FLUCHTPUNKT - Schweizerische Flüchtlingshilfe
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FLUCHTPUNKT Die Zeitung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) Nr. 98 August 2022 Krieg in der Ukraine und Gastfamilien Bilanz und Ausblick von SFH-Direktorin Miriam Behrens Interview auf den Seiten 4 und 5 SFH-Bildung mit Innovationen Für Gastfamilien gibt es neue Kurse, für Freiwillige das neue Community Building-Projekt Seiten 3, 6 und 7
Editorial SFH-Newsflash Liebe Leserinnen, liebe Leser ■ Austausch mit der Direktorin des Europäischen Flüchtlingsrats (ECRE) Stellen Sie sich vor, Sie mussten vor Krieg und Die SFH ist seit 1994 Mitglied des Euro- engagiert. An regelmässigen Treffen werden in G ewalt flüchten. Sie wurden päischen Rats für Flüchtlinge und im Exil Bern und in Brüssel Aktualitäten und gemein- in einem sicheren Land auf- lebender Personen (ECRE), einer Allianz von same Vorstösse auf europäischer Ebene sowie genommen. Doch plötzlich Nichtregierungsorganisationen, die sich für übergeordnete Gerichtsfälle im Bereich Flucht bricht auch in diesem Land den Schutz und die Rechte von Geflüchteten und Asyl diskutiert. Krieg aus, und Sie müssen erneut woanders Zuflucht suchen. So erging es bei Kriegsausbruch in der «Seit dem Krieg in der Ukraine rund 5000 Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen in der Ukraine haben die EU-Länder Ukraine, viele davon aus Afghanistan eindrücklich bewiesen, dass und Syrien. Neben ihnen sind auch an- sie gemeinsam auf eine so dere Drittstaatsangehörige vom Krieg grosse Fluchtbewegung rasch betroffen: Über 440 000 Migrant*innen reagieren und für inzwischen haben zwecks Arbeit oder Studium 6 Millionen Geflüchtete Hilfe in der Ukraine gelebt; zudem 35 000 Staatenlose sowie schätzungsweise leisten können. Das können bis zu 60 900 Menschen, die sich ohne sie auch für die Geflüchteten geregelten Aufenthaltsstatus in der aus anderen Herkunfts Ukraine aufhielten, so die Angaben ländern tun.» der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Catherine Woollard, Direktorin des Europäischen Flüchtlingsrats In der Schweiz erhalten neben ukrainischen Staatsangehörigen auch Drittstaatsangehörige den Schutzsta- Gemeinsam für die Rechte und Anliegen Geflüchteter in Europa: SFH-Direktorin Miriam Behrens tus S, wenn sie vor ihrer Flucht eine und und Catherine Woollard, seit 2016 Direktorin des Europäischen Flüchtlingsrats. gültige Aufenthaltsberechtigung in der © SFH/Barbara Graf Mousa Ukraine hatten und nicht sicher und dauerhaft in ihre Heimat zurückkeh- ren können. Diese Voraussetzungen müssen jeweils im Einzelfall geprüft ■ Keine Rückführungen nach stabilisiert hat. Zudem muss das Staatssekreta- werden. Das ist eine Herausforderung Sri Lanka riat für Migration (SEM) in jedem Einzelfall im kurzen S-Verfahren, denn häufig sorgfältig prüfen, ob eine Gefährdung vorliegt sind die Umstände komplex. Umso Die aktuellen Entwicklungen in Sri Lanka bzw. ob der Wegweisungsvollzug unzumutbar wichtiger ist, dass die Person bei Be- sind besorgniserregend. Wegen der Wirt- ist. Im Zweifel ist die vorläufige Aufnahme zu darf Z ugang zum Asylverfahren hat, schaftskrise ist die Ernährungssicherheit und gewähren. wenn ihr Gesuch um einen Status S die medizinische Versorgung der Bevölkerung abgelehnt wurde. gefährdet. Die SFH fordert einen Verzicht auf SFH-News vom 15.07.2022: Rückführungen nach Sri Lanka, insbesondere https://bit.ly/3uUT4JO Herzlich, für vulnerable Personen, bis sich die Lage Seraina Nufer ■ Frontex-Beschwerden besser wehren können. Die SFH begrüsst diese Co-Abteilungsleiterin Protection entschädigen Massnahme, fordert jedoch eine ausreichende Rechtliche Grundlagen und Finanzierung des Rechtsschutzes für diese Zu- Rückberatung Nach der Abstimmung vom 15. Mai 