Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche?
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48 | Themenschwerpunkt Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche? Christian Weisner Sind wir ZeugInnen eines fundamentalen kirchlichen Skandalen zu ersticken und auf den Paradigmenwechsels in der mit 2000 Jahren Felsen der geschichtlichen Bedeutungslosigkeit wohl ältesten Organisation Europas? Folgt die aufzulaufen? Welche Auswirkungen werden römisch-katholische Kirche mit Papst Franzis- die dynamischen Entwicklungen in Rom kus jetzt endlich dem Kurs des Reformkonzils, nicht nur auf die Kirchen in Deutschland und dessen 50-jähriges Jubiläum in diesem Jahren in aller Welt, sondern möglicherweise auch begangen wird? Welche Auswirkungen weit auf die weltweiten politischen und sozialen über den binnenkirchlichen Raum hinaus Konflikte haben? Und: Braucht es unter dem sind zu erwarten und zu erhoffen? Es folgt Reformpapst jetzt überhaupt noch kirchliche der Versuch einer Einschätzung des Umbaus Reformbewegungen wie z.B. die KirchenVolks- des 2000-jährigen Kirchenschiffes – mitten im Bewegung Wir sind Kirche? Sturm auf hoher See, mit einem Wechsel des Kapitäns und Aufnahme eines neuen Zielkurses 1.1 | Franziskanischer Anspruch – aus der Sicht der katholischen Reformbewe- gung Wir sind Kirche. Der argentinische Jesuit Jorge Mario Bergoglio ist der erste Papst, der es wagte, sich nach dem heiligen Franz von Assisi (1181/1182-1226) 1 | Was ist los in der römisch-katholischen zu nennen, der Bettelmönch und Kirchenre- Kirche? former in einem war. Bergoglio ist ein Jesuit, Es scheint Bewegung zu kommen in die wohl der sich schon vor seinem ersten öffentlichen älteste Institution Europas, die gemeinhin als Auftreten als „Bischof von Rom“ mit dem unbeweglich und weltfern gilt, aber auch als Vatikan anlegte, als er die herkömmlichen Hort von Tradition, Werten und Wahrheit. Für Insignien klerikaler Macht verweigerte; der viele ist die römisch-katholische Kirche, die sich am Gründonnerstag zwei Frauen in einem als klerikale Wahlmonarchie versteht, immer Gefängnis die Füße wusch, in Lampedusa das noch ein Synonym für Rückwärtsgewandtheit, Flüchtlingselend anprangerte und die Verant- für Ignorieren oder gar Bekämpfen des „Zeit- wortlichen von sozialen Bewegungen aus aller geistes“, ein autoritäres und absolutistisches Welt in den Vatikan eingeladen hat. Und: Die weltweites Machtgefüge mit einer unabänder- Tatsache, dass nach fast 800 Jahren erstmals lichen Glaubensdoktrin, die im Kirchenrecht wieder ein Nichteuropäer Papst wurde, lässt festgeschrieben ist. hoffen, dass der katholische Eurozentrismus Bringt nun der am 13. März 2013 gewählte konsequent abgebaut wird, und signalisiert Papst Franziskus „vom Ende der Welt“ mit die Vision von einer Kirche, die für Gerechtig- gewagten Manövern das Kirchenschiff zum keit im Weltmaßstab steht. Dazu kommt sein Kentern oder Auseinanderbrechen? Wird jetzt bescheidenes Auftreten, das auf eine Entschla- die größte christliche Kirche mit 1,2 Milliarden ckung des römischen Hofstaats hoffen lässt. Gläubigen etwa zur weltgrößten NGO? Oder Kommentatoren sprachen sogleich von bewahrt Franziskus mit großer Geschicklichkeit einer „epochalen Wahl“. Das amerikanische die katholische Weltkirche davor, an den inner- Nachrichtenmagazin „Time“ erklärte Papst FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 48 16.04.2015 13:05:51
Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche? | 49 Franziskus zur „Person des Jahres 2013“ Aufdeckungen von Vatileaks den wählenden (http://poy.time.com/2013/12/11/pope- Kardinälen die Notwendigkeit eines Kurswech- francis-the-choice/). In nur neun Monaten im sels deutlich. Amt habe sich der neue Papst „ins Zentrum der wichtigsten Debatten unserer Zeit“ ge- 1.2 | Formierter Widerstand setzt: um „Wohlstand und Armut, Fairness und Gerechtigkeit, Transparenz, Modernität, Die Erwartungen an Franziskus, den neuen Globalisierung, die Rolle von Frauen, die Natur Bischof von Rom, sind riesengroß, aber der der Ehe und die Versuchungen der Macht“. Jesuit ist durchaus als kämpferisch und durch- Er habe die Kraft, die Welt zu verändern. Das setzungsfähig einzuschätzen. Entscheidend Musikmagazin „Rolling Stone“ nahm ihn aufs wird sein, ob es ihm gelingt, die römische Kurie Cover, zusammen mit Bob Dylans Songtitel: zu reformieren, die sich über die Jahrhunderte „The times they are a-changin’“ (www.rollings- zu einem absolutistischen Machtblock verfes- tone.de/news/meldungen/article530419/der- tigt hat, und damit die Glaubwürdigkeit der papst-auf-dem-cover-des-us-rolling-stone.html). Kirchenleitung wiederherzustellen. Franziskus Schon als argentinischer Bischof wurde er gilt allerdings auch als Wert-Konservativer als Anwalt der Armen bezeichnet und weckt und so manche warnen, dass von ihm keine jetzt international Hoffnungen auf mehr soziale schnellen Reformen in der Frauenfrage und Gerechtigkeit und ein friedlicheres Miteinander der Sexuallehre zu erwarten sind; aber auf der Religionen. Sein Namenspatron hat sich jeden Fall habe er eine größere Bereitschaft immerhin auch um eine friedliche Lösung zum Zuhören und auch zum Lernen. Eine mit dem Islam bemüht. Zugleich wächst die Aufhebung der Zölibatspflicht für katholische Erwartung, dass es mit ihm auch innerhalb der Priester scheint für ihn nicht ausgeschlossen. Kirche Aufbruch und Erneuerung geben wird. Die Tür zum Priesteramt für Frauen sieht er Mit seinen Worten von einer „barmherzigen als verschlossen an – aber immerhin spricht er Kirche“ hat Franziskus bei vielen Menschen von einer Tür, für die die Theologie ja einen die Hoffnung auf eine weniger dogmatische Schlüssel finden kann. Auslegung bei ethisch und moralisch schwie- Wie stark die Widerstände gegen jede Art rigen Fragen unserer Zeit geweckt. von Reform innerhalb des Vatikans selber „Ich glaube, dass die Welt viel von ihm sind, zeigt die Tatsache, dass er sich genötigt erwarten kann – gerade eine Welt, die in ihrem sah, beim Weihnachtsempfang 2014 für die globalisierten Kapitalismus in große Proble- römische Kurie scharfe Kritik zu äußern und me hineintreiben wird und die eine Position der er 15 kuriale Krankheiten attestierte (www. braucht, die die Armen vertritt“, so der Grazer wir-sind-kirche.de/index.php?id=125&id_ Religionssoziologe Rainer Bucher (www.kas. entry=5640). Dieser alarmierende Weckruf galt de/wf/de/33.37082/). Franziskus möchte die und gilt aber nicht nur den leitenden Kurialen, Kirche aber keinesfalls nur als NGO sehen. sondern allen Kardinälen und Bischöfen der Gleich nach seiner Wahl warnte er davor, Gott Weltkirche sowie dem ganzen Kirchenvolk. und die religiöse Dimension aus dem Blick zu Die Unterstützung des Kirchenvolkes hat verlieren, denn sonst „werden wir eine mitlei- Franziskus von Anfang an in großem Maße. dige regierungsunabhängige Organisation“. Pew Research Center (Washington, DC) veröf- Fast wäre Franziskus schon im Konklave fentlichte am 11. Dezember 2014 beeindrucken- 2005 gewählt worden, aber wohl erst nach de Ergebnisse: Eine Umfrage in 43 Ländern dem fast 35-jährigen Doppelpontifikat von Jo- zeigt eine durchschnittliche Zustimmung für hannes Paul II. und Benedikt XVI., das letzterer Papst Franziskus von 60 Prozent und nur 11 schon als Präfekt der Glaubenskongregation 23 Prozent Ablehnung. Besonders hoch sind die Jahre lang wesentlich prägte, wurde nach den Zustimmungsraten in Europa (84 Prozent), FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 49 16.04.2015 13:05:51
