbildungsplätze in Bremen wichtig
                     die Corona-­Krise – immer auf dem aktuellsten Stand.          für die Situation unserer Mitglieder.

                         www.arbeitnehmerkammer.de/corona                                www.arbeitnehmerkammer.de/downloads

                                                                                                                                            — 5
Dringender denn je Gemeinsam gegen den Pflegenotstand - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — Mai / Juni 2020

      KOMMENTAR

      Corona macht es
      deutlich – Applaus
      für Pflegebeschäftigte
      reicht nicht!
      Ein Kommentar von Elke Heyduck

      Spätestens mit der Covid-19-Pandemie ist es nun allen           es gibt Pflegekräfte, die es geschafft haben, echte Verbesse-
      bewusst: Die Beschäftigten in den Krankenhäusern leisten        rungen für ihren Arbeitsalltag durchzusetzen. Zwei Beispiele
      Tag für Tag gesellschaftlich höchst wichtige Arbeit. Dies tun   stellen wir auf den folgenden Seiten vor.
      sie allerdings nicht erst seit dem Ausbruch von Corona, son-
      dern immer schon und auch im Regelbetrieb. Ihre ungenü-         Und: Die Beschäftigten in den Krankenhäusern haben heute
      genden Arbeitsbedingungen sind allen bekannt.                   mehr Macht und Aufmerksamkeit denn je. Die Unterstützung
                                                                      der Gesellschaft ist ihnen sicher. Auch die Politik hat zumin-
      Im Land Bremen leisten mehr als 11.500 Beschäftigte in den      dest ihre Absicht erklärt, die „systemrelevanten“ Berufe
      Krankenhäusern ihre Arbeit, darunter 4.800 im Pflegedienst.     finanziell besser anzuerkennen.
                                                                              Der Gesundheitsbereich muss nach Bedarf und nicht
      Jahrzehntelang wurde am Pflegepersonal gespart. Seit vie-       rein marktwirtschaftlich organisiert werden. Dazu wäre
      len Jahren weisen engagierte Pflegekräfte auf eklatante         ein Ende der Fallpauschalen nötig sowie eine verbindliche
      Missstände im Krankenhausbereich hin. Zwei Petitionen von       bedarfsorientierte Personalbemessungsregelung. Jetzt ist die
      Beschäftigten mit fast 540.000 (Stand: 9. April) Unterzeich-    Zeit, die notwendigen Veränderungen mit Nachdruck einzu-
      nenden stellen konkrete Forderungen für die Zeit der Pan-       fordern – zum Wohle aller.
      demie, formulieren jedoch auch grundsätzliche Kritik am
      Gesundheitssystem.
             Zu den Forderungen gehören Mindeststandards bei
      den Schutzmaßnahmen, eine umfassende psychologische             Elke Heyduck
      Betreuung des Krankenhauspersonals, aber auch die Wieder-       ist Geschäftsführerin und
      eingliederung von Servicebereichen wie der Reinigung.           leitet die Politikberatung
      Um dies durchzusetzen haben Beschäftigte etwa der Unikli-       der Arbeitnehmerkammer
      niken Jena und Augsburg die Einbindung in Corona-Krisen-        Bremen
      stäbe eingefordert – mit Erfolg. Beschäftigte unter anderem
      aus den Vivantes-Krankenhäusern und der Charité Berlin hal-
                                                                                                                                   Foto: Stefan Schmidbauer

      ten deutliche Lohnsteigerungen für dringend nötig und for-
      dern eine steuerbefreite Belastungs- und Gefahrenzulage.
      Außerdem müsse das Gesundheitssystem grundsätzlich den
      Menschen und nicht den Profit ins Zentrum stellen.
             Auch der Betriebsrat der Gesundheit Nord in Bremen
      hat sich mit einem offenen Brief an die Politik gewandt und
      unter anderem mehr Personal für alle an der Krankenversor-
      gung beteiligten Bereiche gefordert, einen besonderen Schutz
      für Beschäftigte aus Risikogruppen und die feste Zuordnung      Als die Artikel für das vorliegende Heft ge­­schrieben
      des Reinigungspersonals.                                        wurden, war die Corona-Krise noch nicht akut.
             Flächendeckende Verbesserungen konnten die Kran-         ­Deshalb beziehen der Schwerpunkt auf den folgen­
      kenhausbeschäftigten in den vergangenen Jahren nicht ver-        den Seiten und alle anderen Artikel die aktuelle
      zeichnen. Auch die Dramatik der Corona-Krise wird nicht          ­Situation nicht mit ein.
      automatisch zu notwendigen Veränderungen führen. Aber

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Dringender denn je Gemeinsam gegen den Pflegenotstand - Arbeitnehmerkammer Bremen
Schwerpunkt                                                                   BAM — Mai / Juni 2020

            Dringender denn je
    — Gemeinsam gegen den Pflegenotstand

     Hohe Arbeitsbelastung bei vergleichsweise geringer Entlohnung: Der Druck, unter dem
 Fachkräfte in Pflegeberufen stehen, ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden.
 Beispiele aus der Krankenhauspflege zeigen, dass sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen
                            etwas tun lässt – wenn alle an einem Strang ziehen

                                    Text: Anne-Katrin Wehrmann – Fotos: Kay Michalak

A
           ndrea Hansen (Name von          laut Personalschlüssel vor Inkraft­treten   man sich nach der Arbeit komplett aus-
           der Redaktion geändert) ist     der aktuellen Pflegepersonaluntergren-      gelaugt“, sagt ­Hansen, „da geht dann
           Fachpflegekraft für Inten-      zen-Verordnung (PpUGV) Anfang 2019          gar nichts mehr“.
           sivpflege an einem großen       eine Pflegekraft um drei Patien­ten küm-             Eine solche Überlastung ­scha-
Hamburger Krankenhaus. Ihr Beruf           mern. Manchmal war die 45-­Jährige          det nicht nur der Gesundheit der
macht ihr viel Freude: Für die Patienten   jedoch in der Vergangen­heit für vier       Pflege­kräfte, sondern bringt auch die
da zu sein und ihnen in einer schwieri-    oder sogar fünf Patienten zuständig.        ­Patien­ten in Gefahr. 2013 beschlossen
gen Lage zur Seite zu stehen, lässt sie    „Wir reden hier von Menschen, die            Andrea Hansen und ihr Team daher,
abends mit einem guten Gefühl nach         schwer krank sind, die beatmet ­werden       sich gegen die Arbeitsbedingungen
Hause gehen. Normalerweise. Doch in        und an verschiedene Geräte ange-             zu wehren. Dem Rat des Betriebsrats
den vergangenen Jahren gab es immer        schlossen sind“, berichtet sie. „Da ist      ­folgend begannen sie und ihre Kolle-
wieder auch Zeiten, in denen das nicht     der Druck ohnehin schon enorm groß,           ginnen, schon im Voraus sogenannte
der Fall war – weil die Krankenhaus-       weil uns keine Fehler ­passieren dürfen.“     Überlastungs- oder Gefährdungsanzei­
leitung zu wenig Personal bereitstellte    Wenn dann noch zusätzlicher Stress            gen zu schreiben: Darin teilten sie der
und die Arbeitsbelastung immer grö-        durch Unterbesetzung hinzukomme,              zuständigen Pflegedienstleitung (PDL)
ßer wurde. Auf der Intensivstation,        seien schnell die Grenzen des Leistba-        mit, dass es in einem konkreten Dienst
auf der Hansen arbeitet, sollte sich       ren erreicht. „An solchen Tagen fühlt         zu einer erheblichen Gefährdung für