2022 satzaufgabe. Denn Frontex-Beschwerden be- hat der Bundesrat Rechtsanpassungen im treffen Verletzungen von Grundrechten nach Beschwerdeverfahren der europäischen Grenz- der Grundrechtecharta der EU. Das sind ande- Titelbild: Viele Ukrainer*innen flüchten schutzagentur Frontex beschlossen. In Zu- re Verfahren und Rechtsbereiche, die sich von mit ihren Haustieren – eine spezielle kunft sollen Asylsuchende, die in der Schweiz den Aufgaben des Rechtsschutzes im Rahmen Herausforderung für die Unterbringung. Im Bild: Tanya, 29, und ihre beiden Kinder ankommen und deren Menschenrechte bei des schweizerischen Asylrechts unterscheiden. Victoria, 11, und Svyetoslav, 8, mit Katze Frontex-Einsätzen an der EU-Aussengrenze an der Grenze zu Moldavien, 23.04.2022. verletzt wurden, sich mit Unterstützung von Medienmitteilung vom 29.06.2022: © UNHCR/Caroline Bach Rechtsvertreter*innen und -berater*innen https://bit.ly/3Omnr2C 2 Fluchtpunkt 98 August 2022
Community Building Das Community Building-Projekt der SFH fördert Freiwillige und Freiwilligenarbeit Mit dem neuen Community Building-Projekt unterstützt die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) Freiwillige, welche Geflüchtete und Gastfamilien begleiten. Das Projekt nimmt genau zum richtigen Zeitpunkt Fahrt auf. Von Siméon Seiler, Projektleitung Community Building Um die Geflüchteten aus der Ukraine ist es der Schweiz wurden digitale Hilfsplattformen ein Unterstützungsangebot zustande kommt etwas ruhiger geworden. Anfänglich traf die organisiert; sowohl von Menschen, die sich oder nicht. Solche Angebote können von A Geschwindigkeit und Intensität der Entwick- schon längere Zeit freiwillig engagieren, wie wie «Aufgabenhilfe» über M wie «Miteinander lungen in der Ukraine die meisten Behörden, auch von Menschen, die sofort und spontan einkaufen gehen» bis Z wie «Zusammen musi- aber auch die Hilfswerke im Bereich Flucht «etwas» für die ukrainischen Geflüchteten zieren» alles umfassen. und Asyl, unvorbereitet. In der Zwischenzeit tun wollten. Sie sind bis heute miteinander Die Freiwilligen erhalten im Rahmen des konnten Zuständigkeiten weit- Community Building-Projektes gehend geklärt und klare Pro- zahlreiche Hilfestellungen. Auf zesse etabliert werden. der SFH-Website werden eine Die SFH hat in vielen Kan- thematische Linksammlung tonen die Koordination und und nach und nach speziell speziell die Betreuung der Gast- entwickelte Merkblätter auf- familien dem Hilfswerk Caritas geschaltet. Ausserdem gibt es Schweiz und dem Schweizeri- eine telefonische Infoline für schen Roten Kreuz (SRK) oder Freiwillige. Auf Wunsch erhal- staatlichen Institutionen über- ten Gruppen ein Coaching im geben. Selbstverständlich steht Bereich Freiwilligenarbeit, und ihnen die SFH weiterhin unter- das Team der SFH-Bildungsab- stützend zur Seite: Sie vernetzt teilung bietet Weiterbildungs- die betreuenden Stellen und tage in den Themenbereichen organisiert in Zusammenarbeit Flucht und Asyl, Integration mit ihnen A ustauschtreffen und soziale Teilhabe, Migration für die Gastfamilien. Die Bil- und Trauma sowie transkultu- dungsabteilung der SFH bietet Projektleiter Siméon Seiler und Projektmitarbeiterin Niki Ott unterstützen relle Kompetenzen an. ausserdem Weiterbildungen für Freiwillige beim Aufbau von Netzwerken. © SFH/Baptiste Babey die Gastfamilien an – lesen Sie Interessierte Freiwillige dazu den Artikel auf den Seiten 6 und 7 die- vernetzt. Solche Netzwerke sind bestens für können sich als Einzelpersonen oder Gruppen, ser Ausgabe. den breiten und schnellen Informationsaus- egal ob sie bereits aktiv sind oder erst aktiv wer- Parallel zum Gastfamilienprojekt hat tausch geeignet. Wenn es aber darum geht, den möchten, unter: www.fluechtlingshilfe.ch/ die SFH im April damit begonnen, ein