50 | Christian Weisner USA (78 Prozent) und Latein-Amerika (72 sich Reformen und der aufgeklärten modernen Prozent) (www.pewglobal.org/2014/12/11/ Welt verweigert, wird nicht überleben. In dieser pope-francis-image-positive-in-much-of-world). Situation hat der Rücktritt von Papst Benedikt Wie stark aber auch die – und nicht nur im Frühjahr 2013 im guten Sinne das Papstamt innerkirchlichen – Gegenströmungen gegen von innen her verändert und die gesamte Hie- Franziskus sind, zeigt das Interview der Ka- rarchiestruktur relativiert. Dieser Rücktritt hat tholischen Nachrichtenagentur mit dem sich das Papstamt entglorifiziert und entmystifiziert als katholischen Schriftsteller bezeichnenden und dem Nachfolger neue Freiheiten und Ent- Martin Mosebach: „Ich will keinen Polit-Papst“ wicklungsmöglichkeiten eröffnet. (www.katholisch.de/de/katholisch/themen/ So wie es im vierten Jahrhundert die Kon- kirche_2/141216_interview_martin_mose- stantinische Wende gab, die das Christentum bach_papst_franziskus.php), veröffentlicht zur Staatskirche mit allen negativen Folgen genau an dessen 78. Geburtstag. Und zu Hei- werden ließ, so könnte der jetzige Pontifikats- ligabend äußert der italienische Schriftsteller wechsel rückblickend einmal im positiven Sinne Vittorio Messori im „Corriere della Sera“ als Franziskanische Wende bezeichnet werden. „Zweifel über die Winkelzüge des Papstes Franziskus“ (www.pro-konzil.de/?p=2229). Die 2 | Erneuerung von der Peripherie – Fran- traditionalistischen KatholikInnen haben sich ziskus’ Erfahrungen aus Lateinamerika mittlerweile vom Schock des Rücktritts von Papst Benedikt und der Wahl von Papst Fran- Gerade noch rechtzeitig zum 50-jährigen Jubilä- ziskus erholt und ihre Sprache wiedergefunden. um des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen Noch weitaus gefährlicher sind die weiterhin Konzils in diesem Jahr (8. Dezember 2015) bestehenden und auch finanzkräftigen Seil- haben also die Kardinäle einen neuen „Bischof schaften des emeritierten Papst Benedikt XVI., von Rom“ gewählt, der das Reformkonzil aus gerade nach Deutschland. einer ganz neuen Perspektive und mit der Er- Der Rücktritt von Papst Benedikt war ein fahrung aus Lateinamerika in den Blick nimmt, historischer Einschnitt. Aber nicht nur sein dem Kontinent, in dem mehr als 40 Prozent der hohes Alter, sondern die fundamentalen Füh- katholischen Weltbevölkerung leben, und auf rungskrisen im Vatikan (Vatileaks, Skandale dem die Visionen des Konzils am intensivsten der Vatikanbank, jahrzehntelang verschleppte umgesetzt worden sind. Aufklärung sexualisierter Gewalt, Verdacht Der Anspruch, dass die Kirche eine Kirche von „Homo-Kooperationen“) haben ihn ab- für die Armen sein muss, und die Notwen- solut notwendig gemacht. Joseph Ratzinger, digkeit von Kirchenstrukturreform gehen bei obwohl seit 1982 zunächst als Glaubenspräfekt Franziskus Hand in Hand. Kardinal Bergoglio und seit 2005 als Papst Benedikt über 30 Jahre hat dies noch vor seiner Wahl in dem nicht ge- lang in höchster Position in Rom, war es nicht heimen Vorkonklave am 9. März 2013 äußerst gelungen, den Vatikan zu führen und das Hof- prägnant formuliert: „Die Kirche ist dazu staat-Gehabe zu beenden, wohl auch, weil er aufgerufen, aus sich selber heraus und an die sich vor allem auf seine Theologie konzentriert Peripherien zu gehen, nicht nur an die geogra- hat. Die weltweite Kirchenkrise, so der welt- phischen, sondern auch an die existentiellen bekannte Theologe Hans Küng im Jahr 2011, Peripherien. [...] Wenn die Kirche nicht aus sich geht weit über die Missbrauchsfälle (dazu etwa selbst herausgeht, um zu evangelisieren, bleibt Robinson 2010) und deren Vertuschung hinaus: sie nur bei sich selbst und wird krank [...]. Die Es handele sich um eine grundlegende System- Missstände, die sich im Laufe der Zeit in den krise. Sein Fazit: Eine Kirche, die weiterhin Institutionen der Kirche gezeigt haben, haben an ihrem Macht- und Wahrheitsmonopol, an ihren Grund in dieser Selbstbezüglichkeit, in ihrer Sexual- und Frauenfeindlichkeit festhält, einer Art theologischem Narzissmus. … Um es FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 50 16.04.2015 13:05:51
Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche? | 51 vereinfacht zu sagen: Es gibt zwei Ansichten aufzuweisen. Und Bergoglio ist Repräsentant von der Kirche: die evangelisierende Kirche, dieser Geschichte. die aus sich herausgeht [...] und die verwelt- Der 1936 in Buenos Aires geborene Jorge lichte Kirche, die in sich, aus sich und für sich Mario Bergoglio trat 1958 dem Jesuitenorden selber lebt. Diese Erkenntnis kann uns die bei, in dem er schon sehr früh Leitungsaufga- Augen öffnen für mögliche Veränderungen ben übernahm. Seine amtskirchliche „Karrie- und Reformen, die notwendig sind.“ (www. re“ begann erst 1998, als er Erzbischof von pro-konzil.de/?p=1697) Buenos Aires und 2001 Kardinal wurde. Er ist Mit dem Satz: „Wie sehr wünschte ich eine ein Vertreter der „Theologie des Volkes“, der arme Kirche für die Armen“ knüpft er am 16. argentinischen Variante der Befreiungstheolo- März 2013 bei der ersten Pressekonferenz nach gie, die der damalige Glaubenspräfekt Kardinal seiner Wahl an das an, was Papst Johannes Joseph Ratzinger und jetzt emeritierte Papst XXIII. vor Beginn des Zweiten Vatikanischen Benedikt jahrzehntelang vehement bekämpft Konzils als seine Vision formuliert hatte. Es ist hat. Kennzeichnend für Bergoglio und sei- eine Vision, die in den darauffolgenden Jahren nen vom Jesuiten Karl Rahner beeinflussten am intensivsten in der lateinamerikanischen theologischen Lehrer Lucio Gera ist, dass Kirche weiterlebte und trotz massivster poli- die Theologie aus der Pastoral erwächst. Als tischer und auch kirchlicher Unterdrückung Vorsitzender der argentinischen Bischofskon- überlebt hat. Diese mühsam erkämpfte und ferenz hat er 2007 das Abschlussdokument der in der Praxis gereifte Vision ist mit Bergoglio fünften Generalversammlung des Lateiname- jetzt „vom Ende der Welt“ in den Vatikan rikanischen Bischofsrates (CELAM) 2007 in zurückgekehrt. Keine andere Kontinentalkir- Aparecida entscheidend mitgestaltet. Norbert che hat eine solche Nach-Konzilsgeschichte Arntz, der diese Versammlung miterlebt hat, FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 51 16.04.2015 13:05:51