                                                                                                                                   — 7
Dringender denn je Gemeinsam gegen den Pflegenotstand - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — Mai / Juni 2020                                                                            Schwerpunkt

                                                    nicht kurzfristig einzuspringen, wenn          aufgebaut wurde, haben die Bremer
                                                    jemand krankheitsbedingt ausfallen             Krankenhäuser ihr Pflegepersonal in
                                                    sollte. „Was dann natürlich auch pas-          dieser Zeit reduziert. Eine Vollkraft
                                                    sierte“, erzählt die Intensivpflegerin.        ist hier mittlerweile für mehr Patien-
                                                    „Da waren wir dann zeitweise wie-              ten zuständig als anderswo und so liegt
                                                    der für fünf Patienten verant­wortlich         die Arbeitsbelastung gemessen an den
                                                    und der Stress wurde so groß, dass es          ­Fällen über dem Bundesdurchschnitt.
                                                    auch Tränen gab. Aber wir haben das             Die Folge: Laut aktueller Beschäftigten-
                                                    gemeinsam durchge­zogen.“                       befragung der Arbeitnehmerkammer
                                                             Da sich die Klinikleitung wenig        ist der Zeitdruck so groß wie in keinem
                                                    gesprächsbereit zeigte, brachte der             anderen Beruf, was zu hohen körper­
                                                    Betriebsrat die Angelegenheit vor das           lichen und emotionalen Belastungen
                                                    Arbeitsgericht. Zunächst mit wenig              der Beschäftigten führt. Viele Pflege-
                                                    Erfolg. „Die Richter haben entschie-            kräfte reduzieren daher ihre Stunden-
                                                    den, dass es zur betrieblichen Freiheit         zahl oder steigen komplett aus dem
                                                    gehört, wie viel Personal ein Arbeit-           Beruf aus, was den Personalmangel
                                                    geber einsetzt“, erläutert Betriebsrätin        weiter verschärft.
        „Die Arbeitgeber müssen gezwungen           Kirsten Fischer (Name ge­­ändert). In                   Das oft gehörte Argument, die
          ­werden, sonst ändert sich nichts.“       einem zweiten Verfahren machte das              benötigten Fachkräfte seien auf dem
          Ellen Ost, Fachkrankenschwester           Gericht später deutlich, dass Über­             Arbeitsmarkt nicht vorhanden, sei nicht
                   für Nephrologie                  stunden vom Betriebsrat genehmigt               tragbar, macht Auffenberg deutlich.
                                                    werden müssen. „Weil sich der Arbeit-           „Umgekehrt wird ein Schuh daraus:
                                                    geber das Einspringen aus dem Frei              Nur wenn endlich für gute Arbeitsbe-
                                                    und die Überstunden nicht von uns ge­­          dingungen gesorgt wird, bleiben nicht
                                                    nehmigen ließ, musste er Strafen zah-           nur Pflegekräfte in ihrem Beruf und
                                                    len. Der gesamte Klinikbetrieb konnte           weiten ihre Stundenzahl aus, sondern
                                                    sich aber nur aufrecht halten, weil             kehren auch ausgestiegene Kräfte wie-
                                                    Überstunden mit eingeplant wurden –             der zurück.“ Die wichtigsten Bedingun-
                                                    darum hatte die Leitung damit ein ech-          gen für einen Wiedereinstieg seien aller-
                                                    tes Problem.“ Der große Zusammenhalt            dings andere Strukturen, mehr ­Personal
                                                    und der lange Atem von Pflegekräften            und nicht zuletzt auch eine an­gemes-
                                                    und Betriebsrat führten letztlich dazu,         sene Bezahlung. Die 2019 eingeführten
                                                    dass zusätzliche Leiharbeitskräfte ein-         und aktuell in insgesamt acht sogenann-
                                                    gestellt und bei Personalengpässen              ten pflegesensitiven Be­­reichen (unter
                                                    ­Betten ge­schlossen wurden. Jede Pflege-       anderem Intensivmedizin, Kardiologie
                                                     kraft auf der Intensivstation kümmerte         und Unfallchirurgie) geltenden Pflege-
                                                     sich daraufhin tatsächlich um drei             personaluntergrenzen seien nicht geeig-
                                                     Patienten, seit Anfang 2019 (wie laut          net, gute Arbeits­bedingungen und eine
                                                     PpUGV vorgesehen) in der Tagschicht            am Bedarf orien­tierte Versorgung zu
       „Die echten Expertinnen und Experten          um 2,5 Patienten. Die Arbeitsbedingun-         sichern. Hier sei der Gesetzgeber gefor-
       ­sitzen eben nicht in der Politik, sondern    gen haben sich für das gesamte Team            dert, meint die Referentin und verweist
                  auf den S
                          ­ tationen.“               verbessert. Auch Betriebsrätin Fischer         auf eine jüngst von der Gewerkschaft
         Max Manzey, Kampagnenleiter beim ­          freut sich über dieses Er­­gebnis: „Ich bin    Verdi, der Deutschen Krankenhausge-
               Dienstleister Organizi.ng             stolz auf ­dieses Team, weil es so solida-     sellschaft und dem Deutschen Pflegerat
                                                     risch zusammengearbeitet hat.“                 entwickelte Alternative mit dem Titel
                                                                                                    „Pflege­personalregelung 2.0“. Auffen-
      Patienten und/oder Personal kom-              Für bessere Bedingungen sorgen                  berg: „Solange es keine wirksamen
      men wird – weil zum Beispiel unge-            Angesichts des herrschenden Personal­           gesetzlichen Regelungen gibt, kann es
      plant Kollegen ausgefallen sind, Stel-        notstands und der in den vergange-              nur sinnvoll sein, dass sich die Kolle-
      len in der Abteilung nicht besetzt            nen Jahren immer schlechter geworde-            ginnen und Kollegen zusammenschlie-
      wurden oder ein erhöhter Arbeitsan-           nen Arbeitsbedingungen in der Pflege,           ßen und für ­bessere Arbeitsbedingun-
      fall zu erwarten war. „Damit nicht Ein-       sollten Erfolgsgeschichten wie diese            gen einsetzen.“ Beispiele aus anderen
      zelne von uns Ärger bekamen, haben            Mut machen, meint Jennie Auffenberg,            Städten hätten gezeigt, dass die Pfle-
      wir alle diese Anzeigen unterschrie-          Referentin für Gesundheits- und Pflege­         gekräfte bei ihren Aktionen selbst-
      ben“, berichtet Hansen. Der PDL wurde         politik bei der Arbeitnehmerkammer:             verständlich nie das Wohl der Patien-
      schriftlich mitgeteilt, dass das Team         „Inzwischen ist es ja quasi Notwehr,            ten aus dem Auge verlören. Vielmehr
      „nur noch“ Dienst nach Plan machen            sich zu organisieren und für Entlastung         falle es ihnen häufig eher schwer, sich
      werde, wenn sich an den schlechten            zu kämpfen.“ Gerade in Bremen seien             für ihre eigenen Interessen einzuset-
      Arbeitsbedingungen nichts ändere. In          Beschäftigte in der Krankenhauspflege           zen: „Letztendlich können die Pflege-
      einem „Teamversprechen“ sicherten             besonders stark belastet: Während bun-          kräfte aber auch nur gut pflegen, wenn
      sich die Kolleginnen und Kollegen zu,         desweit seit 2007 das Pflegepersonal            sie genügend Zeit dazu haben.“ Durch

