Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche?

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            Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche?
            Christian Weisner

            Sind wir ZeugInnen eines fundamentalen                  kirchlichen Skandalen zu ersticken und auf den
            Paradigmenwechsels in der mit 2000 Jahren               Felsen der geschichtlichen Bedeutungslosigkeit
            wohl ältesten Organisation Europas? Folgt die           aufzulaufen? Welche Auswirkungen werden
            römisch-katholische Kirche mit Papst Franzis-           die dynamischen Entwicklungen in Rom
            kus jetzt endlich dem Kurs des Reformkonzils,           nicht nur auf die Kirchen in Deutschland und
            dessen 50-jähriges Jubiläum in diesem Jahren            in aller Welt, sondern möglicherweise auch
            begangen wird? Welche Auswirkungen weit                 auf die weltweiten politischen und sozialen
            über den binnenkirchlichen Raum hinaus                  Konflikte haben? Und: Braucht es unter dem
            sind zu erwarten und zu erhoffen? Es folgt              Reformpapst jetzt überhaupt noch kirchliche
            der Versuch einer Einschätzung des Umbaus               Reformbewegungen wie z.B. die KirchenVolks-
            des 2000-jährigen Kirchenschiffes – mitten im           Bewegung Wir sind Kirche?
            Sturm auf hoher See, mit einem Wechsel des
            Kapitäns und Aufnahme eines neuen Zielkurses
                                                                    1.1 | Franziskanischer Anspruch
            – aus der Sicht der katholischen Reformbewe-
            gung Wir sind Kirche.                                   Der argentinische Jesuit Jorge Mario Bergoglio
                                                                    ist der erste Papst, der es wagte, sich nach dem
                                                                    heiligen Franz von Assisi (1181/1182-1226)
            1 | Was ist los in der römisch-katholischen
                                                                    zu nennen, der Bettelmönch und Kirchenre-
                Kirche?
                                                                    former in einem war. Bergoglio ist ein Jesuit,
            Es scheint Bewegung zu kommen in die wohl               der sich schon vor seinem ersten öffentlichen
            älteste Institution Europas, die gemeinhin als          Auftreten als „Bischof von Rom“ mit dem
            unbeweglich und weltfern gilt, aber auch als            Vatikan anlegte, als er die herkömmlichen
            Hort von Tradition, Werten und Wahrheit. Für            Insignien klerikaler Macht verweigerte; der
            viele ist die römisch-katholische Kirche, die sich      am Gründonnerstag zwei Frauen in einem
            als klerikale Wahlmonarchie versteht, immer             Gefängnis die Füße wusch, in Lampedusa das
            noch ein Synonym für Rückwärtsgewandtheit,              Flüchtlingselend anprangerte und die Verant-
            für Ignorieren oder gar Bekämpfen des „Zeit-            wortlichen von sozialen Bewegungen aus aller
            geistes“, ein autoritäres und absolutistisches          Welt in den Vatikan eingeladen hat. Und: Die
            weltweites Machtgefüge mit einer unabänder-             Tatsache, dass nach fast 800 Jahren erstmals
            lichen Glaubensdoktrin, die im Kirchenrecht             wieder ein Nichteuropäer Papst wurde, lässt
            festgeschrieben ist.                                    hoffen, dass der katholische Eurozentrismus
                Bringt nun der am 13. März 2013 gewählte            konsequent abgebaut wird, und signalisiert
            Papst Franziskus „vom Ende der Welt“ mit                die Vision von einer Kirche, die für Gerechtig-
            gewagten Manövern das Kirchenschiff zum                 keit im Weltmaßstab steht. Dazu kommt sein
            Kentern oder Auseinanderbrechen? Wird jetzt             bescheidenes Auftreten, das auf eine Entschla-
            die größte christliche Kirche mit 1,2 Milliarden        ckung des römischen Hofstaats hoffen lässt.
            Gläubigen etwa zur weltgrößten NGO? Oder                    Kommentatoren sprachen sogleich von
            bewahrt Franziskus mit großer Geschicklichkeit          einer „epochalen Wahl“. Das amerikanische
            die katholische Weltkirche davor, an den inner-         Nachrichtenmagazin „Time“ erklärte Papst

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         Franziskus zur „Person des Jahres 2013“            Aufdeckungen von Vatileaks den wählenden
         (http://poy.time.com/2013/12/11/pope-              Kardinälen die Notwendigkeit eines Kurswech-
         francis-the-choice/). In nur neun Monaten im       sels deutlich.
         Amt habe sich der neue Papst „ins Zentrum
         der wichtigsten Debatten unserer Zeit“ ge-
                                                            1.2 | Formierter Widerstand
         setzt: um „Wohlstand und Armut, Fairness
         und Gerechtigkeit, Transparenz, Modernität,        Die Erwartungen an Franziskus, den neuen
         Globalisierung, die Rolle von Frauen, die Natur    Bischof von Rom, sind riesengroß, aber der
         der Ehe und die Versuchungen der Macht“.           Jesuit ist durchaus als kämpferisch und durch-
         Er habe die Kraft, die Welt zu verändern. Das      setzungsfähig einzuschätzen. Entscheidend
         Musikmagazin „Rolling Stone“ nahm ihn aufs         wird sein, ob es ihm gelingt, die römische Kurie
         Cover, zusammen mit Bob Dylans Songtitel:          zu reformieren, die sich über die Jahrhunderte
         „The times they are a-changin’“ (www.rollings-     zu einem absolutistischen Machtblock verfes-
         tone.de/news/meldungen/article530419/der-          tigt hat, und damit die Glaubwürdigkeit der
         papst-auf-dem-cover-des-us-rolling-stone.html).    Kirchenleitung wiederherzustellen. Franziskus
             Schon als argentinischer Bischof wurde er      gilt allerdings auch als Wert-Konservativer
         als Anwalt der Armen bezeichnet und weckt          und so manche warnen, dass von ihm keine
         jetzt international Hoffnungen auf mehr soziale    schnellen Reformen in der Frauenfrage und
         Gerechtigkeit und ein friedlicheres Miteinander    der Sexuallehre zu erwarten sind; aber auf
         der Religionen. Sein Namenspatron hat sich         jeden Fall habe er eine größere Bereitschaft
         immerhin auch um eine friedliche Lösung            zum Zuhören und auch zum Lernen. Eine
         mit dem Islam bemüht. Zugleich wächst die          Aufhebung der Zölibatspflicht für katholische
         Erwartung, dass es mit ihm auch innerhalb der      Priester scheint für ihn nicht ausgeschlossen.
         Kirche Aufbruch und Erneuerung geben wird.         Die Tür zum Priesteramt für Frauen sieht er
         Mit seinen Worten von einer „barmherzigen          als verschlossen an – aber immerhin spricht er
         Kirche“ hat Franziskus bei vielen Menschen         von einer Tür, für die die Theologie ja einen
         die Hoffnung auf eine weniger dogmatische          Schlüssel finden kann.
         Auslegung bei ethisch und moralisch schwie-            Wie stark die Widerstände gegen jede Art
         rigen Fragen unserer Zeit geweckt.                 von Reform innerhalb des Vatikans selber
             „Ich glaube, dass die Welt viel von ihm        sind, zeigt die Tatsache, dass er sich genötigt
         erwarten kann – gerade eine Welt, die in ihrem     sah, beim Weihnachtsempfang 2014 für die
         globalisierten Kapitalismus in große Proble-       römische Kurie scharfe Kritik zu äußern und
         me hineintreiben wird und die eine Position        der er 15 kuriale Krankheiten attestierte (www.
         braucht, die die Armen vertritt“, so der Grazer    wir-sind-kirche.de/index.php?id=125&id_
         Religionssoziologe Rainer Bucher (www.kas.         entry=5640). Dieser alarmierende Weckruf galt
         de/wf/de/33.37082/). Franziskus möchte die         und gilt aber nicht nur den leitenden Kurialen,
         Kirche aber keinesfalls nur als NGO sehen.         sondern allen Kardinälen und Bischöfen der
         Gleich nach seiner Wahl warnte er davor, Gott      Weltkirche sowie dem ganzen Kirchenvolk.
         und die religiöse Dimension aus dem Blick zu           Die Unterstützung des Kirchenvolkes hat
         verlieren, denn sonst „werden wir eine mitlei-     Franziskus von Anfang an in großem Maße.
         dige regierungsunabhängige Organisation“.          Pew Research Center (Washington, DC) veröf-
             Fast wäre Franziskus schon im Konklave         fentlichte am 11. Dezember 2014 beeindrucken-
         2005 gewählt worden, aber wohl erst nach           de Ergebnisse: Eine Umfrage in 43 Ländern
         dem fast 35-jährigen Doppelpontifikat von Jo-      zeigt eine durchschnittliche Zustimmung für
         hannes Paul II. und Benedikt XVI., das letzterer   Papst Franziskus von 60 Prozent und nur 11
         schon als Präfekt der Glaubenskongregation 23      Prozent Ablehnung. Besonders hoch sind die
         Jahre lang wesentlich prägte, wurde nach den       Zustimmungsraten in Europa (84 Prozent),