Menschen nicht nur spontan und punktuell, community-building melden. Community Building-Projekt aufzubauen. sondern verbindlich und über längere Zeit zu Denn es war abzusehen, dass es nicht nur begleiten, reicht der reine Online-Austausch Das Community Building-Projekt ist ein um die Geflüchteten, sondern auch um die in der Regel aber nicht mehr aus. Pilotprojekt, das hauptsächlich in diesen Helfer*innen ruhiger werden würde. Ziel des Das Schwergewicht im Community Buil- 13 ausgewählten Kantonen stattfindet: Community Building-Projektes ist es nun, ding-Projekt liegt auf kompakten, nachhalti- AG, BS, GE, GL, OW, SG, SH, SO, TG, UR, kleine selbstorganisierte Gruppen zu fördern, gen, Face-to-Face-Netzwerken. Technologie VD, VS, ZG. Zögern Sie nicht, auch dann welche vor Ort handfeste Unterstützung für wird mehr als Hilfsmittel, denn als Ausgangs- mit uns Kontakt aufzunehmen, wenn Geflüchtete und Gastfamilien leisten. punkt der Organisation verstanden. Die klei- Sie in einem anderen Kanton wohnen. nen Teams von Freiwilligen bilden zusammen Telefonische Infoline: +41 (0)31 370 75 95 Persönlich treffen statt online mit den Geflüchteten und den Gastfamilien (Di 14–18, Do 9–13 Uhr) Kurz nachdem die ersten Geflüchteten aus ein Bedürfnisdreieck. Die Bedürfnisse – et- Wenn Sie den beiliegenden Flyer nicht der Ukraine in der Schweiz eintrafen, hat die wa der Wunsch nach sozialer Teilhabe oder brauchen, bitten wir Sie, ihn in Umlauf dezentral entstandene Online-Vernetzung nach Begleitung für Behördengänge – aller zu bringen. bereits wunderbar funktioniert. Überall in Beteiligten sind ausschlaggebend dafür, ob Fluchtpunkt 98 August 2022 3
Bilanz Krieg in der Ukraine/Gastfamilien Einzigartige Zusammenarbeit zwischen Behörden und zivilen Organisationen Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) arbeitet seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und der damit verbundenen Fluchtbewegung auch in die Schweiz eng mit den nationalen und kantonalen Behörden zusammen. Im Mittelpunkt steht dabei die private Unterbringung der zahlreichen ukrainischen Kriegsgeflüchteten. Das Bundesmandat für die direkte Platzierung von ukrainischen Geflüchteten in Gastfamilien weist der SFH dabei eine zentrale Rolle zu. Für Direktorin Miriam Behrens fällt die Bilanz über den Umgang der Schweiz mit den Geflüch teten aus der Ukraine und über das Gastfamilien-Angebot nach den ersten Monaten positiv aus. Miriam Behrens, wie geht die Schweiz Anspruchsgruppe Gastfamilien und diversen Sämtliche Lücken wurden umgehend durch grundsätzlich mit den Auswirkungen des neuen Prozessen konfrontiert, für die es noch freiwillige Angebote gefüllt. Ohne die gross- Kriegs in der Ukraine um? keine regulären Abläufe gab. Ich finde, die zügige Hilfe der Bevölkerung wäre die Bilanz Der Krieg hat die grösste Fluchtbewegung seit Schweiz hat diese Herausforderung bisher deutlich schlechter. dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Der Bund grossartig gemeistert, sie hat das wichtigste aktivierte zum ersten Mal den Schutzstatus Ziel, dass jede Person umgehend ein Dach Wie sieht die Bilanz für das Gastfamilien- S mit einem Online-Anmeldeverfahren. Zu- über dem Kopf hat, mit vereinten Kräften Angebot aus? dem wurde der Grossteil der Geflüchteten und dank der fantastischen Solidarität in Die SFH hat das Bundesmandat zur Platzie- privat untergebracht – im Juli wurden knapp der Bevölkerung erreicht. Bei der weiteren rung Geflüchteter aus der Ukraine in Gastfa- 60 Prozent der Geflüchteten von Gastfami- Versorgung hat es zu Beginn etwas geholpert, milien erhalten, weil sie über die notwendige lien beherbergt. Die Behörden waren daher aber dank guter Zusammenarbeit konnten Erfahrung und Expertise verfügt aus dem gleich zu Beginn der Krise mit der