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Dringender denn je Gemeinsam gegen den Pflegenotstand - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — Mai / Juni 2020

das Ab­­schließen von Notdienstverein-      ver­leihen. „Das macht dann auch etwas     Eine konstruktive Option sei es, sich
barungen, wie es in den Tarifauseinan-      mit einem“, erzählte Ost. „Wenn man        zusammenzuschließen und ­gemeinsam
dersetzungen heute üblich ist, sei die      sieht, dass eine andere Station schon zu   für Tarifverträge zu kämpfen, wie dies
Versorgung der Patien­ten jedoch zu         hundert Prozent organisiert ist, dann      auch in Jena geschehen sei. „Es ist
keinem Zeitpunkt und auch im Streik         spornt das an.“ Der Zusammenhalt der       beein­druckend zu sehen, was möglich
nicht gefährdet.“                           Belegschaft sei durch diese Zeit erkenn-   ist, wenn alle zusammenhalten“, macht
                                            bar gewachsen. An die Bremer Pflege-       er deutlich und nennt als Beispiele die
Mitsprache ist zentral                      kräfte appellierte sie: „Macht euch auch   dort demonstrierte Streikbereitschaft
Dass bundesweit inzwischen immer            auf den Weg. Die Arbeitgeber müssen        sowie den öffentlichen Druck, der auch
mehr Pflegekräfte gemeinsam für eine        gezwungen werden, sonst ändert sich        mithilfe der ebenfalls ins Boot geholten
Verbesserung ihres Arbeitsumfelds ein-      nichts.“                                   Medien erzeugt worden sei. Aus ­seiner
treten, wird unter anderem daran deut-                                                 Sicht ist die Mitsprache in solchen
lich, dass Verdi in den vergangenen                                                    Bewegungen zentral: „Denn die echten
Jahren durch die große Unterstützung                                                   Expertinnen und Experten sitzen eben
der Belegschaften schon an 17 Klini-        „Solange es keine ­wirksamen               nicht in der Politik, sondern auf den Sta-
ken Vereinbarungen zur Entlastung                                                      tionen – und sie ­wissen ganz genau, wie
                                            gesetzlichen R
                                                         ­ egelungen gibt,
schließen konnte. So auch am Univer-                                                   viel Pflegepersonal dort für eine gute
sitätsklinikum Jena, wo vergangenen            kann es nur ­sinnvoll sein,             Patientenversorgung gebraucht wird.“
Herbst ein „Tarifvertrag Ent­lastung“
                                            dass sich die K
                                                          ­ olleginnen und
mit Pflege-­Patienten-Ratio vereinbart                                                 Mitsprache, eine starke Gewerkschaft
wurde – das heißt, dass nun für jede        Kollegen ­zusammenschließen                und ein gut aufgestellter Betriebsrat
Station festgelegt ist, wie viele Patien-                                              sind wichtige Faktoren, wenn Pflege-
                                              und für bessere Arbeitsbe-
ten eine Pflegekraft maximal betreuen                                                  kräfte ihre Arbeitsbedingungen ver­
darf. Wer künftig sechsmal in Unter-             dingungen ­einsetzen.“                bessern wollen: Das hat auch das ein-
besetzung arbeitet oder freiwillig                                                     gangs erwähnte Beispiel der ­Hamburger
                                               Jennie Auffenberg, Referentin für
außerhalb des Dienstplans einspringt,                                                  Intensivstation gezeigt. „Der Betriebs-
                                                Gesundheits- und Pflegepolitik
bekommt einen zusätz­lichen Tag frei.                                                  rat kann aber nur so stark sein wie die
                                                 bei der Arbeitnehmerkammer
Ellen Ost, Fachkrankenschwester für                                                    Kolleginnen und Kollegen, die dahin-
Nephrologie, berichtete im März bei                                                    terstehen“, macht Betriebsrätin ­Kirsten
einer von der Arbeitnehmerkammer                                                       Fischer deutlich. Auch Intensiv­pflegerin
und Verdi organisierten Pflegekon-                                                     Andrea Hansen berichtet, dass die Soli-
ferenz mit dem Titel „So wollen wir         Max Manzey ist Kampagnenleiter beim        darität innerhalb des Teams im Verlauf
arbeiten!“ per Video­schaltung, wie es      Dienstleister Organizi.ng, der für         der Auseinandersetzung mit der Klinik-
zu der Vereinbarung kam: Jede Sta-          Verdi gewerkschaftspolitische Kampa-       leitung immer stärker ge­­worden sei.
tion habe im Team individuelle Pflege­      gnen konzipiert und in den Betrieben       Einen großen Ruck habe es ge­­geben, als
schlüssel für jede Schicht festgelegt.      umsetzt. Er hat festgestellt, dass die     die Unterschriftenliste für das Team­
In der „heißen Phase“ hätten sich die       Geduld der meisten Pflegekräfte inzwi-     versprechen angefertigt ­worden sei:
Delegierten der Teams wöchentlich           schen zu Ende ist. „Sie sind nicht mehr    Nachdem die ersten Mutigen unter-
getroffen. Gemeinsam habe man sich          bereit, unter den derzeitigen Bedin-       schrieben hätten, seien die anderen
darum bemüht, möglichst viele Kol-          gungen weiterzuarbeiten“, betont           Kolleginnen und Kollegen gefolgt. „Am
leginnen und Kollegen vom Eintritt          ­Manzey. „Und sie halten es auch tat-      Anfang war uns nicht klar, wie sehr wir
in die Gewerkschaft zu überzeugen,           sächlich nicht mehr aus. Die Option,      zusammenwachsen können“, sagt sie.
um dem Anliegen mehr Gewicht zu              nichts zu tun, gibt es darum nicht.“      „Und dann haben wir festgestellt: Wenn
                                                                                       wir an einem Strang ziehen, sind wir
                                                                                       nicht machtlos.“

                                                                                       Infos zu unserer Beratung für
                                                                                       ­Betriebsräte finden Sie hier:
                                                                                            www.arbeitnehmerkammer.de/
                                                                                        mitbestimmung

                                                                                       Infos und Tipps zu Themen wie Arbeits-
                                                                                       zeit, Dienstplan, Überstunden, Ruf­
                                                                                       bereitschaft und Haftung haben wir in
                                                                                       unserem Portal für Pflegebeschäftigte
                                                                                       zusammen­gestellt.
                                                                                           www.arbeitnehmerkammer.de/pflege

                                                                                                                                    — 9
Dringender denn je Gemeinsam gegen den Pflegenotstand - Arbeitnehmerkammer Bremen
BAM — Mai / Juni 2020                                                                    Arbeit & Gesundheit

