Öffentliches Recht - Jura Intensiv

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ÖFFENTLICHES RECHT                                                                                RA 2001, HEFT 8

                                                                                      Öffentliches Recht

Standort: VerwR BT                               Problem: Sondernutzungserlaubnis für Wahlplakate

VG GIEßEN, BESCHLUSS VOM 27.02.2001                         scher Parteien wegen Art. 28, 21 GG jedenfalls in der
8 G 335/01 (NVWZ-RR 2001, 418)                              “heißen” Wahlkampfphase eine solche Ermessensredu-
                                                            zierung bzgl. der Gestattung von Wahlwerbung zu beja-
                                                            hen ist. Grenze des Anspruchs sind (nur) sicherheits- und
Problemdarstellung:
                                                            ordnungsrechtliche Aspekte (z.B. darf das Plakatieren
Das VG Gießen spricht im vorliegenden, im Eilverfahren
                                                            von Masten usw. die Sicherheit des Verkehrs nicht ge-
nach § 123 I VwGO ergangenen Beschluss einer politi-
                                                            fährden) und die abgestufte Chancengleichheit aus § 5 I
schen Partei einen Anspruch gegen die Gemeinde auf
                                                            PartG.
Zuweisung ausreichender Flächen für die Anbringung
von Wahlwerbung zu. Den entsprechenden Anspruch             Im vorläufigen Rechtsschutz wäre, wenn in der Hauptsa-
leitet es aus § 16 HessStrG ab; Wahlwerbung durch das       che lediglich ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Ent-
Plakatieren von Lichtmasten, Schildern u.ä. sei straßen-    scheidung besteht, diese wegen der Eile jedoch nicht
rechtlich als Sondernutzung einzustufen. Der danach         mehr rechtzeitig durchgeführt werden kann, die Frage zu
bestehende Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entschei-      klären, ob das Gericht nicht nur die Hauptsache vorweg-
dung über die Erteilung einer entsprechenden Sondernut-     nehmen, sondern sogar mehr als in der Hauptsache (näm-
zungserlaubnis reduziere sich in Wahlkampfzeiten jedoch     lich Vornahme) zusprechen kann. Unter Hinweis auf Art.
auf einen Vornahmeanspruch. Dessen Umfang sei nach          19 IV GG wird selbst dies im Einzelfall für zulässig
der sogen. “abgestuften Chancengleichheit” i.S.d. § 5 I     gehalten, wenn der ASt. ansonsten rechtsschutzlos ge-
PartG zu bestimmen. Eine Selbstbindung anderer Partei-      stellt würde (sehr str.; bejahend Schoch/Schmidt-
en durch kollektiven Verzicht auf das Plakatieren von       Aßmann/Pietzner, VwGO, § 123 Rz. 158; Günther,
Masten, Schildern u.ä. könne hieran nichts ändern, da       NVwZ 1986, 697, 702; a.A. die wohl h.M., vgl.
eine solche Vereinbarung allenfalls die Unterzeichner       BVerwGE 63, 110, 112; OVG Münster, NWVBl 1995,
binden, nicht aber zu Lasten Dritter wirken könne.          140, 141; VGH München, NVwZ-RR 1991, 441, 442).
Abschließend macht das Gericht Ausführungen zur Zu-
                                                            Vertiefungshinweise:
lässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache im Rahmen
des § 123 I VwGO, welche es mit Blick auf Art. 19 IV        “ Zur Zulässigkeit von Wahlwerbung: BVerwGE 47,
GG grds. für möglich hält, jedoch strengen Vorausset-       280; VGH Mannheim, VBlBW 1987, 310; VG Gelsen-
zungen unterwirft.                                          kirchen, NWVBl 1999, 106, 107; vgl. auch BVerfG, RA
                                                            2001, 428 zum Konflikt von Wahlwerbung und postmor-
                                                            talem Persönlichkeitsrecht
Prüfungsrelevanz:
                                                            “ Zur Vorwegnahme der Hauptsache bei § 123 I
Die Erteilung einer straßenrechtlichen Sondernutzungs-      VwGO: BVerwGE 63, 111; VGH München, NVwZ-RR
erlaubnis steht nach den Straßen- und Wegegesetzen der      1993, 356; Adolf, JA 1990, 30
Länder grds. im Ermessen der Behörde. Wird im Wege
der Verpflichtungsklage gleichwohl der Erlass einer Son-
                                                            “ Zum Verhältnis der Plakatierung der Parteien unter-
                                                            einander: VG Düsseldorf, NVwZ-RR 1992, 729.
dernutzungserlaubnis begehrt, kann wegen fehlender
Spruchreife (§ 113 V VwGO) allenfalls ein sogen. “Be-
scheidungsurteil” ergehen, mit dem die Behörde zur Neu-     Kursprogramm:
bescheidung des Kl. verpflichtet wird, wenn sie seinen      “ Examenskurs: “Der Krampf mit dem Wahlkampf”
Antrag ermessensfehlerhaft abgelehnt hat. Ein “Vornah-
meurteil” kommt nur bei Ermessensreduzierung auf Er-        Leitsätze:
teilung in Betracht, weil dann mangels verbleibenden        1. Das Recht zum Aufstellen von Wahlplakaten als
Ermessensspielraums das Gericht auch bei Verpflichtung      Ausprägung des Anspruchs, wirksame Wahlwerbung
der Behörde nicht unzulässigerweise (vgl. § 114 VwGO)       betreiben zu können, erfordert es, einer kandidieren-
in selbigen eingreift, die Sache also spruchreif i.S.d. §   den politischen Partei einen Aufstellort pro 100 Ein-
113 V VwGO ist. Der Examenskandidat sollte sich für         wohner zur Verfügung zu stellen.
den vorliegenden Fall einprägen, dass zugunsten politi-     2. Eine Vereinbarung zur Selbstbeschränkung hin-
                                                        -445-
RA 2001, HEFT 8                                                                               ÖFFENTLICHES RECHT