neuen Engpässe zügig beseitigt werden. Auch hier: entsprechenden Projekt während des Syri- enkriegs 2015 bis 2018. Der Projektstart war dennoch eine Herausforderung. Wegen der © SFH/Baptiste Babey grossen Anzahl Geflüchteter konnten wir zu Beginn die eigenen Prozesse nicht einhalten, beispielsweise die Gastfamilien vor den Plat- zierungen zu besuchen. Mittlerweile erfolgen diese Vorabklärungen aber in den meisten Kantonen. Auch die Weiterbegleitung der Gastfamilien nach der Platzierung funktio- nierte am Anfang nur ungenügend. Wir ha- ben eine Hotline eingerichtet und Infomails versendet. Es braucht aber mehr. Inzwischen ist es uns gelungen, mit der Mehrheit der Kantone massgefertigte Lösungen zu finden. Das ist ein grosser Erfolg für die private Unterbringung im Asylwesen, der uns extrem freut! Einige Gastfamilien haben jedoch ihr En- gagement von Anfang an auf drei Monate begrenzt und möchten jetzt abschliessen. Das ist nachvollziehbar. Es ist eine starke Belastung, eng aufeinander zu wohnen, Kü- che und Bad zu teilen und die Belastung der Gäste durch den andauernden Krieg täglich mitzuerleben. Kulturelle Unterschiede, etwa in der Wertehaltung oder der Erziehung, 4 Fluchtpunkt 98 August 2022
können zudem zu Spannungen führen. Der Wie sieht es bei der Grossteil der Gastfamilien ist aber nach wie Unterbringung und vor aktiv, und es kommen auch neue dazu. Betreuung der ukraini- Die Unterbringung bei Privaten fördert die schen Geflüchteten aus? soziale Integration und den Spracherwerb. Auch hier sehen wir Gastfamilien unterstützen die Geflüchteten Handlungsbedarf: Beide zudem im A lltag, teilweise sogar bei der Stel- Aufgaben sind in der Zu- lensuche, und setzen sich für ihre Anliegen ständigkeit der Kantone ein. Dank ihnen sind die Geflüchteten gleich und Gemeinden. Durch in der Mitte der Gesellschaft. diese föderalistische Organisation entstehen Wissen wir über diesen positiven grössere Ungleichheiten, Integrationseffekt etwas aus dem vor etwa bei der Asylsozial- angehenden Gastfamilien-Projekt? hilfe, deren Ansätze per Unsere Auswertung hat damals ergeben, dass se sehr tief sind. Das ist alle Gäste ihre Sprachkenntnisse verbessern stossend. Auch bei der konnten. 41 Prozent haben eine Lehrstelle Begleitung und Betreuung oder gar eine Stelle gefunden. 68 Prozent von Gastfamilien sowie fühlten sich bei der Gastfamilie selbststän- bei deren Entschädigung diger und fanden sich besser in der Schweiz durch die Behörden wären zurecht. Und was uns besonders freute: einheitliche Standards Austausch mit Bundesrätin Karin Keller-Sutter am 8. Asyl 84 Prozent der Gastfamilien würden erneut wünschenswert. Die Gast- symposium diesen Mai in Bern. © SFH/Barbara Graf Mousa Geflüchtete bei sich aufnehmen! Es wäre aus familien sind eine neue unserer Sicht wichtig, die Vor- und Nachteile Klientel für die Sozialämter, und die private Gemeinde oder ein Hilfswerk, der Austausch des Gastfamilienmodells im Vergleich zu den Unterbringung bringt aus Sicht der Kantone zwischen Gastfamilien und Schulungsange- anderen Unterbringungsformen eingehend und Gemeinden nicht nur Vorteile, da die bote stehen dabei im Zentrum. Gleichzeitig zu prüfen. Wir planen eine entsprechende Geflüchteten vor allem bei ihrer Ankunft in arbeiten wir daran, das Gastfamilienprojekt Studie. Kollektivunterkünften effizienter betreut und auch für andere Flüchtlingsgruppen zu öffnen informiert werden können. und zu etablieren. In einigen Kantonen, wie Weshalb ist die intensive Betreuung der etwa Basel-Stadt, Waadt oder Schaffhausen, Gastfamilien wichtig? Braucht es aus Sicht der SFH überhaupt war das in den vergangenen Jahren möglich. Für die Behörden ist es von Vorteil, die Gast- Kollektivstrukturen? Andere Kantone denken nun in dieselbe familien zu kennen und mit