       Allergie am
       Arbeitsplatz:
       früh
       handeln
       Text: Anne-Katrin Wehrmann

       W
                      enn die Pollen fliegen, ist Heuschnupfen-        Häufig von Allergien betroffen ist auch die Haut, wobei
                      zeit: Das wissen auch in Bremen Tausende         beruflich bedingte Hauterkrankungen zumeist als Ekzeme an
                      Be­­troffene aus leidvoller Erfahrung. Doch      den Händen auftreten. Klassische Auslöser sind hautreizende
                      nicht nur in der Natur gibt es Stoffe, die dem   Stoffe wie Desinfektions- oder Reinigungsmittel sowie – vor
       Immunsystem vieler Menschen zu schaffen machen und zu           allem in der Metallindustrie – Kühlschmierstoffe. Auch hier
       individuellen Überreaktionen führen: Auch am Arbeitsplatz       gilt es, möglichst selten mit diesen Substanzen in Berührung
       tauchen zahlreiche potenziell allergieauslösende Stoffe auf,    zu kommen und bei Bedarf den Einsatz von Ersatzstoffen
       die schlimmstenfalls dafür sorgen können, dass eine weitere     zu überprüfen. Darüber hinaus erhöht der ständige Kontakt
       Ausübung des Berufs unmöglich wird.                             mit Wasser das Risiko für Hautekzeme. In allergiegefähr-
                                                                       deten Berufen ist es Aufgabe des Arbeitgebers, einen Haut-
       Ob Mehlstaub beim Bäcker, Haarfärbemittel beim Friseur          schutzplan zu erstellen. Darin wird unter anderem erklärt,
       oder Desinfektionsmittel in der Pflege – ist ein Organismus     mit ­welchen Maßnahmen die Hände zu schützen, zu reinigen
       erst einmal auf ein bestimmtes Allergen sensibilisiert, hat     und zu pflegen sind – Tipps zu Handschuhen, Seifen, Salben
       also eine Abwehr gegen diesen Stoff entwickelt, kann es bei     und Cremes inklusive.
       jedem weiteren Kontakt zu Krankheitserscheinungen kom-
       men.                                                            Wird eine Allergie frühzeitig erkannt und behandelt bezie-
               Bei Atemwegsallergien reagiert das Immunsystem          hungsweise können die schädigenden Belastungen am
       häufig innerhalb von wenigen Minuten durch Asthma­­anfälle,     Ar­­beitsplatz reduziert werden, erhöht das die Wahr-
       Fließschnupfen oder Nesselsucht. Wo möglich, sollten Be­­       scheinlichkeit, den Job erhalten und den Eintritt einer
       troffene daher den Kontakt mit allergenen Substanzen ver-       Berufskrankheit verhindern zu können. Je nach Beruf kom-
       hindern oder zumindest vermindern – gegebenenfalls durch        men hierfür verschiedene technische, organisatorische und
       die Verwendung anderer Stoffe, die weniger gesundheits-         persön­liche Schutzmaßnahmen infrage. Folgende Anzei-
       schädlich sind. Alternativ können auch technische Schutz-       chen weisen darauf hin, dass eine Allergie tatsächlich auf die
       maßnahmen wie zum Beispiel Absauganlagen zum Einsatz            Arbeit zurückzuführen ist:
       kommen.                                                              Die Symptome verschwinden nach Feierabend, am
                                                                            Wochenende und im Urlaub.
                                                                            Behandlungen sind nur kurzfristig erfolgreich.
                                                                            Die Symptome treten dort auf, wo der Körper bei der
                                                                            Arbeit mit Allergenen in Kontakt kommt.

                                                                       Betriebs- und Hautärzte können dabei unterstützen, ein
                                                                       Allergie-­Tagebuch zu führen und so den Auslöser der Aller-
                                                                       gie ausfindig zu machen. Je schneller dies gelingt, umso eher
                                                                       lässt sich ein chronischer Verlauf (zum Beispiel Asthma oder
                                                                       Neurodermitis) verhindern.

— 10
Fragen & Antworten                                                                BAM — Mai / Juni 2020

Arbeit ohne
Ende? — Was
Beschäftigte zu
Überstunden
wissen sollten

                                                                                                                                        Foto: iStock
Text: Hanna Mollenhauer

                                                                           In der Gastronomiebranche werden viele
                                                                           Überstunden gemacht

Text: Gregor Schweigart                     3.     Wie viele Überstunden darf
                                                   der Arbeitgeber verlangen?
                                                                                       7.    In meinem Arbeitsvertrag
                                                                                             steht “Überstunden sind mit
                                            Beschäftigte dürfen von Montag bis               dem Gehalt abgegolten”.
                                            Samstag je acht Stunden arbeiten – also   Solche Klauseln sind in der Regel
                                            maximal 48 Stunden pro Woche. Die         rechtswidrig. Nach Auffassung des
 1.     Darf mein Arbeitgeber
        Überstunden anordnen?               tägliche Arbeitszeit kann vorüberge-      Bundesarbeitsgericht ist eine pauschale
Grundsätzlich gilt: Sie müssen nur so       hend auf zehn Stunden verlängert wer-     Abgeltung von Überstunden mit dem
viel arbeiten wie Sie vereinbart haben.     den. Allerdings müssen diese zusätz-      vereinbarten Gehalt zu ungenau und
Der Arbeitgeber kann allerdings Über-       lichen Stunden innerhalb von sechs        deswegen ungültig. Der Arbeitnehmer
stunden verlangen, wenn es im Arbeits-      Monaten durch Freizeit ausgeglichen       muss bei Vertragsabschluss erkennen
oder Tarifvertrag oder in einer Betriebs-   werden.                                   können, was auf ihn zukommt und wel-
vereinbarung geregelt ist. Ansonsten                                                  che Leistung er für die vereinbarte Ver-
kann er nur bei nicht vorhersehbaren                                                  gütung erbringen muss. Sogenannte
Notfällen und Katastrophen Überstun-        4.      Muss der Arbeitgeber die
                                                    Arbeitszeit erfassen?             Abgeltungsklauseln sind nur wirksam,
den anordnen – nicht bei Personalman-       Grundsätzlich ist der Arbeitgeber ver-    wenn aus ihnen hervorgeht, bis zu wel-
gel oder rein wirtschaftlichen Notsitu-     pflichtet, jede Arbeitsstunde seiner      cher Anzahl oder welchem Anteil Über-
ationen. In Betrieben mit Betriebsrat       Beschäftigten zu dokumentieren, also      stunden mit dem Gehalt abgegolten
muss dieser der Anordnung von Über-         auch die Überstunden. Der Arbeitgeber     sind. Solche Abreden müssen sich aber
stunden zustimmen. Eine stillschwei-        kann jedoch die Arbeitszeiterfassung an   im Rahmen des Arbeitszeitgesetzes
gende Anordnung von Überstunden             seine Mitarbeiter delegieren.             bewegen und dürfen nicht dazu führen,
liegt vor, wenn der Arbeitgeber Arbeit                                                dass der Gesamtlohn dadurch sitten-
in einem Umfang zuweist, die in der                                                   widrig wird. So darf etwa bei Teilzeit-
normalen Arbeitszeit nicht zu schaffen      5.      Müssen Überstunden bezahlt
                                                    werden?                           kräften nicht durch die „Hintertür“ ein
ist.                                        Ja. Voraussetzung ist, dass Ihr Arbeit-   Vollzeitvertrag entstehen. Eine unwirk-
                                            geber die Überstunden angeordnet,         same Klausel hätte zur Folge, dass der
                                            gebilligt oder geduldet hat.              Arbeitgeber die Überstunden bezahlen
2.      Was heißt es, dass der
        Arbeitgeber Überstunden                                                       muss, wenn er sie angeordnet, geduldet
                                                                                      oder gebilligt hat.
        billigt oder duldet?
Billigen heißt, dass der Arbeitgeber        6.     Kann ich meine Überstunden
                                                   auch in Freizeit abbummeln?
nachträglich mit den Überstunden ein-       Nur, wenn es im Arbeitsvertrag steht
verstanden ist. Eine Duldung liegt vor,     oder der oder die Beschäftigte sich
wenn Arbeitgeber wissen, dass Über-         damit einverstanden erklärt.              Kammermitglieder können sich zu
stunden anfallen und nicht dagegen                                                    ­dieser und anderen ­Fragen des Arbeits-
einschreiten.                                                                          rechts kostenlos beraten lassen.
                                                                                       ­Weitere Infos auf der Rückseite dieses
                                                                                        Magazins.