sichtlich des Plakatierens zu Wahlwerbezwecken, die          1. Anspruchsgrundlage
die übrigen politischen Parteien und Gruppierungen           Der Ast. steht ein Anspruch auf die Erteilung einer
unterzeichnet haben, bindet nicht die Partei, die dieses     Sondernutzungserläubnis gem. § 16 I Hessisches Straßen-
Abkommen nicht unterzeichnet hat.                            gesetz (HessStrG) in dem im Tenor dargestellten Umfang
                                                             zu. Nach dieser Vorschrift bedarf der Gebrauch der öf-
Sachverhalt:                                                 fentlichen Straßen über den Gemeingebrauch hinaus
Die Ast. ist eine Wählergruppe und tritt erstmals zu einer   (Sondernutzung) der Erlaubnis der Straßenbaubehörde.
Wahl an, nachdem sie von der Ag. für die am 18. 3.
2001 stattfindende Wahl zur Gemeindevertretung zu-           2. Voraussetzung: Wahlwerbung als Sondernutzung
gelassen wurde. Mit Schreiben vom 18. 12. 2000 bat die       Beim ortsfesten Aufstellen oder Aufhängen von Wahl-
Ast. die Ag., geeignete öffentliche Plätze zur Aufstellung   werbeplakaten im öffentlichen Straßenraum, etwa an
von Aushangkästen zu benennen. Zusätzlich begehrte sie       Lichtmasten oder Verkehrszeichen, handelt es sich, wo-
die Bereitstellung entsprechender Klebeflächen und die       von im Übrigen auch die Bet. zutreffend ausgehen, um
Genehmigung für das Aufstellen bzw. Aufhängen von            eine erlaubnispflichtige Sondernutzung in diesem Sinne
Wahlwerbetafeln für die bevorstehende Kommunalwahl.          (Grothe, in: Kodall/Krämer, StraßenR, 6. Aufl. 1991, S.
Unter dem 26. 1. 2001 erteilte die Ag. der Ast. eine         718).
"Sondernutzungserlaubnis" zur Plakatierung im Gebiet
der Ag., und zwar ausschließlich an den dafür vorgesehe-     3. Rechtsfolge: Ermessen
nen Stellen. Eine Auflistung der Standorte dieser Tafeln     Der Magistrat der Ag., der als Straßenbaubehörde gem.
war dem Bescheid als Anlage beigefügt. Das Anbringen         § 16 I 1 i. V. mit §§ 46 V, 43 HessStrG für die Erteilung
von Wahlplakaten an anderen Stellen, wie z. B. Licht-        einer Sondernutzung in Bezug auf Gemeindestraßen zu-
masten, wurde der Ast. untersagt. Diese äußerte die An-      ständig ist, befindet über deren Erteilung grundsätzlich
sicht, sie sehe es als massive Wahlbehinderung und Be-       nach pflichtgemäßem Ermessen.
nachteiligung an, dass ihr von der Ag. auf Grund des
gestellten Antrags ohne Nennung einer gesetzlichen            a. Ermessensreduzierung in Wahlkampfzeiten
Grundlage Wahlwerbung ausschließlich an den dafür             In Wahlkampfzeiten, worunter jedenfalls die letzten
vorgesehenen Stellen, nämlich an den benannten Wahl-          sechs Wochen vor dem festgesetzten Wahltermin zu ver-
plakattafeln, erlaubt worden sei. Sie suchte um einst-        stehen sind, besteht jedoch ein Anspruch im Wege einer
weiligen gerichtlichen Rechtsschutz nach. Der Antrag          Ermessensreduzierung auf Null der zur Wahl zugelasse-
hatte teilweise Erfolg.                                       nen Parteien und Wählergruppen auf Ermöglichung an-
                                                              gemessener Wahlsichtwerbung im Straßenraum durch
Aus den Gründen:                                              Bewilligung der erforderlichen Sondernutzungserlaub-
Der Antrag ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Um-         nisse (vgl. VG Gelsenkirchen, NWVBl 1999, 106, 107).
fang begründet. Gem. § 123 I VwGO kann das Gericht            Dabei ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:
auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einst-         "Die Bedeutung von Wahlen für einen demokratischen
weilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand           Staat (vgl. Art. 28 I 2 und Art. 28 I GG) und die Bedeu-
treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Ver-        tung der Parteien für solche Wahlen, wie sie sich aus
änderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung         Art. 21 GG und §§ 1 ff. PartG ergibt, schränken das
eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich     behördliche Ermessen bei der Entscheidung über die
erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind        Erlaubnis zum Aufstellen von Wahlplakaten durch Par-
auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug        teien in so erheblichem Umfang ein, dass jedenfalls für
auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese      den Regelfall - in noch zu erörternden Grenzen - ein An-
Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen,        spruch einer Partei auf Erlaubnis besteht. Die Sichtwer-
um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende             bung für Wahlen gehört - ebenso nach der Rechtspre-
Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig           chung des BVerfG die Wahlpropaganda im Rundfunk
erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt     (vgl. BVerfGE 14, 121, 131) - heute zu den Mitteln im
demgemäß das Bestehen eines Anordnungsgrundes als             Wahlkampf der politischen Parteien und ist zu einem
auch eines Anordnungsanspruchs voraus.                        wichtigen Bestandteil der Wahlvorbereitung in der De-
                                                              mokratie geworden (BVerfGE 14, 121; 34, 160, 163
I. Anordnungsanspruch                                         gegenüber BVerfGE 7, 99, 107, wo noch dahingestellt
Die Ast. hat glaubhaft gemacht, dass sie einen Anspruch       geblieben war, ob der Rundfunk verpflichtet sei, politi-
auf die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis für das       schen Parteien Sendezeit für Wahlpropaganda einzuräu-
Aufstellen von 69 Wahlwerbetafeln im Gebiet der Ag.           men). Die Wahlsichtwerbung als gewissermaßen
hat und jene ihr entsprechend geeignete Plätze benennen       selbstverständliches Wahlkampfmittel darf daher durch
muss [...].                                                   gänzliche oder auch nur weitgehende Verweigerung vor-
                                                         -446-
ÖFFENTLICHES RECHT                                                                                   RA 2001, HEFT 8

gesehener Erlaubnisse grundsätzlich nicht beschnitten         nicht ersichtlich.
werden. Bundesrecht gibt demnach, da Parteienrecht in
vollem Umfang Bundesrecht darstellt und Landes- und           (2). Selbstbeschränkung der übrigen Parteien
Kommunalwahlrecht in seinen verfassungsrechtlichen            Der oben dargestellte Anspruch der Ast. auf Ermögli-
Grundzügen im Bundesrecht verankert ist (Art. 28 I 2          chung entsprechender Plakatierung ist schließlich nicht
GG), zumindest dem Grunde nach einen Anspruch auf             durch die Vereinbarung beschränkt, die die übrigen poli-
Gestattung der Wahlsichtwerbung durch Parteien                tischen Parteien und Gruppierungen der Ag. geschlossen
(BVerwGE 47, 280, 283).                                       haben. Nach dieser Übereinkunft werden Plakate zur
                                                              bevorstehenden Kommunalwahl am 18. 3. 2001 nur an
b. Umfang nach abgestufter Chancengleichheit                  den von der Ag. zur Verfügung gestellten Plakatflächen
Der angemessene Umfang der Werbung im Einzelfall              aufgeklebt. Ein "wildes" Plakatieren soll hiernach verhin-
bestimmt sich nach dem Grundsatz der so genannten             dert werden. Diesem Abkommen kommt aber für die Ast.
abgestuften Chancengleichheit, wie er in § 5 I PartG          keine entsprechende Bindungswirkung zu, da sie diese
seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat                 Übereinkunft nicht unterzeichnet hat.
(BVerwGE 47, 280; VG Gelsenkirchen, NWVBl 1999,
106, 107; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 5. Aufl.           II. Vorwegnahme der Hauptsache als Grenze des ge-
[2000], Art. 21 Rdnr. 16). Demzufolge ist der Grundsatz       richtlichen Anordnungsermessens
der Wettbewerbs- und Chancengleichheit der politischen        Dem Erlass einer entsprechenden einstweiligen Anord-
Parteien und Wählergruppen nicht streng formal zu             nung steht vorliegend der Gesichtspunkt der Vorwegnah-
handhaben, sondern es ist zulässig und ggf. sogar not-        me der Hauptsache nicht entgegen.
wendig, die Parteien bei der Gewährung öffentlicher
Leistungen, wie hier der Erteilung von Sondernutzungs-        1. Möglichkeit der Vorwegnahme im Lichte des Art. 19
erlaubnissen für Wahlwerbezwecke, nach ihrer Bedeu-           IV GG
tung ungleich zu behandeln (BVerwGE 47, 280, 290).            Eine solche Vorwegnahme ist in Verfahren nach § 123
Für eine wirksame Wahlpropaganda in angemessenem              VwGO nämlich ausnahmsweise zulässig, wenn nur auf
Umfang führt dies jedenfalls bei kleinen Parteien dazu,       diese Weise effektiver Rechtsschutz gewährt werden
ihnen eine überproportional bemessene Zahl von Plätzen        kann, was insbesondere bei einem Verfahren, in dem eine
für die Aufstellung von Wahlwerbetafeln zuzuerkennen          politische Partei oder Wählergruppe unmittelbar vor
(BVerwGE 47, 280, 290). Von einer solchen wirksamen           einer Wahl die Verbesserung ihrer Werbemöglichkeiten
Wahlwerbung - auch für kleine Gruppen - ist nach Auf-         begehrt, wegen des drohenden Zeitablaufs regelmäßig
fassung der Kammer in der Regel dann auszugehen,              anzunehmen ist (VG Gelsenkirchen, NW-VBl 1999, 106,
wenn pro 100 Einwohner ein Aufstellort zur Verfügung          107).
gestellt wird. In dem Gebiet der Ag. sind (Stand: 31. 12.
2000) 6885 Einwohner mit erstem Wohnsitz gemeldet,            2. Voraussetzungen
wie diese selbst mitteilte. Daraus errechnen sich 69 Stand-   Der Antrag ist jedoch unbegründet, soweit es um das
plätze [...].                                                 Begehren der Ast. geht, ihr Plätze zuzuweisen, an denen
                                                              sie geeignete Aushangkästen anbringen kann. Insoweit
c. Grenzen der Wahlwerbung                                    begehrt sie nämlich eine Vorwegnahme der Hauptsache,
                                                              die nach den oben dargestellten Grundsätzen nicht legiti-
(1). Sicherheits- und Ordnungsrecht                           miert werden kann. Effektiver Rechtsschutz kann der
Es ist ferner weder vorgetragen noch ersichtlich, dass es     Ast. im Hinblick auf eine wirksame Wahlwerbung nicht
bei dem entsprechend gebotenen Bemühen der Ag., die           nur durch diese Maßnahme, für die im Übrigen auch
angegebene Zahl von Standorten für Wahlwerbung im             baurechtliche Erlaubnisse erforderlich sein dürften, ge-
Straßenraum auszuweisen, zu straßen- oder straßenver-         währt werden, sondern insbesondere durch die Erteilung
kehrsrechtlichen Problemen kommen könnte. Auch ein            der begehrten Sondernutzungserlaubnisse für die Auf-
Verstoß der beabsichtigten Werbung der Ast. gegen die         stellung von Wahlplakaten, wie dies oben erörtert wurde.
allgemeinen Gesetze, insbesondere die Strafgesetze, ist