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            USA (78 Prozent) und Latein-Amerika (72                 sich Reformen und der aufgeklärten modernen
            Prozent) (www.pewglobal.org/2014/12/11/                 Welt verweigert, wird nicht überleben. In dieser
            pope-francis-image-positive-in-much-of-world).          Situation hat der Rücktritt von Papst Benedikt
                Wie stark aber auch die – und nicht nur             im Frühjahr 2013 im guten Sinne das Papstamt
            innerkirchlichen – Gegenströmungen gegen                von innen her verändert und die gesamte Hie-
            Franziskus sind, zeigt das Interview der Ka-            rarchiestruktur relativiert. Dieser Rücktritt hat
            tholischen Nachrichtenagentur mit dem sich              das Papstamt entglorifiziert und entmystifiziert
            als katholischen Schriftsteller bezeichnenden           und dem Nachfolger neue Freiheiten und Ent-
            Martin Mosebach: „Ich will keinen Polit-Papst“          wicklungsmöglichkeiten eröffnet.
            (www.katholisch.de/de/katholisch/themen/                    So wie es im vierten Jahrhundert die Kon-
            kirche_2/141216_interview_martin_mose-                  stantinische Wende gab, die das Christentum
            bach_papst_franziskus.php), veröffentlicht              zur Staatskirche mit allen negativen Folgen
            genau an dessen 78. Geburtstag. Und zu Hei-             werden ließ, so könnte der jetzige Pontifikats-
            ligabend äußert der italienische Schriftsteller         wechsel rückblickend einmal im positiven Sinne
            Vittorio Messori im „Corriere della Sera“               als Franziskanische Wende bezeichnet werden.
            „Zweifel über die Winkelzüge des Papstes
            Franziskus“ (www.pro-konzil.de/?p=2229). Die
                                                                    2 | Erneuerung von der Peripherie – Fran-
            traditionalistischen KatholikInnen haben sich
                                                                        ziskus’ Erfahrungen aus Lateinamerika
            mittlerweile vom Schock des Rücktritts von
            Papst Benedikt und der Wahl von Papst Fran-             Gerade noch rechtzeitig zum 50-jährigen Jubilä-
            ziskus erholt und ihre Sprache wiedergefunden.          um des Abschlusses des Zweiten Vatikanischen
            Noch weitaus gefährlicher sind die weiterhin            Konzils in diesem Jahr (8. Dezember 2015)
            bestehenden und auch finanzkräftigen Seil-              haben also die Kardinäle einen neuen „Bischof
            schaften des emeritierten Papst Benedikt XVI.,          von Rom“ gewählt, der das Reformkonzil aus
            gerade nach Deutschland.                                einer ganz neuen Perspektive und mit der Er-
                Der Rücktritt von Papst Benedikt war ein            fahrung aus Lateinamerika in den Blick nimmt,
            historischer Einschnitt. Aber nicht nur sein            dem Kontinent, in dem mehr als 40 Prozent der
            hohes Alter, sondern die fundamentalen Füh-             katholischen Weltbevölkerung leben, und auf
            rungskrisen im Vatikan (Vatileaks, Skandale             dem die Visionen des Konzils am intensivsten
            der Vatikanbank, jahrzehntelang verschleppte            umgesetzt worden sind.
            Aufklärung sexualisierter Gewalt, Verdacht                  Der Anspruch, dass die Kirche eine Kirche
            von „Homo-Kooperationen“) haben ihn ab-                 für die Armen sein muss, und die Notwen-
            solut notwendig gemacht. Joseph Ratzinger,              digkeit von Kirchenstrukturreform gehen bei
            obwohl seit 1982 zunächst als Glaubenspräfekt           Franziskus Hand in Hand. Kardinal Bergoglio
            und seit 2005 als Papst Benedikt über 30 Jahre          hat dies noch vor seiner Wahl in dem nicht ge-
            lang in höchster Position in Rom, war es nicht          heimen Vorkonklave am 9. März 2013 äußerst
            gelungen, den Vatikan zu führen und das Hof-            prägnant formuliert: „Die Kirche ist dazu
            staat-Gehabe zu beenden, wohl auch, weil er             aufgerufen, aus sich selber heraus und an die
            sich vor allem auf seine Theologie konzentriert         Peripherien zu gehen, nicht nur an die geogra-
            hat. Die weltweite Kirchenkrise, so der welt-           phischen, sondern auch an die existentiellen
            bekannte Theologe Hans Küng im Jahr 2011,               Peripherien. [...] Wenn die Kirche nicht aus sich
            geht weit über die Missbrauchsfälle (dazu etwa          selbst herausgeht, um zu evangelisieren, bleibt
            Robinson 2010) und deren Vertuschung hinaus:            sie nur bei sich selbst und wird krank [...]. Die
            Es handele sich um eine grundlegende System-            Missstände, die sich im Laufe der Zeit in den
            krise. Sein Fazit: Eine Kirche, die weiterhin           Institutionen der Kirche gezeigt haben, haben
            an ihrem Macht- und Wahrheitsmonopol, an                ihren Grund in dieser Selbstbezüglichkeit, in
            ihrer Sexual- und Frauenfeindlichkeit festhält,         einer Art theologischem Narzissmus. … Um es

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Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche?                                                   | 51

         vereinfacht zu sagen: Es gibt zwei Ansichten        aufzuweisen. Und Bergoglio ist Repräsentant
         von der Kirche: die evangelisierende Kirche,        dieser Geschichte.
         die aus sich herausgeht [...] und die verwelt-          Der 1936 in Buenos Aires geborene Jorge
         lichte Kirche, die in sich, aus sich und für sich   Mario Bergoglio trat 1958 dem Jesuitenorden
         selber lebt. Diese Erkenntnis kann uns die          bei, in dem er schon sehr früh Leitungsaufga-
         Augen öffnen für mögliche Veränderungen             ben übernahm. Seine amtskirchliche „Karrie-
         und Reformen, die notwendig sind.“ (www.            re“ begann erst 1998, als er Erzbischof von
         pro-konzil.de/?p=1697)                              Buenos Aires und 2001 Kardinal wurde. Er ist
             Mit dem Satz: „Wie sehr wünschte ich eine       ein Vertreter der „Theologie des Volkes“, der
         arme Kirche für die Armen“ knüpft er am 16.         argentinischen Variante der Befreiungstheolo-
         März 2013 bei der ersten Pressekonferenz nach       gie, die der damalige Glaubenspräfekt Kardinal
         seiner Wahl an das an, was Papst Johannes           Joseph Ratzinger und jetzt emeritierte Papst
         XXIII. vor Beginn des Zweiten Vatikanischen         Benedikt jahrzehntelang vehement bekämpft
         Konzils als seine Vision formuliert hatte. Es ist   hat. Kennzeichnend für Bergoglio und sei-
         eine Vision, die in den darauffolgenden Jahren      nen vom Jesuiten Karl Rahner beeinflussten
         am intensivsten in der lateinamerikanischen         theologischen Lehrer Lucio Gera ist, dass
         Kirche weiterlebte und trotz massivster poli-       die Theologie aus der Pastoral erwächst. Als
         tischer und auch kirchlicher Unterdrückung          Vorsitzender der argentinischen Bischofskon-
         überlebt hat. Diese mühsam erkämpfte und            ferenz hat er 2007 das Abschlussdokument der
         in der Praxis gereifte Vision ist mit Bergoglio     fünften Generalversammlung des Lateiname-
         jetzt „vom Ende der Welt“ in den Vatikan            rikanischen Bischofsrates (CELAM) 2007 in
         zurückgekehrt. Keine andere Kontinentalkir-         Aparecida entscheidend mitgestaltet. Norbert
         che hat eine solche Nach-Konzilsgeschichte          Arntz, der diese Versammlung miterlebt hat,

