Dinge der Kindheit - Dinge der Jugend - Tagung 26. und 27. Juli 2019 - Herzlich Willkommen
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FB 1 Bildungswissenschaften Institut für Pädagogik Abteilung Pädagogik Dinge der Kindheit – Dinge der Jugend Tagung 26. und 27. Juli 2019 Herzlich Willkommen Ausstellung „Dinge der Kindheit“ Eröffnung mit kleinem Empfang am Freitag, 26. Juli um 17:30 Uhr
Inhalt Dinge der Kindheit – Dinge der Jugend .............................................................. 3 10:00 – 11:30 Uhr: DINGE – KÖRPER – INTERAKTION: THEORETISCHE PERSPEKTIVEN................................................................................................ 5 Barbara Wolf: Die persönliche Eigenwelt – Wie schreiben Heranwachsende Dingen Bedeutung zu? .................................................. 5 Sebastian Schinkel: Mit der Materialität von Körpern spielen: Körpermodifikation im Zusammenspiel mit Konsumgütern - entfällt....... 7 11:45 – 13:15 Uhr Parallelpanel: MIT DINGEN ÜBERGÄNGE GESTALTEN ..... 9 Gesine Nebe & Annegret Frindte: „Bald bin ich ein Schulkind und nicht mehr klein…“?: Die Schultüte und andere ‚EinschulungsDINGE‘. – Überlegungen zur erziehungs-, bildungs- und sozialisationsrelevanten sowie symbolischen Bedeutung von Dingen im Übergangsprozess .......... 9 Carnin, Jennifer: Kindheit und Frühe Bildung in Institutionenverhältnissen Freitag, 26. Juli 2019 – Die Zuweisungspraxis zu Bildungsangeboten im Modus von Aktivierung und Responsibilisierung ........................................................................... 11 11:45 – 13:15 Uhr Parallelpanel: KINDLICHE SAMMELPRAKTIKEN .............. 13 Julia Boog-Kaminski: Spulen, Strümpfe, Worte. Über kindliche Sammelpraktiken in Literatur und Psychoanalyse................................... 13 Ludwig Duncker: Kindliches Sammeln zwischen Bildung und Kommerz – Beobachtungen und Interpretationen..................................................... 15 14:00 – 15:30 Uhr Parallelpanel: KINDER-DINGE- INTERAKTION IM KONTEXT KINDERTAGESSTÄTTE ................................................................................... 16 Désirée Bender: Körper-Ding-Praktiken in kindlichen Frei-Spiel-Räumen reformpädagogischer Kindertagesstätten. Zur Bedeutung von Dingen, Räumen und Organisationskultur in einer Elterninitiative ...................... 16 Dominik Farrenberg: Eine (Un-) Ordnung der Dinge? Ethnographische Einsichten in die Materialitäten kindheitspädagogischer Praxis und ihrer RegierungsSpielRäume ............................................................................ 18 14:00 – 15:30 Uhr Parallelpanel: BRETTSPIELE UND SPIELARTIKEL ............. 20 Barbara Sterzenbach: Rollenangebote in Brettspielen für Kinder und Jugendliche .............................................................................................. 20 1
Nicole Hoffmann: ‚Die Feuerwehr hat alle Hände voll zu tun…‘ Über das ‚Leben in der Stadt‘ im Spiegel verschiedener Kinderspielartikel ............ 22 Freitag, 26. Juli 2019 15:45 – 17:45 Uhr: BILDERBÜCHER UND KINDERZEICHNUNGEN................. 24 Wiebke Hiemesch: Kindergeschichte (nach)zeichnen. Eine exemplarische Artefakten-analyse von Zeichnungen aus dem Projekt ‚Bridging the Gap‘ im Israel Museum/Jerusalem ................................................................... 24 Petra Götte: „Meine liebsten Dinge müssen mit“ (Sarihi/Völk 2018). Zur Darstellung des kindlichen Umgangs mit Dingen im Kontext von Migration. Eine Bilderbuchanalyse ............................................................................ 26 10:00 – 10:45 Uhr Parallelpanel: ALLTAGSDINGE ........................................ 28 Yvonne Bulander: Präsenz und Interaktion – Dinge im Alltag von Kleinkindern ............................................................................................. 28 Julia Misterek & Ulrike Eschrich: Das Einkaufszentrum als Ort, den (kleinen) Dingen auf die Spur zu kommen ............................................... 31 10:00-10:45 Uhr Parallelpanel: JUGEND-DINGE ........................................... 33 Samstag, 27. Juli 2019 Tobias Franzheld: „Dinge“ des Übergangs im Jugendalter am Beispiel von Selbstmeldungen zu Schutzmaßnahmen ................................................. 33 Alexandra Kranz: Zur Auseinandersetzung mit transnationalen Objekten im Kontext der Identitätskonstruktion Jugendlicher mit und ohne Migrationshintergrund ............................................................................. 35 12:00 – 13:30 Uhr: THEATER UND FUßBALL................................................. 38 Serafina Morrin: Der imaginative Umgang mit den Dingen – Interaktions- und Kommunikationsmodi im theaterpädagogischen Setting einer Willkommensklasse.................................................................................. 38 Thomas Grunau: (Ein) Fußball als Gegenstand generationentheoretischer Erziehungswissenschaft: Überlegungen aus einem situationsanalytischen Projekt über den Kinderfußball ................................................................ 40 Gedanken und Dinge, die in Erinnerung bleiben sollen ............................... 42 2
Dinge der Kindheit – Dinge der Jugend Dinge konstituieren die Umwelt von Kindern und Jugendlichen, sie eröffnen o- der beschränken die Möglichkeiten ihres Handelns. Prozesse des Aufwachsens sind stets verbunden mit dem Hineinwachsen in eine Ding-Welt, mit der Aneig- nung materieller Kultur. Dinge fungieren als materialisierte Sozialisations- partner. Mit dem Gebrauch der Dinge ist gleichzeitig der dingadäquate Ge- brauch des Körpers verbunden. Im Umgang mit den Dingen wird der Körper bis in die zur Selbstverständlichkeit gewordenen motorischen, habitualisierten Tie- fenschichten hinein geformt. Die materialen wie auch die körperlich-leiblichen Grundlagen sozialer, respek- tive pädagogischer Praxis sind in den letzten Jahrzehnten zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt. Dies gilt sowohl für die Soziologie und die Erzie- hungswissenschaft als auch für die Geschichtswissenschaft und die Kulturwis- senschaften insgesamt und zeigt sich z. B. in verstärkter Aufmerksamkeit für performative Praxen, für materielle Kultur, in der Wiederentdeckung des Rau- mes und nicht zuletzt im Aufschwung praxeologischer und praxistheoretischer Perspektiven – um nur einige Aspekte zu nennen. In der erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung haben die Dinge – von den Lehr-Lernmitteln über Spielzeug und Möbel bis hin zu den Schulräumen und Klettergärten – einen angestammten Platz inne, sowohl in ‚klassischen‘ Erzie- hungstheorien als auch in neueren Überlegungen zum Zusammenhang von Din- gen und Lernen bzw. Dingen und Sozialisation und Bildung.1 Allerdings wird die Diskussion um die materialen Dimensionen pädagogischer Praxis wie auch um die materialen Dimensionen des Aufwachsens vor allem in Bezug auf die Le- bensphase Kindheit geführt. Die Bedeutung von Dingen im Jugendalter ist hin- gegen bislang vergleichsweise selten thematisiert worden. 