52 | Christian Weisner bezeichnet sie als „pastorale Umkehr“ zu einer auf die dogmatische Konstitution Lumen „samaritanischen Kirche“. Gentium des Zweiten Vatikanums und auf die lateinamerikanische Kirche mit ihrer Tradition der Befreiungstheologie und der Option für die 2.1 | Kirche der Märtyrer Armen. „Opción por los pobres“, so Norbert Der Weg der lateinamerikanischen Kirche von Arntz, heißt nicht einfach „für Arme“, sondern den Vorgängertreffen 1968 in Medellín, 1979 „weil es Arme gibt, müssen wir uns ument- in Puebla, 1992 in Santo Domingo bis 2007 scheiden“. Mit den Augen der Armen die Bibel in Aparecida ist von Auseinandersetzungen zu lesen, darum geht es. Ein fundamentaler geprägt. Zu diesem Weg gehören auch viele Perspektivenwechsel. Märtyrer und Märtyrerinnen: Oscar Arnulfo Romero, der als Erzbischof von San Salvador 3 | Rückkehr zum Reformkurs des Zweiten 1980 am Altar von einer Todesschwadron Vatikanischen Konzils erschossen wurde und dessen Seligsprechungs- prozess Franziskus wieder eröffnet hat; der Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 Jesuit Ignacio Ellacuría, Rektor der Univer- bis 1965) schien es, als würde sich die katho- sität von San Salvador, der 1989 mit seinen lische Kirche aus ihrer jahrhundertelangen Gefährten ermordet wurde; und viele andere Verstrickung in die Geschichte von Macht unbekannte Menschen in Lateinamerika, die in und Unterdrückung lösen können. Für viele den 1980er und 1990erJahren nicht ohne Mit- KatholikInnen war dies eine Zeit des Auf- Schuld des Vatikans gefoltert oder umgebracht bruchs, sowohl nach innen als auch nach au- worden sind, wie durch Vatileaks bekannt ßen. Vor allem, wenn man sich vor Augen hält, wurde. Von dieser Geschichte ist Bergoglio dass in dieser Zeit noch viele Militärdiktaturen mitgeprägt. Er selber hat auch immer wieder herrschten und Dialog sowie Partizipation, so Auseinandersetzungen mit dem Vatikan gehabt, wie das Konzil es wollte, selbst in den Zivil- ja selber Zensur erlebt. Das ursprüngliche Ab- gesellschaften noch keineswegs üblich waren. schlusspapier von Aparecida beinhaltete eine Die Erklärungen des Konzils über das starke Kritik auch an kirchlichen Strukturen, Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu vor allem am Klerikalismus; eine Kritik, die in den nichtchristlichen Religionen (Nostra aeta- dem von Rom approbierten Text dann fehlte. te) und über die Religionsfreiheit (Dignitatis Umso vehementer greift Bergoglio, nun selber humanae) haben neue Maßstäbe gesetzt, die in Rom, diese kritischen Positionen immer bis heute wegweisend sind. Die Pastorale Kon- wieder auf. stitution über die Kirche in der Welt von heute In seinem programmatischen Lehrschreiben (Gaudium et spes) umschreibt in ganz neuer „Evangelii Gaudium“ (Die Freude des Evange- Weise die Aufgabe der Kirche als Verkünderin liums, veröffentlicht am 24. November 2013) der frohen Botschaft vom Reich Gottes, das spricht er von einer Kirche im Aufbruch, von den Menschen den Frieden vor Augen stellt, einer missionarischen Kirche, die „sich durch der heute bedrohter ist denn je. Die Dogma- Werke und Gesten in das Alltagsleben der tische Konstitution über die Kirche (Lumen anderen (stellt), die „Distanzen verkürzt“, sich gentium) hat das Bild von Kirche als Volk nötigenfalls bis zur Demütigung erniedrigt“ Gottes geprägt, auf das sich Reformkräfte wie und „das menschliche Leben annimmt, indem die KirchenVolksBewegung zu Recht berufen. sie im Volk mit dem leidenden Leib Christi Die Kirche hätte eine Gemeinschaft aktiver in Berührung kommt“ (EG 24). „Die Armen Partizipation, eine Institution dienender Welt- bleiben die ersten Adressaten des Evangeliums“ solidarität, ein Ort ökumenischer Offenheit (EG 48). Für die von ihm vorgeschlagene Kir- und interreligiöser Toleranz, eine Hüterin der chenreform bezieht er sich auf zwei Quellen: Gewissensfreiheit und eine Verteidigerin des FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 52 16.04.2015 13:05:51
Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche? | 53 Weltfriedens werden können – wenn sie den grundlegender Kulturwechsel, der jetzt endlich Weg des von Johannes XXIII. begonnenen und das umsetzt, was das Zweite Vatikanische nach dessen Tod von Paul VI. zu Ende geführ- Konzil vor 50 Jahren mit der Aussage inten- ten Konzils konsequent weiter gegangen wäre. dierte, „die Gesamtheit der Gläubigen kann Die Erinnerung an das vor 50 Jahren been- im Glauben nicht irren“. Dieser Kulturwechsel dete Konzil führt uns aber auch vor Augen, wie wird auch einen Kurswechsel bringen. Dazu konsequent seine großartigen Reformansätze müssen allerdings das Kirchenvolk und die von Anfang an blockiert und zurückgedrängt theologischen Wissenschaften wieder sehr viel wurden. Der Aufbruch währte nicht lange: stärker aktiv beteiligt werden und auch selber Schon 1978 wurde Johannes Paul II zum Papst die Beteiligung einfordern. gewählt und berief sehr bald Kardinal Joseph So ist es höchste Zeit, dass die Grundlagen Ratzinger zum Präfekten der Glaubenskongre- für die kirchliche Sexuallehre im Einklang gation, der seine stark traditionsverhaftete, ge- mit den modernen Humanwissenschaften radezu „antimodernistische“ Theologie – häufig entwickelt werden. Dies muss und wird auch mit Zwangsmaßnahmen – durchsetzte. Jetzt mit zu einer Rücknahme falscher oder überholter Franziskus besteht die vielleicht letzte Chance, Doktrinen und zu einer Weiterentwicklung dass die vor 50 Jahren durch das Zweite Vati- der Lehre führen. Wichtige Punkte dabei: kanische Konzil eingeleitete epochale Wende eine Rückbesinnung auf den Vorrang des in- fortgesetzt wird. Franziskus bringt die in Latein- dividuellen Gewissens (Kardinal John Henry amerika gereifte und durchlittene Theologie Newman); eine neue und ganzheitliche Sicht und Praxis des Zweiten Vatikanischen Konzils der Sexualität, die zu Fragen von Homosexua- in den Vatikan. In vielem knüpft Franziskus an lität und homosexuellen Partnerschaften einen die politische Linie und die innerkirchlichen angemessenen Zugang eröffnet; im Anschluss Reformprojekte von Paul VI. an. Der hatte die an das Konzil von Trient ein differenziertes Ver- Tiara, Symbol päpstlicher Machtansprüche, ständnis der Ehe als Sakrament. Die Bischöfe endgültig abgelegt. Er schrieb die Sozialenzy- sind gefordert, sich mit bislang tabuisierten klika (Populorum Progressio, 1967) die zum und neueren theologischen Erkenntnissen ersten Mal auf den Nord-Süd-Konflikt hinwies auseinanderzusetzen und deren Umsetzung zu sowie die weltweite Verflechtung der Wirt- fördern. Die katholische Kirche muss die über- schaft und den Stellenwert der Bildung in den holten, teilweise mittelalterlichen Denkmuster Blick nahm. Als erster Papst stattete er 1965 und Sprachformen, die die gegenwärtigen der UNO einen Besuch mit einer beeindru- Kirchenkrisen am Kochen halten, überwinden. ckenden Rede zum Weltfrieden („Nie wieder Von der Idee einer „Kirche der Armen” Krieg!