Standort: § 36 VwVfG                      Problem: Abgrenzung von Hinweis und Nebenbestimmung

BVERWG, URTEIL VOM 13.12.2000                                 Problemdarstellung:
6 C 5.00 (BAYVBL 2001, 474)                                   Der Kl. hatte eine Genehmigung zum Betrieb einer Pri-
                                                              vatschule unter dem “Hinweis” erhalten, die Genehmi-

                                                          -447-
RA 2001, HEFT 8                                                                              ÖFFENTLICHES RECHT

gung werde widerrufen, wenn er zur Erreichung der           den hier vorliegenden Fall, in dem eine Verpflichtungs-
erforderlichen Mindestschülerzahl pro Klasse verschie-      klage statthaft war, ausdrücklich als Ausnahme be-
dene Jahrgänge zu einem Klassenverband zusammen-            zeichnet hat; die Tendenz in der Rspr. geht eindeutig
lege. Gegen diese Einschränkung wehrte sich der Klä-        dahin, gegen jede Form der Nebenbestimmung die An-
ger mit seiner Klage. Die vorliegende Revisionsent-         fechtungsklage nach § 42 I, 1. Fall VwGO zuzulassen,
scheidung des BVerwG zur Zulässigkeit derselben ist         wohl mit dem Ziel, dem Kläger über § 80 I VwGO auf-
aus zweierlei Gründen interessant:                          schiebende Wirkung zuzubilligen zu können (vgl. nur
Zum einen stuft das BVerwG die Einschränkung als            BVerwG, RA 2001, 249).
rechtserhebliche Nebenbestimmung ein, obwohl sie von
der Behörde lediglich als “Hinweis” deklariert worden       Vertiefungshinweise:
war, was fehlende Rechtsverblichkeit suggerierte.           “ Zum Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen:
Zum anderen bestätigt es seine - neue - Rechtspre-          BVerwGE 60, 269, 274; BVerwG, RA 2001, 249 =
chung, wonach nunmehr alle Nebenbestimmungen grds.          NVwZ 2001, 429; Störmer, DVBl 1996, 81; Schmidt,
mit der Anfechtungsklage angegriffen werden können          NVwZ 1996, 1188
(BVerwG, Urteil vom 22.11.2000, RA 2001, 249 mit            “ Überblick zu Nebenbestimmungen: Brenner, JuS
ausführl. Anm.). Zu der bereits im Urteil vom               1996, 281
22.11.2000 vorbehaltenen Ausnahme, dass statt der           “ Auslegung von Behördenerklärungen: BGH, RA
Anfechtungsklage gegen die Nebenbestimmung doch             2001, 320 = DVBl 2001, 809; BVerwG, NVwZ 1984,
eine Verpflichtungsklage auf einen neuen Verwaltungs-       37; Kluth, NVwZ 1990, 610
akt ohne die fragliche Nebenbestimmung erhoben wer-
den müsse, wenn eine Anfechtung der Nebenbestim-
                                                            Kursprogramm:
mung “offenkundig von vornherein ausscheide”, fügt
das BVerwG nun eine neue hinzu: Eine Verpflichtungs-        “ Examenskurs: “Rentnerführerschein”
klage auf Erlass eines Verwaltungsakts ohne die ein-        “ Examenskurs: “Hinterzimmer mit Auflage”
schränkende Nebenbestimmung soll auch dann statthaft
sein, wenn sie für den Kläger rechtsschutzintensiver sei.   Leitsatz:
Einen solchen Fall bejaht das Gericht hier.                 Ein Verpflichtungsantrag mit dem Begehren, einen
                                                            begünstigenden Verwaltungsakt ohne den ihm bei-
Prüfungsrelevanz:                                           gefügten Widerrufsvorbehalt zu erlassen, ist zuläs-
                                                            sig, wenn er dem Kläger einen im Vergleich zum An-
Bevor die Frage des Rechtsschutzes gegen vom Kläger
                                                            fechtungsantrag weitergehenden Rechtsschutz ver-
nicht gewollte Nebenbestimmungen erörtert wird, ist als
                                                            schafft.
Vorfrage zu klären, ob überhaupt eine Nebenbestim-
mung vorliegt. Handelt es sich bei der Erklärung der
                                                            Sachverhalt:
Behörde nämlich nicht um eine rechtsverbindliche Re-
                                                            Der Kläger betreibt nach der Pädagogik von Maria
gelung nach § 36 VwVfG, sondern nur um einen un-
                                                            Montessori mit staatlicher Genehmigung seit dem
verbindlichen Hinweis, ist gerichtlicher Rechtsschutz
                                                            Schuljahr 1990/91 eine private Grundschule und seit
i.d.R. weder möglich noch nötig. Das vorliegende Urteil
                                                            dem Schuljahr 1994/95 eine private Teilhauptschule I
ist ein gutes Beispiel dafür, dass diese Abgrenzung
                                                            mit den Jahrgangsstufen fünf und sechs. Mit Bescheid
nicht allein nach dem von der Behörde gewählten Wort-
                                                            vom 21.2.1997 erteilte die Regierung von N. dem Klä-
laut, sondern erst nach Auslegung des gesamten Be-
                                                            ger die Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb
scheids analog § 133 BGB vor dem objektiven Empfän-
                                                            einer privaten Teilhauptschule II ab dem Schuljahr
gerhorizont vorgenommen werden darf. Diese Ausle-
                                                            1997/98. Die Schule sollte ihren Betrieb zunächst mit
gung kann durchaus - wie hier - ergeben, dass der
                                                            einer Klasse der 7. Jahrgangsstufe aufnehmen, der in
Wortlaut letztlich nicht maßgeblich ist (“falsa demon-
                                                            den jeweils folgenden Jahren die Jahrgangsstufen acht
stratio non nocet”). Gleichwohl ist Zurückhaltung gebo-
                                                            und neun folgen sollten. Nach Nr. 6 des Bescheides
ten: Jedenfalls dann, wenn die Behörde einen terminus
                                                            wurde die Genehmigung unter der Bedingung erteilt,
technicus bewusst gewählt hat, wird nur bei gravieren-
                                                            dass bis zur Aufnahme des Schulbetriebes zum Schul-
den sonstigen Umständen eine dem Wortlaut zuwider
                                                            jahresbeginn 1997/98 in der 7. Jahrgangsstufe eine
laufende Auslegung möglich sein (vgl. BGH, RA 2001,
                                                            Zahl von mindestens 20 Schülern erreicht werde, die ab
320 zu “Bedingung” und “Auflage”).
                                                            dem Schuljahr 1999/2000 auf 25 Schüler anzuheben
Hinsichtlich der statthaften Klageart gegen Nebenbe-        sei. Der Bescheid enthielt ferner "Hinweise", deren Nr.
stimmungen ist auf die Ausführungen in RA 2001, 249         7 lautete: "Sollten sich an der Teilhauptschule II künf-
zu verweisen. Dabei ist zu beachten, dass das BVerwG        tig aus Schülermangel nur kombinierte Klassen bilden