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            bezeichnet sie als „pastorale Umkehr“ zu einer          auf die dogmatische Konstitution Lumen
            „samaritanischen Kirche“.                               Gentium des Zweiten Vatikanums und auf die
                                                                    lateinamerikanische Kirche mit ihrer Tradition
                                                                    der Befreiungstheologie und der Option für die
            2.1 | Kirche der Märtyrer
                                                                    Armen. „Opción por los pobres“, so Norbert
            Der Weg der lateinamerikanischen Kirche von             Arntz, heißt nicht einfach „für Arme“, sondern
            den Vorgängertreffen 1968 in Medellín, 1979             „weil es Arme gibt, müssen wir uns ument-
            in Puebla, 1992 in Santo Domingo bis 2007               scheiden“. Mit den Augen der Armen die Bibel
            in Aparecida ist von Auseinandersetzungen               zu lesen, darum geht es. Ein fundamentaler
            geprägt. Zu diesem Weg gehören auch viele               Perspektivenwechsel.
            Märtyrer und Märtyrerinnen: Oscar Arnulfo
            Romero, der als Erzbischof von San Salvador
                                                                    3 | Rückkehr zum Reformkurs des Zweiten
            1980 am Altar von einer Todesschwadron
                                                                        Vatikanischen Konzils
            erschossen wurde und dessen Seligsprechungs-
            prozess Franziskus wieder eröffnet hat; der             Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962
            Jesuit Ignacio Ellacuría, Rektor der Univer-            bis 1965) schien es, als würde sich die katho-
            sität von San Salvador, der 1989 mit seinen             lische Kirche aus ihrer jahrhundertelangen
            Gefährten ermordet wurde; und viele andere              Verstrickung in die Geschichte von Macht
            unbekannte Menschen in Lateinamerika, die in            und Unterdrückung lösen können. Für viele
            den 1980er und 1990erJahren nicht ohne Mit-             KatholikInnen war dies eine Zeit des Auf-
            Schuld des Vatikans gefoltert oder umgebracht           bruchs, sowohl nach innen als auch nach au-
            worden sind, wie durch Vatileaks bekannt                ßen. Vor allem, wenn man sich vor Augen hält,
            wurde. Von dieser Geschichte ist Bergoglio              dass in dieser Zeit noch viele Militärdiktaturen
            mitgeprägt. Er selber hat auch immer wieder             herrschten und Dialog sowie Partizipation, so
            Auseinandersetzungen mit dem Vatikan gehabt,            wie das Konzil es wollte, selbst in den Zivil-
            ja selber Zensur erlebt. Das ursprüngliche Ab-          gesellschaften noch keineswegs üblich waren.
            schlusspapier von Aparecida beinhaltete eine                Die Erklärungen des Konzils über das
            starke Kritik auch an kirchlichen Strukturen,           Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zu
            vor allem am Klerikalismus; eine Kritik, die in         den nichtchristlichen Religionen (Nostra aeta-
            dem von Rom approbierten Text dann fehlte.              te) und über die Religionsfreiheit (Dignitatis
            Umso vehementer greift Bergoglio, nun selber            humanae) haben neue Maßstäbe gesetzt, die
            in Rom, diese kritischen Positionen immer               bis heute wegweisend sind. Die Pastorale Kon-
            wieder auf.                                             stitution über die Kirche in der Welt von heute
                In seinem programmatischen Lehrschreiben            (Gaudium et spes) umschreibt in ganz neuer
            „Evangelii Gaudium“ (Die Freude des Evange-             Weise die Aufgabe der Kirche als Verkünderin
            liums, veröffentlicht am 24. November 2013)             der frohen Botschaft vom Reich Gottes, das
            spricht er von einer Kirche im Aufbruch, von            den Menschen den Frieden vor Augen stellt,
            einer missionarischen Kirche, die „sich durch           der heute bedrohter ist denn je. Die Dogma-
            Werke und Gesten in das Alltagsleben der                tische Konstitution über die Kirche (Lumen
            anderen (stellt), die „Distanzen verkürzt“, sich        gentium) hat das Bild von Kirche als Volk
            nötigenfalls bis zur Demütigung erniedrigt“             Gottes geprägt, auf das sich Reformkräfte wie
            und „das menschliche Leben annimmt, indem               die KirchenVolksBewegung zu Recht berufen.
            sie im Volk mit dem leidenden Leib Christi              Die Kirche hätte eine Gemeinschaft aktiver
            in Berührung kommt“ (EG 24). „Die Armen                 Partizipation, eine Institution dienender Welt-
            bleiben die ersten Adressaten des Evangeliums“          solidarität, ein Ort ökumenischer Offenheit
            (EG 48). Für die von ihm vorgeschlagene Kir-            und interreligiöser Toleranz, eine Hüterin der
            chenreform bezieht er sich auf zwei Quellen:            Gewissensfreiheit und eine Verteidigerin des

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Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche?                                                   | 53

         Weltfriedens werden können – wenn sie den            grundlegender Kulturwechsel, der jetzt endlich
         Weg des von Johannes XXIII. begonnenen und           das umsetzt, was das Zweite Vatikanische
         nach dessen Tod von Paul VI. zu Ende geführ-         Konzil vor 50 Jahren mit der Aussage inten-
         ten Konzils konsequent weiter gegangen wäre.         dierte, „die Gesamtheit der Gläubigen kann
             Die Erinnerung an das vor 50 Jahren been-        im Glauben nicht irren“. Dieser Kulturwechsel
         dete Konzil führt uns aber auch vor Augen, wie       wird auch einen Kurswechsel bringen. Dazu
         konsequent seine großartigen Reformansätze           müssen allerdings das Kirchenvolk und die
         von Anfang an blockiert und zurückgedrängt           theologischen Wissenschaften wieder sehr viel
         wurden. Der Aufbruch währte nicht lange:             stärker aktiv beteiligt werden und auch selber
         Schon 1978 wurde Johannes Paul II zum Papst          die Beteiligung einfordern.
         gewählt und berief sehr bald Kardinal Joseph             So ist es höchste Zeit, dass die Grundlagen
         Ratzinger zum Präfekten der Glaubenskongre-          für die kirchliche Sexuallehre im Einklang
         gation, der seine stark traditionsverhaftete, ge-    mit den modernen Humanwissenschaften
         radezu „antimodernistische“ Theologie – häufig       entwickelt werden. Dies muss und wird auch
         mit Zwangsmaßnahmen – durchsetzte. Jetzt mit         zu einer Rücknahme falscher oder überholter
         Franziskus besteht die vielleicht letzte Chance,     Doktrinen und zu einer Weiterentwicklung
         dass die vor 50 Jahren durch das Zweite Vati-        der Lehre führen. Wichtige Punkte dabei:
         kanische Konzil eingeleitete epochale Wende          eine Rückbesinnung auf den Vorrang des in-
         fortgesetzt wird. Franziskus bringt die in Latein-   dividuellen Gewissens (Kardinal John Henry
         amerika gereifte und durchlittene Theologie          Newman); eine neue und ganzheitliche Sicht
         und Praxis des Zweiten Vatikanischen Konzils         der Sexualität, die zu Fragen von Homosexua-
         in den Vatikan. In vielem knüpft Franziskus an       lität und homosexuellen Partnerschaften einen
         die politische Linie und die innerkirchlichen        angemessenen Zugang eröffnet; im Anschluss
         Reformprojekte von Paul VI. an. Der hatte die        an das Konzil von Trient ein differenziertes Ver-
         Tiara, Symbol päpstlicher Machtansprüche,            ständnis der Ehe als Sakrament. Die Bischöfe
         endgültig abgelegt. Er schrieb die Sozialenzy-       sind gefordert, sich mit bislang tabuisierten
         klika (Populorum Progressio, 1967) die zum           und neueren theologischen Erkenntnissen
         ersten Mal auf den Nord-Süd-Konflikt hinwies         auseinanderzusetzen und deren Umsetzung zu
         sowie die weltweite Verflechtung der Wirt-           fördern. Die katholische Kirche muss die über-
         schaft und den Stellenwert der Bildung in den        holten, teilweise mittelalterlichen Denkmuster
         Blick nahm. Als erster Papst stattete er 1965        und Sprachformen, die die gegenwärtigen
         der UNO einen Besuch mit einer beeindru-             Kirchenkrisen am Kochen halten, überwinden.
         ckenden Rede zum Weltfrieden („Nie wieder                Von der Idee einer „Kirche der Armen”
         Krieg!“) ab. Er machte Auslandsreisen zum            von Papst Johannes XXIII. inspiriert, haben
         unverzichtbaren Teil seiner Tätigkeit. Durch         am 16. November 1965 – drei Wochen vor
         seine Begegnungen mit dem Patriarchen von            dem Abschluss des Konzils – vierzig Kon-
         Konstantinopel (1964/65) und durch seinen            zilsbischöfe in den Domitilla-Katakomben
         Besuch in Genf (1967) hat er der Ökumene             außerhalb Roms einen Pakt für eine dienende
         wichtige Impulse gegeben. Ihm verdankt die           und arme Kirche verfasst, dem sich rund 500
         Kirche eine konsequente Liturgiereform (mit          Bischöfe angeschlossen haben (www.wir-sind-
         Einführung der Muttersprache), die sich bis          kirche.de/index.php?id=125&id_entry=2971).
         heute bewährt hat.                                   Dieser Pakt bekennt sich zu einer unmissver-
             Nach zwei eher restaurativen Pontifikaten        ständlichen Option für die Armen und dazu,
         unternimmt Franziskus jetzt alles, die Kirche        aller Symbole und Privilegien der Macht zu
         auf den Reformkurs des Konzils zurückzufüh-          entsagen. Der „Katakomben-Pakt“, ein sub-
         ren und Prozesse einzuleiten, die hoffentlich        versives Vermächtnis des Konzils, signalisiert
         nicht mehr gestoppt werden können. Es ist ein        zugleich den Beginn der Befreiungstheologie.