                                                                                                                                 — 11
BAM — Mai
             September
                 / Juni 2020
                         / Oktober 2016

             Mehr Anerkennung
             für wichtige Berufe
           Auf bestimmte Berufe ist die Gesellschaft mehr angewiesen als auf andere: Das hat die
        ­aktuelle Corona-Krise eindringlich belegt. Kann die öffentliche Aufmerksamkeit dazu führen,
                   dass diese systemrelevanten Berufsgruppen nun eine Aufwertung erfahren?

                                                        Text: Anne-Katrin Wehrmann

   Ü
                 berstunden, spontanes Aushelfen außerhalb des
                 Dienstplans, zu wenig Zeit für zu viele Patienten:
                 Pflegekräfte in Krankenhäusern arbeiten ohne-
                 hin schon am Limit und müssen häufig über ihre
       Kräfte gehen, um den Arbeitsalltag zu bewältigen (siehe auch
       Artikel auf den Seiten 6 bis 9 dieser Ausgabe). In der Coro-
       na-Krise hat sich der Druck noch einmal deutlich erhöht.
       Dabei sind die Pflegerinnen und Pfleger nur eine von ver-
       schiedenen Berufsgruppen, die im derzeitigen Ausnahmezu-
       stand im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen. Ob es

                                                                                                                                         Foto: Jonas Ginter
       die Kassiererin im Supermarkt ist, der Lagerarbeiter oder die
       Reinigungskraft: In der Krise wird deutlich, dass die Gesell-
       schaft auf bestimmte Arbeiten mehr angewiesen ist als auf
       andere. Aber erhalten die Menschen, die in diesen systemre-
       levanten Berufen tätig sind, tatsächlich die ihnen zustehende
       Anerkennung?
                                                                         den 21 in der DIW-Studie aufgeführten Berufsgruppen noch
       Überwiegend nicht. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle         zwei weitere benannt: die Bereiche Redaktion und Journa-
       Publikation des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung      lismus sowie Genuss- und Lebensmittelherstellung. „Nach
       (DIW) mit dem Titel „Systemrelevant und dennoch kaum              dieser Definition arbeitet im Land Bremen ein Drittel der
       anerkannt: Das Lohn- und Prestigeniveau unverzichtbarer           insgesamt gut 334.000 sozialversicherungspflichtig Beschäf-
       Berufe in Zeiten von Corona“. Die große Mehrheit der als          tigten in systemrelevanten Berufen“, berichtet Marion Salot,
       systemrelevant definierten Berufe weise außerhalb von Kri-        Referentin für Wirtschaftspolitik und Gleichstellung bei der
       senzeiten ein geringes gesellschaftliches Ansehen sowie eine      Arbeitnehmerkammer. Während im Bundesdurchschnitt zu
       vergleichsweise schlechte Bezahlung auf, schreiben die Auto-      knapp 75 Prozent Frauen diese unverzichtbaren Tätigkei-
       rinnen. Darüber hinaus zeige sich, dass diese Berufe mehr-        ten ausüben, ist in Bremen der Frauenanteil mit 54 Prozent
       heitlich von Frauen ausgeübt werden. Zwar gibt es durch-          deutlich geringer. „Das liegt im Wesentlichen daran, dass der
       aus große Unterschiede: So finden sich mit Blick auf Lohn         männerdominierte Logistiksektor mit seinen 25.000 Beschäf-
       und Berufsprestige zum Beispiel die medizinischen und die         tigten im Land Bremen besonders stark vertreten ist“, erläu-
       IT-Berufe in der DIW-Übersicht weit über dem Durchschnitt.        tert Salot. Würde man ihn herausrechnen, wären hier zu 63
       Insgesamt lasse sich aber feststellen, „dass über 90 Prozent      Prozent Frauen tätig. Das mittlere Bruttomonatsentgelt liegt
       der Beschäftigten in Berufen, die aktuell der kritischen Infra-   im Logistiksektor bei gut 2.400 Euro und damit unter dem
       struktur zugeordnet werden, nur einen unterdurchschnittli-        Mittelwert von rund 3.300 Euro.
       chen Lohn bekommen“, heißt es in der Studie.
                                                                         Dass die Tätigkeit von Ärztinnen und Ärzten besonders hoch
       Systemrelevant: ein Drittel aller Beschäftigten                   angesehen ist, überrascht ebenso wenig wie die Tatsache,
       Welche Berufe als systemrelevant gelten, also als unerlässlich    dass diese Berufsgruppe auch das höchste Einkommen unter
       für das Funktionieren der Gesellschaft, haben die Bundeslän-      allen systemrelevanten Berufen erzielt: In Bremen beträgt
       der jeweils einzeln festgelegt, um so den Anspruch auf eine       der monatliche Mittelwert knapp 6.400 Euro. Ganz am unte-
       Kindernotbetreuung zu regeln. In Bremen sind zusätzlich zu        ren Ende der Verdienstskala findet sich der Verkauf von

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Systemrelevante Berufe                                                               BAM — Mai / Juni 2020