                                                        -448-
ÖFFENTLICHES RECHT                                                                              RA 2001, HEFT 8

lassen, so wird die Genehmigung widerrufen".              zungen wegfallen. Vielmehr hat sie dort eine spezifi-
Der Kläger hat nach erfolglosem Widerspruch gegen         sche, den Bestand der Genehmigung berührende Aus-
die Bedingung Nr. 6 und den Hinweis Nr. 7 des Be-         sage zur Frage der Jahrgangsmischung getroffen. Der
scheids vom 21.2.1997 Klage erhoben.                      Kläger musste dem Hinweis Nr. 7 entnehmen, dass ihm
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten unter ent-       jedes Vertrauen in den Fortbestand der Genehmigung
sprechender Aufhebung der angefochtenen Bescheide         für den Fall genommen werden sollte, dass er sich zur
verpflichtet, die Genehmigung ohne Nebenbestimmun-        Bildung kombinierter Klassen entschloss. Die Regelung
gen über die erforderliche Schülerzahl und den Wider-     zielte demnach auf jene besondere Rechtsfolge ab, die
ruf der Genehmigung bei Jahrgangsmischung zu ertei-       ein konstitutiver Widerrufsvorbehalt gemäß Art. 36
len. Auf die auf die Frage der Jahrgangsmischung be-      Abs. 2 Nr. 3 BayVwVfG mit Blick auf Art. 49 Abs. 2
schränkte Berufung des Beklagten hat der Verwaltungs-     Satz 1 Nr. 1 BayVwVfG und Art. 49 Abs. 5 Satz 1
gerichtshof unter Abweisung der Klage im Übrigen den      BayVwVfG hat (vgl. Stelkens, in: Stel-
Beklagten verpflichtet, über den Antrag auf Genehmi-      kens/Bonk/Sachs, VwVfG, 5. Aufl. 1998, § 36 RdNr.
gung von Jahrgangsmischungen unter Beachtung der          22).
Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Der
Kläger hat die vom Bundesverwaltungsgericht zugelas-      C. Kein Vorrang der Anfechtungsklage
sene Revision eingelegt.                                  Der Kläger war nicht gehalten, statt des Ver-
                                                          pflichtungsantrages einen Anfechtungsantrag zu stellen.
Aus den Gründen:                                          Zwar wird in der Rechtsprechung des Bundesverwal-
Zu Recht haben die Vorinstanzen die Verpflichtungs-       tungsgerichts gegen belastende Nebenbestimmungen die
klage (§ 42 Abs. 1 VwGO) als zulässige Klageart ange-     Anfechtungsklage als gegeben angesehen, und zwar un-
sehen.                                                    abhängig davon, ob es sich bei der streitigen Neben-
                                                          bestimmung um eine Befristung, eine Bedingung oder
A. Auslegung des Klagebegehrens                           einen Widerrufsvorbehalt handelt (BVerw-GE 60, 269,
Das im Berufungsrechtszug noch streitige und vom Re-      274 f.). Damit ist jedoch die Zulässigkeit eines
visionsgericht zu beurteilende Klagebegehren ist darauf   Verpflichtungsantrages nicht ausgeschlossen, wenn die-
gerichtet, die Ersatzschulgenehmigung ohne den Hin-       ser einen im Vergleich zum Anfechtungsantrag weiter-
weis Nr. 7 des Genehmigungsbescheides vom                 gehenden Rechtsschutz verschafft (vgl. Janßen, a.a.O.,
21.2.1997 zu erhalten.                                    RdNr. 51). Ein solcher Fall liegt hier vor.
                                                          Bei einer Beschränkung auf den Anfechtungsantrag
B. “Hinweis” als Nebenbestimmung                          müsste der Kläger besorgen, dass die isolierte Aufhe-
Hierbei handelt es sich nicht nur um einen deklaratori-   bung des Widerrufsvorbehaltes keinen endgültigen
schen Hinweis auf eine gesetzlich zugelassene Möglich-    Rechtsfrieden in seinem Sinne stiftet. Nach seinem
keit des Widerrufs, sondern um einen konstitutiven        Wortlaut bezieht sich der Hinweis Nr. 7 des
Widerrufsvorbehalt nach Art. 36 Abs. 2 Nr. 3              Genehmigungsbescheides nur auf den Fall, dass kom-
BayVwVfG (vgl. dazu Henneke, in: Knack, VwVfG, 6.         binierte Klassen "aus Schülermangel" gebildet werden.
Aufl. 1998, § 36 RdNr. 5.2; Kopp/Ramsauer, VwVfG,         Damit ist die Zusammenlegung mehrerer Jahrgangs-
7. Aufl. 2000, § 36 RdNr. 25; Janßen, in: Obermayer,      klassen zwecks Erreichung der vorgeschriebenen Schü-
VwVfG, 3. Aufl. 1999, § 36 RdNr. 18). Der Kläger          lermindestzahl angesprochen. Demgegenüber will der
durfte und musste als Empfänger des Genehmigungs-         Kläger erreichen, dass die von ihm aus pädagogischen
bescheides bei vernünftiger Betrachtungsweise den Hin-    Gründen angestrebte Praxis der Jahrgangsmischung
weis Nr. 7 trotz des Umstandes, dass dieser sich nicht    keinesfalls zum Anlass für einen Widerruf der Geneh-
in demjenigen Abschnitt des Bescheides befand, der die    migung genommen wird. Dem trägt die gerichtliche
sonstigen verbindlichen Regelungen enthielt, als bela-    Verpflichtung der Behörde, die Genehmigung ohne den
stende Nebenbestimmung ansehen. Denn die Behörde          Widerrufsvorbehalt zu erteilen, besser Rechnung, weil
hat sich im Hinweis Nr. 7 nicht etwa darauf be-           ihr damit generell untersagt ist, die Genehmigung allein
schränkt, die Rücknahme der Genehmigung nach Art.         wegen jahrgangsübergreifenden Unterrichts zu widerru-
48 Abs. 1 BayVwVfG oder ihren Widerruf nach Art.          fen. [...]
49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BayVwVfG generell für den
Fall anzukündigen, dass die Genehmigungsvorausset-

Standort: Versammlungsrecht                                 Problem: Musikaufzug als Versammlung

VG HAMBURG, BESCHLUSS VOM 12.07.2001                       16 VG 2524/2001 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)
                                                      -449-
RA 2001, HEFT 8                                                                            ÖFFENTLICHES RECHT

Problemdarstellung:                                        NVwZ 2000, 461).
Das VG Hamburg verneint im vorliegenden Fall den
Versammlungscharakter einer der “Love-Parade” in           Vertiefungshinweise:
Berlin ähnlichen Veranstaltung, da diese nicht den für     “ Zum Versammlungsbegriff: OVG Weimar, DVBl.
eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG bzw. des           1988, 104; VG Braunschweig, NZV 2000, 142;
Versammlungsgesetzes nötigen Charakter einer kollek-
                                                           “ Für die Einordnung von Musik-Tanz-Aufzügen als
tiven Meinungskundgabe aufweise. Das Gericht
                                                           Versammlung: VG Frankfurt, NJW 2001, 1741; Knie-
schließt sich damit dem herrschenden, engeren Ver-
                                                           sel, NJW 2000, 2857; dagegen Deger, NJW 1997, 923
sammlungsbegriff an, der gerade die Meinungsäuße-
rung als prägendes Element einer Versammlung an-
sieht, während eine Gegenansicht eine gemeinsame, in-      Kursprogramm:
nere Verbundenheit der Teilnehmer genügen lässt, ohne      “ Examenskurs: “Waffen-SS”
eine Kundgabe von Meinungen zu fordern (vgl. die Zi-       “ Assessorkurs: “Fieser Verein”
tate in den Gründen sowie Maunz/Dürig, GG, Art. 8
Rz. 50 ff.).                                               Leitsätze (der Redaktion):
Für den Veranstalter einer Veranstaltung ist deren Ein-    Das Element der kollektiven Meinungskundgabe ist
ordnung als Versammlung deshalb von elementarem            Voraussetzung für das Vorliegen einer Versamm-
Interesse, weil ein nicht dem Versammlungsrecht unter-     lung i.S.d. Art. 8 I GG und des Versammlungsgeset-
fallender Aufzug eine straßenrechtliche Sondernutzung      zes. Nicht ausreichend ist es, wenn die Meinungs-
darstellt, die - im Gegensatz zur nur anzeigepflichtigen   kundgabe nur vorgeschoben oder lediglich unterge-
Versammlung - nach dem Straßen- und Wegerecht der          ordneter Nebenzweck ist.
Länder einer Genehmigung bedarf (vgl. nur § 18
StrWG NW; § 16 HessStrG), welche i.d.R. nur erteilt        Sachverhalt:
werden wird, wenn der Veranstalter sich verpflichtet,      Mit Schreiben vom 22. Mai 2001 meldete die Antrag-
für die Kosten der Abfallbeseitigung, des Polizeiein-      stellerin bei der Antragsgegnerin für den 14. Juli 2001
satzes usw. aufzukommen.                                   in Hamburg St.-Pauli eine nicht näher bezeichnete oder
                                                           benannte Demonstration an, zu der zwischen 3.000 und
Prüfungsrelevanz:                                          10.000 Teilnehmer erwartet würden. Die Veranstaltung
                                                           sollte unter dem Motto stehen: "Für Frieden und gegen
Das Versammlungsrecht ist durch den Konflikt zwi-
                                                           die Enteignung öffentlicher Räume in Berlin, eine De-
schen BVerfG und OVG Münster über die - nach An-
                                                           monstration der Liebe auf St. Pauli". Insgesamt sollte
sicht des OVG von vornherein fehlende - Versamm-
                                                           die Veranstaltung, die von 3 – 5 Lautsprecherwagen
lungsfreiheit rechtsgerichteter Aufzüge und Demonstra-
                                                           begleitet werden würde, von ca. 12 bis 21.30 Uhr dau-
tionen in den Blickpunkt gerückt. Zentraler Streitpunkt
                                                           ern. Telefonisch äußerte die Antragsgegnerin daraufhin
ist die Frage, ob und wann die in § 15 I VersG erwähn-
                                                           gegenüber dem Veranstaltungsleiter auf dessen Anfrage
te “öffentliche Ordnung” allein als Verbotsgrund her-
                                                           hin Zweifel an dem Versammlungscharakter der Ver-
halten kann, bzw. ob dieses Merkmal nicht im Lichte
                                                           anstaltung.
der Verfassung teleologisch zu reduzieren oder zumin-
                                                           Mit Schreiben vom 25. Juni 2001 modifizierte die An-
dest sehr eng auszulegen ist. Nachdem in der RA über
                                                           tragstellerin die Anmeldung der Veranstaltung. Sie er-
diesen Problemkreis ausführlich berichtet worden ist
                                                           klärte, es werde aufgrund der großen Resonanz mit
(RA 2001, 256), sind bereits wieder neue Entscheidun-
                                                           10.000 bis 50.000 Teilnehmern gerechnet. Demon-
gen ergangen, in denen BVerfG und OVG Münster ihre
                                                           striert werde gegen die Behinderung der Berliner Lo-
widerstreitenden Auffassungen bekräftigt haben
                                                           ve-Parade am 14. Juli 2001 durch eine zuvor angemel-
(BVerfG, NJW 2001, 2069; NJW 2001, 2072; NJW
                                                           dete Gegenveranstaltung. Demonstriert werde des wei-
2001, 2076 gegen OVG Münster, NJW 2001, 2111;
                                                           teren für eine großzügige Auslegung des Versamm-
NJW 2001, 2113; NJW 2001, 2114).
                                                           lungsrechts für Musikparaden. Auf der geplanten Ver-
Weitere interessante Entscheidungen zum Versamm-           anstaltung werde nicht nur Technomusik gespielt wer-
lungsrecht betreffen die Anwendbarkeit der ordnungs-       den, es kämen auch Theatergruppen, Schauspieler und
rechtlichen Rechtsfigur des Zweckveranlassers auf das      Tänzer. Auf zahlreichen Bannern und Transparenten
Versammlungsrecht (BVerfG, RA 2001, 1ff. = DVBl            würden die Positionen der Teilnehmer zum Ausdruck
2001, 62), die Zulässigkeit des Einkesselns von Ver-       gebracht werden. Es gebe – anders als bei der Lo-
sammlungen (OVG Münster, RA 2001, 322 = DVBl               ve-Parade - keinen kommerziellen Aspekt bei der Ver-
2001, 839) sowie den Eingriff in die Versammlungs-         anstaltung, keine Teilnahmegebühren und keine Werbe-
freiheit durch Realakte (VG München, RA 2000, 287 =        wagen. Zwei bis drei Interessenten würden sich mit