1 Vgl. neben zahlreichen anderen: Dörpinghaus, A./Nießeler, A. (Hg.) (2012): Dinge in der Welt der Bildung. Bildung in der Welt der Dinge. Würzburg; Fooken, I./Depner, A./Pietsch-Lindt, U. (2016): ‚Betwixt things‘ – Das Ambivalente der Dinge in Übergangskontexten. In: ZSE, 36. Jg., S. 149-163; Neumann, S. (2013): Die anderen Dinge der Pädagogik. In: ZfE, 16. Jg., S. 107-121; Nohl, A.-M. (2018): Zwischen Spontaneität und Habituierung: Pädagogisch relevante Praktiken mit Dingen. In: Budde, J./Bittner, M./Bossen, A./Rißler, G. (Hg.): Konturen praxistheoretischer Erziehungswissen-schaft. Weinheim/Basel, S. 68-85; Priem, K./König, G./Casale, R. (Hg.) (2012): Die Materialität der Erziehung. Kulturelle und soziale Aspekte pädagogischer Objekte. Zeitschrift für Pädagogik, 58. Bei-heft. Weinheim/Basel; Stenger, U. (2013): Die Entdeckung der Gegenstände der frühen Kindheit. In: ZfE, 16. Jg., S. 27-41; Stieve, C. (2013): Differenzen früher Bildung in der Begegnung mit Dingen. In: ZfE, 16. Jg., S. 91-106. 3
Die Tagung will nicht nur die Frage erörtern, welche Kinder respektive Jugend- liche beschäftigen sich mit welchen Dingen und welcher Art sind die materialen Kulturen, in denen sich Heranwachsende bewegen. Vielmehr soll auch der Frage nach der Verankerung von Dingen in soziale und kulturelle Praxen von Kindern und Jugendlichen nachgegangen werden. Von Interesse ist auch, wie Bedeutungszuschreibungen in Mensch-Ding-Beziehungen von Kindern und Ju- gendlichen vollzogen werden. 4
Freitag, 26. Juli 2019 10:00 – 11:30 Uhr: DINGE – KÖRPER – INTERAKTION: THEORETISCHE PERSPEKTIVEN Moderation: Petra Götte Barbara Wolf: Die persönliche Eigenwelt – Wie schreiben Heranwachsende Dingen Bedeutung zu? Kinder nehmen die Welt mit allen Sinnen war (Asplund/Samuelsson 2013) und DINGE – KÖRPER – INTERAKTION: THEORETISCHE PERSPEKTIVEN erwerben dadurch kognitive Strukturen der Welt. Doch wie eignen sie sich die Dinge an und vor allem, worin liegt begründet, warum sie zu der einen Sache eine höhere Affinität entwickeln als zur anderen? In gewissem Umfang mag es Freitag, 26. Juli 2019 – 10:00 – 11:30 Uhr –D 239 Zufall sein, etwa das Geworfensein in einen spezifischen soziokulturellen, histo- risch gewachsenen Kontext (Heidegger 1927/2006). Auf der anderen Seite je- doch schreiben Kinder und Jugendliche den Dingen, mit denen sie hantieren, einen sozialen Sinn zu, den sie mit anderen teilen, zunächst ohne Rücksicht auf den objektiv zugeschriebenen Sinn durch die Gesellschaft, später diesen Sinn adaptierend oder modifizierend (Tenbruck 1986). Dies geht sogar so weit, dass sie Objekten emotionale Qualitäten zuschreiben und diese zu potentiellen Mit- spielern in der Auseinandersetzung mit der Welt werden (Tenbruck 1972). Daraus entstehen kulturelle Praxen, welche vor allem leiblich vollzogen werden. Das affektive Betroffensein von einem Gegenstand wie einer Muschel, einem Stein, einem Spielzeugauto oder einem Handy löst erst den subjektiven Bezug aus, die Begeisterung, das Entzücken oder den Ekel an einer Sache. Das Eigene (Leib) wird mit dem anderen (Ding) im affiziert Sein verbunden (Gugutzer 2017). Subjektives Betroffensein als wichtigste Erfahrung des Menschen - weil er sich in ihr erst als Subjekt erlebt - vollzieht sich auf personaler und präpersonaler (Säuglinge, Demente) Ebene (Gugutzer 2017). Das Kind verleibt sich die Dinge ein, weil es von etwas in einer „spürbaren Weise so betroffen und heimgesucht wird“ dass es mehr oder weniger „in dessen Bann gerät“ und sein Befinden und Verhalten sich danach ausrichtet und verändert (Schmitz 1978). Daraus ent- steht eine ausgeprägte Wechselbeziehung, die es emotional ergreift und nicht so leicht wieder loslässt (Wolf 2016). Im transsubjektiven leiblichen Dialog eig- net sich der junge Mensch* via Einleibung den Gegenstand seines Interesses an (Schmitz 2003). Er integriert diesen nun in die persönliche Eigenwelt, was phä- nomenologisch betrachtet einen Bewusstseinszustand darstellt, der durch das affektive Betroffensein und die subjektive Affinität beleuchtet und durchwärmt 5
ist (Schmitz 2007). Dieser zwischenleibliche Vorgang (Merleau-Ponty 1966) zwi- schen Objekt und Subjekt beschreibt den Ursprung jeglicher Lernmotivation. Erst wenn sich die Jugendliche* später in personaler Emanzipation zu dem Ge- genstand verhält, ihn einordnet und strukturiert, wird er in die persönliche Fremdwelt entlassen, was etwa als objektivierter Wissensspeicher betrachtet werden kann. Lernerfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit neuen Ge- genständen, etwa einem Messer oder einem Skateboard werden also zunächst in die persönliche Eigenwelt übernommen, um sie später, wenn Neugierde und Interesse abgeklungen sind und andere Dinge (Tablet) interessanter werden, in DINGE – KÖRPER – INTERAKTION: THEORETISCHE PERSPEKTIVEN die persönliche Fremdwelt zu entlassen (Wolf 2012). Die körperlich-leibliche Auseinandersetzung mit den Dingen des eigenen Inte- resses, angetrieben durch affektives Betroffensein, bildet somit eine Triebfeder Freitag, 26. Juli 2019 – 10:00 – 11:30 Uhr – D 239 des In-der-Welt-Seins, der ureigenen Antriebe und Ziele (Heidegger 1927/2006). Der Vortrag möchte den Prozess der Aneignung der Ding-Welt und einer materiellen Kultur nicht nur im Kindesalter differenziert beschreiben und die Bedeutung von Affektivität und Leiblichkeit in diesem Zusammenhang be- leuchten. Vorläufige Literaturauswahl Asplund, M. C./Samuelsson, I. P. (2013): Spielend lernen – Stärkung Lernmethodischer Kompetenzen. Braunschweig: Schubi Verlag. Gugutzer, R. (2017): Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der ne- ophänomenologischen Soziologie. In: Zeitschrift für Soziologie 46 (3), S. 147–166. Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer. Merleau-Ponty, M. (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin: de Gruyter. Schmitz, H. (1978): System der Philosophie, Band 3, Teil 5: Die Wahrnehmung. Bonn: Bouvier. Schmitz, H. (2007): Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn: Bouvier. Tenbruck, F. 1972. Geschichtserfahrung und Religion in der heutigen Gesellschaft. In: Spricht Gott in der Geschichte? Weltgespräch bei Herder. Freiburg/Basel/Wien: Herder, S. 9-94. Tenbruck, F. (1986): Geschichte und Gesellschaft. Berlin. Wolf, B. (2016): Kinder lernen leiblich. Praxisbuch über das Phänomen der Weltaneig- nung. Freiburg i. Br.: Alber. Wolf, B. (2012): Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit, Freiburg i.Br.: Alber. 6