“) ab. Er machte Auslandsreisen zum von Papst Johannes XXIII. inspiriert, haben unverzichtbaren Teil seiner Tätigkeit. Durch am 16. November 1965 – drei Wochen vor seine Begegnungen mit dem Patriarchen von dem Abschluss des Konzils – vierzig Kon- Konstantinopel (1964/65) und durch seinen zilsbischöfe in den Domitilla-Katakomben Besuch in Genf (1967) hat er der Ökumene außerhalb Roms einen Pakt für eine dienende wichtige Impulse gegeben. Ihm verdankt die und arme Kirche verfasst, dem sich rund 500 Kirche eine konsequente Liturgiereform (mit Bischöfe angeschlossen haben (www.wir-sind- Einführung der Muttersprache), die sich bis kirche.de/index.php?id=125&id_entry=2971). heute bewährt hat. Dieser Pakt bekennt sich zu einer unmissver- Nach zwei eher restaurativen Pontifikaten ständlichen Option für die Armen und dazu, unternimmt Franziskus jetzt alles, die Kirche aller Symbole und Privilegien der Macht zu auf den Reformkurs des Konzils zurückzufüh- entsagen. Der „Katakomben-Pakt“, ein sub- ren und Prozesse einzuleiten, die hoffentlich versives Vermächtnis des Konzils, signalisiert nicht mehr gestoppt werden können. Es ist ein zugleich den Beginn der Befreiungstheologie. FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 53 16.04.2015 13:05:51
54 | Christian Weisner Zunächst in Vergessenheit geraten, hat der Ka- Ende 2013. Das Ergebnis war ein ungeschmink- takomben-Pakt mit Papst Franziskus eine neue tes Bild der Lebensrealität der Kirchenbasis, Aktualität gewonnen. Bewusst oder unbewusst kein von den Bischöfen geschöntes. Was hat er sich eine ganze Reihe der damals be- die Kirche „irreguläre oder nicht akzeptierte schlossenen Vereinbarungen zueigen gemacht. Situationen“ nennt, ist eine weit verbreitete Realität in allen Teilen der Welt. Die kirchliche Sexuallehre insgesamt ist weder in Inhalt noch 4 | Franziskus’ Mut zum synodalen Weg in Form verständlich, weil sie den Kontakt mit Man stelle sich vor, ein Weltkonzern, der so der Wirklichkeit des Menschen verloren hat. wie die katholische Kirche in vielfachen Krisen Nur eine verständlichere Verkündigung wird steckt, veröffentlicht auch die negativen Ergeb- nicht ausreichen, da die Kluft durch den Inhalt nisse seiner weltweiten Kundenbefragung, lässt der Lehre selbst begründet ist. dann seine Regionalvertreter vor den Augen Hinter den verschlossenen Türen der Sy- der Weltöffentlichkeit über neue Konzepte noden-Aula muss es hoch her gegangen sein. beraten und fordert auf, binnen Monaten Dort prallten die unterschiedlichen Erfahrun- konkrete Lösungsvorschläge vor Ort zu ent- gen und Positionen aus den verschiedenen wickeln. Genau dies geschieht derzeit in der Teilen der Weltkirche aufeinander. Allein römisch-katholischen Kirche zu den Themen schon die Fragen nach Barmherzigkeit für Evangelisierung, Familie und den so heiklen nach einer Scheidung Wiederverheiratete oder Fragen von Sexualität, Moral und kirchlichem für homosexuelle Paare (die nach geltendem Lehramt mit den Bischofssynoden 2014 und Kirchenrecht vom Empfang der Sakramente 2015, die in einen weltweiten Konsultations- Beichte und Kommunion ausgeschlossen prozess eingebettet sind. sind), lösten kontroverse Diskussionen unter Franziskus hat sich bewusst für diesen Syn- den Kardinälen aus. Nach außen hin gab es odalen Weg entschieden. Statt Entscheidungen aber eine bisher nicht gekannte Transparenz, „von oben“ zu fällen, versucht er, Prozesse die der Autor als beim Presseamt des Vatikans anzustoßen. Dieser Wechsel vom „Verbots-Mo- akkreditierter Journalist miterleben konnte. dus“ in den „Dialog-Modus“ ist gerade in der „Papst Franziskus will, dass das Kirchenvolk katholischen Kirche für viele ungewohnt, ent- Druck ausüben kann auf die Bischöfe und dass spricht aber durchaus der Vision des Zweiten die Bischöfe mehr Mut bekommen, genau Vatikanischen Konzils. In „Evangelii Gaudium“ das zu sagen, was sie aus ihrem Territorium benennt Franziskus ausdrücklich seine vier wissen“, so der Vatikan-Experte Marco Politi. Prinzipien für den Prozesscharakter: „Die Zeit Und sogar Radio Vatikan berichtete über den ist mehr wert als der Raum“, „Die Einheit wiegt Appell von Wir sind Kirche an die deutschen mehr als der Konflikt“, „Die Wirklichkeit ist Bischöfe, sie sollten den Dialog über die wichtiger als die Idee“ und „Das Ganze ist dem Themen der Familien-Synode so offen und Teil übergeordnet“ (EG 222-237). angstfrei wie in Rom jetzt auch in Deutsch- land führen. „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee“ 4.1 | Testfall Familien-Synode (EG 231) ist ein Kerngedanke von Franziskus. Der breite Konsultationsprozess zur Vorberei- Das muss Folgen haben. Doch der Prozess tung der Familien-Synode, den Papst Franziskus charakter der Synode erfordert Geduld und ist einleitete, ist weltweit als Zeichen einer neuen für manche schwer nachzuvollziehen. Kann es Dialogkultur in der Kirche begrüßt worden. so gelingen, einen Prozess der grundlegenden Dazu gehörte – trotz mancher Mängel in der Erneuerung der Pastoral und dort, wo es not- Durchführung – auch die Einbeziehung der Kir- wendig ist, auch der Lehre in Gang zu setzen? chenbasis durch die weltweite Vatikan-Umfrage Franziskus sieht zuallererst die Notwendigkeit FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 54 16.04.2015 13:05:51
Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche? | 55 eines Mentalitätswechsels von allen Katholik- 5 | „Diese Wirtschaft tötet“ – Einsatz für innen und Katholiken weltweit, vor allem aber weltweite Gerechtigkeit bei den Bischöfen, die er als Hirten sieht. „Die organisatorischen und strukturellen Reformen Franziskus’ Worte begeistern Medien und sind sekundär. Die erste Reform muss die der Öffentlichkeit, weil er direkt und offen, ja Einstellung sein. Das Volk Gottes will Hirten geradezu schutzlos auf die Menschen zugeht. und nicht Funktionäre oder Staatskleriker“, Er scheut mit seiner Kapitalismuskritik aber sagte Franziskus im August 2013 im Interview auch nicht die Auseinandersetzung mit den mit Antonio Spadaro SJ für die weltweiten wirtschaftlich und politisch Mächtigen. Wie Jesuitenzeitschriften (www.stimmen-der-zeit. ein roter Faden durchziehen der Skandal der de/zeitschrift/ausgabe/zeitschrift/online_ex- Armut und die Option für die Armen die klusiv/details_html?k_beitrag=3906412). Fran- Stellungnahmen von Franziskus. Vor allem ziskus praktiziert deshalb einen dialogischen sein programmatisches Lehrschreiben „Evan- und spirituellen Leitungsstil, gibt selbst ein gelii Gaudium“ und der darin enthaltene Satz Vorbild des „Guten Hirten“. Doch damit ist „Diese Wirtschaft tötet“, der sich nicht auf die tiefe Kirchenleitungskrise noch lange nicht die Soziale Marktwirtschaft bezog, rief in der überwunden. Um den von Papst Franziskus in bürgerlichen Öffentlichkeit Widerspruch und