                                                       -450-
ÖFFENTLICHES RECHT                                                                               RA 2001, HEFT 8

Zugmaschinen wie auf dem G-Move beteiligen, haupt-         sammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG und des § 1
sächlich würden aber kleinere Fahrzeuge mit Lautspre-      VersammlG besitzt mit der Folge, dass sie für die Ver-
chern mitfahren. Die Route werde verkürzt, um die          anstalter frei von Gebühren für Polizeikräfte, Absperr-
Veranstaltung früher zu beenden. Das Motto laute nun-      maßnahmen, Müllbeseitigung etc. durchgeführt werden
mehr: "Für Frieden und mehr Toleranz und gegen die         kann.
Enteignung öffentlicher Räume in Berlin, für den Erhalt
des Demonstrationsrechts für Musikparaden, gegen die       I. Definition des Versammlungsbegriffs
Kommerzialisierung der Technomusik - eine Demon-           Eine öffentliche Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs.
stration der Liebe auf St. Pauli".                         1 GG und des Versammlungsgesetzes ist (im Unter-
Die Antragsgegnerin beantwortete diese Mitteilung mit      schied zu den in § 17 VersammlG genannten "sonstigen
Schreiben vom 28. Juni 2001, in dem sie erklärte, man      öffentlichen Veranstaltungen") dann gegeben, wenn eine
habe dem genannten Versammlungsleiter erklärt, dass        Mehrheit von Menschen unter Bezugnahme auf den
Musikparaden wie diese keine versammlungsrechtliche        demokratischen Prozess der öffentlichen Meinungsbil-
Veranstaltungen seien. Vielmehr handele es sich um         dung und Willensbildung zusammenkommt, um ge-
eine Ersatzveranstaltung für die Love-Parade in Berlin.    meinsam Diskussionen zu führen und/oder eine Mei-
Angekündigte Unterlagen, die Nachweise für den De-         nung kundzutun. Entscheidend ist der Zweck der Ver-
monstrationscharakter hätten bringen sollen, habe die      anstaltung, bestimmte Angelegenheiten gemeinsam zu
Behörde nicht erhalten. Die Veranstaltung diene wie der    erörtern, zu beraten oder kundzugeben.
Generation-Move und der Schlager-Move im Wesentli-
chen dem Erleben von Musik und anderen kulturellen         1. Meinungskundgabe als prägendes Element
Darbietungen. Es gehe nach dem Schwerpunkt der Ver-        Art. 8 Abs. 1 GG und das Versammlungsgesetz schüt-
anstaltung nicht um eine gemeinsame Meinungskundga-        zen das ungehinderte Zusammenkommen mit anderen
be. Auch die auf der Homepage der Veranstalter ge-         Personen zum Zwecke der gemeinsamen Meinungsbil-
wählte Bezeichnung der Parade mit "syncron#01" be-         dung und Meinungsäußerung (kollektive Aussage). Die
stätige die Ansicht, dass es sich um eine Ersatz- oder     Veranstaltung muss deshalb auf Meinungsbildung
Parallelveranstaltung zur Love-Parade in Berlin hande-     und/oder Meinungsäußerung in Gruppenform ausge-
le. Im übrigen sei das benötigte Gelände bereits belegt    richtet sein. Nicht erfasst sind deshalb Zusammenkünf-
mit den Aufbauarbeiten des Sommerdoms.                     te ohne prägenden Bezug zum politischen Prozess wie
Mit dem am 9. Juli 2001 bei Gericht eingegangenen          etwa kulturelle, wissenschaftliche, religiöse, sportliche
Eilantrag macht die Antragstellerin ihr Anliegen gel-      oder gewerbliche öffentliche Veranstaltungen (ebenso
tend, die geplante Veranstaltung durch die Behörde als     OVG Weimar, DVBl. 1988, 104 ff.; VGH Mannheim,
Versammlung behandeln zu lassen. Sie wiederholt die        Beschluss vom 27.5.1994, 1 S 1397/94; BayVGH, Be-
bereits angesprochenen Argumente und betont, dass die      schluss vom 13.5.1994, 21 CE 94.1563). Das Gericht
Folgen für die Antragstellerin - die Veranstaltung müss-   schließt sich insoweit der engeren Auslegung des Ver-
te entfallen - bei einer Ablehnung des Antrags schwerer    sammlungsbegriffs an. Wie das Oberverwaltungsge-
wiegen würden als für die Antragsgegnerin, wenn die        richt Berlin (Beschluss vom 6. Juli 2001, OVG 1 S
Veranstaltung gegebenenfalls in rechtswidriger Weise       11.01) ist das Gericht der Auffassung, dass die Ver-
als Versammlung durchgeführt werden würde. Gefah-          sammlungsfreiheit ebenso wie die Meinungsfreiheit zu
ren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung seien      den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionsele-
von Seiten der Antragsgegnerin nicht genannt worden.       menten eines funktionierenden Gemeinwesens gehört.
Die Antragstellerin erklärt weiter, an einer gebühren-     Sie ist als Freiheit der kollektiven Meinungskundgabe
pflichtigen Sondernutzungserlaubnis sei sie nicht inter-   zu verstehen (vgl. BVerfGE 69, 315, 344 f.). Aus die-
essiert, da sie der Auffassung sei, diese sei wegen des    ser Funktion der Versammlungsfreiheit im demokrati-
Veranstaltungscharakters nicht erforderlich und nicht      schen Gemeinwesen als Mittel zur gemeinsamen kör-
finanzierbar.                                              perlichen Sichtbarmachung von Überzeugungen und
                                                           Meinungen folgt der hohe Rang des Grundrechts, dem
Aus den Günden:                                            gegenüber Rechte anderer (z.B. von Anwohnern, Ver-
Der Antrag hat keinen Erfolg. Der nach § 123 Abs. 1        kehrsteilnehmern oder Gewerbetreibenden) zurückzu-
VwGO zulässige Antrag ist nicht begründet.                 treten haben.