Sebastian Schinkel: Mit der Materialität von Körpern spielen: Körpermodifi- kation im Zusammenspiel mit Konsumgütern - entfällt Konsumgüter haben im Alltagsleben Gewicht – nicht bloß als nützliche Ge- brauchsgegenstände und Verbrauchsgüter in einem engeren instrumentellen Sinn, sondern auch als Medien der alltäglichen Bearbeitung von Selbstverhältnis und Sozialität. Kinder und Jugendliche nehmen die sozialen Konsumverhält- nisse, in denen sie täglich leben, wahr, und sie nehmen aktiv daran teil; als Kon- sument*innen bringen sie auch neue Marktphänomene mit hervor. Doch ob- wohl Kinder im Alltag permanent mit Konsumgütern oder symbolischen Bezug- DINGE – KÖRPER – INTERAKTION: THEORETISCHE PERSPEKTIVEN nahmen agieren, sich Kinder über diese Gegenstände vermittelt zu sich selbst wie auch zu anderen ins Verhältnis setzen, wird der materiellen Kultur der Kin- Freitag, 26. Juli 2019 – 10:00 – 11:30 Uhr – D 239 der qualitativ-empirisch bisher nur wenig Beachtung geschenkt. Mit einem eth- nografischen Zugang interessiere ich mich dafür, wie die vielfältige, auch medial präsente Warenlandschaft in situierten Praktiken relevant (gemacht) wird und wie Konsumgüter in Prozesse der Sinnkonstruktion und Beziehungsregulation involviert sind. Solche materiellen Kulturen lassen sich einerseits als lokal situ- iert und feldspezifisch ausgestaltet, andererseits als materiell und translokal diskursiv (u.a. massenmedial) präformiert ansehen. Auf der Grundlage von teil- nehmender Beobachtung und Gruppendiskussionen mit Kindern an einer urba- nen Grundschule im Ruhrgebiet gehe ich für den Tagungsbeitrag dem Spiel mit Körpermodifikationen nach. Unter Körper fasse ich sowohl unbelebte Dinge wie auch die materielle Seite lebendiger Körper bzw. der Körperlichkeit (als Selbst- verhältnis) und ihre jeweiligen situationsspezifischen Verbindungen. Der Fokus auf das Spiel mit der Materialität von Körpern umfasst entsprechend sowohl die verändernde Einwirkung auf Dinge wie auch Modifikationen am lebendigen Körper und ihr jeweiliges Zusammenwirken. Anhand des empirischen Materials werden in dieser Perspektive sehr verschiedene Praktiken bzw. Situationen un- tersucht: eine Faszination für spielerische Experimente, in denen mit Dingen „etwas gemacht“ wird, das tendenziell außerhalb üblicher Zweckbestimmun- gen liegt; eine intensive Versunkenheit in einer mehr oder weniger temporären Umgestaltung des Körpers durch andere Materialitäten; das Spiel mit Zwischen- stadien zwischen Körperlichkeit und Dinglichkeit, die mehr oder weniger „kör- pernah“ aufgeführt werden, etwa auch in Hinblick auf Grenzphänomene wie Körperausscheidungen. Wie ist ein solches Spiel mit der Materialität von Kör- pern in die Konsumwelt und entsprechende aktuelle Marktphänomene einge- bunden? Inwiefern werden konkrete Konsumgüter „zweckentfremdet“ oder haben gerade in dieser Hinsicht ihr programmatisches Reizangebot? Wie wird in den situationsspezifischen Körperlichkeits-Ding-Verhältnissen soziale Welt 7
interpretierend konstruiert? Inwiefern greifen massenmediale Sinnzusammen- hänge von Welt und handgreifliche materielle Konsumangebote dabei ineinan- der? Inwiefern wird durch solche Praktiken bzw. Prozesse der Bearbeitung von Materialität Verbundenheit oder Separation hergestellt? Ausgehend von diesen Fragen werden theoretische Perspektiven entwickelt, etwa in Hinblick auf The- orien des Materiellen („Fetisch“ nach Böhme; „Aktanten“ nach Latour ...), die auf ihren möglichen Erkenntnisgewinn befragt, aber auch für alternative Lesar- ten offengehalten werden sollen. DINGE – KÖRPER – INTERAKTION: THEORETISCHE PERSPEKTIVEN Freitag, 26. Juli 2019 – 10:00 – 11:30 Uhr – D 239 8
11:45 – 13:15 Uhr Parallelpanel: MIT DINGEN ÜBERGÄNGE GESTALTEN Moderation: Volker Mehringer Gesine Nebe & Annegret Frindte: „Bald bin ich ein Schulkind und nicht mehr klein…“?: Die Schultüte und andere ‚EinschulungsDINGE‘. – Überlegungen zur erziehungs-, bildungs- und sozialisationsrelevanten sowie symbolischen Be- deutung von Dingen im Übergangsprozess Die große bunte, mit Süßigkeiten und Geschenken gefüllte Schultüte spielt in der Erinnerung an den ersten Schultag für viele Menschen eine herausragende Rolle. Dieses kuriose und ausschließlich in Deutschland und Österreich be- MIT DINGEN ÜBERGÄNGE UND ZUWEISUNGEN GESTALTEN kannte und verwendete Objekt ist aus diesem Grund auch das „Ding der Kind- Freitag 26. Juli 2019 – 11:45 – 13:15 Uhr – D 238 heit“, welches ins Zentrum des Tagungsbeitrags gerückt wird, und zwar in zwei- erlei Hinsicht: Zum einen soll die Schultüte als ein den Übergang (von Kindern in ihr dann schu- lisch geprägtes Leben) markierendes Objekt in den Blick kommen, das von sei- nen Besitzer_innen begehrt und ersehnt wird. Letzteres insbesondere aus dem Grund, dass gerade deren dingliche Materialität den Statuswechsel allererst an- zeigt. – Die ersehnte Statuspassage vom „noch kleinen Kind“ zum „Schulkind“ kumuliert insofern in diesem „Identitätsobjekt“ (Habermas, 1999), das seitens der Akteure im Übergangsgeschehen mit Relevanz aufgeladen wird. Zum anderen sind ‚EinschulungsDINGE‘ wie die Schultüte nicht nur in Bezug auf den Statuswechsel vom Kindergartenkind/Kleinkind zum Schulkind interessante Ausgangspunkte für Analysen, sondern können (und sollen im Rahmen des Bei- trags in Ansätzen) vielmehr im Sinne Bruno Latours auch als das aktuale Gesche- hen bestimmende Aktanten (vgl. Latour 1996, 2005) betrachtet werden. In der schieren Materialität der Schultüte, so unsere Annahme, sind Präskripte für eben jene Praktiken, in die sie einbezogen ist, enthalten. Einigen möglichen Prä- skripten auf die Spur zu kommen, ist das Ziel unserer Analysen. Von dort aus können schließlich Fragen auch an das generationale Verhältnis bzw. die Diffe- renz zwischen Kindheit und Erwachsenheit gestellt werden. Der Beitrag zielt insbesondere darauf ab, die Relevanz von Dingen am Übergang zwischen früher Kindheit und Schulkindheit auszuloten und auf die mögliche Bereicherung durch den Einbezug dieser Analysedimension in die Transitions- forschung hinzuweisen: Bisher setzt sich die (frühpädagogische) Transitionsfor- schung zwar intensiv mit einzelnen Akteuren/Akteursgruppen, mit Beziehun- gen/Beziehungsgefügen und mit Strukturen und Bedingungen des Gelingens o- der Scheiterns des Schulbeginns von Kindern auseinander. ‚EinschulungsDINGE‘ 9