                                                                                                                                                       Foto: Kay Michalak
Foto: Jonas Ginter

                     Lebensmitteln wieder, wo Beschäftigte im Schnitt weniger         dass in Bremen 96 Prozent der Beschäftigten in Kranken-
                     als 1.900 Euro verdienen und der Frauenanteil bei 76 Pro-        häusern der Meinung sind, dass sie einen wichtigen gesell-
                     zent liegt. „Nicht nur das Gehalt ist in dieser Berufsgruppe     schaftlichen Beitrag leisten – dass aber ein Drittel von ihnen
                     sehr gering, sondern auch das gesellschaftliche Ansehen“,        mit dem Lohn unzufrieden ist und sogar 38 Prozent finden,
                     sagt Marion Salot. „Dabei sind das die Menschen, die in der      dass ihnen die Gesellschaft zu wenig Anerkennung und Ach-
                     jetzigen Situation mit am meisten gefordert und durch den        tung für ihre Arbeit entgegenbringt. „Lange wurde an der
                     täglichen Kundenkontakt auch am meisten gefährdet sind.“         Pflege gespart, wir erfahren jetzt, was passiert, wenn man
                     Die Referentin hofft, dass die derzeitige öffentliche Aufmerk-   das Gesundheitswesen marktförmig organisiert“, meint Hey-
                     samkeit genutzt werden kann, um die in den vergangenen           duck. „Die Politik muss noch einmal ernsthaft überlegen, ob
                     Jahren stetig gesunkene Tarifbindung im Einzelhandel wie-        sie das wirklich so will.“
                     der zu erhöhen. Und nicht nur dort sieht sie Handlungsbe-
                     darf: „Alle Beschäftigten, die in diesen Wochen und Monaten      Akut brauche es in der Corona-Krise Aufschläge für die
                     besonders belastet sind und dabei unterdurchschnittlich ver-     unterbezahlten Beschäftigten in unverzichtbaren Berufen
                     dienen, müssen ihren Einsatz nach Ende der Krise auf ihrem       wie Pflege, Lebensmittelverkauf und Logistik, meint die
                     Gehaltszettel wiederfinden.“                                     Geschäftsführerin. „Für die Altenpflege wurde das nun kurz-
                                                                                      fristig tariflich verabredet. In den anderen Bereichen kön-
                     Weg vom Lohn- und Preisdumping                                   nen und sollten Arbeitgeber das auf freiwilliger Basis tun.“
                     Auf dem Balkon für die Heldinnen und Helden des Alltags zu       Perspektivisch erhofft auch sie sich aus der aktuellen Situ-
                     klatschen, ist eine schöne Geste, reicht aber nicht aus: Davon   ation einen Schub für neue Tarifverhandlungen. Heyduck:
                     ist auch Arbeitnehmerkammer-Geschäftsführerin Elke Hey-          „Wir brauchen zum Beispiel im Einzelhandel eine Verän-
                     duck überzeugt. „Wir müssen jetzt dringend über die Bezah-       derung der Kultur, weg vom Lohn- und Preisdumping, hin
                     lung dieser Berufe diskutieren, wie auch über die Arbeitsbe-     zu fairer Bezahlung. Wir brauchen daher gerade in diesem
                     dingungen insgesamt und über das Thema Wertschätzung“,           Bereich einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag, damit
                     betont sie und nennt beispielhaft die jüngste Beschäftigten-     die Beschäftigten nicht am Ende der Nahrungskette stehen.“
                     befragung der Kammer. Die hatte unter anderem ergeben,

                                                 So viel verdienen Bremer Beschäftigte in systemrelevanten Berufen
                                                     (mittlerer Bruttomonatsverdienst Vollzeitbeschäftigter, 2018)

                                                        Human- und Zahnmedizin                                                      6.385 €
                                          IT-Netzwerktechnik, IT-Administration                                        4.787 €
                                                     Medizinisches Laboratorium                                 3.618 €
                                                Gesundheits- und Krankenpflege                                 3.545 €
                                          Fahrzeugführung im Eisenbahnverkehr                                  3.506 €
                                                                       alle Berufe                             3.474 €
                                                             Ver- und Entsorgung                              3.315 €
                                                                      Altenpflege                       2.629 €
                                           Genuss- und Lebensmittelherstellung                          2.518 €
                                Lagerwirtschaft, Post, Zustellung, Güterumschlag                       2.460 €
                                             Fahrzeugführung im Straßenverkehr                         2.430 €
                                                             Arzt- und Praxishilfe                    2.275 €
                                                                Reinigungsberufe                     2.128 €
                                                       Verkauf von Lebensmitteln                    1.968 €

                     Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit                                                    © Arbeitnehmerkammer Bremen

                                                                                                                                                             — 13
BAM — Mai / Juni 2020

                                                                                                                                     Foto: iStock / nimis69
                      „Ein Konflikt eskaliert,
            wenn er unbehandelt bleibt“
                                 Auseinandersetzungen mit Kolleginnen und Kollegen
                                         können den Spaß an der Arbeit verderben.
                               Warum es wichtig ist, miteinander im Gespräch zu bleiben,
                                    erläutert die Bremer Mediatorin Alexandra Giese

                                                Kommunikation verändert, wo Men-           Nicht jeder Konflikt ist ja per se
       Interview: Anne-Katrin Wehrmann          schen nicht mehr direkt miteinander        negativ: Was unterscheidet eine
                                                sprechen, sondern zum Beispiel auf         konstruktive von einer destrukti-
       BAM: Frau Giese, wann ist inner-         E-Mails ausweichen, sollte man genauer     ven Auseinandersetzung?
       halb eines Unternehmens der              hinschauen. Und natürlich dann, wenn               Eine konstruktive Auseinander-
       Punkt erreicht, an dem eine Medi-        Beteiligte zunehmend leiden, wenn          setzung ist immer lösungsorientiert. Es
       ation sinnvoll oder sogar erforder-      einfach deutlich wird: Da ist eine Be­­    geht darum zu schauen, was jeder Ein-
       lich wird?                               lastung, die geklärt werden muss. Eines    zelne im Team braucht, um sich ­besser
                Alexandra Giese: Der ist dann   ist ganz wichtig: Ein Konflikt wird wei-   zu fühlen – und nicht zu sagen, was
       erreicht, wenn sich die Energie sehr     ter eskalieren, wenn er unbehandelt        fehlt oder was jemand nicht tut. Kon-
       auf einen bestimmten Konflikt konzen-    bleibt. Die meisten haben Angst, so ein    struktiv heißt aufzeigen, was einen
       triert. Spätestens dann, wenn auch das   Thema anzupacken, weil sie befürch-        ­besseren Zustand darstellt.
       Umfeld diesen Konflikt wahrnimmt,        ten, dass dadurch die Beziehung zu den
       muss etwas passieren. Grundsätzlich      Kollegen gestört wird. Aber genau das      Was können Kolleginnen und
       lässt sich sagen: Überall da, wo sich    passiert, wenn sie nichts unternehmen.     ­Kollegen tun, wenn sie für eine