A. Anordnungsanspruch                                    2. Wirtschaftliche, sportliche oder kulturelle Zwecke
Es fehlt am Anordnungsanspruch. Die Antragstellerin      genügen nicht
hat nicht gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920           Dieser hohe Stellenwert des Versammlungsgrundrechts
Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht, dass die geplante Ver-     verbietet es zugleich, dessen Schutzumfang weiter aus-
anstaltung "syncron#01" die Eigenschaften einer Ver-     zudehnen als der Zweck der Schutzgewährung es er-
                                                    -451-
RA 2001, HEFT 8                                                                             ÖFFENTLICHES RECHT

fordert. Würde man auch die bloße Zurschaustellung         der Versammlungsfreiheit (ebenso VG Berlin, Be-
eines durch Musik und Tanz ausgedrückten Lebens-           schluss vom 28. Juni 2001, VG 1 A 195/01). Anzei-
gefühls ausreichen lassen, hätte dies zwangsläufig zur     chen dafür ist schon die Art der Veranstaltung mit Mu-
Folge, dass der hohe Rang der Versammlungsfreiheit         sikwagen, Theatergruppen und anderen Schaustellern
im Bewusstsein der Rechtsgemeinschaft verloren ginge       sowie einem Teewagen mit Getränkeausschank. Daran
(ebenso für eine Musikparade OVG Berlin, a.a.O.; a.A.      ändert auch das Verteilen von Handzetteln an Zuschau-
für eine "Nacht-Tanz-De-mo" VG Frankfurt, NJW              er oder das Mitführen von Bannern nichts, auch nicht,
2001, 1741 und Kniesel, NJW 2000, 2857, 2858, der          dass sich dieser Umzug von der Love-Parade in Berlin
die bei Musikparaden stattfindende Inszenierung eines      durch weniger kommerzielle Elemente abgrenzen will.
Lebensgefühls als kollektive Meinungskundgabe ver-         Hier steht jedenfalls der Unterhaltungscharakter im
steht). Zugleich würden Musikparade eine ungerecht-        Vordergrund, der dem Versammlungsbegriff nicht ent-
fertigte Privilegierung gegenüber sonstigen Volksfesten    spricht.
erfahren, da diese mit den nicht unerheblichen öffentli-   Zwar hat die Antragsgegnerin vorgetragen, die Parade
chen Abgaben belastet werden.                              finde statt, um auf die Schwierigkeiten der Love-Parade
                                                           in Berlin hinzuweisen. Wie dort wolle man für die öf-
II. Subsumtion                                             fentliche Zurschaustellung eines Lebensgefühls demon-
Bei der von der Antragsgegnerin geplanten Veranstal-       strieren. Zugleich werde die Love-Parade jedoch wegen
tung "syncron#01" steht nach Auffassung des Gerichts       ihrer fortschreitenden Kommerzialisierung kritisiert.
nicht die kollektive Meinungskundgabe einer Vielzahl       Weitere gesellschaftspolitische Ziele wie der Verzicht
von Menschen im Vordergrund, sondern die Musikpa-          auf Drogen sollten kundgetan werden.
rade selbst als unterhaltendes Erlebnis.                   Schon die Vielzahl der Botschaften und ihr sich ändern-
                                                           der Inhalt seit der ersten Anmeldung am 22. Mai 2001
1. Auch kulturelle Darbietungen können Meinungs-           lassen Zweifel daran aufkommen, ob die Meinungs-
kundgabe sein                                              äußerung und Meinungsbildung im Vordergrund ste-
Dabei verkennt das Gericht nicht, dass grundsätzlich       hen. Nach dem Gesamteindruck der geplanten Aktionen
sowohl in Musik-, als auch in Tanz- und Theaterdarbie-     und der Werbung für die Veranstaltung insbesondere
tungen eine Meinungsäußerung gesehen werden kann.          auf der Homepage und der oben beschriebenen Art des
                                                           Aufzugs stellen diese Motive nicht den Hauptzweck
2. Untergeordneter, vorgeschobener Nebenzweck ge-          dar, sondern eher ein Nebenanliegen, das geäußert wird,
nügt jedoch nicht                                          um die kostenfreie Durchführung der Parade zu errei-
Hier jedoch gebieten die Eigenarten der Fallgestaltung     chen, quasi mit "Feigenblatt-Charakter". Auf der
eine andere Bewertung. Die Antragstellerin erwartet bis    "check in"-Seite des Veranstalters sowie auf der "state-
zu 10.000 Teilnehmer, die auf der vorgesehenen Weg-        ment"-Seite der Homepage werden zwar die vorgetrage-
strecke von einer Vielzahl von Aufzugswagen begleitet      nen gesellschaftspolitischen Motive der Parade benannt.
werden, von denen aus Techno-Musik verschiedener           Andererseits werden beide Veranstaltungen – Parade
Richtungen gespielt werden soll. Die Teilnehmer, die       und Party - auf der Seite "banners&tools", die sich an
Anhänger dieser Musikrichtungen sind, begleiten die        Teilnehmer richtet und bei der um Werbung und Wei-
Aufzugswagen tanzend und feiernd. Dies vermittelt          terleitung gebeten wird, unter "partyplaner info" behan-
dem Zuschauer den Eindruck einer großen, sich bewe-        delt. Für die anschließende Party kommentiert der Ver-
genden Feier oder Tanzveranstaltung, bei der es dem        anstalter: "abfeiern wie draußen". Auch wenn die Teil-
einzelnen im Wesentlichen darum geht, sich zu vergnü-      nehmer der Parade die vorgegebenen "Ziele" der Ver-
gen. Die Meinungsäußerung bzw. das sich ändernde           anstaltung einhellig unterstützen, ändert dies nichts da-
Motto der Veranstaltung steht dabei nicht im Vorder-       ran, dass sie – ebenso wie die Zuschauer - die geplante
grund. Es geht den Veranstaltern und Teilnehmern nicht     Parade als Spaß-Veranstaltung verstehen werden.
vorrangig darum, für ihr Recht, einen Party-Umzug
durchführen zu demonstrieren, sondern ebendiesen Auf-      II. Anordnungsgrund
zug durchzuführen und als kollektive Meinungsäuße-         Ob ein Anordnungsgrund besteht, d.h. ob Eilbedürftig-
rung zu deklarieren. Die Veranstalter erreichen dabei      keit gegeben ist, wie der Verwaltungsgericht Hamburg
mit dem eingesetzten Mittel (Musik und Tanz auf der        im Beschluss vom 13. Juli 2000 (5 VG 2872/2000) und
Straße) schon ihr eigentliches Ziel; die "Demonstration"   das Hamburgische Oberverwaltungsgericht im Be-
wird zum Selbstzweck. Eine solche Veranstaltung, bei       schluss vom selben Tag (4 Bs 209/00) zur geplanten
der die vorgeblich richtige Lebensform nicht kundgetan,    "Blade Night" problematisiert haben, kann danach of-
sondern unmittelbar verwirklicht wird, unterfällt nicht    fenbleiben.

                                                       -452-
ÖFFENTLICHES RECHT                                                                               RA 2001, HEFT 8

Standort: Baurecht                                                Problem: Gebot der Rücksichtnahme

BVERWG, URTEIL VOM 07.12.2000                              Rücksichtnahme kein selbständiger Grundsatz des öf-
4 C 3/00 (NVWZ 2001, 813)                                  fentlichen Baurechts ist, sondern in bestimmten Vor-
                                                           schriften enthalten ist und aus diesen abgeleitet werden
                                                           muß. Es findet sich u.a. in dem hier einschlägigen § 15
Problemdarstellung:
                                                           I 2 BauNVO, aus dem es auch entwickelt worden ist.
Das BVerwG hatte die Frage zu klären, in welchem
                                                           Anerkannt sind ferner § 34 I, II BauGB über das „Ein-
Verhältnis § 15 I 2 BauNVO, nach dem Bauvorhaben
                                                           fügen“, § 31 II BauGB durch die „nachbarschaftlichen
unzulässig sind, wenn von ihnen unzumutbare Belästi-
                                                           Interessen“ und § 35 III Nr. 3 BauGB über die “schäd-
gungen oder Störungen ausgehen, zu landesrechtlichen
                                                           lichen Umwelteinwirkungen”.
Vorschriften steht, die für bestimmte Vorhaben (hier:
die Errichtung von Stellplätzen) eine entsprechende        Vertiefungshinweise:
(hier: bzgl. der “unzumutbaren Belästigungen” in § 46 I    “ Zum Rücksichtnahmegebot bei der Stellplatzerrich-
2 NdsBauO sogar wörtlich identische) Regelung enthal-      tung: OVG Münster, RA 1999, 242 = NWVBl 1999,
ten. Während das OVG Lüneburg als Vorinstanz die           141
landesrechtliche Regelung für spezieller gehalten und
demgemäß § 15 I 2 BauNVO bei der Beurteilung der
                                                           “ Zum Rücksichtnahmegebot beim Betrieb eines Kin-
                                                           derspielplatzes: VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2000, 144.
Rechtmäßigkeit der angegriffenen Baugenehmigung als
subsidiär nicht geprüft hatte, erteilt das BVerwG dieser   “ Zum Rücksichtnahmegebot bei emittierenden An-
Rechtsansicht eine Absage. Diese wird u.a. mit der un-     lagen: BVerwG, RA 1999, 653 (Beschluss vom 28.7.
terschiedlichen Zielrichtung der landesrechtlichen Bau-    1999, 4 B 38.99)
ordnungen (Gefahrenabwehr) und der bundesrechtli-
chen Bauvorschriften (Raumplanung und Bodenord-            Kursprogramm:
nung) begründet. Naheliegend wäre es auch gewesen,         “ Examenskurs: “Windkraft contra Nachbarschaft”
auf Art. 31 GG einzugehen.                                 “ Examenskurs: “Das Asylbewerberwohnheim”