oder „SchulanfangsDINGE“ werden bislang jedoch i.d.R. nicht in den Blick ge- nommen (vgl. Dockett/Griebel/Perry 2017; Graßhoff et al. 2013; Griebel/Niesel 2015, 2004, 2002; Manning-Chlechowitz/Oehlmann/Sitter 2011). Insofern ist gerade hier die Relevanz von Dingen der Kindheit noch maximal unterbelichtet. Den empirischen Ausgangspunkt für die Überlegungen bilden Interviews und schriftliche Erinnerungen an den Schulbeginn (zwischen 1938 und 1998). Diese wurden im Rahmen eines studentischen Lehr-Forschungsprojektes im Erzie- hungswissenschaftlichen Masterstudiengang erhoben und analysiert (Methode vgl. Turunen/Dockett/Perry 2015). Das Datenmaterial zeigt die Schultüte als ganz besonderes, zentrales ‚EinschulungsDING: Narrative darüber, in welchem MIT DINGEN ÜBERGÄNGE UND ZUWEISUNGEN GESTALTEN Kontext die Schultüte angeschafft – und später den Kindern (z.B. im Rahmen der Einschulungszeremonie) übereignet wurde, welche Erwartungen sich mit Freitag 26. Juli 2019 – 11:45 – 13:15 Uhr – D 238 ihr verbanden, welche Vorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte diesem ‚Ein- schulungsDING‘ anhaft(et)en, wie diese gefüllt und gestaltet war, geben Aus- kunft über ihren hohen Stellenwert im Rahmen des Transitionsprozesses. Literatur Dockett, S./Griebel, W./Perry, B. (2017): Families and Transition to School. Germany: Springer-Verlag London Ltd. Graßhof, G./Ullrich, H./Binz, C./Pfaff, A./Schmerger, S. (2013): Eltern als Akteure vom Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Wiesbaden: Springer. Griebel, W./Niesel, R. (2015): Übergänge verstehen und begleiten. Transitionen in der Bildungslaufbahn von Kindern. Berlin: Cornelsen. Griebel, W./ Niesel, R. (2004): Transitionen. Fähigkeit von Kindern in Kindertageseinrich- tungen fördern, Veränderungen erfolgreich zu bewältigen. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. Griebel, W./ Niesel, R. (2002): Abschied vom Kindergarten Start in die Schule. Grundla- gen und Praxishilfen für Erzieher/innen, Lehrkräfte und Eltern. München: Don Bosco Ver- lag. Habermas, Tilmann (1996): Geliebte Dinge: Symbole und Instrumente der Identitäts- bildung. Berlin: de Gruyter. Habermas, T. (1999): Geliebt e Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Suhrkamp. Latour, Bruno (2005): Reassembling the Social. An Introduction to actor-network-theory. Oxford: Oxford University Press. Latour, Bruno (1996): On actor-network theory. A few clarifications., In: Soziale Welt 47, 4: 369-381. Manning-Chlechowitz, Y./Oehlmann, S./Sitter, M. (2011): Frühpädagogische Übergangs- forschung: von der Kindertageseinrichtung in die Grundschule. Weinheim: Juventa. Turunen, T./Dockett, S./Perry, R.: (2015): Researching memories about starting school: autobiographical narratives as a methodological approach. In : European Early Childhood Education Research Journal. 23, 5:. 635-644. 10
Carnin, Jennifer: Kindheit und Frühe Bildung in Institutionenverhältnissen – Die Zuweisungspraxis zu Bildungsangeboten im Modus von Aktivierung und Responsibilisierung Historisch steht die Konstitution der Kindertageseinrichtungen in engem Zu- sammenhang mit Abgrenzungsmotiven gegenüber der Grundschule. Diese Ab- grenzung vollzieht sich in unterschiedlichen Phasen, die sich über das Bildungs- motiv der Kindertagestätte rekonstruieren lassen 2. Dabei ist interessant zu be- obachten, dass jeweils in Zeiten, in der Bildung gesamtgesellschaftlich im Mo- dus einer Krisensemantik thematisiert wird, das Verhältnis von Kindertagestätte und Grundschule aktualisiert wird. Aktuell – nach PISA – steht die Frühpädago- MIT DINGEN ÜBERGÄNGE UND ZUWEISUNGEN GESTALTEN gik wieder im Fokus der Bildungsdebatte. Unter den Topoi der ‚frühen Förde- rung’ und ‚Anschlussfähigkeit’ wird der eigenständige Bildungsauftrag der früh- Freitag 26. Juli 2019 – 11:45 – 13:15 Uhr – D 238 pädagogischen Einrichtungen erneut diskutiert. Mit einer normativen Orientie- rung an Chancengleichheit, wird die Frühpädagogik als kompensatorisch-schul- vorbereitend adressiert, dies zeigt sich nicht zuletzt in den Bildungsplänen der Länder und mündet auch in Defizitkonstruktionen von Risikofamilien 3. Im Vortrag werden Erkenntnisse des ethnografischen Protomotionsprojektes „Choreografien des Übergangs. Adressat*innenpositionen in institutionellen Grenzzonen der (frühen) Kindheit“4 präsentiert. Thematisch wird ausgehend von der materialen Verfasstheit der Zuweisungspraxis zu Bildungsangeboten im Morgenkreis einer Kindertageseinrichtung diskutiert, entlang welcher normati- ver Orientierungen sich die Zuweisungspraxis entfaltet und inwiefern der Eigen- sinn dieser pädagogischen Praxis diese durchkreuzt. Der Vortrag soll anhand von Beobachtungsprotokollen die Verflechtung von Entwürfen von Kindheit mit der Verhandlung eines institutionenbezogenen Bildungsbegriffs re-konstruie- ren und damit Addressat*innenpositionen zugänglich machen. Die drei zentralen Erkenntnisse der Analyse betreffen: (1) erstens die materiale Verfasstheit der Angebotskarten, als pädagogisierte Dinge für Kinder; (2) zwei- tens orientiert sich die teleo-affektive Struktur der Zuweisungspraxis an einem 2 Jürgen Reyer (2006). Einführung in die Geschichte des Kindergartens und der Grundschule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. 3 Diehm, I. (2012). (Frühe)Förderung - Eine schillernde Semantik der Pädagogik. In C. Aubry, M. Geiss, V. Magyar-Haas, & D. Miller (Hrsg.), Positionierungen. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Pä- dagogik und Politik (S. 50-65). Weinheim Basel: Beltz Juventa. 4 Betreut von Prof. Dr. Claudia Machold und Prof. Dr. Helga Kelle an der Universität Bielefeld, ver- ortet im DFG geförderten Projekt „Ethnische Heterogenität und die Genese von Ungleichheit in Bil- dungseinrichtungen der (frühen) Kindheit“ (Leitung: Prof. Dr. Claudia Machold). 11