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Arbeitswelt                                                                 BAM — Mai / Juni 2020

bestehende Auseinandersetzung              können. Das Ergebnis der Verhand-            Welche Folgen hat es für das
zunächst eine innerbetriebliche            lungen zurren wir dann in der letzten        Betriebsklima und für die Betroffe­
Lösung anstreben?                          Phase fest. Manche brauchen konkrete         nen, wenn Auseinandersetzungen
        Ich würde immer zuerst das         Vereinbarungen, vielleicht auch schrift-     ungelöst bleiben?
Gespräch mit der betroffenen Person        lich, andere einfach eine Umarmung,                Das führt früher oder später zu
suchen. Viele trauen sich das nicht        die ewig nicht stattgefunden hat. Das        Resignation und Demotivation. Auf
und gehen direkt zum Chef – was aber       entscheiden die Beteiligten selbst.          Dauer halten das viele nicht aus und
bei der oder dem anderen natürlich                                                      suchen sich eine neue Arbeitsstelle.
nicht gut ankommt und eher noch Öl         Was sind klassische Konflikte,               Grüppchen gibt es immer und kleinere
ins Feuer gießt. Mediation ist nur ein     die bei der Arbeit immer wieder
Bereich von Konfliktmanagement in          auftauchen?
Unternehmen. Wichtiger wäre es, die                Die Kommunikation spielt da
Basis für eine offene Kommunikations-      eine ganz große Rolle. In unserer
kultur zu schaffen und für ein Umfeld      schnell­­lebigen Zeit ist wenig Zeit für
                                                                                               „Ein von oben
zu sorgen, in dem Konflikte früh­zeitig    Austausch und häufig fängt es so an,                ­vorgegebener
angesprochen werden können. Eine           dass jemand aus dem Team gestresst
externe Person ist immer dann hilf-        und kurz angebunden ist. Das weiß sein
                                                                                            ­Kompromiss bringt
reich, wenn Neutralität und eine gleich-   Kollege oder seine Kollegin nicht einzu-             da nicht viel.“
mäßige Unterstützung gewährleistet         ordnen und nimmt es vielleicht persön-
werden sollen.                             lich, spricht es aber nicht an. Wenn das
                                           mehrmals passiert, nimmt der Konflikt
Wie lassen sich kritische Mit­­ar­bei­     seinen Verlauf, bis man sich schlimms-       Konflikte sind auch normal. Aber wenn
ter überzeugen, an einer ­Mediation        tenfalls irgendwann aus dem Weg geht.        nicht mehr miteinander, sondern nur
teilzunehmen?                              Wir nehmen etwas wahr und bewer-             noch übereinander gesprochen wird,
        Indem man sie ins Boot holt,       ten es – aber diese Bewertung hat oft        ist das sowohl für die Betroffenen als
ihnen die eigene Motivation benennt        nichts mit dem zu tun, was die andere        auch für das Unternehmen schlecht. Ich
und ihnen die positive Absicht dar-        Person eigentlich meint. Ähnliche Miss-      habe allerdings den Eindruck, dass das
legt, etwas klären zu wollen. Ich habe     verständnisse kann es geben, wenn ein        Bewusstsein dafür in den vergangenen
es schon erlebt, dass allein dieses        neuer Mitarbeiter eingearbeitet werden       Jahren gewachsen ist und dass immer
Gespräch unter den Betroffenen schon       soll und sein Kollege dafür gar keine        mehr Führungskräfte auf ein funktio-
so viel gebracht hat, dass sie die Dinge   Zeit hat. Wenn darüber nicht gespro-         nierendes Konfliktmanagement-System
anschließend ohne externe Hilfe regeln     chen wird, traut sich der Neue irgend-       Wert legen.
konnten. Die Mediation ist immer frei-     wann nicht mehr, Fragen zu stellen und
willig, auch im beruflichen Kontext:
Darum ist es wichtig transparent zu                                                     Alexandra
machen, was auf sie zukommt.                                                            Giese
                                                                                        ist ­Juristin und
 Und was kommt auf sie zu?                      „Eine konstruktive                      ­begleitet als
          Ein strukturiertes ­Verfahren,                                                 ­Mediatorin
                                              ­Auseinandersetzung
                                                                                                                                 Foto: privat
in dem wir gemeinsam verschiedene                                                         Teams und
­Phasen durchlaufen. In der Eingangs-                ist immer                            Einzel­personen
 phase setzen wir den Rahmen für                                                          in Unternehmen
 unsere Zusammenarbeit. Dann kommt
                                                ­lösungsorientiert.“                      und Organisa­
 die Bestandsaufnahme, in der wir die                                                     tionen. Außerdem ist sie Dozentin
 Themen sammeln und zu Paketen                                                            des Weiterbildungskurses Mediation
 schnüren, sofern es mehrere gibt. Die                                                    an der Universität Bremen.
 dritte Phase ist die Hauptphase: Da       ist total überfordert. Ein „Klassiker“ ist
 stellt jeder Einzelne dar, was ihm im     das Thema Arbeitseinsatz: Während
 Hinblick auf das konkrete Thema wich-     manche Dienst nach Vorschrift machen,
 tig ist und warum. Es geht darum, Ver-    hängen sich andere intensiv rein und
 ständnis für die Sicht der anderen her-   fühlen sich dafür verantwortlich, dass
 zustellen. Manchmal muss ich dafür        die Arbeit geschafft wird. Wenn es in
 viel intervenieren, manchmal reicht es    der Mediation gelingt, die eigene Per-
 schon, das Zuhören zu fördern. Wenn       spektive zu erweitern und gemeinsam
 dieser Perspektivwechsel einmal statt-    eine Lösung zu entwickeln, sind das
 gefunden hat, fangen die Beteiligten      magische Momente. Ein von oben vor-
 in der nächsten Phase an, gemeinsame      gegebener Kompromiss bringt da nicht
 Lösungen zu entwickeln beziehungs-        viel. Wirklich nachhaltig und tragfähig
 weise zu überlegen, wie ihre unter-       für die Zukunft ist nur das, was von den
 schiedlichen Interessen und Bedürf-       Beteiligten selbst kommt.
 nisse auch in Zukunft gesehen werden

                                                                                                                                   — 15
BAM — Mai / Juni 2020     Galerie der Arbeitswelt

           Sandra Kranz ist
          für die Wartung und
         Einrichtung von mehr
        als 330 elektronischen
            Anzeigentafeln
           im Streckennetz
            verantwortlich.

— 16
BAM — Mai / Juni 2020

                                               GALERIE DER ARBEITSWELT

         Informationen am
         leuchtenden Band
   Sandra Kranz arbeitet als Kommunikationselektronikerin bei der Bremer
Straßenbahn AG. Sie sorgt dafür, dass die Fahrgäste an den Haltestellen über
   die aktuelle Lage, Fahrzeiten und Störungen informiert werden können