Gang gesetzten Reformprozess theologisch und Empörung bis hin zum Marxismusvorwurf kirchenpolitisch abzusichern, ist eine noch sehr hervor. Franziskus Worte lassen an Deutlich- viel stärkere Unterstützung durch alle reformbe- keit nichts zu wünschen übrig, entsprechen reiten Kardinäle und Bischöfe, Theologinnen aber der langen Tradition kirchlicher Lehre und Theologen in aller Welt dringend notwen- vom frühen Christentum über die Katholische dig. Denn allein kann Franziskus die geistliche Soziallehre bis hin zu den Aussagen der letzten und strukturelle Erneuerung nicht schaffen, Päpste. Finanz- und Wirtschaftskrise sind für weil es nicht nur im Vatikan starke Widerstände ihn eine anthropologische Krise, eine Krise gegen jegliche Reformansätze gibt. des Menschenbildes. Nicht mehr der Mensch In seinen Ansprachen hat Papst Franziskus ist für den Menschen das höchste Wesen, immer wieder um Mut zur Weite geworben, sondern das Geld ist das höchste Wesen für sich aber auch zur Einheit bekannt. Sein den Menschen: „Die Anbetung des antiken Weg ist der der Inklusion. Nur so ist es wohl goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine nachzuvollziehen, dass die Seligsprechung neue und erbarmungslose Form gefunden im von Papst Paul VI. genau am letzten Tag der Fetischismus des Geldes [ein Begriff, den Karl Synode 2014 erfolgte. Paul VI. ist nicht nur Marx verwendet] und in der Diktatur einer der Papst, der nach dem Tod von Johannes Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich XXIII das Konzil zu Ende geführt und in menschliches Ziel.“ (EG 55). Dem gegenwär- Ansätzen auch umgesetzt hat. Mit der von tigen tödlichen System des Kapitalismus setzt ihm entgegen der großen Mehrheit seiner der Papst ein vierfaches Nein entgegen: Nein eigenen Beratergremien 1968 verkündeten zu einer Wirtschaft der Ausschließung – Nein Enzyklika Humanae vitae haben Papsttum zur neuen Vergötterung des Geldes – Nein zu und kirchliche Sexuallehre für viele bis einem Geld, das regiert, statt zu dienen – Nein heute viel an Glaubwürdigkeit verloren. Die zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervor- weltweite Familien-Synode in Rom wird bringt (EG Nr. 53- 60). also ein Lackmus-Test für die grundsätzliche Eine weitreichende Folgerung aus seiner Erneuerungsbereitschaft und -fähigkeit der Kapitalismuskritik ist die Erkenntnis, dass Aus- römisch-katholischen Kirche sein. Erst nach beutung und ungleiche Verteilung des Reich- der zweiten Bischofssynode im Oktober 2015 tums auf der Welt eine der tiefsten Ursachen ist das Wort des Papstes zu erwarten. der Gewalt darstellen. Franziskus kritisiert eine FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 55 16.04.2015 13:05:51
56 | Christian Weisner Wegwerfgesellschaft, in der nicht nur Lebens- Basisbewegung aus allen Kontinenten: Männer mittel, sondern sogar die Menschen wie Müll und Frauen aus allen Erdteilen, die engagiert behandelt werden. Seine Schlussforderung ist sind in den Bewegungen landloser Bauern, daher unmittelbar einleuchtend: „Solange die ausgeschlossener Arbeitender, VertreterInnen Probleme der Armen nicht von der Wurzel her selbstgeführter Betriebe, von MigrantInnen und gelöst werden, in dem man auf die absolute BewohnerInnen von Elendsvierteln. Seine aufse- Autonomie der Märkte und der Finanzspekula- henerregende Ansprache am 28. Oktober 2014 tion verzichtet und die strukturellen Ursachen war noch weitaus radikaler und bedeutsamer als der Ungleichheiten der Einkünfte in Angriff sein programmatisches Lehrschreiben „Evange- nimmt, werden sich die Probleme der Welt lii Gaudium“ vom 24. November 2013. Manche nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein haben diese Ansprache schon als „spontane Problem gelöst werden.“ (EG 202) Nimmt Enzyklika zu Armut und Umwelt“ gewertet. man den Satz ernst, dann heißt das: Auch „Wir Christen haben etwas sehr Schönes, die Kirche kann ihre eigenen Probleme nicht eine Handlungsanleitung, ein revolutionäres lösen, wenn sie nicht für eine Lösung der ge- Programm, könnte man sagen. Die sozialen nannten Probleme kämpft. Diese Verknüpfung Bewegungen bringen zum Ausdruck, wie drin- müsste die gesamte pastoral-diakonische Praxis gend unsere Demokratien verlebendigt werden der Kirche umkrempeln. Angesichts der zahl- müssen, weil sie oft von unzähligen Faktoren reichen Konflikte rund um den Globus spricht gekidnappt werden. Für die Gesellschaft ist eine er sogar von einem „Weltkrieg in Teilen“. Zukunft nur vorstellbar, wenn die Mehrheit der Das Lehrschreiben enthält neben der Bevölkerung eine aktive bestimmende Rolle radikalen Kapitalismuskritik zwei weitere mitspielt. Eine solch aktive Rolle geht über die Schwerpunkte: Erstens ein Programm der logischen Verfahren einer formalen Demokratie Evangelisierung, d.h. der Verbreitung und weit hinaus. Die Aussicht auf eine Welt mit Umsetzung der Botschaft der Bibel als Beitrag dauerhaftem Frieden und Gerechtigkeit verlangt zur Gestaltung einer menschengerechten Welt. von uns, jeden paternalistischen Assistentialis- Und zweitens Forderungen und Vorschläge zu mus hinter uns zu lassen und neue Formen der einer gründlichen und nachhaltigen Reform Partizipation zu entwickeln, damit die sozialen der kirchlichen Strukturen und ihrer pastora- Bewegungen aktiv mitwirken können. So len, diakonischen und politischen Funktionen, könnte der moralische Energieschub, der aus beginnend beim Vatikan und endend bei den der Eingliederung der Ausgeschlossenen in den Kirchengemeinden in aller Welt. Eine arme Aufbau einer gemeinsamen Zukunft entsteht, Kirche ist jedoch nicht eine Kirche, die im zu Regierungsstrukturen auf lokaler, nationaler Elend steckt, sondern es ist die Kirche, die und internationaler Ebene animieren. Und das einfach mit den einfachen Leuten lebt und in konstruktiv, ohne Groll, mit Liebe.“ (aus der der keine Funktionäre und Staatskleriker das Ansprache vom 28.10.2014, zitiert nach: www. Sagen haben. itpol.de/?p=1491) „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ ist nur ein Beispiel der vielen anschaulichen 5.1 | Wertschätzung sozialer Bewegungen Wortbilder, die Franziskus verwendet, um Franziskus ist der erste Papst, der die Ver- aufzurütteln. Oder „Mir ist eine ,verbeulte‘ antwortlichen von sozialen Bewegungen Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil aus aller Welt zu einem Treffen im Vatikan sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber eingeladen hat. Organisiert vom päpstlichen als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlos- Rat für Gerechtigkeit und Frieden trafen sich senheit und ihrer Bequemlichkeit krank ist.“ Ende Oktober 2014 etwa 200 VertreterInnen Seine erste größere Reise führte ihn am 8. von verschiedensten nicht nur kirchlichen Juli 2013 auf die Flüchtlingsinsel Lampedu- FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 56 16.04.2015 13:05:51
Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche? | 57 sa, wo er der vielen namenlosen im Meer Papst Franziskus immer wieder fordert. Das in Umgekommenen gedachte. Diese Reise war einem langen Konsultationsprozess erarbeitete eine politisch-moralische Unterstützung der erste gemeinsame „Sozialwort“ der deutschen italienischen Marine, die mit ihrer Mission Kirchen 1997 war noch sehr viel deutlicher „Mare Nostrum“ mehr als 150.000 Menschen als so manche aktuelle Stellungnahme einer in einem Jahr aus dem Mittelmehr gerettet „Soziallehre light“. hatte, jedoch zum 1. November 2014 von der finanziell sehr viel schlechter ausgestatteten 6 | Noch zögerlicher „Franziskus-Effekt“ in EU-Grenzschutzagentur Frontex abgelöst wur- Deutschland de. Aber auch das Handeln der eigenen Kirche ist gefragt, wenn Franziskus fordert, dass leer Im deutschen Kirchenvolk und bei den hierzu- stehende Kircheneinrichtungen nicht mehr zu lande zahlreichen kirchlichen Verbänden und Hotels werden sollen. Es hat lange gedauert, gewählten Gremien gibt es eine große Unter- bis z.B. das Bistum Eichstätt auf Drängen der stützung für einen substantiellen Reformkurs dortigen Wir sind Kirche-Gruppe zwar nicht mit Papst Franziskus. Doch insgesamt kommt das überwiegend leer stehende Priesterseminar, die römisch-katholische Kirche in Deutsch- aber eine andere Immobilie für Flüchtlinge zur land bisher nur schwer aus den negativen Verfügung stellte. Schlagzeilen heraus, vor allem seit dem „annus Dass die jüdisch-christliche Botschaft von horribilis“ 2010, in dem die jahrzehntelange Gerechtigkeit ein Einmischen in die „weltli- Vertuschung sexualisierter Gewalt auch in chen Dinge“ rechtfertigt, ja sogar erfordert, Deutschland offenbar wurde (Stichwort: Ca- ist unbestritten. Doch Franziskus bringt die nisius-Kolleg). Trotz verschiedenster Bemühun- Probleme sehr viel kerniger auf den Punkt als gen ist die Kirchen(leitungs)krise hierzulande das drei Monate nach „Evangelii gaudium“ viel weniger bewältigt als im Vatikan. Es sind veröffentlichte ökumenische Sozialwort der nicht aber nur die Altlasten; vielmehr fehlen beiden großen deutschen Kirchen vom 28. hoffnungsvolle Impulse und Aufbrüche, die Februar 2014, das sich wie das kirchliche den Reformgeist von Franziskus endlich auch Begleitheft zur Großen Koalition liest. Es ist in Deutschland spürbar werden lassen. ein Kompromisspapier, viele Aussagen sind zu Der von den deutschen Bischöfen als glattgeschliffen. Die deutschen Kirchenleitun- Antwort auf das „annus horribilis“ und den gen scheuen eine klare Richtungsansage, in der generellen Vertrauensverlust initiierte „Ge- die ethischen und strukturellen Grundlagen sprächsprozess“ ist selbst im fünften Jahr nicht einer lebensdienlichen und zukunftsfähigen über die Phase unverbindlicher Gespräche hin- Ökonomie genannt würden, wie es Papst ausgekommen. Zu viele Bischöfe, die alle noch Franziskus vorgemacht hat. „Würde man die aus der Ära von Johannes Paul II. und Benedikt theologische Option für die Armen so ernst XVI. stammen, sind noch viel zu wenig bereit, nehmen, wie der Papst es tut, dann wären die die jetzt von Rom gewährten Spielräume zu Armen und arm Gemachten, die Arbeitslosen, nutzen und Verantwortung für ihre Ortskirchen die Alleinerziehenden, die prekär Beschäftigten zu übernehmen. Sind sie sich nicht sicher, ob und die Rentner der Maßstab für Gerechtig- die neue Linie im Vatikan wirklich Bestand keit“, so der Marburger Sozialethiker Franz haben wird? Hoffen sie gar, dass es den alten Segbers (www.publik-forum.de/Religion-Kir- vor und hinter den Kulissen agierenden konser- chen/ein-segen-fuer-die-grosse-koalition). Für vativen Seilschaften, die auch weit in die Kirche eine moralische Einordnung der Finanzkrise in Deutschland hineinreichen, doch noch ge- kam dieses Papier um Jahre zu spät, ihm fehlt lingt, den Reformzug wieder zu stoppen? Die die Radikalität eines Umdenkens, einer Aus- katholische Kirche hierzulande hat es wegen richtung auf die Armen der Gesellschaft wie sie des starken „Benedikt-Faktors“ und der finan- FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 57 16.04.2015 13:05:51
58 | Christian Weisner ziellen Saturiertheit der römisch-katholischen katholischen Kirche liegt am Boden, auch ihr Kirche in Deutschland (2013 etwa 5,5 Milli- finanzielles Fundament und ihre Finanzierung arden Euro Kirchensteuer, dazu mehr als 200 stehen auf dem öffentlichen Prüfstand“, meint Millionen sogenannte Staatsleistungen sowie der ehemalige McKinsey-Berater Thomas diverse zweckgebundene Zahlungen) scheinbar von Mitschke-Collande, der selber lange die besonders schwer, dem Kurs von Franziskus zu katholische Kirche beraten hat. „Das Grund- folgen. Etwa ein Drittel der Zuflüsse von den vertrauen in die Institution Kirche ist in ein weltweiten Bischofskonferenzen an den Vatikan Grundmisstrauen umgeschlagen.“ (von Mitsch- kommt aus Deutschland; vom sogenannten ke-Collande 2013) „Peterspfenning“ etwa ein Achtel, den der Papst Offiziell sind Staat und Kirche in Deutsch- aber nur für Spenden ausgeben darf. land voneinander getrennt, aber es gibt in vielem eine gute Zusammenarbeit. Angesichts der recht üppigen Finanzausstattung der Kirche 6.1 | „Fall Limburg“ hat Systemfragen auf ist es für viele aber unverständlich, warum die Tagesordnung gebracht der Staat zur Kirchenfinanzierung beiträgt. Die dramatisch hohe Zahl von 178.805 Kir- Ein freiwilliger Verzicht der Kirche auf die chenaustritten im Jahr 2013, fast so viele wie sogenannten Staatsdotationen (Entschädi- die 181.193 im Krisenjahr 2010, ist nicht allein gungszahlungen seit 1803 als Ausgleich für durch allgemeine religiöse oder gesellschaftli- die Enteignungen in der Napoleonischen Zeit) che Trends zu erklären. Die Kirchenaustritte würde der Glaubwürdigkeit der Kirche gut tun in dem Jahr sind auch eine Reaktion auf die und die zukünftige Sicherstellung der übrigen Ereignisse um den Limburger Bischof Franz-Pe- Finanzierungsformen erleichtern. Ein solcher ter Tebartz-van Elst, den einige Bischöfe und Verzicht ist möglich, finanziell verkraftbar und Kardinäle bis zuletzt deckten. Sein verschwen- unter Gerechtigkeitsaspekten auch geboten, derisches Gehabe und sein bischöflicher so der Mainzer Sozialethiker Gerhard Kruip Leitungsstil haben die schon seit Jahren schwe- (Herder Korrespondenz 2/2014). lende Kirchenleitungskrise in Deutschland noch Dies muss aber keine absolute Trennung einmal sehr verschärft. Viele Katholiken und oder ein striktes Kooperationsverbot bedeuten, Katholikinnen sehen den Austritt aus der Kir- solange es mit einer Gleichbehandlung aller chensteuergemeinschaft dann als letztes Mittel Religionsgemeinschaften und auch von Men- des Protestes. Der „Fall Limburg“ hat die nicht schen ohne religiöses Bekenntnis verbunden nur in diesem Bistum zu stellenden grundsätzli- ist. Grundlage ist das Subsidiaritätsprinzip, bei chen Systemfragen wieder auf die