Bildungsbegriff, der das Kind neoliberal als als aktiviertes Akteurskind 5 entwirft. Mit einer normativen Orientierung an der freien Wahl, wird das Kind im Mor- genkreis für Bildung responsibilisiert; (3) drittens wirft diese Art der Zuwei- sungspraxis Fragen nach Partizipation und Ungleichheit auf. Die Zuweisungspra- xis ist einerseits eine Intensitätszone der Konkurrenz, andererseits sind spezifi- sche Kinder von der Auswahl ausgenommen, weil sie Förderangebote besu- chen. MIT DINGEN ÜBERGÄNGE UND ZUWEISUNGEN GESTALTEN Freitag 26. Juli 2019 – 11:45 – 13:15 Uhr – D 238 5 Schulz, M. (2013a). Frühpädagogische Konstituierung von kindlichen Bildungs- und Lernprozessen. Zeitschrift für Erziehung und Sozialisation 33 (1), 26–41. 12
11:45 – 13:15 Uhr Parallelpanel: KINDLICHE SAMMELPRAKTIKEN Moderation: Thorsten Fuchs Julia Boog-Kaminski: Spulen, Strümpfe, Worte. Über kindliche Sammelprakti- ken in Literatur und Psychoanalyse Die Beziehung des Kindes zu den Dingen dieser Welt ist rätselhaft, besonders, wenn man sich kindliche Sammlungen anschaut: Da tragen die Kleinen zusam- men, was die Großen für Müll halten. Sie kombinieren Bauklötze mit Kastanien, Schlumpf-Figuren mit Haifischzähnen. Immer wieder bringen sie ihre Fundstü- cke in neue, überraschende Zusammenhänge; messen den gleichen Dingen un- terschiedliche Sortierungskriterien und Bedeutungen bei, geben den Objekten Freitag, 26. Juli 2019 – 11:45 – 13:15 Uhr – D 239 ganz eigene Namen und Bezeichnungen. Wurde in früheren Jahrhunderten noch vor der „Sammelwut“ und damit ein- hergehendem „Besitztrieb“ der Kinder gewarnt, gibt es in Psychologie und Pä- KINDLICHE SAMMELPRAKTIKEN dagogik heutzutage verschiedene Ansätze, die das Kind erst durch diese Tätig- keit zum (autonomen) Subjekt heranreifen sehen. Sammeln wird als „kultu- relle“ und vor allem „äesthetische Praxis“ verstanden, mit der Erkenntnis, Kon- zentrationsfähigkeit und Bildung einhergehe. Die ausgeprägte Individualität und oftmals Willkürlichkeit kindlichen Sammelns scheint allerdings nicht allein zur (nützlichen) Wissensgenese zu dienen. Im Ge- genteil führen die Phantasien und Spiele, die mit den Sammlungsstücken voll- zogen werden, oft zur Auflösung und Chaotisierung von Ordnungen. Statt prak- tischer Handhabung kommt es zum Verwischen zwischen Ding und Selbst, Rea- lität und Phantasie. Der Vortrag möchte diesen Faden aufnehmen und die Funktionen infantilen Sammelns in Zusammenhang mit dem „Fort-Da-Spiel“ bei Sigmund Freud sowie den „Übergangsobjekten“ bei Donald W. Winnicott untersuchen. Hier werden vor allem Formen des Wieder(her)holens, der Versunkenheit und kreativ-ag- gressiver Weltaneignung zentral, die weg von einer didaktischen Orientierung, hin zu poetischen Modellen führen. Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert zeigt ein gänzlich zweckfreies, sogar „vergebliches“ Sammeln, das die Magie dieser anthropologi- schen Konstante heraushebt. Eben diese könnte eine wertvolle Ergänzung zu den Erziehungs- und Bildungskonzepten der Tagung sein. Der Vortrag soll ein Spiel mit Hülle und Inhalt, Spule und Faden, Ding und Ich herausarbeiten, das 13
den Prozess der Weltaneignung als „magische Korrespondenz“ des Kindes mit seiner Objektwelt hinterfragt. Freitag, 26. Juli 2019 – 11:45 – 13:15 Uhr – D 239 KINDLICHE SAMMELPRAKTIKEN 14
Ludwig Duncker: Kindliches Sammeln zwischen Bildung und Kommerz – Be- obachtungen und Interpretationen Das Pflegen von Sammlungen spielt in der Kindheit eine bedeutsame Rolle, wenn es darum geht, sich die gegenständlich fassbare Wirklichkeit anzueignen. Es ist zunächst immer der ästhetische Reiz, der von den Dingen ausgeht und Kinder dazu animiert, Sammlungen anzulegen und sich mit Hingabe den ausge- wählten Gegenständen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen zu widmen. Dabei werden auch Erkenntnisse gewonnen, so dass sich oft ein Expertenwissen ausbildet. Wo Sammlungen längerfristig gepflegt werden und sich in ihren Be- ständen und Beschäftigungen ein Interesse ausbildet, nehmen sie einen beson- deren Stellenwert im psychischen Haushalt der eigenen Identität ein. Mit Stolz Freitag, 26. Juli 2019 – 11:45 – 13:15 Uhr – D 239 werden Sammlungen präsentiert, sie werden in Tauschgeschäften erweitert und in Qualität der Bestände verbessert, sie werden eingebunden in spieleri- sche Handlungen und bilden so den Kern zahlreicher Lieblingsbeschäftigungen. KINDLICHE SAMMELPRAKTIKEN Allerdings geraten sie manchmal auch unter Vereinnahmungen von außen, wenn reine Nachahmungen das Sammeln diktieren oder wenn Kinder zu Opfern von Werbefeldzügen werden. Verschiedene Studien zeigen, dass Sammelaktivi- täten zunehmend durch Formen der Konsumorientierung geprägt und beein- flusst werden. Dennoch gibt es immer wieder Sammlungen, die kommerziell nicht gesteuert sind, weil sie sich auf Dinge konzentrieren, die käuflich gar nicht erwerbbar sind. Der Vortrag stellt Ergebnisse aus verschiedenen empirischen Studien zum Sam- melverhalten von Kindern im Grundschulalter vor und beleuchtet dabei die Be- deutung kommerzieller Einflüsse. Auch wird aus einer Langzeitstudie berichtet, die Kinder über einen Zeitraum von drei Jahren begleitet hat und so Einblicke in Selbstbildungsprozesse, in soziale und kommunikative Einbindungen wie auch in die thematischen Variationen des kindlichen Sammelns ermöglicht. 15
14:00 – 15:30 Uhr Parallelpanel: KINDER-DINGE-INTERAKTION IM KON- TEXT KINDERTAGESSTÄTTE Moderation: Thomas Grunau Désirée Bender: Körper-Ding-Praktiken in kindlichen Frei-Spiel-Räumen re- formpädagogischer Kindertagesstätten. Zur Bedeutung von Dingen, Räumen und Organisationskultur in einer Elterninitiative Aktuelle soziologische Beschreibungsformate von Kindheit konstatieren u.a. eine „Verschulung“ dieser (Peuckert 2008, S. 147), die sich auch dadurch aus- KINDER-DINGE-INTERAKTION IM KONTEXT KINDERTAGESSTÄTTE zeichnet, dass Kinder zunehmend in Bildungs- und Betreuungsorganisationen ihre Zeit verbringen. Der Ausbau des U3-Bereichs in Kindertagesstätten und des Freitag, 26. Juli 2019 – 14:00 – 15:30 Uhr – D 238 Ganztagsschulbereichs hat zur Folge, dass die in die Organisationsstrukturen eingeschriebenen Bildungsziele und Methoden ihrer Verfolgung, zunehmend Erfahrungsräume von Kindern vorstrukturieren, bedingen und begrenzen. Dies geschieht zunehmend früher im Lebensverlauf von Kindern und dehnt sich ten- denziell auch auf die Zeit nach der Schule aus. Nicht nur die konkreten Praktiken des Umgangs von Erzieher*innen und Lehrer*innen mit Kindern, auch materi- elle Objekte, Artefakte und Räume bedingen Möglichkeiten ihrer Erfahrungs- räume und tragen damit auch Anteil an spezifischen Kindheitskonstruktionen. Die Bedeutung von Körpern, Objekten und anderen Materialitäten wurde in Praxistheorien dezidiert als bedeutsam für die Prozessierung kultureller Prakti- ken herausgestellt. Diese erscheinen als kollektive