ihnen in Ver- Ja. Gemäss dem Staatssekretariat für Migra- Richtung. Diese Chance wollen wir nutzen. bindung zu stehen. So lassen sich Probleme tion müssen sich die Kantone bis Ende Jahr und allfällige Wechsel frühzeitig erkennen. auf rund 150 000 Geflüchtete vorbereiten. Die Gibt es in Europa vergleichbare Modelle Die Gastfamilien brauchen ihrerseits Infor- genaue Zahl hängt von der Entwicklung des der privaten Unterbringung? mationen. Sie kennen sich meist nicht aus Krieges ab. Diese hohe Anzahl an Schutz- Zwar gibt es in fast allen Ländern Gast im Asylwesen, sind aber täglich mit diesen suchenden lässt sich auf die Dauer nicht mit familien, die bei der Aufnahme der vielen konfrontiert und haben viele Fragen dazu. Gastfamilien bewältigen. Viele Kantone und Geflüchteten aus der Ukraine helfen, es gibt Das freiwillige Engagement muss zudem eine Gemeinden mieten daher auch Wohnungen aber vermutlich kein Land, wo die Behörden Anerkennung finden. Eine gute Begleitung für die Unterbringung. Das begrüssen wir. so eng auf professioneller Ebene mit einer zi- fördert die Kontinuität der Gastverhältnisse, Es braucht aber noch mehr Platz. Selbst die vilgesellschaftlichen Organisation zusammen- und die Gastfamilien bringen eine Entlastung bestehenden Kollektivstrukturen reichen arbeiten. Die polnische Botschaft und das für die Behörden. nicht aus. Daher entstehen teilweise Contai Europabüro des UNHCR haben sich für das nerdörfer und Zeltlager in Hallen. Das war SFH-Gastfamilienprojekt interessiert, denn es Für welche Bereiche besteht bereits während der grossen Fluchtbewegung ist in Europa in dieser Form einzigartig. Handlungsbedarf? aus Syrien der Fall. Es bereitet uns Sorge, da Eine grosse Sorge ist die Rechtsungleichheit es bei Kollektivstrukturen Mindeststandards Interview: Barbara Graf Mousa, zwischen den verschiedenen Flüchtlings- braucht, insbesondere wenn die Menschen Redaktorin SFH gruppen, die durch den neuen Schutzstatus über mehrere Monate in diesen Strukturen S entstanden ist. Diese wird nun im Auftrag leben sollen. von Bundesrätin Keller-Sutter durch eine Expertengruppe geprüft. Auch die SFH wird Was sind die Perspektiven für das Weitere Informationen: konsultiert. Wir setzen uns insbesondere da- Gastfamilienprojekt? • Community Building-Projekt auf Seite 3 für ein, dass die vorläufige Aufnahme durch Unser Ziel ist, die Gastfamilien in den kom- und Bildungsangebote für Gastfamilien und einen positiven Schutzstatus ersetzt wird (vgl. menden Wochen und Monaten zu stärken. Freiwillige auf Seite 7 in dieser Ausgabe. Artikel auf Seite 8, Anm. d. Red). Eine gute Begleitung durch den Kanton, die • www.fluechtlingshilfe.ch/gastfamilien Fluchtpunkt 98 August 2022 5
«Würfle um dein Leben» heisst das neu entwickelte Spiel des SFH-Bildungsteams. Am Berner Stadtfest hat es Taufe und Test bestanden und faszinierte Jung und Alt gleichermassen. Im Bild: Barbara Rödlach, Leiterin der SFH-Bildungsabteilung, erklärt die Spielregeln. © SFH/Barbara Graf Mousa SFH-Bildung Innovative Projekte und Kursangebote im Wandel des Weltgeschehens Projekttage und Weiterbildungen im Bereich Flucht und Asyl müssen stets am Puls des G eschehens gestaltet sein. Kaum waren die Herausforderungen der Covid-19-Pandemie für die Bildungs angebote der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) gemeistert, stellte der Krieg in der Ukraine die Innovationsfähigkeit des SFH-Bildungsteams erneut auf die Probe. Ein Überblick über die neuen Aktivitäten für Gastfamilien und Freiwillige. Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH Die Krieg in der Ukraine bewirkt unter an- Zielgruppen und der Geflüchteten und pas- Ohr und Auge bei der Bevölkerung derem auch, dass zunehmend Geflüchtete in sen unsere Angebote entsprechend an», sagt Neben den Rückmeldungen der Kund*innen Gastfamilien leben. Der gegenseitige Integ- Barbara Rödlach, die das SFH-Bildungsteam hat sich das SFH-Bildungsteam auch mit rationsprozess ist dabei herausfordernd, aber leitet. «So agieren wir innovativ, wie aktuell einer Marktanalyse einen Überblick über die nachhaltig und effizient wie die aktuellen mit einem Pilotprojekt und mit neuen Kursen Bedürfnisse im Bereich der Erwachsenen- Rückmeldungen der Gäste und Gastgeben- für Gastfamilien und für Freiwillige. Damit bildung verschafft. Insgesamt wurden 1149 den sowie die Erfahrungen aus dem frühe- reagieren wir auf die starke Solidaritätswelle Adressen angeschrieben und 137 schriftliche ren SFH-Gastfamilien-Projekt zeigen. Die in der Schweiz gegenüber den ukrainischen Interviews geführt. Erfreulicherweise bekun- SFH setzt sich schon lange dafür ein, dass Geflüchteten.» Das im April 2022 aus der den Organisationen, welche bereits SFH- Schutzberechtigt ein der Mitte der Gesell- Taufe gehobene SFH-Pilotprojekt Communi- Weiterbildungsangebote genutzt haben, eine schaft ihren Platz findenund am sozialen ty Building ist Ausdruck einer solchen Inno- überdurchschnittlich hohe Zufriedenheit. und wirtschaftlichen Leben in ihrer neuen vation. Es ist bei der SFH-Bildungsabteilung Doch scheinen nicht nur die bestehenden Heimat teilhaben können. Dabei nimmt das angesiedelt und wird in dieser Ausgabe auf Angebote beliebt zu sein, wie die Studie auf- Bildungsteam der SFH eine wichtige Rolle Seite 3 vorgestellt. zeigt. Denn offenbar stöbern über drei Viertel ein: «Wir analysieren die Bedürfnisse unserer der Befragten auf der SFH-Website Themen 6 Fluchtpunkt 98 August 2022
auf, welche bei ihnen Interesse an entspre- chenden Bildungsangeboten wecken. «Dieses Weiterbildungen für Weiterbildung für Freiwilligen- Studienergebnis lässt auf ein gewisses Anwer- Gastfamilien Netzwerke bungspotenzial schliessen», erklärt Barbara Die SFH unterstützt Gastfamilien Im Rahmen des Community Building-Pro- Rödlach. «Es lohnt sich, die Weiterbildungs- auch mit über 60 kostenlosen Weiter jektes entstehen rund um Gastfamilien angebote der Schweizerischen Flüchtlingshilfe bildungen. Angedachte Themen sind: neue Freiwilligen-Netzwerke oder beste- überall bekannt zu machen und vorhandene • Transkulturelle Kompetenzen hende Netze entwickeln sich weiter. Das Chancen, wie zum Beispiel das Berner Stadt- • Migration und Trauma SFH-Bildungsteam bietet für Freiwillige fest und das Bundeslager der Pfadfinder*in- • Kenntnisse zum nationalen und und ihre Netzwerke kostenlos zwanzig nen diesen Sommer dafür zu nutzen.» kantonalen bzw. kommunalen Weiterbildungskurse in den Themenbe- A sylwesen reichen Flucht und Asyl, Integration und Aufklärung über Spiel • Herkunftsländer-Info: Online-Kurs soziale Teilhabe, Migration und Trauma Nach dem Abflauen der Covid-19-Pandemie à drei Stunden sowie transkulturelle Kompetenzen an. konnte das dreitägige Berner Stadtfest Ende Interessierte finden demnächst auf der Mehr Informationen: Juni nach zweimaliger Verschiebung nun end- SFH-Website www.fluechtlingshilfe.ch/ www.fluechtlingshilfe.ch/community- lich durchgeführt werden. Tausende flanier gastfamilien aktuelle I nformationen. building ten trotz Regenschauern und Gewittern zwi- E-Mail: schen den Ständen, nahmen da und dort ein community.building@fluechtlingshilfe.ch Ohr voll Musik, verwöhnten sich kulinarisch. Workshops für Pfadileiter*innen Telefonische Infoline: Nicht wenige machten auch beim SFH-Stand Eine weitere Möglichkeit zur Sensibilisie- +41 (0)31 370 75 95 (Di 14–18, Do 9–13 Uhr) Halt und «würfelten um ihr Leben». So heisst rungsarbeit bietet sich dem SFH-Bildungs- das neu konzipierte Spiel, das wie das «Leiter- team aktuell im Bundeslager der Pfadfin- li-Spiel» funktioniert (auch bekannt als «Leiter- der*innen. 