                                                              FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015

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            Zunächst in Vergessenheit geraten, hat der Ka-          Ende 2013. Das Ergebnis war ein ungeschmink-
            takomben-Pakt mit Papst Franziskus eine neue            tes Bild der Lebensrealität der Kirchenbasis,
            Aktualität gewonnen. Bewusst oder unbewusst             kein von den Bischöfen geschöntes. Was
            hat er sich eine ganze Reihe der damals be-             die Kirche „irreguläre oder nicht akzeptierte
            schlossenen Vereinbarungen zueigen gemacht.             Situationen“ nennt, ist eine weit verbreitete
                                                                    Realität in allen Teilen der Welt. Die kirchliche
                                                                    Sexuallehre insgesamt ist weder in Inhalt noch
            4 | Franziskus’ Mut zum synodalen Weg
                                                                    in Form verständlich, weil sie den Kontakt mit
            Man stelle sich vor, ein Weltkonzern, der so            der Wirklichkeit des Menschen verloren hat.
            wie die katholische Kirche in vielfachen Krisen         Nur eine verständlichere Verkündigung wird
            steckt, veröffentlicht auch die negativen Ergeb-        nicht ausreichen, da die Kluft durch den Inhalt
            nisse seiner weltweiten Kundenbefragung, lässt          der Lehre selbst begründet ist.
            dann seine Regionalvertreter vor den Augen                  Hinter den verschlossenen Türen der Sy-
            der Weltöffentlichkeit über neue Konzepte               noden-Aula muss es hoch her gegangen sein.
            beraten und fordert auf, binnen Monaten                 Dort prallten die unterschiedlichen Erfahrun-
            konkrete Lösungsvorschläge vor Ort zu ent-              gen und Positionen aus den verschiedenen
            wickeln. Genau dies geschieht derzeit in der            Teilen der Weltkirche aufeinander. Allein
            römisch-katholischen Kirche zu den Themen               schon die Fragen nach Barmherzigkeit für
            Evangelisierung, Familie und den so heiklen             nach einer Scheidung Wiederverheiratete oder
            Fragen von Sexualität, Moral und kirchlichem            für homosexuelle Paare (die nach geltendem
            Lehramt mit den Bischofssynoden 2014 und                Kirchenrecht vom Empfang der Sakramente
            2015, die in einen weltweiten Konsultations-            Beichte und Kommunion ausgeschlossen
            prozess eingebettet sind.                               sind), lösten kontroverse Diskussionen unter
                Franziskus hat sich bewusst für diesen Syn-         den Kardinälen aus. Nach außen hin gab es
            odalen Weg entschieden. Statt Entscheidungen            aber eine bisher nicht gekannte Transparenz,
            „von oben“ zu fällen, versucht er, Prozesse             die der Autor als beim Presseamt des Vatikans
            anzustoßen. Dieser Wechsel vom „Verbots-Mo-             akkreditierter Journalist miterleben konnte.
            dus“ in den „Dialog-Modus“ ist gerade in der            „Papst Franziskus will, dass das Kirchenvolk
            katholischen Kirche für viele ungewohnt, ent-           Druck ausüben kann auf die Bischöfe und dass
            spricht aber durchaus der Vision des Zweiten            die Bischöfe mehr Mut bekommen, genau
            Vatikanischen Konzils. In „Evangelii Gaudium“           das zu sagen, was sie aus ihrem Territorium
            benennt Franziskus ausdrücklich seine vier              wissen“, so der Vatikan-Experte Marco Politi.
            Prinzipien für den Prozesscharakter: „Die Zeit          Und sogar Radio Vatikan berichtete über den
            ist mehr wert als der Raum“, „Die Einheit wiegt         Appell von Wir sind Kirche an die deutschen
            mehr als der Konflikt“, „Die Wirklichkeit ist           Bischöfe, sie sollten den Dialog über die
            wichtiger als die Idee“ und „Das Ganze ist dem          Themen der Familien-Synode so offen und
            Teil übergeordnet“ (EG 222-237).                        angstfrei wie in Rom jetzt auch in Deutsch-
                                                                    land führen.
                                                                        „Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee“
            4.1 | Testfall Familien-Synode
                                                                    (EG 231) ist ein Kerngedanke von Franziskus.
            Der breite Konsultationsprozess zur Vorberei-           Das muss Folgen haben. Doch der Prozess­
            tung der Familien-Synode, den Papst Franziskus          charakter der Synode erfordert Geduld und ist
            einleitete, ist weltweit als Zeichen einer neuen        für manche schwer nachzuvollziehen. Kann es
            Dialogkultur in der Kirche begrüßt worden.              so gelingen, einen Prozess der grundlegenden
            Dazu gehörte – trotz mancher Mängel in der              Erneuerung der Pastoral und dort, wo es not-
            Durchführung – auch die Einbeziehung der Kir-           wendig ist, auch der Lehre in Gang zu setzen?
            chenbasis durch die weltweite Vatikan-Umfrage           Franziskus sieht zuallererst die Notwendigkeit

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Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche?                                                   | 55