Wissensordnungen, als „Kon- glomerat von Alltagstechniken“ und als „praktisches Verstehen im Sinne eines ‚sich auf etwas verstehen‘“ (Reckwitz 2003, S. 289). Einerseits sind es die Körper der handelnden Subjekte, in denen praktisches Verstehen und Wissen verortet wird, andererseits wird es als „die Form von routinisierten Beziehungen zwi- schen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten‘ materialen Artefakten verstan- den“. Sich der Untersuchung materieller Objekte für soziale Praktiken zuzuwen- den, legt es nahe, die zu beobachtenden Praktiken ethnografisch in den Blick zu nehmen (Breidenstein et. al 2013). Der Vortrag schließt an die ethnografische Kindheitsforschung an, welche „die „Sicht“ der Kinder durch die Rekonstruktion ihres praktischen Wissens und ihrer Interaktionskompetenz als Mitglieder einer eigenständigen Kinderkultur“ be- greift (Schweizer 2007, S. 253). Mit einem derart gestalteten Interesse an kind- lichen Raum- und Spielpraktiken und ihren Objekten, welche sich jenseits von Eingriffen, Regulierungen oder der Mitgestaltung durch (pädagogisch han- delnde) Erwachsene entwickeln, fokussiert mein Vortrag Spielpraktiken von 16
Kindern und die Bedeutungen ihrer materiellen Objekte, welche – je situativ prozessiert – sicht- und beobachtbar werden. Der vorgestellten Analyse von teilnehmenden Beobachtungen zugrunde liegt meine ethnografische Untersu- chung in einer Betreuungsorganisation im Rhein-Main-Gebiet für Kinder, die dort altersübergreifend von 1,5 bis zu einem selbst gewählten Austrittsalter wo- chentags zwischen 8 und 17 Uhr gruppenübergreifend ihren Alltag verbringen können. Konzeptionell, räumlich und organisationskulturell ist die Kindertages- stätte mit Hort im Kontext reformpädagogischer Ansätze verortet und unter- scheidet sich vielfach von Regeleinrichtungen. KINDER-DINGE-INTERAKTION IM KONTEXT KINDERTAGESSTÄTTE Der Vortrag stellt einerseits konzeptionelle, räumliche und organisationskultu- relle Charakteristika der Organisation dar und legt andererseits seinen Fokus Freitag, 26. Juli 2019 – 14:00 – 15:30 Uhr – D 238 auf die Darstellung und Analyse ethnografischer Daten, die während meines Feldaufenthaltes dort entstanden. Dabei liegt der Fokus gerade auf den Frei- spielpraktiken und ihren Objekten in verschiedenen Situationen, in welchen die Kinder selbstbestimmt Räume, Spielpraktiken und auch die Auswahl der Ob- jekte wählten und praktisch für sich mit Bedeutung versahen. Die konkret situ- ativ für die Kinder sich entfaltenden Bedeutungsdimensionen der Gegenstände für das Spiel stehen dabei im Fokus. Abschließend wird die Bedeutung dieser Frei-Spiel-Räume (bei gezielt kultivierter Zurückhaltung Erwachsener) im Hin- blick auf Lernpotenziale erörtert und eruiert, zu welchen Akteuren die Körper- Ding-Praktiken die Kinder im Kinderspiel praktisch auftreten lassen. Literatur Breidenstein, G./Hirschauer, S./Kalthoff, H./Nieswand, B. 2013: Ethnografie: Die Praxis der Feldforschung, Konstanz/München. Peuckert, R. 2008: Familienformen im sozialen Wandel, Wiesbaden. Reckwitz, A. 2003: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoreti- sche Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, H. 4, S. 282- 301, http://www.zfs- online.org/ojs/index.php/zfs/article/viewFile/1137/674 [05.04.2019]. Schweizer, H. 2007: Soziologie der Kindheit. Verletzlicher Eigen-Sinn, Wiesbaden. 17
Dominik Farrenberg: Eine (Un-) Ordnung der Dinge? Ethnographische Einsich- ten in die Materialitäten kindheitspädagogischer Praxis und ihrer Regierungs- SpielRäume Dinge, in erster Linie Spielzeuge, nehmen in der Institution Kindertageseinrich- tung eine bedeutsame aber auch gleichzeitig ambivalente Rolle ein: Einerseits regen sie das Kindergarten-Kind durch ihren ‚Aufforderungscharakter‘ zum Spielen und Lernen an (vgl. exemplarisch Schäfer 2010, S. 77). Andererseits wir- ken sie ebenso durchaus machtvoll normierend und mitunter disziplinierend als ihr „Miterzieher“ (Stieve 2008, S. 42). Im Anschluss an Michel Foucault lassen KINDER-DINGE-INTERAKTION IM KONTEXT KINDERTAGESSTÄTTE sie sich damit gleich in mehrfacher Hinsicht als Ordnung stiftende Materialität begreifen, welche über die Art und Weise ihrer jeweiligen „Zuhandenheit“ (Hei- Freitag, 26. Juli 2019 – 14:00 – 15:30 Uhr – D 238 degger 1926/1977, S. 69) sowohl epistemisch - im Verständnis einer „Ordnung der Dinge“ (Foucault 1971/2008) - Sinn, Zweck und Bedeutung definieren bzw. instrumentieren, als auch damit verbunden zu einer subjektivierenden bzw. ob- jektivierenden Regierung der sie in Gebrauch nehmenden Akteur_innen beitra- gen. Ihre Materialität geht zusammen mit performativen Momenten ihrer Ge- brauchnahme, sie erzeugt affektuelle Gestimmtheiten (vgl. Reckwitz 2016, S. 169 ff.) und (re-)produziert diskursive Konstruktionen und Ordnungen. Im Ver- ständnis dieses Beitrags ist es das Zusammenspiel dieser vier Dimensionen, wel- ches die lokale, pädagogische Praxis und ihre Subjekte erzeugt, d. h. Kindheit und ihre Pädagogik gemeinsam hervorbringt. Der hier skizzierte Beitrag reflektiert ausgewählte Szenen aus einer ethnogra- phischen Forschung in Kindertageseinrichtungen, welche mit einer praxeolo- gisch und regierungstheoretisch informierten Perspektive die Subjektivie- rung/Objektivierung und gleichzeitige Selbstproduktion des Kindergarten-Kin- des thematisiert (vgl. Farrenberg 2018). Ausgewählt werden dabei Szenen, wel- che nicht nur die Stabilität der geordneten pädagogischen Praxis illustrieren, sondern vielmehr in den Blick nehmen, wie Ordnung und Unordnung ineinander übergehen: Zum einen animieren die Dinge ebenso zu einem normgeleiteten Gebrauch, wie sie eine normüberschreitende Gebrauchsweise ‚erdulden‘ bzw. ermöglichen. Zum anderen laufen in der ethnographierten Praxis - über den Ge- brauch der Dinge evoziert - fortwährend verschiedene Zugehörigkeiten und Ordnungen ineinander über. Insbesondere nehmen die pädagogisch-institutio- nelle Ordnung der Kindertageseinrichtung, die kinderkulturelle Ordnung der dort aufeinandertreffenden Kinder und die gesellschaftlich-konsensuale Eigen- tumsordnung Dinge und die sie gebrauchenden Akteur_innen changierend für sich ein. Gleichzeitig eröffnen sich eben hierüber RegierungsSpielRäume. Dinge 18