30 000 Jugendliche aus der ganzen te, Verantwortung und wir». Die sogenannten spiel» oder «Schlangen und Leitern») und die Schweiz schlagen an diesem Grossanlass im Pios und Rovers, das sind Jugendliche ab Spielenden für die Stationen einer Flucht sen- Kanton Wallis in der Region Goms ihre Zelte 15 Jahren, die eine Pfadigruppe leiten, sind sibilisieren soll. «Vor allem die Familien liessen auf. Sie üben sich nicht nur im Lageraufbau das Zielpublikum: «Wir bieten ihnen die sich dank der Kinder gerne auf eine Ausein- und Outdoor-Leben, sondern widmen sich Gelegenheit, mit unseren Mitarbeitenden, andersetzung mit der Thematik ein», berichtet auch gesellschaftlichen, ja weltpolitischen die selbst geflüchtet sind, ins Gespräch zu Anna Friedli von der SFH-Jugendbildung. «Wir Themen wie dem Klimawandel und Diversität kommen», erklärt Nadine Hagen, Verantwort- sind zufrieden mit dem regen Betrieb und oder Präventionsmöglichkeiten für ein friedli- liche Jugendbildung im SFH-Bildungsteam. den Rückmeldungen während des Einsatzes.» ches gesellschaftliches Zusammenleben in ei- «Die Jugendlichen erwerben nicht nur grund- «Würfle um dein Leben» vermittelt über spie- ner globalisierten Welt. Mittlerweile besuchen legendes Wissen zur Thematik Flucht, Asyl lerische Aktivitäten wichtige Hintergrundin- auch viele Kinder von Geflüchteten die Pfadi. und Integration, sondern erleben Geflüchtete formationen; etwa, wenn es darum geht, einen Wie sollen Pfadileiter*innen damit u mgehen? als Individuen mit ganz unterschiedlichen Schlepper zu bestechen, um auf dem Spielfeld Die Pfadibewegung Schweiz hat bei der Geschichten.» vorzurücken. Oder wenn die Spielenden in der SFH-Bildung 22 Workshops in Deutsch und Rolle eines neu aufgenommenen Asylsuchen- Französisch bestellt zum Thema «Geflüchte- www.fluechtlingshilfe.ch/bildung den für den erfolgreichen Integrationsprozess möglichst schnell Wörter in einer Fremdspra- che lernen müssen – im Spiel sind das Spra- chen wie Kisuaheli oder Kinyarwanda oder Tamilisch. Der Freude an der spielerischen Auseinandersetzung soll die Erkenntnis folgen, wie schwierig der schnelle Spracherwerb für geflüchtete Menschen aus solchen Herkunfts- ländern sein muss. «Viele Besucher*innen liessen sich nach dem Spiel gerne in ein vertief- tes Gespräch verwickeln und teilten uns ihre Beobachtungen und Sorgen zum Asylsystem in der Schweiz mit», erzählt Anna Friedli. «Im direkten Gespräch können wir Wissen vermit- teln und Vorurteile klären und auf diese Weise ohne Zeigefinger sensibilisieren. Wir weisen darauf hin, dass eine Flucht in der Realität kein Spiel ist. Den Einstieg in eine Sensibilisierung Im Einsatz am Berner Stadtfest (von links nach rechts): Barbara Rödlach, Leitung SFH-Bildung, über dieses Würfelspiel erachten wir als wir- Hakeem Sayaband und Désiré Nsanzineza, Mitarbeitende Bildungsprojekte und Anna Friedli, kungsvoll und vertretbar.» Co-Verantwortliche Jugendbildung. © SFH/Barbara Graf Mousa Fluchtpunkt 98 August 2022 7
SFH-Akzente Alle Vertriebenen haben den gleichen Schutzbedarf Die grosszügige Regelung zur Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine ist so bemerkenswert wie richtig. Sie offenbart aber auch die ungleichen Rechte anderer Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) setzt sich deshalb für die Schaffung eines neuen Schutzstatus ein, der Rechtsgleichheit schafft. Von Peter Meier, Leiter Direktionsstab Politik & Medien Geflüchteten unterschiedlicher Herkunft, die rium, wodurch ihre Integration und Teilhabe sich dadurch offenbart. erschwert, Selbstständigkeit behindert und Davon betroffen sind vorab Kriegs- und Sozialhilfeabhängigkeit begünstigt wird. Der Gewaltvertriebene aus anderen Ländern als Politik sind die gravierenden Folgen für alle