         eines Mentalitätswechsels von allen Katholik-      5 | „Diese Wirtschaft tötet“ – Einsatz für
         innen und Katholiken weltweit, vor allem aber          weltweite Gerechtigkeit
         bei den Bischöfen, die er als Hirten sieht. „Die
         organisatorischen und strukturellen Reformen       Franziskus’ Worte begeistern Medien und
         sind sekundär. Die erste Reform muss die der       Öffentlichkeit, weil er direkt und offen, ja
         Einstellung sein. Das Volk Gottes will Hirten      geradezu schutzlos auf die Menschen zugeht.
         und nicht Funktionäre oder Staatskleriker“,        Er scheut mit seiner Kapitalismuskritik aber
         sagte Franziskus im August 2013 im Interview       auch nicht die Auseinandersetzung mit den
         mit Antonio Spadaro SJ für die weltweiten          wirtschaftlich und politisch Mächtigen. Wie
         Jesuitenzeitschriften (www.stimmen-der-zeit.       ein roter Faden durchziehen der Skandal der
         de/zeitschrift/ausgabe/zeitschrift/online_ex-      Armut und die Option für die Armen die
         klusiv/details_html?k_beitrag=3906412). Fran-      Stellungnahmen von Franziskus. Vor allem
         ziskus praktiziert deshalb einen dialogischen      sein programmatisches Lehrschreiben „Evan-
         und spirituellen Leitungsstil, gibt selbst ein     gelii Gaudium“ und der darin enthaltene Satz
         Vorbild des „Guten Hirten“. Doch damit ist         „Diese Wirtschaft tötet“, der sich nicht auf
         die tiefe Kirchenleitungskrise noch lange nicht    die Soziale Marktwirtschaft bezog, rief in der
         überwunden. Um den von Papst Franziskus in         bürgerlichen Öffentlichkeit Widerspruch und
         Gang gesetzten Reformprozess theologisch und       Empörung bis hin zum Marxismusvorwurf
         kirchenpolitisch abzusichern, ist eine noch sehr   hervor. Franziskus Worte lassen an Deutlich-
         viel stärkere Unterstützung durch alle reformbe-   keit nichts zu wünschen übrig, entsprechen
         reiten Kardinäle und Bischöfe, Theologinnen        aber der langen Tradition kirchlicher Lehre
         und Theologen in aller Welt dringend notwen-       vom frühen Christentum über die Katholische
         dig. Denn allein kann Franziskus die geistliche    Soziallehre bis hin zu den Aussagen der letzten
         und strukturelle Erneuerung nicht schaffen,        Päpste. Finanz- und Wirtschaftskrise sind für
         weil es nicht nur im Vatikan starke Widerstände    ihn eine anthropologische Krise, eine Krise
         gegen jegliche Reformansätze gibt.                 des Menschenbildes. Nicht mehr der Mensch
             In seinen Ansprachen hat Papst Franziskus      ist für den Menschen das höchste Wesen,
         immer wieder um Mut zur Weite geworben,            sondern das Geld ist das höchste Wesen für
         sich aber auch zur Einheit bekannt. Sein           den Menschen: „Die Anbetung des antiken
         Weg ist der der Inklusion. Nur so ist es wohl      goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine
         nachzuvollziehen, dass die Seligsprechung          neue und erbarmungslose Form gefunden im
         von Papst Paul VI. genau am letzten Tag der        Fetischismus des Geldes [ein Begriff, den Karl
         Synode 2014 erfolgte. Paul VI. ist nicht nur       Marx verwendet] und in der Diktatur einer
         der Papst, der nach dem Tod von Johannes           Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich
         XXIII das Konzil zu Ende geführt und in            menschliches Ziel.“ (EG 55). Dem gegenwär-
         Ansätzen auch umgesetzt hat. Mit der von           tigen tödlichen System des Kapitalismus setzt
         ihm entgegen der großen Mehrheit seiner            der Papst ein vierfaches Nein entgegen: Nein
         eigenen Beratergremien 1968 verkündeten            zu einer Wirtschaft der Ausschließung – Nein
         Enzyklika Humanae vitae haben Papsttum             zur neuen Vergötterung des Geldes – Nein zu
         und kirchliche Sexuallehre für viele bis           einem Geld, das regiert, statt zu dienen – Nein
         heute viel an Glaubwürdigkeit verloren. Die        zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervor-
         weltweite Familien-Synode in Rom wird              bringt (EG Nr. 53- 60).
         also ein Lackmus-Test für die grundsätzliche           Eine weitreichende Folgerung aus seiner
         Erneuerungsbereitschaft und -fähigkeit der         Kapitalismuskritik ist die Erkenntnis, dass Aus-
         römisch-katholischen Kirche sein. Erst nach        beutung und ungleiche Verteilung des Reich-
         der zweiten Bischofssynode im Oktober 2015         tums auf der Welt eine der tiefsten Ursachen
         ist das Wort des Papstes zu erwarten.              der Gewalt darstellen. Franziskus kritisiert eine

                                                              FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015

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            Wegwerfgesellschaft, in der nicht nur Lebens-           Basisbewegung aus allen Kontinenten: Männer
            mittel, sondern sogar die Menschen wie Müll             und Frauen aus allen Erdteilen, die engagiert
            behandelt werden. Seine Schlussforderung ist            sind in den Bewegungen landloser Bauern,
            daher unmittelbar einleuchtend: „Solange die            ausgeschlossener Arbeitender, VertreterInnen
            Probleme der Armen nicht von der Wurzel her             selbstgeführter Betriebe, von MigrantInnen und
            gelöst werden, in dem man auf die absolute              BewohnerInnen von Elendsvierteln. Seine aufse-
            Autonomie der Märkte und der Finanzspekula-             henerregende Ansprache am 28. Oktober 2014
            tion verzichtet und die strukturellen Ursachen          war noch weitaus radikaler und bedeutsamer als
            der Ungleichheiten der Einkünfte in Angriff             sein programmatisches Lehrschreiben „Evange-
            nimmt, werden sich die Probleme der Welt                lii Gaudium“ vom 24. November 2013. Manche
            nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein           haben diese Ansprache schon als „spontane
            Problem gelöst werden.“ (EG 202) Nimmt                  Enzyklika zu Armut und Umwelt“ gewertet.
            man den Satz ernst, dann heißt das: Auch                „Wir Christen haben etwas sehr Schönes,
            die Kirche kann ihre eigenen Probleme nicht             eine Handlungsanleitung, ein revolutionäres
            lösen, wenn sie nicht für eine Lösung der ge-           Programm, könnte man sagen. Die sozialen
            nannten Probleme kämpft. Diese Verknüpfung              Bewegungen bringen zum Ausdruck, wie drin-
            müsste die gesamte pastoral-diakonische Praxis          gend unsere Demokratien verlebendigt werden
            der Kirche umkrempeln. Angesichts der zahl-             müssen, weil sie oft von unzähligen Faktoren
            reichen Konflikte rund um den Globus spricht            gekidnappt werden. Für die Gesellschaft ist eine
            er sogar von einem „Weltkrieg in Teilen“.               Zukunft nur vorstellbar, wenn die Mehrheit der
                Das Lehrschreiben enthält neben der                 Bevölkerung eine aktive bestimmende Rolle
            radikalen Kapitalismuskritik zwei weitere               mitspielt. Eine solch aktive Rolle geht über die
            Schwer­punkte: Erstens ein Programm der                 logischen Verfahren einer formalen Demokratie
            Evangelisierung, d.h. der Verbreitung und               weit hinaus. Die Aussicht auf eine Welt mit
            Umsetzung der Botschaft der Bibel als Beitrag           dauerhaftem Frieden und Gerechtigkeit verlangt
            zur Gestaltung einer menschengerechten Welt.            von uns, jeden paternalistischen Assistentialis-
            Und zweitens Forderungen und Vorschläge zu              mus hinter uns zu lassen und neue Formen der
            einer gründlichen und nachhaltigen Reform               Partizipation zu entwickeln, damit die sozialen
            der kirchlichen Strukturen und ihrer pastora-           Bewegungen aktiv mitwirken können. So
            len, diakonischen und politischen Funktionen,           könnte der moralische Energieschub, der aus
            beginnend beim Vatikan und endend bei den               der Eingliederung der Ausgeschlossenen in den
            Kirchengemeinden in aller Welt. Eine arme               Aufbau einer gemeinsamen Zukunft entsteht,
            Kirche ist jedoch nicht eine Kirche, die im             zu Regierungsstrukturen auf lokaler, nationaler
            Elend steckt, sondern es ist die Kirche, die            und internationaler Ebene animieren. Und das
            einfach mit den einfachen Leuten lebt und in            konstruktiv, ohne Groll, mit Liebe.“ (aus der
            der keine Funktionäre und Staatskleriker das            Ansprache vom 28.10.2014, zitiert nach: www.
            Sagen haben.                                            itpol.de/?p=1491)
                                                                        „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ ist
                                                                    nur ein Beispiel der vielen anschaulichen
            5.1 | Wertschätzung sozialer Bewegungen
                                                                    Wortbilder, die Franziskus verwendet, um
            Franziskus ist der erste Papst, der die Ver-            aufzurütteln. Oder „Mir ist eine ,verbeulte‘
            antwortlichen von sozialen Bewegungen                   Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil
            aus aller Welt zu einem Treffen im Vatikan              sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber
            eingeladen hat. Organisiert vom päpstlichen             als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlos-
            Rat für Gerechtigkeit und Frieden trafen sich           senheit und ihrer Bequemlichkeit krank ist.“
            Ende Oktober 2014 etwa 200 VertreterInnen               Seine erste größere Reise führte ihn am 8.
            von verschiedensten nicht nur kirchlichen               Juli 2013 auf die Flüchtlingsinsel Lampedu-

            FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015

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Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche?                                                   | 57

         sa, wo er der vielen namenlosen im Meer           Papst Franziskus immer wieder fordert. Das in
         Umgekommenen gedachte. Diese Reise war            einem langen Konsultationsprozess erarbeitete
         eine politisch-moralische Unterstützung der       erste gemeinsame „Sozialwort“ der deutschen
         italienischen Marine, die mit ihrer Mission       Kirchen 1997 war noch sehr viel deutlicher
         „Mare Nostrum“ mehr als 150.000 Menschen          als so manche aktuelle Stellungnahme einer
         in einem Jahr aus dem Mittelmehr gerettet         „Soziallehre light“.
         hatte, jedoch zum 1. November 2014 von der
         finanziell sehr viel schlechter ausgestatteten
                                                           6 | Noch zögerlicher „Franziskus-Effekt“ in
         EU-Grenzschutzagentur Frontex abgelöst wur-
                                                               Deutschland
         de. Aber auch das Handeln der eigenen Kirche
         ist gefragt, wenn Franziskus fordert, dass leer   Im deutschen Kirchenvolk und bei den hierzu-
         stehende Kircheneinrichtungen nicht mehr zu       lande zahlreichen kirchlichen Verbänden und
         Hotels werden sollen. Es hat lange gedauert,      gewählten Gremien gibt es eine große Unter-
         bis z.B. das Bistum Eichstätt auf Drängen der     stützung für einen substantiellen Reformkurs
         dortigen Wir sind Kirche-Gruppe zwar nicht        mit Papst Franziskus. Doch insgesamt kommt
         das überwiegend leer stehende Priesterseminar,    die römisch-katholische Kirche in Deutsch-
         aber eine andere Immobilie für Flüchtlinge zur    land bisher nur schwer aus den negativen
         Verfügung stellte.                                Schlagzeilen heraus, vor allem seit dem „annus
             Dass die jüdisch-christliche Botschaft von    horribilis“ 2010, in dem die jahrzehntelange
         Gerechtigkeit ein Einmischen in die „weltli-      Vertuschung sexualisierter Gewalt auch in
         chen Dinge“ rechtfertigt, ja sogar erfordert,     Deutschland offenbar wurde (Stichwort: Ca-
         ist unbestritten. Doch Franziskus bringt die      nisius-Kolleg). Trotz verschiedenster Bemühun-
         Probleme sehr viel kerniger auf den Punkt als     gen ist die Kirchen(leitungs)krise hierzulande
         das drei Monate nach „Evangelii gaudium“          viel weniger bewältigt als im Vatikan. Es sind
         veröffentlichte ökumenische Sozialwort der        nicht aber nur die Altlasten; vielmehr fehlen
         beiden großen deutschen Kirchen vom 28.           hoffnungsvolle Impulse und Aufbrüche, die
         Februar 2014, das sich wie das kirchliche         den Reformgeist von Franziskus endlich auch
         Begleitheft zur Großen Koalition liest. Es ist    in Deutschland spürbar werden lassen.
         ein Kompromisspapier, viele Aussagen sind zu          Der von den deutschen Bischöfen als
         glattgeschliffen. Die deutschen Kirchenleitun-    Antwort auf das „annus horribilis“ und den
         gen scheuen eine klare Richtungsansage, in der    generellen Vertrauensverlust initiierte „Ge-
         die ethischen und strukturellen Grundlagen        sprächsprozess“ ist selbst im fünften Jahr nicht
         einer lebensdienlichen und zukunftsfähigen        über die Phase unverbindlicher Gespräche hin-
         Ökonomie genannt würden, wie es Papst             ausgekommen. Zu viele Bischöfe, die alle noch
         Franziskus vorgemacht hat. „Würde man die         aus der Ära von Johannes Paul II. und Benedikt
         theologische Option für die Armen so ernst        XVI. stammen, sind noch viel zu wenig bereit,
         nehmen, wie der Papst es tut, dann wären die      die jetzt von Rom gewährten Spielräume zu
         Armen und arm Gemachten, die Arbeitslosen,        nutzen und Verantwortung für ihre Ortskirchen
         die Alleinerziehenden, die prekär Beschäftigten   zu übernehmen. Sind sie sich nicht sicher, ob
         und die Rentner der Maßstab für Gerechtig-        die neue Linie im Vatikan wirklich Bestand
         keit“, so der Marburger Sozialethiker Franz       haben wird? Hoffen sie gar, dass es den alten
         Segbers (www.publik-forum.de/Religion-Kir-        vor und hinter den Kulissen agierenden konser-
         chen/ein-segen-fuer-die-grosse-koalition). Für    vativen Seilschaften, die auch weit in die Kirche
         eine moralische Einordnung der Finanzkrise        in Deutschland hineinreichen, doch noch ge-
         kam dieses Papier um Jahre zu spät, ihm fehlt     lingt, den Reformzug wieder zu stoppen? Die
         die Radikalität eines Umdenkens, einer Aus-       katholische Kirche hierzulande hat es wegen
         richtung auf die Armen der Gesellschaft wie sie   des starken „Benedikt-Faktors“ und der finan-

                                                              FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015

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            ziellen Saturiertheit der römisch-katholischen          katholischen Kirche liegt am Boden, auch ihr
            Kirche in Deutschland (2013 etwa 5,5 Milli-             finanzielles Fundament und ihre Finanzierung
            arden Euro Kirchensteuer, dazu mehr als 200             stehen auf dem öffentlichen Prüfstand“, meint
            Millionen sogenannte Staatsleistungen sowie             der ehemalige McKinsey-Berater Thomas
            diverse zweckgebundene Zahlungen) scheinbar             von Mitschke-Collande, der selber lange die
            besonders schwer, dem Kurs von Franziskus zu            katholische Kirche beraten hat. „Das Grund-
            folgen. Etwa ein Drittel der Zuflüsse von den           vertrauen in die Institution Kirche ist in ein
            weltweiten Bischofskonferenzen an den Vatikan           Grundmisstrauen umgeschlagen.“ (von Mitsch-
            kommt aus Deutschland; vom sogenannten                  ke-Collande 2013)
            „Peterspfenning“ etwa ein Achtel, den der Papst             Offiziell sind Staat und Kirche in Deutsch-
            aber nur für Spenden ausgeben darf.                     land voneinander getrennt, aber es gibt in
                                                                    vielem eine gute Zusammenarbeit. Angesichts
                                                                    der recht üppigen Finanzausstattung der Kirche
            6.1 | „Fall Limburg“ hat Systemfragen auf
                                                                    ist es für viele aber unverständlich, warum
                  die Tagesordnung gebracht
                                                                    der Staat zur Kirchenfinanzierung beiträgt.
            Die dramatisch hohe Zahl von 178.805 Kir-               Ein freiwilliger Verzicht der Kirche auf die
            chenaustritten im Jahr 2013, fast so viele wie          sogenannten Staatsdotationen (Entschädi-
            die 181.193 im Krisenjahr 2010, ist nicht allein        gungszahlungen seit 1803 als Ausgleich für
            durch allgemeine religiöse oder gesellschaftli-         die Enteignungen in der Napoleonischen Zeit)
            che Trends zu erklären. Die Kirchenaustritte            würde der Glaubwürdigkeit der Kirche gut tun
            in dem Jahr sind auch eine Reaktion auf die             und die zukünftige Sicherstellung der übrigen
            Ereignisse um den Limburger Bischof Franz-Pe-           Finanzierungsformen erleichtern. Ein solcher
            ter Tebartz-van Elst, den einige Bischöfe und           Verzicht ist möglich, finanziell verkraftbar und
            Kardinäle bis zuletzt deckten. Sein verschwen-          unter Gerechtigkeitsaspekten auch geboten,
            derisches Gehabe und sein bischöflicher                 so der Mainzer Sozialethiker Gerhard Kruip
            Leitungsstil haben die schon seit Jahren schwe-         (Herder Korrespondenz 2/2014).
            lende Kirchenleitungskrise in Deutschland noch              Dies muss aber keine absolute Trennung
            einmal sehr verschärft. Viele Katholiken und            oder ein striktes Kooperationsverbot bedeuten,
            Katholikinnen sehen den Austritt aus der Kir-           solange es mit einer Gleichbehandlung aller
            chensteuergemeinschaft dann als letztes Mittel          Religionsgemeinschaften und auch von Men-
            des Protestes. Der „Fall Limburg“ hat die nicht         schen ohne religiöses Bekenntnis verbunden
            nur in diesem Bistum zu stellenden grundsätzli-         ist. Grundlage ist das Subsidiaritätsprinzip, bei
            chen Systemfragen wieder auf die Tagesordnung           dem der Staat zivilgesellschaftliche Kräfte ein-
            gebracht: Bischofsprofil und Bischofsbestellung,        bezieht. Große Probleme gibt es jedoch dort,
            Transparenz und effektive Kontrolle aller Kir-          wo die katholische Kirche über ihr Arbeitsrecht
            chenfinanzen sowie das Zusammenwirken von               bestimmte Moralvorstellungen durchzudrücken
            Staat und Kirche. Was viele bisher nicht wussten:       versucht, die inzwischen auch in ihren eigenen
            Die Bischofsgehälter werden zu 100 % über               Reihen höchst umstritten sind und dringend
            die Länder durch den Staat finanziert und viele         korrigiert werden müssen. Die Fälle häufen
            soziale kirchliche Einrichtungen werden vom             sich, dass Beschäftigte der katholischen Kirche
            Staat bzw. den Sozialkassen zum Teil mit bis zu         und ihrer Caritas-Einrichtungen mit Erfolg
            100 Prozent finanziert. „Die Ereignisse rund um         gegen ihre Kündigung klagen, die bei einem
            das Bistum Limburg und den dortigen Bischof             „Verstoß gegen die kirchliche Grundordnung“
            Franz-Peter Tebartz-van Elst werden langfristig         (z.B. Wiederheirat nach einer Scheidung) ausge-
            die katholische Kirche stärker verändern als            sprochen wird. Aufgrund der gesetzlichen Vor-
            das Bekanntwerden des Missbrauchsskandals               gaben sind hier jetzt sehr bald Änderungen zu
            2010. Nicht nur die Glaubwürdigkeit der                 erwarten und auch von den Bischöfen zugesagt.