werden als Status- und Begehrensobjekte hervorgebracht, deren Inbesitz- nahme soziale Anerkennung, Individualität und Identität versprechen (vgl. Reckwitz 2010, S. 399 ff.). Die geltenden Normen der lokalen, pädagogischen Praxis werden durch sie dabei sowohl gestützt und gestärkt als auch korrum- piert und herausgefordert. Dies gilt insbesondere für Dinge, die durch die Kinder von außen in die pädagogische Institution Kindertageseinrichtung eingeschleust werden und als ‚institutionelle Übergangsobjekte‘ (vgl. Winnicott 1973/2015, S. 11) nun zwischen den durch sie diskursiv aufgerufenen Ordnungen vermitteln. Der Beitrag nimmt die Materialitäten kindheitspädagogischer Praxis in der hier KINDER-DINGE-INTERAKTION IM KONTEXT KINDERTAGESSTÄTTE beschriebenen Ambivalenz in den Blick und diskutiert Schlussfolgerungen, die sich hieraus für Kindheit und ihre Pädagogik in Form von RegierungsSpielRäu- Freitag, 26. Juli 2019 – 14:00 – 15:30 Uhr – D 238 men ergeben. Literaturverzeichnis Farrenberg, D. (2018): RegierungsSpielRäume. Eine Ethnographie über Praktiken der Herstellung des Kindergartenkindes. Dissertationsschrift. Online im Internet: https://voado.uni-vechta.de/handle/21.11106/120 [Aufgerufen am 28.02.2018]. Foucault, M. (1971/2008): Die Ordnung der Dinge. In: Foucault, M./Honneth, A./Saar, M. (Hrsg.): Die Hauptwerke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7-469. Heidegger, M. (1926/1977): Sein und Zeit. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914- 1970. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Reckwitz, A. (2010): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bür- gerlichen Moderne zur Postmoderne. unveränd. Nachdruck der Erstausgabe 2006, Stu- dienausgabe. Weilerswist: Velbrück. Reckwitz, A. (2016): Praktiken und ihre Affekte. In: Schäfer, Hilmar (Hrsg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Bielefeld: Transcript, S. 163–180. Schäfer, C. (2010): Die Montessori-Methode und Didaktik im Kinderhaus. In: Kasüschke, D. (Hrsg.): Didaktik in der Pädagogik der frühen Kindheit. Köln und Kronach: Link, S. 64- 89. Stieve, C. (2008): Von den Dingen lernen. Die Gegenstände unserer Kindheit. München: Fink. Winnicott, D. W. (1973/2015): Vom Spiel zur Kreativität. 14. Auflage. Stuttgart: Klett- Cotta. 19
14:00 – 15:30 Uhr Parallelpanel: BRETTSPIELE UND SPIELARTIKEL Moderation: Tamara Diederichs Barbara Sterzenbach: Rollenangebote in Brettspielen für Kinder und Jugendli- che In jedem Jahr werden unzählige Gesellschaftsspiele entwickelt und veröffent- licht. Ein Großteil dieser Spiele ist für Familien mit Kindern und Jugendlichen konzipiert und versetzen diese in verschiedene Rollen, Situationen und fanta- sievolle (Spiel)Welten. Spielerisch werden dabei verschiedene Kompetenzen und Zusammenhänge der Welt vermittelt sowie Strategien, Rollen und selbst- verständlich das eigene Glück ausgetestet. Dabei schlüpfen die Spielenden in Freitag, 26. Juli 2019 – 14:00 – 15:30 Uhr – D 239 verschiedene Rollen: Sie erkunden als mutige Abenteurer*innen Kontinente, wehren sich als Wissenschaftler*innen gegen gefährliche Epidemien oder füh- ren als Herrscher*innen mächtige Zivilisationen an. Die Spielfiguren, die ihnen BRETTSPIELE UND SPIELARTIKEL dabei angeboten werden, reichen von abstrakten Klötzchen bis hin zu detaillier- ten Aufstellern, welche Held*innen verkörpern. Manches Brettspiel bietet ne- ben der Rollenübernahme also auch dingliche Identifizierungsangebote, die sich oft an Idealvorstellungen orientieren und so „Ausdruck aktueller, gesellschaftli- cher Verhältnisse und Kultur“ (Renner 2008, S. 190) sein können. Retter (1979) weist auf die in Spielmitteln gespiegelten Normen der Gesellschaft zu Ge- schlechterrollen hin, da „alle Spielmittel mit geschlechtstypischer Abbildungs- funktion die Ausbildung des Rollenstereotyps unterstützen“ (ebd., S. 231), in- dem Spielende einerseits „typisierende Eigenschaften“ (ebd.) der Geschlechter unterscheiden lernen, andererseits diese Eigenschaften zur eigenen geschlecht- lichen Identifikation heranziehen (vgl. ebd.). Normalitätsvorstellungen zu Ge- sundheit, Alter oder Ethnizität werden, so die Annahme, ebenfalls in den Held*innenfiguren re-produziert. In der vorliegenden Forschung wurden 100 der beliebtesten Spiele auf verschie- dene Rollenangebote untersucht. Der Feldzugang geschah über die Website Boardgamegeek (BGG), ein internationaler Spielekatalog mit umfangreichen In- formationen zu Brettspielen. Die Darstellungen und Figuren von Spielen, die den Spielenden ausdifferenzierte Rollenangebote machen, wurden auf körper- liche Differenzlinien (vgl. Lutz/Wenning 2001) untersucht. Da es in diesem Feld kaum Untersuchungen oder Modelle gibt, wurde hier eine explorative Grundlagenarbeit geleistet, die neue Perspektiven auf den Gegen- stand Gesellschaftsspiel eröffnet und eine wissenschaftliche Auseinanderset- zung anregen will. 20
Literatur Lutz, H./ Wenning, N. (2001): Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten. In: Lutz, H. / Wenning, N. (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erzie- hungswissenschaft. Opladen: Leske + Budrich, S. 11-24. Renner, M. (2008): Spieltheorie und Spielpraxis. Eine Einführung für pädagogische Be- rufe. 3., neu bearbeitete Auflage, Freiburg: Lambertus. Retter, H. (1979): Spielzeug. Handbuch zur Geschichte und Pädagogik der Spielmittel. Weinheim und Basel: Beltz. Freitag, 26. Juli 2019 – 14:00 – 15:30 Uhr – D 239 BRETTSPIELE UND SPIELARTIKEL 21
Nicole Hoffmann: ‚Die Feuerwehr hat alle Hände voll zu tun…‘ Über das ‚Leben in der Stadt‘ im Spiegel verschiedener Kinderspielartikel „In LEGO® City ist ein neuer Tag angebrochen und die Feuerwehr hat alle Hände voll zu tun, die Brände in der Stadt zu löschen und Mensch und Tier in LEGO ® City zu helfen! Doch eine solch heldenhafte Arbeit macht auch gewaltigen Ap- petit – und Lust auf Hotdogs!“ „Bauen, spielen und erkunden – mit den LEGO® City Spielsets. Erbaue realistische Gebäude, such dir Arbeit, hab Spaß und erlebe zahlreiche aufregende Abenteuer. Wie in einer echten Stadt!