                                      Text: Melanie Öhlenbach – Foto: Tristan Vankann

S
          oftwarefehler oder defekte Hardware, eine Über-        Weiterbildungen und jede Menge praktische Erfahrung ange-
          spannung im Netz oder Ratten, die an Kabeln            eignet.
          nagen: Wenn eine Anzeigentafel der Bremer Stra-                Doch nicht nur die Wartung, auch die Einrichtung
          ßenbahn AG (BSAG) schwarz bleibt, ist Sandra           der Anzeigentafeln gehört zu ihrem Aufgabenbereich. Bis der
Kranz zur Stelle. Ausgerüstet mit Laptop, Werkzeugtasche,        schwarze Kasten an der Haltestelle aufleuchtet, hat Sandra
Leiter, Smartphone und Funkgerät macht sie sich auf die          Kranz einiges zu tun: Das Gerät auspacken, Halter montie-
Suche nach dem Fehler.                                           ren, Software und Datenversorgung einspielen. Für ein Gerät
        Sandra Kranz hatte schon als Kind ein Faible für Tech-   braucht sie etwa einen halben Tag, danach muss das fertige
nik. „Mein Onkel hat gern an Autos geschraubt, da hab ich        Gerät noch vor Ort montiert und angeschlossen werden.
einiges mitgekriegt und wollte unbedingt was mit Tech-                   So gern sie auch schraubt und tüftelt: Die 43-Jährige
nik machen“, sagt die heute 43-Jährige. Doch das war als         fuchst es gewaltig, wenn eine Anzeige ausfällt – sei es durch
Frau Anfang der 1990er-Jahre gar nicht so einfach. Ihren         technische Probleme oder Vandalismus: „Wenn eine Anzeige
eigentlichen Berufswunsch Tischlerin musste Sandra Kranz         mit Graffiti beschmiert oder Steinen eingeschlagen wurde,
aufgeben: „In den kleinen Betrieben gab es keine sanitären       ärgert mich das massiv. So eine Scheibe kostet mehrere Hun-
Anlagen für uns Mädels.“ Also entschloss sie sich, Kfz-Elek-     dert Euro.“
trikerin zu werden. Auch bei der BSAG sorgte sie damit für               Ihren Job würde Sandra Kranz nicht eintauschen wol-
ein Novum: „Ich war die erste Frau in diesem Bereich.“           len. Wenn die orangefarbenen Buchstaben die nächste Stra-
        In ihrer dreieinhalbjährigen Ausbildungszeit lernte      ßenbahn oder den nächsten Bus ankündigen, weiß die Kom-
sie das Handwerk kennen: Batterien einbauen, Beleuch-            munikationselektronikerin, dass ihr viele Fahrgäste dankbar
tung, Anlasser, Lichtmaschine und Klimaanlagen reparieren,       dafür sind: Ohne ihren Job gäbe es keine Informationen am
Bustüren einstellen und die Straßenbahn mit Strom versor-        leuchtenden Band.
gen. Nach der Ausbildung wechselte sie in die Funkwerk-
statt und kümmerte sich dort unter anderem um Bordrech-
ner, Fahrkartenentwerter und Funkgeräte. Noch nicht alles
war zu dieser Zeit elektronisch: „Um die Anzeigen an Bussen
und Straßenbahnen zu verändern, musste teilweise noch von
Hand gekurbelt werden.“                                          Beruf im Wandel
        Im Jahr 1999 wechselte Sandra Kranz schließlich
in ihre heutige Abteilung, zunächst noch als Elternzeitver-      Gerade mal 16 Jahre lang konnte man eine Ausbildung zum
tretung. Gemeinsam mit einem Kollegen ist sie heute unter        Kommunikationselektroniker absolvieren. Im Jahr 2003
anderem für mehr als 330 elektronische Anzeigentafeln und        wurde sie durch die Berufe Elektroniker für Geräte und
mehr als 500 Signalanlagen im Streckennetz verantwortlich.       Systeme beziehungsweise Systeminformatiker abgelöst.
Das Wissen hat sie sich durch zahlreiche fachspezifische

                                                                                                                                 — 17
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                                                       S
                                                                  usanne Duwe führt gemeinsam mit ihrem Mann ein
                                                                  kleines Unternehmen zur Porzellanveredelung in
                                                                  Bremen-Nord. Das Ehepaar beschäftigt neun Ange-
                                                                  stellte und seit dem Sommer auch einen Auszubil-
                                                        denden im Bereich Lagerlogistik. Der 25-jährige Ehsannulah
                                                       Amiri kam vor einigen Jahren aus Afghanistan nach Deutsch-
                                                       land und bewarb sich 2018 bei den Duwes – zunächst für eine
                                                       Einstiegsqualifizierung. „Er verfügt über erweiterte Deutsch-
                                                       kenntnisse, sodass wir uns gut unterhalten können. Aber der
                                                       Arbeitsalltag bringt sprachliche Stolpersteine mit sich, zum
                                                       Beispiel, wenn es um das Lesen von Lieferscheinen oder fach-
                                                       bezogenem Schriftverkehr geht“, sagt Susanne Duwe.
                                                                Um die Verständigung zwischen Beschäftigten mit
                                                       geringen Deutschkenntnissen und ihren Kollegen und Vor-
                                                       gesetzten zu verbessern, bietet etwa die „RKW-Servicestelle
                                                       Deutsch am Arbeitsplatz“ Arbeitgebern im Land ­Bremen
                                                       Unterstützung an. Susanne Duwe holte sich hier Hilfe.
                                                       Die Maßnahmen sollen nicht erst auf lange Sicht, sondern
                                                       ­möglichst unmittelbar greifen. Wie kann das funktionieren?
                                                                „Durch einen Perspektivwechsel“, sagt Elvira Tinis,
                                                        Sprachtrainerin beim RKW. Gemeint ist, dass Arbeitgeber
                                                        und deutschsprachige Beschäftigte lernen, sich einfach und
                                                        leicht verständlich auszudrücken.

       Elvira Tinis (Sprachtrainerin beim RKW),        Ein Werkzeugkasten für die Sprache
       Ehsannulah Amiri (Auszubildender bei CUP+MUG)   Die Sprachtrainierin Elvira Tinis erklärt: „Wir bieten Unter-
       und Susanne Duwe (CUP+MUG)                      nehmen einen Werkzeugkasten an, mit dem sich einfache
                                                       Kommunikationstechniken einüben lassen.“

                                                       Einfache und leicht verständliche Sprache

       Deutsch am
                                                          Füllwörter weglassen;
                                                          möglichst kurze Sätze bilden;
                                                          im Aktiv statt im Passiv formulieren;

       Arbeitsplatz
                                                          sinngleiche Wörter für Begriffe finden, die nicht
                                                          ­verstanden werden;
                                                           Verben benutzen

       — von                                               und schwierige Adjektive weglassen;
                                                           Bilder und Grafiken zum Erklären verwenden.

       einfacher Sprache
       profitieren alle                                Susanne Duwe helfen die neuen Techniken dabei, ihren Aus-
                                                       zubildenden zu unterstützen. Es fällt ihr nun leichter, ihm
                                                       zum Beispiel Arbeitsabläufe oder auch berufsspezifische
                                                       Begrifflichkeiten zu erklären. Darüber freut sie sich täglich:
                                                       „Ich habe ein ganz anderes Bewusstsein für die deutsche
       Immer mehr Beschäftigte aus ver­                Sprache entwickelt und inzwischen sogar Spaß daran, zum
                                                       Beispiel nach Synonymen zu suchen.“
       schiedensten Herkunftsländern arbeiten
                                                               Zum Übungsmaterial, das Elvira Tinis für Susanne
       in Deutschland – auch in Bremen. Geringe        Duwe und ihre Mitarbeiter mitgebracht hat, gehört auch ein
                                                       sogenanntes „Logistik-Tabu“, mit dem spielerisch sinn­gleiche
       Sprachkenntnisse erschweren jedoch oft
                                                       Wörter für fachsprachliche Begriffe gesucht werden müssen.
       die Kommunikation am Arbeitsplatz. Hier         „Das eigene Sprachverhalten kann man nicht nur bei adminis­
                                                       trativen Aufgaben reflektieren, sondern auch beim Kaffeetrin-
       braucht es Engagement auf beiden Seiten
                                                       ken oder bei Betriebsfeiern“, beschreibt Susanne Duwe die
                                                       Grundvoraussetzung für eine förderliche Kommunikation: die
       Text: Frauke Janßen – Fotos: Jonas Ginter       Bereitschaft, sich selbst den Spiegel vorzuhalten.

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