Prüfungsrelevanz:                                          Leitsätze:
Neben der Kenntnis des Verhältnisses von bundesrecht-      1. Bauordnungsrechtliche Vorschriften über die An-
lichem Bauplanungs- zu landesrechtlichem Bau-              ordnung von Stellplätzen (hier: § 46 I 2 Nds BauO)
ordnungsrecht sollte die Entscheidung vor allem zum        können die Anwendung des § 15 I 2 BauNVO nicht
Anlass genommen werden, sich mit dem baurechtlichen        spezialgesetzlich ausschließen.
Rücksichtnahmegebot vertraut zu machen. Ob eine            2. Der in § 15 I 2 BauNVO nach Maßgabe des
Vorschrift Drittschutz verleiht, wird in aller Regel       Rücksichtnahmegebots angelegte Drittschutz des
schon in der Klagebefugnis nach § 42 II VwGO, etwa         Nachbarn besteht grundsätzlich auch gegenüber An-
im Rahmen des § 80a VwGO oder einer (Dritt-) An-           lagen auf Grundstücken, die mit dem Grundstück
fechtungsklage gegen eine Baugenehmigung) zu prüfen        des Nachbarn durch eine landesrechtliche Vereini-
sein. Kommt der Bearbeiter zu dem Ergebnis, dass die       gungsbaulast zusammengeschlossen sind.
streitentscheidende Norm den Dritten nicht schützt, darf
die Prüfung nicht beendet werden. Vielmehr ist zu über-    Sachverhalt:
legen, ob eine an sich nicht drittschützende Norm im       Die Kl. zu 2 und 3 sind Eigentümer eines Reihenhau-
Einzelfall nicht doch, über das baurechtliche “Gebot       ses, das mit seiner Nordseite an das Reihenhaus der im
der Rücksichtnahme”, drittschützend sein kann. Eine        Revisionsverfahren nicht mehr beteiligten Kl. zu 1 an-
drittschützende Wirkung kommt jeder Norm nach dem          grenzt. Beide Häuser wurden im Jahre 1980 als Einfa-
Gebot der Rücksichtnahme nämlich dann zu, wenn in          milienhäuser mit Büroräumen genehmigt. Das geplante
qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf   dritte Reihenhaus nördlich anschließend wurde zu-
besondere Rechtspositionen des Dritten Rücksicht zu        nächst nicht gebaut. Die drei Grundstücke bilden die
nehmen ist und wenn unabhängig von der besonderen          westliche Hälfte eines ursprünglich etwa 2000 qm
rechtlichen Schutzwürdigkeit der Betroffenen ihr Be-       großen Grundstücks. Auf der östlichen Hälfe steht das
troffensein wegen der gegebenen Umstände so hand-          Wohnhaus des Beigel. zu 2; ihm gehört gegenwärtig
greiflich ist, dass dies die notwendige Qualifizierung,    auch die für das dritte Reihenhaus vorgesehene Fläche.
Individualisierung und Eingrenzung bewirkt (BVerwGE        Die Grundstücke werden von Süden her über einen dem
52, 131; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 1990, 233). In              Beigel. zu 2 gehörenden Privatweg erschlossen. Die
jedem Fall ist aber zu beachten, dass das Gebot der        Grundstücke der Bet. sind im Jahre 1980 infolge einer

                                                       -453-
RA 2001, HEFT 8                                                                             ÖFFENTLICHES RECHT

Teilung des früheren Gesamtgrundstücks durch die           rechts dulden müssten; das Vorhaben sei durch das We-
Rechtsvorgänger der Bet. entstanden. Gebildet wurden       gerecht ausreichend erschlossen, so dass die Genehmi-
die drei Reihenhausgrundstücke sowie ein Grundstück        gung nicht etwa dazu führe, dass die Kl. ein Notwege-
für einen Garagenhof und drei Garagengrundstücke im        recht der Beigel. hinnehmen müssten. Diese Ausführun-
Süden auf der westlichen Seite und das Wohngrund-          gen überzeugen; die Kl. haben sie im Revisionsverfah-
stück der Beigel. auf der Ostseite.                        ren hingenommen.
Gleichzeitig bestellten die damaligen Eigentümer eine
Vereinigungsbaulast, nach der alle baulichen Anlagen       B. Verletzung drittschützender Normen durch die Ge-
auf den neu gebildeten Flurstücken so ausgeführt wer-      nehmigung der Stellplätze
den, als wären die Grundstücke ein Baugrundstück i. S.     Im Mittelpunkt des Revisionsvortrags stehen die neben
des § 4 I NdsBauO. Zugleich bestellten sie ein Wege-       dem Wohn- und Bürogebäude zugelassenen sieben Stell-
recht am östlichen Rand der Grundstücke der Kl., um        plätze. Die Kl. wenden sich gegen sie, weil sie befürch-
die Zufahrt zu dem dritten neu geschaffenen Grund-         ten, durch den Fahrzeugverkehr in den rückwärtigen
stück zu sichern. Die Grundstücke der Bet. liegen im       Wohnbereich hinein unzumutbar in ihrer Wohnruhe be-
Geltungsbereich des im Jahre 1972 aufgestellten und        einträchtigt zu werden.
1976 geänderten Bebauungsplans "Gewerbegebiet Süd-
west" der Bekl. Er setzt ein Gewerbegebiet fest, und       I. Ansicht der Vorinstanz
zwar für den hier interessierenden Geländestreifen mit
dem Zusatz "beschränkt gem. § 8 IV BauNVO auf Be-          1. Kein Verstoß gegen § 46 NdsBauO
triebe und Anlagen, die nur im Mischgebiet, § 6 BauN-      Insoweit ergibt sich aus dem Berufungsurteil, dass nach
VO, zugelassen sind". In dem südlich anschließenden        § 46 I 2 NdsBauO Einstellplätze so angeordnet und
Gelände stehen ausschließlich zu reinen Wohnzwecken        beschaffen sein müssen, dass ihre Benutzung nicht zu
genutzte Gebäude. Im Jahre 1992 erteilte die Bekl. dem     unzumutbaren Belästigungen für die Nachbarschaft
Beigel. zu 2 einen Bauvorbescheid für den "Neubau          führt. Das BerGer. führt jedoch weiter aus, dass die Kl.
eines Wohnhauses" auf dem dritten Grundstück; die          im vorliegenden Verfahren Lage und Zahl der Einstell-
Bauvoranfrage ist auf die Genehmigung eines "zwei-         plätze nicht mit Erfolg rügen könnten. Denn ihr Grund-
geschossigen Reihenhauses" mit gewerblicher Nutzung        stück sei mit dem Baugrundstück der Beigel. durch eine
und einer Wohnung gerichtet. Später erteilte sie dem       Vereinigungsbaulast gem. §§ 4 I 2, 92 NdsBauO zu
Beigel. zu 1 eine Baugenehmigung für ein "Wohn- und        einem Baugrundstück i.S. der Niedersächsischen Bau-
Geschäftshaus" mit etwa 200 qm Büroflächen und 100         ordnung zusammengeschlossen. Das hindere die Gel-
qm Wohnfläche. Genehmigt sind auch eine Garage und         tendmachung von nachbarlichen Abwehransprüchen
sechs Einstellplätze, die über die durch das Wegerecht     aus § 46 I 2 NdsBauO. Diese Ausführungen beruhen
gesicherte Zufahrt an den beiden Wohnhäusern der Kl.       auf der Auslegung des irreversiblen niedersächsischen
vorbei angefahren werden. Gegen beide Genehmigun-          Landesrechts. An sie ist das RevGer. gem. §§ 137 I,
gen wenden sich die Kl. im ersten und im zweiten           173 VwGO, § 562 ZPO gebunden.
Rechtszug erfolglos. Auch die vom BVerwG zugelasse-
ne Revision hatte keinen Erfolg.                           2. Kein Verstoß gegen § 15 I 2 BauNVO
                                                           Das BerGer. führt jedoch weiter aus, § 15 I BauNVO
Aus den Gründen:                                           sei hinsichtlich der Einstellplätze nicht anzuwenden,
Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet. Das         weil § 46 I 2 NdsBauO spezialgesetzlich regele, an wel-
Berufungsurteil verletzt zwar Bundesrecht; die Ent-        cher Stelle des Baugrundstücks ggf. wie viele Einstell-
scheidung stellt sich aber aus anderen Gründen als rich-   plätze ohne Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnah-
tig dar (§ 144 IV VwGO) [...].                             me angelegt werden dürfen.