Tagesordnung dem der Staat zivilgesellschaftliche Kräfte ein- gebracht: Bischofsprofil und Bischofsbestellung, bezieht. Große Probleme gibt es jedoch dort, Transparenz und effektive Kontrolle aller Kir- wo die katholische Kirche über ihr Arbeitsrecht chenfinanzen sowie das Zusammenwirken von bestimmte Moralvorstellungen durchzudrücken Staat und Kirche. Was viele bisher nicht wussten: versucht, die inzwischen auch in ihren eigenen Die Bischofsgehälter werden zu 100 % über Reihen höchst umstritten sind und dringend die Länder durch den Staat finanziert und viele korrigiert werden müssen. Die Fälle häufen soziale kirchliche Einrichtungen werden vom sich, dass Beschäftigte der katholischen Kirche Staat bzw. den Sozialkassen zum Teil mit bis zu und ihrer Caritas-Einrichtungen mit Erfolg 100 Prozent finanziert. „Die Ereignisse rund um gegen ihre Kündigung klagen, die bei einem das Bistum Limburg und den dortigen Bischof „Verstoß gegen die kirchliche Grundordnung“ Franz-Peter Tebartz-van Elst werden langfristig (z.B. Wiederheirat nach einer Scheidung) ausge- die katholische Kirche stärker verändern als sprochen wird. Aufgrund der gesetzlichen Vor- das Bekanntwerden des Missbrauchsskandals gaben sind hier jetzt sehr bald Änderungen zu 2010. Nicht nur die Glaubwürdigkeit der erwarten und auch von den Bischöfen zugesagt. FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 58 16.04.2015 13:05:51
Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche? | 59 6.2 | Subsidiaritätsprinzip auch innerhalb 7 | Prozessorientiertes Change Manage- der Kirche ment einer Weltorganisation Immer mehr Menschen entfernen sich in Die römisch-katholische Kirche steht jetzt vor Deutschland von den großen Kirchen. Der einer entscheidenden Weichenstellung. Der demografische Wandel, Priestermangel vor enorme Reformstau und das eklatante Versa- allem in der katholischen Kirche und Skan- gen der Kurie erfordern dringend einen neuen dale verstärken diesen Prozess. Die Kirchen Führungsstil und mehr Dezentralisierung, so reagieren darauf mit Strukturreformen. Viele wie es das nach wie vor wegweisende Zweite Bistümer und Landeskirchen sehen ihr Heil Vatikanische Konzil (1962-65) bestimmt hat. Die darin, den bestehenden Kirchengemeinden römische Kurie hat sich über die Jahrhunderte Pfarrei- und Gemeindefusionen aufzudrängen zu einem absolutistischen Machtblock verfestigt. oder gar aufzuzwingen. Einwendungen und Zuletzt war es wohl vor allem Kardinal Tarcisio Proteste werden ignoriert oder kalt abgewie- Bertone, ein alter Weggefährte von Ratzinger sen. Die Auswirkungen sind dramatisch: Durch und von 2006 bis Oktober 2013 Kardinalstaats- die Beseitigung gerade der dörflichen Kirchen- sekretär und damit zweiter Mann nach Papst Be- gemeinden wird das Vertrauen der Menschen nedikt, der für Skandale und unprofessionelles in die Kirche weiter erschüttert. Die Fusionen Handeln wie z.B. 2009 die Rehabilitierung des beschleunigen die Flucht selbst der Treuen Holocaust-Leugners Bischof Richard Williamson aus der Kirche. Es droht die Auflösung der verantwortlich gemacht wird. Volkskirche in der Fläche. „Amtskirche beseitigt Papst Franziskus setzt auf „Kollegialität“ statt Volkskirche“, so bringt es der Humangeograph auf „päpstlichen Absolutismus“. Bald zwei Jahre Gerhard Henkel auf den Punkt (Süddeutsche nach der Wahl des Argentiniers Bergoglio „vom Zeitung 27.9.2014). Ende der Welt“ zum „Bischof von Rom“ wird der Offenbar fehlt den Kirchenleitungen das Ver- neue Kurs immer deutlicher erkennbar. Innerhalb trauen in die Gläubigen, in deren Kompetenzen der weltweiten römisch-katholischen Kirche ist ein und Kräfte, in die Selbstregulierungskraft der Stimmungsumschwung geschehen, den in dem Gemeinden. Man zentralisiert ohne Rücksicht überlangen Doppelpontifikat der beiden letzten auf erkennbare Verluste. Auch die katholische Päpste niemand für möglich gehalten hat. Aber es Kirche muss künftig mehr Gläubige ohne ist nicht nur der neue und spirituelle Leitungsstil. Priesterweihe, qualifizierte sogenannte „Laien- Franziskus hat zahlreiche Personal- und Organisati- theologInnen“, mit der Gemeindeleitung beauf- onsentscheidungen getroffen, die die Hoffnungen tragen und in die Gemeindearbeit einbinden. auf einen grundlegenden Reformkurs bestärken. Doch wie will man vor allem ehrenamtliche Das Magazin Fortune setzte ihn an die Spitze der MitarbeiterInnen halten und gewinnen, wenn „World’s 50 Greatest Leaders“ (http://fortune. man ihnen zuvor die Gemeinde genommen hat? com/2014/03/20/fortune-ranks-the-worlds-50- Strukturreformen sind auch bei den Kirchen greatest-leaders/). nötig. Sie sollten aber vor allem dazu beitragen, die Gemeinde und das Mitmachen vor Ort 7.1 | Dialog mit Gegenkräften zu stärken. Papst Franziskus’ Kritik an einer selbstbezogenen, bürokratisch verkrusteten Wie zu erwarten war, gibt es nicht nur im Vatikan, Kirche geht in diese Richtung. Auch in den sondern auch bei Bischöfen und traditionalisti- Kirchen muss das Subsidiaritätsprinzip wieder schen Gruppen in aller Welt starke Gegenkräfte der Maßstab sein: mehr Vielfalt, mehr Zutrauen gegen jede Reform, die hinter den Kulissen und Vertrauen in die unteren Entscheidungsebe- agieren, sich aber auch wieder verstärkt zu Wort nen, weniger Bevormundung, weniger zentrale melden. Auffällig ist, wie heftig manche Konser- Lösungen und Vereinheitlichungen. vative, die unter den früheren Päpsten von den FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 59 16.04.2015 13:05:51
60 | Christian Weisner Progressiven „Gehorsam gegenüber dem Papst” wir sie gestalten. Viel mehr Aufmerksamkeit forderten, nun selber Schwierigkeiten haben, als dieses päpstliche Schreiben erhielt drei Franziskus zu folgen. „Zoff in Rom“ titelte die Tage später die Reise von Franziskus zu den ZEIT am 17.7.2014 über das Gespräch mit dem Flüchtlingen auf Lampedusa, über die Bernd Gründer und langjährigen Chefredakteur der ita- Hagenkord von Radio Vatikan sagt: „Das ist lienischen Tageszeitung »La Repubblica«, Eugenio Enzyklika auf zwei Beinen.“ Scalfari, das dieser mit Franziskus über die The- Angesichts der schwerwiegenden und men Pädophilie und Zölibat geführt hatte. Den vielfachen Krisen und Fehlentscheidungen am 24. 12. 