            FORSCHUNGSJOURNAL SOZIALE BEWEGUNGEN 28. Jg. 1 | 2015

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Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche?                                                   | 59

         6.2 | Subsidiaritätsprinzip auch innerhalb          7 | Prozessorientiertes Change Manage-
               der Kirche                                        ment einer Weltorganisation

         Immer mehr Menschen entfernen sich in               Die römisch-katholische Kirche steht jetzt vor
         Deutschland von den großen Kirchen. Der             einer entscheidenden Weichenstellung. Der
         demografische Wandel, Priestermangel vor            enorme Reformstau und das eklatante Versa-
         allem in der katholischen Kirche und Skan-          gen der Kurie erfordern dringend einen neuen
         dale verstärken diesen Prozess. Die Kirchen         Führungsstil und mehr Dezentralisierung, so
         reagieren darauf mit Strukturreformen. Viele        wie es das nach wie vor wegweisende Zweite
         Bistümer und Landeskirchen sehen ihr Heil           Vatikanische Konzil (1962-65) bestimmt hat. Die
         darin, den bestehenden Kirchengemeinden             römische Kurie hat sich über die Jahrhunderte
         Pfarrei- und Gemeindefusionen aufzudrängen          zu einem absolutistischen Machtblock verfestigt.
         oder gar aufzuzwingen. Einwendungen und             Zuletzt war es wohl vor allem Kardinal Tarcisio
         Proteste werden ignoriert oder kalt abgewie-        Bertone, ein alter Weggefährte von Ratzinger
         sen. Die Auswirkungen sind dramatisch: Durch        und von 2006 bis Oktober 2013 Kardinalstaats-
         die Beseitigung gerade der dörflichen Kirchen-      sekretär und damit zweiter Mann nach Papst Be-
         gemeinden wird das Vertrauen der Menschen           nedikt, der für Skandale und unprofessionelles
         in die Kirche weiter erschüttert. Die Fusionen      Handeln wie z.B. 2009 die Rehabilitierung des
         beschleunigen die Flucht selbst der Treuen          Holocaust-Leugners Bischof Richard Williamson
         aus der Kirche. Es droht die Auflösung der          verantwortlich gemacht wird.
         Volkskirche in der Fläche. „Amtskirche beseitigt        Papst Franziskus setzt auf „Kollegialität“ statt
         Volkskirche“, so bringt es der Humangeograph        auf „päpstlichen Absolutismus“. Bald zwei Jahre
         Gerhard Henkel auf den Punkt (Süddeutsche           nach der Wahl des Argentiniers Bergoglio „vom
         Zeitung 27.9.2014).                                 Ende der Welt“ zum „Bischof von Rom“ wird der
             Offenbar fehlt den Kirchenleitungen das Ver-    neue Kurs immer deutlicher erkennbar. Innerhalb
         trauen in die Gläubigen, in deren Kompetenzen       der weltweiten römisch-katholischen Kirche ist ein
         und Kräfte, in die Selbstregulierungskraft der      Stimmungsumschwung geschehen, den in dem
         Gemeinden. Man zentralisiert ohne Rücksicht         überlangen Doppelpontifikat der beiden letzten
         auf erkennbare Verluste. Auch die katholische       Päpste niemand für möglich gehalten hat. Aber es
         Kirche muss künftig mehr Gläubige ohne              ist nicht nur der neue und spirituelle Leitungsstil.
         Priesterweihe, qualifizierte sogenannte „Laien-     Franziskus hat zahlreiche Personal- und Organisati-
         theologInnen“, mit der Gemeindeleitung beauf-       onsentscheidungen getroffen, die die Hoffnungen
         tragen und in die Gemeindearbeit einbinden.         auf einen grundlegenden Reformkurs bestärken.
         Doch wie will man vor allem ehrenamtliche           Das Magazin Fortune setzte ihn an die Spitze der
         MitarbeiterInnen halten und gewinnen, wenn          „World’s 50 Greatest Leaders“ (http://fortune.
         man ihnen zuvor die Gemeinde genommen hat?          com/2014/03/20/fortune-ranks-the-worlds-50-
         Strukturreformen sind auch bei den Kirchen          greatest-leaders/).
         nötig. Sie sollten aber vor allem dazu beitragen,
         die Gemeinde und das Mitmachen vor Ort
                                                             7.1 | Dialog mit Gegenkräften
         zu stärken. Papst Franziskus’ Kritik an einer
         selbstbezogenen, bürokratisch verkrusteten          Wie zu erwarten war, gibt es nicht nur im Vatikan,
         Kirche geht in diese Richtung. Auch in den          sondern auch bei Bischöfen und traditionalisti-
         Kirchen muss das Subsidiaritätsprinzip wieder       schen Gruppen in aller Welt starke Gegenkräfte
         der Maßstab sein: mehr Vielfalt, mehr Zutrauen      gegen jede Reform, die hinter den Kulissen
         und Vertrauen in die unteren Entscheidungsebe-      agieren, sich aber auch wieder verstärkt zu Wort
         nen, weniger Bevormundung, weniger zentrale         melden. Auffällig ist, wie heftig manche Konser-
         Lösungen und Vereinheitlichungen.                   vative, die unter den früheren Päpsten von den