A. Keine Verletzung drittschützender Normen durch         II. Ansicht des BVerwG
die Genehmigung der Wohn- und Bürogebäude                 Die darin zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung,
Das BerGer. legt im Einzelnen dar, dass Nachbarrechte     dass die Frage, ob von Stellplätzen einschließlich ihrer
der Kl. aus den Festsetzungen des Bebauungsplans          Zufahrten unzumutbare Belästigungen oder Störungen
"Gewerbegebiet Südwest" durch das genehmigte Wohn-        i. S. des § 15 I 2 BauNVO ausgehen könnten, allein
und Bürogebäude der Beigel. nicht verletzt werden und     nach § 46 I 2 NdsBauO zu beurteilen sei, ist mit Bun-
dass das Gebäude selbst auch hinsichtlich seiner Art      desrecht nicht vereinbar.
und Größe mit § 15 I BauNVO vereinbar ist. Es führt
weiter aus, dass die Kl. den Zu- und Abgangsverkehr       1. Keine Verdrängung des § 15 I BauNVO durch Bau-
zu dem Gebäude der Beigel. über ihr Grundstück we-        ordnungsrecht
gen des durch Grunddienstbarkeit gesicherten Wege-
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ÖFFENTLICHES RECHT                                                                                RA 2001, HEFT 8

a. Unterschiedliche Zweckrichtungen                        BauNVO durch § 46 I 2 NdsBauO verdrängt, so würde
Die Annahme eines lex-specialis-Verhältnisses zwi-         beim Vorliegen einer Vereinigungsbaulast auch der
schen den Regelungen des § 46 I 2 NdsBauO und des §        Nachbarschutz aus § 15 I 2 BauNVO vollständig ent-
15 I BauNVO verbietet sich schon wegen ihrer Zugehö-       fallen, obwohl der bauplanungsrechtliche Grundstücks-
rigkeit zu verschiedenen Rechtsgebieten mit unter-         begriff durch landesrechtliche Baulasten nicht verändert
schiedlicher Zweckrichtung und unterschiedlicher Ge-       werden kann (BVerwGE 88, 24). Zumindest hinsicht-
setzgebungskompetenz (vgl. dazu BVerfGE 3, 407).           lich seiner drittschützenden Wirkung würde die bundes-
Die landesrechtliche Vorschrift des § 46 NdsBauO ge-       rechtliche Vorschrift des § 15 BauNVO in den ver-
hört zum Bauordnungsrecht. Sie stellt aus baupolizeili-    schiedenen Bundesländern nach Maßgabe des Landes-
cher Sicht, insbesondere zur Gefahrenabwehr, Anforde-      rechts auch in tatsächlicher Hinsicht ganz unterschied-
rungen an Garagen und andere Stellplätze. Dagegen ist      lich angewendet werden müssen. Eine solche Modifi-
§ 15 BauNVO eine bundesrechtliche Norm des Boden-          kation des Bundesrechts durch das Landesrecht ist un-
rechts. Sie regelt aus städtebaulicher Sicht allgemeine    zulässig (vgl. auch BVerwG, NVwZ 1989, 353).
Voraussetzungen für die Zulässigkeit baulicher und
sonstiger Anlagen; der Akzent liegt hier auf der Verein-   2. Kein Verstoß gegen § 15 I 2 BauNVO
barkeit der baulichen Anlage mit dem jeweiligen Ge-        Indem das BerGer. nicht geprüft hat, ob die Genehmi-
bietscharakter. Soweit beide Vorschriften gebieten, dass   gung für die sieben Stellplätze zum Vorhaben der Bei-
von Stellplätzen keine unzumutbaren Beeinträchtigun-       gel. mit dem drittschützenden Rücksichtnahmegebot in
gen für die Nachbarschaft ausgehen dürfen, stimmen         § 15 I 2 BauNVO vereinbar sind, hat es Bundesrecht
sie zwar im Ergebnis regelmäßig überein. In diesem         verletzt. Gleichwohl ist seine Entscheidung nicht auf-
Sinne - aber auch nur im Hinblick auf das Ergebnis der     zuheben, weil sie sich im Ergebnis aus anderen Grün-
Prüfung im konkreten Einzelfall, also aus tatsächlichen    den als richtig erweist.
Gründen - hat der Senat formuliert, dass für die An-
wendung des Rücksichtnahmegebots aus § 15 I BauN-          a. Kein Verzicht auf Drittschutz durch Übernahme der
VO insoweit kein Raum sei, wie die durch dieses Gebot      Baulast
geschützten Belange auch durch spezielle bauordnungs-      Dies folgt allerdings nicht schon daraus, dass die Kl. -
rechtliche Vorschriften geschützt werden und das kon-      bzw. ihre Rechtsvorgänger - durch die Übernahme der
krete Vorhaben deren Anforderungen genügt (BVerwG,         Baulast auf Abwehrrechte aus § 15 I BauNVO verzich-
NVwZ 1986, 468; BVerwGE 94, 151, 160). Spezialge-          tet hätten, wie die Bekl. meint. Zwar verbietet es Bun-
setzlich ausgeschlossen durch § 46 I 2 NdsBauO oder        desrecht nicht, dass sich der Eigentümer durch die
eine andere bauordnungsrechtliche Vorschrift wird § 15     Übernahme einer Baulast hinsichtlich der bebauungs-
I 2 BauNVO dagegen nicht.                                  rechtlich zulässigen Nutzung seines Grundstücks enger
                                                           bindet, als ihn die Bauaufsichtsbehörde einseitig binden
b. Einheit der Rechtsordnung                               könnte (BVerwG, Buchholz 406.17 Nr. 24). Das Ber-
Die Annahme, § 15 I 2 BauNVO werde durch landes-           Ger. hat aber nicht festgestellt, dass die Vereinigungs-
rechtliche Vorschriften verdrängt, wäre auch deshalb       baulast der Bet. auch einen Verzicht auf nachbarliche
rechtsfehlerhaft, weil sie zu unterschiedlichem Bundes-    Abwehrrechte des Bundesrechts enthält. Ob die Ver-
recht in den einzelnen Bundesländern führen würde.         einigungsbaulast auch ohne besondere Vereinbarung zu
Wenn nämlich die landesrechtlichen Vorschriften über       einer weitergehenden Beschränkung der Nachbarrechte
Stellplätze die Anwendung des § 15 I 2 BauNVO              führt, ist zunächst eine Frage des Landesrechts. Inso-
ausschließen könnten, würde die Reichweite dieser bun-     weit ist das BerGer. jedoch keineswegs der Auffassung,
desrechtlichen Norm vom jeweiligen Inhalt der Bau-         dass der Nachbar durch die Einräumung einer Vereini-
ordnungen der Bundesländer abhängen. Im Allgemeinen        gungsbaulast seine Rechtsstellung als Nachbar i. S. des
mögen sich zwar keine erheblichen Unterschiede zwi-        öffentlichen Baurechts insgesamt verliert (OVG Lüne-
schen den Stellplatzvorschriften der Länder feststellen    burg, NVwZ-RR 1998, 12); nach seiner Auffassung
lassen. Der vorliegende Fall verdeutlicht jedoch exem-     kann er sich nur nicht auf die Grenzabstandsvorschrif-
plarisch, dass im Einzelfall sogar gravierende Unter-      ten sowie auf § 46 I 2 NdsBauO berufen.
schiede möglich sind. Nach der Rechtsauffassung des
für die Auslegung der Niedersächsischen Bauordnung         b. Errichtung der Stellplätze jedoch nicht rücksichts-
letztinstanzlich zuständigen BerGer. vermittelt nämlich    los
die niedersächsische Stellplatzvorschrift ausnahmswei-     Die vom BerGer. getroffenen Feststellungen ermögli-
se dann keinen Drittschutz, wenn die betroffenen Grund-    chen aber die Beurteilung, dass die streitigen Stellplätze
stücke durch eine Baulast nach niedersächsischem           mit § 15 I 2 BauNVO vereinbar sind [wird ausgeführt].
Recht miteinander verbunden sind. Würde § 15 I 2

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