2014 veröffentlichten Artikel „Zweifel der Kirchenleitung war die schon nach kurzer über die Winkelzüge von Papst Franziskus“ des Zeit erfolgte Einberufung internationaler italienischen Schriftstellers Vittorio Messori Beratergremien ein wichtiger Schritt eines werten manche schon als Frontalangriff auf den neuen kollegialen Leitungsstils. So wurden Papst (www.pro-konzil.de/?p=2229). Franziskus zum Beispiel acht Kardinäle aus allen Konti- versetzt einen Teil der Hierarchie in Unruhe, so nenten damit beauftragt, Vorschläge für eine der Vatikanist Marco Politi am 6.1.2015 (Il Fatto Kurienreform zu erarbeiten – unter ihnen der quottidiano). Münchner Kardinal Reinhard Marx, damals Aber der Jesuit Franziskus mit seiner Jahr- bereits Präsident der Kommission der Bischofs- zehnte langen Führungserfahrung (vgl. Vallely konferenzen der Europäischen Gemeinschaft, 2014) auch in der außerordentlich schwieri- der damit eine große Mitverantwortung trägt, gen Situation der argentinischen Militärjunta ob der Reformkurs von Franziskus greifen scheint diese Reaktionen bereits einkalkuliert wird. Die bisherigen Beratungen machen je- zu haben. Bei der Familien-Synode schuf er den doch deutlich, wie schwierig eine Kurienreform Rahmen für eine offene Debatte: „Sprecht mit ist, an der sich zuletzt Papst Paul VI. versucht Freimut und hört mit Demut“, eine Dialogkul- hatte. Arbeitsabläufe und Zuständigkeiten der tur, die nicht nur in der katholischen Kirche Kurie sind eingefahren und äußerst komplex. selten ist. Zeit ist wichtiger als Raum, wie es Nicht zu unterschätzen scheinen Beharrungs- in dem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ vermögen und Besitzstandswahrung mancher heißt. Statt schneller Entscheidungen und Mitarbeiter zu sein. Von einem Abschluss ist Kampfabstimmungen will er die Einleitung von man noch weit entfernt. Prozessen, die zu weitestgehend konsensorien- Besonders diffizile Handlungsfelder sind die tierten Ergebnissen führen sollen. Intensivierung des von Papst Benedikt erst sehr Die erste Enzyklika „Licht des Glaubens“ spät begonnenen Kampfes gegen pädophile von Papst Franziskus war ein Dokument des Verbrechen durch Kleriker, den Franziskus Prozesses und des schwierigen Übergangs, ein verstärkt fortsetzt, der für viele ehemalige Kompromiss zwischen Kontinuität und Neu- Betroffene aber immer noch unzureichend ist. aufbruch. Die ersten Kapitel dieses „mit vier Und natürlich die Transparenz bei der umstrit- Händen geschriebenen Lehrschreibens“ sind tenen Vatikanbank und den undurchsichtigen noch ganz von Benedikt geprägt. Kapitel IV. Vatikanfinanzen. Kardinal Marx hat auch hier, und V. aber tragen die Handschrift von Papst zusammen mit dem australischen Kardinal Ge- Franziskus. Er stellt das Licht des Glaubens orge Pell, höchst verantwortungsvolle Aufgaben unter das Maß der Liebe sowie in den konkre- übertragen bekommen, die nicht nur in aller ten Dienst der Gerechtigkeit, des Rechts und Heimlichkeit erledigt werden dürfen. des Friedens. Franziskus greift zwei wichtige Metaphern auf: Weg und Stadt. Gott baut uns 7.2 | Neue Kultur und neue Struktur eine Stadt, auf die wir uns hinbewegen, aber nicht indem wir diese Welt verlassen und ein Denn die begonnene Kurienreform sollte nicht kirchliches Eigenleben führen, sondern indem zum Ziel haben, nur die Machtzentrale Vatikan FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 60 16.04.2015 13:05:52
Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche? | 61 wieder handlungsfähig zu machen und zu erheblichen Handlungsbedarf aufgezeigt. Wa- stärken, sondern muss endlich den einzelnen rum kann z.B. die Glaubenskongregation nicht Bistümern in ihren Kulturkreisen mehr Eigen- von einer Theologin geleitet werden? verantwortung („Subsidiarität“) zugestehen, so Statt alle Entscheidungsbefugnisse dem wie es das Konzil wollte. Die Kurienreform Papst als absolutem Monarchen allein vorzu- ist für Franziskus nicht nur das Ergebnis von behalten, sollten – allein schon von der Größe Verwaltungsreformen und die Änderung von und Komplexität der weltweiten Glaubensge- hinfällig gewordenen, veralteten Strukturen, meinschaft her – die Entscheidungen zuvor sondern Ergebnis einer lebendigen Neuorien- in einem regelmäßig und häufig tagenden tierung an den Grundsätzen des Evangeliums. „Kabinett“ diskutiert und vorbereitet werden. Wichtig ist deshalb, nicht nur die Effektivität Hierzu liegen bereits sehr konkrete Vorschläge der Kurie zu erhöhen, sondern dass ein Geist des amerikanischen Jesuiten Thomas Reese der Transparenz, einer kollegialen Pluralität oder des deutschen Politikwissenschaftlers und demokratischen Grundlegung wirksam Hans Maier vor. wird. Frauen, die mehr als die Hälfte der Die gesamte Leitung der Kirche wird we- Kirchenmitglieder ausmachen, sind bis jetzt gen der Globalisierung und der weltweit sehr in der höchsten Kirchenleitung gar nicht ver- unterschiedlichen Formen des Katholizismus treten oder beteiligt. Neue Kommunikations- in Zukunft mehr Teamarbeit erfordern. Die und Leitungsstrukturen sind zu entwickeln, Weltbischofssynoden könnten im Sinn des die wieder dem Anspruch der Botschaft des Zweiten Vatikanums zu einer Art „Parlament“ Evangeliums wie auch den Erfordernissen einer mit Entscheidungsbefugnis ausgebaut werden. weltweit verzweigten Glaubensgemeinschaft Für die dringend notwendige Wiederherstel- in den verschiedensten Kulturräumen gerecht lung der Glaubwürdigkeit der Kirchenleitungen werden. Bei allem Respekt vor Tradition und ist ein Verhaltenskodex (Compliance) zu for- Kontinuität geht es um eine grundlegend neue mulieren, der auch eine Rechenschaftspflicht Kultur und Struktur, die – im Sinne des Zwei- der Bischöfe usw. gegenüber den Kirchenbür- ten Vatikanischen Konzils, der nach wie vor gerinnen und Kirchenbürgern enthalten muss. geltenden Richtschnur – durch die Kernbegriffe Dialog, Communio, Reform und Öffnung 7.3 | Verantwortung der Ortskirchen geprägt sein müssen: Das von der katholischen Kirche für die Das Zweite Vatikanische Konzil hat auf Politik formulierte Prinzip der Subsidiarität, Kollegialität gesetzt und den Bischöfen eine das übergeordnete Regelungen nur für die wesentliche Verantwortung für die Kirchenlei- Bereiche zulässt, die eine lokale Einheit nicht tung zuerkannt. Jetzt geht es darum, dass die selber regeln kann, ist in gleicher Weise und Bischöfe in aller Welt – zusammen mit allen auf allen Ebenen innerhalb der römisch-katho- Getauften – bereit sind, die ihnen zustehende lischen Kirche anzuwenden. Verantwortung für ihre Ortskirchen und für die Wenn die katholische Kirche eine Weltkir- Weltkirche wieder voll wahrzunehmen. Subsi- che sein will, muss dies auch in den Entschei- diarität darf nicht nur von der Gesellschaft dungsprozessen und bei Personalbesetzungen und vom Staat gefordert, sondern muss auch zum Ausdruck kommen. Warum können in der Kirche selbst gelebt werden. Nur dann einzelnen Kongregationen nicht in andere Kon- wird es gelingen, auch alle weiteren dringend tinente ausgelagert werden, wie der in Brasilien anstehenden Reformmaßnahmen anzugehen. wirkende Leonardo Boff es vorschlägt? Der brasilianische Bischof Dom Helder Ca- Gleichberechtigte Stellung der Frauen als mara (1909-1999) sagte schon kurz nach dem Kirchenbürgerinnen auf allen Ebenen. Papst Konzil: „Wenn die Kirche nicht den Mut hat, Franziskus selber hat in diesem Bereich noch ihre eigenen Strukturen zu reformieren, wird FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015 NSB_1_2015.indd 61 16.04.2015 13:05:52
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