der Ukraine – etwa Syrien, Afghanistan, Beteiligten längst bewusst. Dennoch blieben Jemen, Somalia. Die allermeisten von ihnen alle Reformen der letzten 20 Jahre unzuläng- werden mit dem Ausweis F vorläufig auf- lich. Die sinnvolle Ausgestaltung des Status genommen. Anders als der S-Status ist die S zeigt jetzt die Defizite der vorläufigen Auf- vorläufige Aufnahme aber kein Schutzstatus, nahme deutlicher denn je. Der F-Status ist nicht einmal ein selbstständiger aufenthalts- ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert, das rechtlicher Status. Sie ist nur eine Ersatz- es sonst nirgends in Europa gibt – überholt in massnahme für eine nicht durchführbare Ausrichtung und Ausgestaltung. Wegweisung nach negativem Asylentscheid Die Ungleichbehandlung von Vertrie- – damit wird lediglich der Vollzug ausgesetzt. benen unterschiedlicher Herkunft ist nicht Anders als bei den Vertriebenen aus der Uk- haltbar. Leidensdruck und Schutzbedarf sind raine ist demnach nicht der Schutzbedarf der bei allen gleich. Sie brauchen bei uns nicht Betroffenen ausschlaggebend für den Umgang nur ein Dach über dem Kopf, sondern gleiche mit ihnen, sondern deren nicht vollziehbare Rechte: rascher Familiennachzug, Reisefrei- Eine afghanische Geflüchtete plädiert am Wegweisung. heit, ausreichende finanzielle Unterstützung, 8. Asylsymposium in Bern für einen besseren Zugang zu Arbeit und Integrationsmassnah- Schutz mit mehr Rechten. Relikt aus der Vergangenheit men. Das muss für alle Geflüchteten gleicher- © SFH/Barbara Graf Mousa Das hat prekäre Folgen für ihren Aufenthalt: massen gelten, sobald ihr Schutzbedarf aner- Vorläufig Aufgenommene sind hierzulande kannt ist und solange sie nicht in ihre Heimat Die erstmalige Anwendung des Schutzstatus bestenfalls geduldet, ihnen werden nur ein- zurückkehren können. Daher setzt sich die S für Kriegsvertriebene aus der Ukraine hat geschränkte Statusrechte gewährt, Reisen ins SFH für die Schaffung eines neuen humanitä- hierzulande eine öffentliche Debatte ausge- Ausland sind ihnen grundsätzlich untersagt, ren Schutzstatus ein, der den F-Status ersetzt löst. Nicht über die ungewöhnlich kulante der Familiennachzug ist an Wartefrist und und Rechtsgleichheit schafft. Es ist höchste Ausgestaltung des S-Status und den progres- strenge Auflagen geknüpft. Anspruch auf eine Zeit dafür – die positiven Erfahrungen mit siven Umgang mit den Schutzbedürftigen. Aufenthaltsbewilligung haben sie nicht – und der grosszügigen Aufnahme der Geflüchteten Beides ist völlig richtig und breit akzeptiert. damit auch keine sichere Bleibeperspekti- aus der Ukraine weisen den Weg. Auf wachsendes Unverständnis stösst viel- ve. Trotz längerfristigem Aufenthalt in der mehr weitherum die Ungleichbehandlung von Schweiz verbleiben sie so im Dauerproviso www.fluechtlingshilfe.ch/neuer-schutzstatus Hergestellt aus 100% Recycling-Papier Impressum Der Fluchtpunkt erscheint viermal jährlich für Spenderin- Verlag und Herausgeberin «Fluchtpunkt»: nen und Spender der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Der Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) Abo-Beitrag von 5 Franken ist im Spendenbetrag inbegriffen. Weyermannsstrasse 10, Postfach, 3001 Bern Tel. 031 370 75 75, E-Mail: info@fluechtlingshilfe.ch Auflage dieser Ausgabe: 33 800 Internet: www.fluechtlingshilfe.ch Redaktion: Barbara Graf Mousa (verantwortlich), Miriam B ehrens, Lucie Engdahl, Anna Friedli, Nadine Hagen, Oliver Lüthi, Peter Meier, Seraina Nufer, Barbara Rödlach, Spendenkonto: PC 30-1085-7 Siméon Seiler / Übersetzungen: Andréane Leclercq, SFH und Ihre Spende Sabine Dormond, Montreux / Layout: Baptiste Babey / in guten Händen. Druck: rubmedia AG, Wabern/Bern 8 Fluchtpunkt 98 August 2022
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