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            Progressiven „Gehorsam gegenüber dem Papst”             wir sie gestalten. Viel mehr Aufmerksamkeit
            forderten, nun selber Schwierigkeiten haben,            als dieses päpstliche Schreiben erhielt drei
            Franziskus zu folgen. „Zoff in Rom“ titelte die         Tage später die Reise von Franziskus zu den
            ZEIT am 17.7.2014 über das Gespräch mit dem             Flüchtlingen auf Lampedusa, über die Bernd
            Gründer und langjährigen Chefredakteur der ita-         Hagenkord von Radio Vatikan sagt: „Das ist
            lienischen Tageszeitung »La Repubblica«, Eugenio        Enzyklika auf zwei Beinen.“
            Scalfari, das dieser mit Franziskus über die The-           Angesichts der schwerwiegenden und
            men Pädophilie und Zölibat geführt hatte. Den           vielfachen Krisen und Fehlentscheidungen
            am 24. 12. 2014 veröffentlichten Artikel „Zweifel       der Kirchenleitung war die schon nach kurzer
            über die Winkelzüge von Papst Franziskus“ des           Zeit erfolgte Einberufung internationaler
            italienischen Schriftstellers Vittorio Messori          Beratergremien ein wichtiger Schritt eines
            werten manche schon als Frontalangriff auf den          neuen kollegialen Leitungsstils. So wurden
            Papst (www.pro-konzil.de/?p=2229). Franziskus           zum Beispiel acht Kardinäle aus allen Konti-
            versetzt einen Teil der Hierarchie in Unruhe, so        nenten damit beauftragt, Vorschläge für eine
            der Vatikanist Marco Politi am 6.1.2015 (Il Fatto       Kurienreform zu erarbeiten – unter ihnen der
            quottidiano).                                           Münchner Kardinal Reinhard Marx, damals
                Aber der Jesuit Franziskus mit seiner Jahr-         bereits Präsident der Kommission der Bischofs-
            zehnte langen Führungserfahrung (vgl. Vallely           konferenzen der Europäischen Gemeinschaft,
            2014) auch in der außerordentlich schwieri-             der damit eine große Mitverantwortung trägt,
            gen Situation der argentinischen Militärjunta           ob der Reformkurs von Franziskus greifen
            scheint diese Reaktionen bereits einkalkuliert          wird. Die bisherigen Beratungen machen je-
            zu haben. Bei der Familien-Synode schuf er den          doch deutlich, wie schwierig eine Kurienreform
            Rahmen für eine offene Debatte: „Sprecht mit            ist, an der sich zuletzt Papst Paul VI. versucht
            Freimut und hört mit Demut“, eine Dialogkul-            hatte. Arbeitsabläufe und Zuständigkeiten der
            tur, die nicht nur in der katholischen Kirche           Kurie sind eingefahren und äußerst komplex.
            selten ist. Zeit ist wichtiger als Raum, wie es         Nicht zu unterschätzen scheinen Beharrungs-
            in dem Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“                vermögen und Besitzstandswahrung mancher
            heißt. Statt schneller Entscheidungen und               Mitarbeiter zu sein. Von einem Abschluss ist
            Kampfabstimmungen will er die Einleitung von            man noch weit entfernt.
            Prozessen, die zu weitestgehend konsensorien-               Besonders diffizile Handlungsfelder sind die
            tierten Ergebnissen führen sollen.                      Intensivierung des von Papst Benedikt erst sehr
                Die erste Enzyklika „Licht des Glaubens“            spät begonnenen Kampfes gegen pädophile
            von Papst Franziskus war ein Dokument des               Verbrechen durch Kleriker, den Franziskus
            Prozesses und des schwierigen Übergangs, ein            verstärkt fortsetzt, der für viele ehemalige
            Kompromiss zwischen Kontinuität und Neu-                Betroffene aber immer noch unzureichend ist.
            aufbruch. Die ersten Kapitel dieses „mit vier           Und natürlich die Transparenz bei der umstrit-
            Händen geschriebenen Lehrschreibens“ sind               tenen Vatikanbank und den undurchsichtigen
            noch ganz von Benedikt geprägt. Kapitel IV.             Vatikanfinanzen. Kardinal Marx hat auch hier,
            und V. aber tragen die Handschrift von Papst            zusammen mit dem australischen Kardinal Ge-
            Franziskus. Er stellt das Licht des Glaubens            orge Pell, höchst verantwortungsvolle Aufgaben
            unter das Maß der Liebe sowie in den konkre-            übertragen bekommen, die nicht nur in aller
            ten Dienst der Gerechtigkeit, des Rechts und            Heimlichkeit erledigt werden dürfen.
            des Friedens. Franziskus greift zwei wichtige
            Metaphern auf: Weg und Stadt. Gott baut uns
                                                                    7.2 | Neue Kultur und neue Struktur
            eine Stadt, auf die wir uns hinbewegen, aber
            nicht indem wir diese Welt verlassen und ein            Denn die begonnene Kurienreform sollte nicht
            kirchliches Eigenleben führen, sondern indem            zum Ziel haben, nur die Machtzentrale Vatikan

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Epochenwechsel in der römisch-katholischen Kirche?                                                   | 61

         wieder handlungsfähig zu machen und zu             erheblichen Handlungsbedarf aufgezeigt. Wa-
         stärken, sondern muss endlich den einzelnen        rum kann z.B. die Glaubenskongregation nicht
         Bistümern in ihren Kulturkreisen mehr Eigen-       von einer Theologin geleitet werden?
         verantwortung („Subsidiarität“) zugestehen, so         Statt alle Entscheidungsbefugnisse dem
         wie es das Konzil wollte. Die Kurienreform         Papst als absolutem Monarchen allein vorzu-
         ist für Franziskus nicht nur das Ergebnis von      behalten, sollten – allein schon von der Größe
         Verwaltungsreformen und die Änderung von           und Komplexität der weltweiten Glaubensge-
         hinfällig gewordenen, veralteten Strukturen,       meinschaft her – die Entscheidungen zuvor
         sondern Ergebnis einer lebendigen Neuorien-        in einem regelmäßig und häufig tagenden
         tierung an den Grundsätzen des Evangeliums.        „Kabinett“ diskutiert und vorbereitet werden.
         Wichtig ist deshalb, nicht nur die Effektivität    Hierzu liegen bereits sehr konkrete Vorschläge
         der Kurie zu erhöhen, sondern dass ein Geist       des amerikanischen Jesuiten Thomas Reese
         der Transparenz, einer kollegialen Pluralität      oder des deutschen Politikwissenschaftlers
         und demokratischen Grundlegung wirksam             Hans Maier vor.
         wird. Frauen, die mehr als die Hälfte der              Die gesamte Leitung der Kirche wird we-
         Kirchenmitglieder ausmachen, sind bis jetzt        gen der Globalisierung und der weltweit sehr
         in der höchsten Kirchenleitung gar nicht ver-      unterschiedlichen Formen des Katholizismus
         treten oder beteiligt. Neue Kommunikations-        in Zukunft mehr Teamarbeit erfordern. Die
         und Leitungsstrukturen sind zu entwickeln,         Weltbischofssynoden könnten im Sinn des
         die wieder dem Anspruch der Botschaft des          Zweiten Vatikanums zu einer Art „Parlament“
         Evangeliums wie auch den Erfordernissen einer      mit Entscheidungsbefugnis ausgebaut werden.
         weltweit verzweigten Glaubensgemeinschaft              Für die dringend notwendige Wiederherstel-
         in den verschiedensten Kulturräumen gerecht        lung der Glaubwürdigkeit der Kirchenleitungen
         werden. Bei allem Respekt vor Tradition und        ist ein Verhaltenskodex (Compliance) zu for-
         Kontinuität geht es um eine grundlegend neue       mulieren, der auch eine Rechenschaftspflicht
         Kultur und Struktur, die – im Sinne des Zwei-      der Bischöfe usw. gegenüber den Kirchenbür-
         ten Vatikanischen Konzils, der nach wie vor        gerinnen und Kirchenbürgern enthalten muss.
         geltenden Richtschnur – durch die Kernbegriffe
         Dialog, Communio, Reform und Öffnung
                                                            7.3 | Verantwortung der Ortskirchen
         geprägt sein müssen:
             Das von der katholischen Kirche für die        Das Zweite Vatikanische Konzil hat auf
         Politik formulierte Prinzip der Subsidiarität,     Kollegialität gesetzt und den Bischöfen eine
         das übergeordnete Regelungen nur für die           wesentliche Verantwortung für die Kirchenlei-
         Bereiche zulässt, die eine lokale Einheit nicht    tung zuerkannt. Jetzt geht es darum, dass die
         selber regeln kann, ist in gleicher Weise und      Bischöfe in aller Welt – zusammen mit allen
         auf allen Ebenen innerhalb der römisch-katho-      Getauften – bereit sind, die ihnen zustehende
         lischen Kirche anzuwenden.                         Verantwortung für ihre Ortskirchen und für die
             Wenn die katholische Kirche eine Weltkir-      Weltkirche wieder voll wahrzunehmen. Subsi-
         che sein will, muss dies auch in den Entschei-     diarität darf nicht nur von der Gesellschaft
         dungsprozessen und bei Personalbesetzungen         und vom Staat gefordert, sondern muss auch
         zum Ausdruck kommen. Warum können                  in der Kirche selbst gelebt werden. Nur dann
         einzelnen Kongregationen nicht in andere Kon-      wird es gelingen, auch alle weiteren dringend
         tinente ausgelagert werden, wie der in Brasilien   anstehenden Reformmaßnahmen anzugehen.
         wirkende Leonardo Boff es vorschlägt?              Der brasilianische Bischof Dom Helder Ca-
             Gleichberechtigte Stellung der Frauen als      mara (1909-1999) sagte schon kurz nach dem
         Kirchenbürgerinnen auf allen Ebenen. Papst         Konzil: „Wenn die Kirche nicht den Mut hat,
         Franziskus selber hat in diesem Bereich noch       ihre eigenen Strukturen zu reformieren, wird

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