“ 6 Folgen wir solchen Formulierungen, wie sie etwa auf der Homepage der Firma LEGO zu lesen sind, dann scheint das Leben in einer Stadt vor allem ereignisreich und spannend zu sein. Pendler*innen im Berufsverkehr, Wohnungssuchende Freitag, 26. Juli 2019 – 14:00 – 15:30 Uhr – D 239 bei der x-ten Absage oder Anwohner*innen beim Einkauf im Supermarkt mögen dies anders sehen, doch in den Welten des Spiels kann und darf der Alltag von anderen Regeln geprägt sein. Welche Vorstellungen vom Leben in einer Stadt BRETTSPIELE UND SPIELARTIKEL begegnen uns dabei konkret auf dem Spielwaren-Markt? Was wird uns bzw. unseren Kindern dort ‚vermittelt‘? Welche Geschichten werden erzählt; was fin- det keinen Widerhall? Fragen wie diese waren Ausgangspunkt einer dokumentenanalytischen Studie, die in explorativer Absicht das Angebot von jenen Spielprodukten sondiert, wel- che das Thema ‚Stadt‘ explizit aufgreifen. Aus einer Analyse dreier Warengrup- pen (a. Spielteppiche, b. Baustein-Sets und c. Konzept-Reihen, wie „LEGO City“) werden dazu Befunde vorgestellt und im Sinne der dort repräsentierten ‚Spiel- Räume des Urbanen‘ diskutiert. Zwar ist nicht davon auszugehen, dass die mit den Spielprodukten nahegelegten Repräsentationen ‚städtischen Lebens‘ 1:1 Eingang in die Vorstellungswelten der Kinder finden, doch werden sie auch nicht gänzlich spurlos an ihnen vo- rübergehen. Den Spielenden kommt dabei durchaus eine aktive Rolle in der Ge- staltung der Aneignung zu; doch auch „wenn die Kinder die RegisseurInnen sind: Wir haben es mit einem Akteursnetz aus Kindern, Dingen und Erwachsenen zu tun“ (Buchner-Fuhs, 2014, S. 1507) – und dieses Netz reicht weit hinaus über das Kinderzimmer, hinein in internationale Warenmärkte und Medienwelten. So werden Erwachsene wie Kinder hier mit spezifischen Setzungen konfrontiert, 6 https://www.lego.com/de-de/themes/city/products Zugriff am 10.03.2018 7Buchner-Fuhs, Jutta (2014): Das Kinderzimmer und die Dinge. Von Normalitätsentwürfen und he- terotopen Orten in der Kinderkultur. In: Christina Schachtner (Hrsg.): Kinder und Dinge: Dingwelten zwischen Kinderzimmer und FabLabs. Bielefeld: transcript, S. 149-173. 22
was eine ‚Stadt‘ ausmacht. Zwar wird in den Werbetexten immer wieder auf den ‚Raum für Phantasie‘ verwiesen, der den Spielwaren innewohne, doch ist dies ein Raum eines sehr bestimmten z.T. dramatisierten, z.T. romantisierten, z.T. rückständigen Zuschnitts. Freitag, 26. Juli 2019 – 14:00 – 15:30 Uhr – D 239 BRETTSPIELE UND SPIELARTIKEL 23
15:45 – 17:45 Uhr: BILDERBÜCHER UND KINDERZEICHNUNGEN Moderation: Wiebke Waburg Wiebke Hiemesch: Kindergeschichte (nach)zeichnen. Eine exemplarische Ar- tefakten-analyse von Zeichnungen aus dem Projekt ‚Bridging the Gap‘ im Is- rael Museum/Jerusalem Junge Menschen haben zu jeder Zeit und an jedem Ort materielle Spuren – Dinge – hinterlassen. Diese entstanden beiläufig, mit einer klaren Absicht oder unter Aufforderung, mitunter um etwas Überdauerndes zu hinterlassen. Ob diesen Dingen aber auch eine Aufmerksamkeit zukommt oder zukam, ob sie er- halten oder gar als Quellen zur Erforschung kindlichen Lebens wertgeschätzt Freitag, 26. Juli 2019 – 15:45 – 17:15 Uhr – D 239 wurden, ist eine andere Frage. Dies ist und war weder zu jeder Zeit noch für BILDERBÜCHER UND KINDERZEICHNUNGEN jede Kindergruppe der Fall.8 Dingen als eigenständige Quellen kam in der historischen Forschung zu Kindern und Kindheit auch deshalb nur bedingt Aufmerksamkeit zu, weil sich durch sie besondere methodische Herausforderungen stellen. Vor diesem Hintergrund fragt der Vortrag nach Möglichkeiten und Grenzen der Artefaktanalyse für die (historische) Kindheitsforschung: Was können Forschende auf der Basis dieser von Kindern geschaffenen und genutzten Dinge über die Lebenswelten von Kin- dern und ihren Sichtweisen auf historische und politische Ereignisse erfahren? Von besonderem Interesse sind für mich Artefakte, die vom Kindern „mit Ge- schick“ geschaffen wurden, insbesondere solche, die aus einem handwerkli- chen/ künstlerischen Schaffen hervorgegangen sind (u.a. Kinderzeichnungen, von Kindern geschaffenes Spielzeug oder genutzte Gegenstände). In ihnen ma- terialisieren sich Vorstellungen und Symbolsysteme und sie bestimmen zugleich selbst menschliches Denken und Handeln mit. Die Überlegungen entwickele ich ausgehend von einem Bestand an Zeichnungen, die 2009 im Rahmen des Pro- jektes ‚Bridging the Gap‘ am Israel Museum (Jerusalem) entstanden. Das Kunst- projekt läuft seit 1993 und ermöglicht Begegnungen zwischen Kindern im Alter von ca. zwölf Jahren aus Ost- und Westjerusalem. Die Zeichnungen wurden nach den Auseinandersetzungen des ‚Gaza-Krieges‘ im Winter 2008/2009 nach 8 Vgl. bspw. Hendrick, Harry (2010): The Child as Social Actor in Historical Sources. Problems of Iden- tification and Interpretation, in: Pia Christensen/Allison James (Hg.): Research with Children. Per- spectives and Practices. 2nd Edition, New York: Routledge, S. 36-61. 24
einer Aufforderung der Kunstlehrer*innen angefertigt. Bis heute werden sie im Büro des Projektleiters aufbewahrt.9 Mit dem Vortrag schließe ich an Theorien Materieller Kulturen an, um eine the- oretische Perspektive auf Zeichnungen als Artefakte zu entwickeln. Ich interes- siere mich also nicht allein für die physische Gestalt von Zeichnungen oder die Darstellungen oder gar (psycho)diagnostische Fragen. Vielmehr verstehe ich die Zeichnungen als Spuren historischer und politischer Ereignisse und rücke die so- zialen Verflechtungen in den Mittelpunkt, in denen sie entstanden und aufbe- wahrt wurden. Dazu beziehe ich mich auf Ansätze der Artefaktanalyse sowie objektbiographische Zugänge.10 Es stellen sich Fragen an die Entstehung und Nutzungsweisen der Artefakte und ihre Eingebundenheit in unterschiedliche Freitag, 26. Juli 2019 – 15:45 – 17:15 Uhr – D 239 kulturelle Praxen. Wie machen Kinder das Artefakt? Was macht das Artefakt mit BILDERBÜCHER UND KINDERZEICHNUNGEN Mensch und Gesellschaft? Welchen Weg ist das Artefakt gegangen und wie ha- ben sich seine Bedeutungszuschreibungen gewandelt? Die hier betrachteten Zeichnungen befrage ich in dem Vortrag nicht daraufhin, was sie zeigen oder abbilden. Indem ich ihren Weg von dem Moment der Entstehung aus nach- zeichne und auf deren Materialität und den Wandel in Nutzungsweise und Be- deutungszuschreibungen fokussiere, möchte ich auf Erkenntnisebenen abhe- ben, die über die dargestellten Motive hinausgehen. 9 Den Zeichnungsbestand ergänzen ein Interview mit dem Projektleiter sowie Beobachtungsproto- kolle und Hintergrundgespräche, die ich zwischen März und April 2019 anfertigte. Über sechs Wo- chen nahm ich an zwei verschiedenen laufenden Kunstkursen des Projektes „Bridging the Gap“ am Israel Museum/Jerusalem teil. 10 Vgl. Lueger, Manfred/Froschauer, Ulrike (2018): Artefaktanalyse. Grundlagen und Verfahren. Wiesbaden: Springer VS; Gosden, Chris/Marshall, Yvonne (1999): The Cultural Biography of Objects. In: World of Archeology, Jg. 31, H. 2, S. 169-178; Joy, Jody (2009): Reinvigorating Object Biography: Reproducing the Drama of Object Lives. In World Archeology, Jg. 41, H. 4, S. 540-556; Braun, Peter (2015): Objektbiographien. Ein Arbeitsbuch. Weimar: Verlag für Geisteswissenschaften. 25
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