STADTWANDERUNG SVPW LOBBYING IM REGIERUNGSVIERTEL DER BUNDESSTADT - Claude Longchamp - Swiss Political Science ...

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STADTWANDERUNG SVPW
    LOBBYING IM REGIERUNGSVIERTEL DER BUNDESSTADT

Claude Longchamp
Politikwissenschafter/Historiker und Stadtwanderer

Bern, 04. Februar 2021

Text- und Bildfassung
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1. Station: Vor dem Hotel Bellevue Palace

Abbildung 1 – Hotel Bellevue Palace
Quelle: Eigene Aufnahme

Wir stehen von dem Hotel Bellevue Palace. Es ist ein Hotspot des Lobbyings in
Bundesbern. Deshalb beginne ich hier.

   Definition(en)
Die populärste Umschreibung von Lobbying meint, LobbyistInnen seien noch
nicht Teil der staatlichen Institutionen, aber auch nicht mehr des Volkes. Wenn
das Bellevue der Staat wäre und die PassantInnen die BürgerInnen, wären wir hier
ziemlich richtig. Ein Schritt mehr, und wir wären in der Lobby.
Was tun solche Intermediäre? Das Cambridge English Dictionary umschreibt es
so: “[Lobbying is] the activity of trying to persuade someone in authority, usually
an elected member of a government, to support laws or rules that give your
organization or industry an advantage.” (Cambridge Dictionary 2020)
Es geht also um Überzeugungsarbeit. Um Mitglieder des Regierungssystems. Und
um Vorteile für die eigene Organisation.
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Während meinen 25 Jahren als Dozent für Lobbying am Verbandsmanagement
Institut der Universität Freiburg bin ich weiteren Definitionen begegnet:
    Zuerst der recht undifferenzierten Umschreibung von Lobbying als
     Interessenvertretung. Sie sagt, dass ParlamentarierInnen wie LobbyistInnen
     Interessen vertreten. Doch liefert sie keine Unterscheidungskriterien. Ein
     Ausweg wäre, alle Gewählten noch als LobbyistInnen zu betrachten. Das
     wären dann nur Nicht-Gewählte, die Einfluss nehmen.
    Dann          die         Definition        vieler
     Kommunikationsfachleute. Für sie ist Lobbying
     nicht nur Kommunikationsmanagement, um
     politische Entscheidungen zu steuern. Jede
     strategische Äusserung im Vorfeld gehört dazu.
     Das verwischt die Grenze zur Information, die
     für die Demokratie unabdingbar ist.
    Schliesslich die interessante Version von Fritz
     Sager,          Politologie-Professor          am
     Kompetenzzentrum für Public Management der
     Universität Bern. Er schreibt: «Lobbying
     bezeichnet die Vertretung von politischen
     Interessen [bei Berufs- und Milizlobbyakteuren
                                                         Abbildung 2 – Das Freiburger
     im Rahmen ihrer Mandate] und die                    Management-Modell
     Beeinflussung            von          politischen   Quelle: Lichtsteiner et al.
                                                         (2020)
     Entscheidungsprozessen          durch        diese
     Interessen.» (Sager und Pleger 2018)
Das ist angepasst auf die Schweiz. Es geht tatsächlich um Interessen, aber es
braucht zielgerichtete Mandate und es zählen die Handlungen hierzu. Das
könnten Top-Leute sein, aber auch VereinspräsidentInnen.

    Formen
Sagers Analysen im internationalen Vergleich legen zwei weitere Eigenheiten des
Lobbyings in der Schweiz offen: es ist an ParlamentarierInnen ausgerichtet, und
es finden medial vermittelt statt. In angelsächsisch geprägten Politsystemen wird
es stärker durch Geld getrieben, und findet weniger personalisiert statt.
Meine Beobachtungen zum Lobbying in Bundesbern haben mich gelehrt,
Lobbying nicht auf Prozesse der Gesetzgebung zu reduzieren. Häufig geht es um
Ausnahmen von Gesetzen. Oder um Subventionen. Oder um Grossprojekte, um
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öffentliche Beschaffungen.                         Oder            um          Transferzahlungen,                  etwa          im
Sozialversicherungsbereich.

                                                              Lobbying

      Privilegien              Subventionen                Transferzahlungen       Beschaffungswesen               Grossbauten
         z.B.                      z.B.                         z.B.                        z.B.                      z.B.
     Gastgewerbe             Gesundheitswesen          Sozialversicherungen             Informatik                  Gotthard

Abbildung 3 – Wofür wird lobbyiert?
Quelle: Eigene Darstellung

Nötig ist auch die Unterscheidung zwischen legislativem und dem exekutiven
Lobbying. Ersteres findet gegenüber dem Parlament und seinen Parteien statt,
letzteres gegenüber dem Bundesrat und der Bundesverwaltung.

                                                              Lobbying

                                 Legislatives                                          Exekutives
                                  Lobbying                                              Lobbying

                       Parlament
                                                Parteien                   Bundesrat            Bundesverwaltung
                    (Kommissionen)

Abbildung 4 – Adressaten
Quelle: Eigene Darstellung

   Eine erste Bewertung
Unter AnalytikerInnen und Beobachtenden herrscht weitgehende Einigkeit:
Lobbying findet in der Schweiz statt. Weitgehender Konsens herrscht auch, dass
es unterreglementiert ist, dass sich erwünschte Funktionen mit unerwünschten
mischen. Typisch dafür ist die jüngste Publikation von Transparency International
zum hiesigen Lobbying im europäischen Vergleich: Die Gesamtnote ist mittelgut
bzw. mittelschlecht (Biscaro und Biedermann 2019).
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 Rang                  Land / Institution                           Gesamtbewertung
 1                     Slowenien                                    55%
 2                     Europäische Kommission                       53%
 3                     Litauen                                      50%
 4                     Vereinigtes Königreich                       44%
 5                     Österreich                                   40%
 6                     Irland                                       39%
 6                     Lettland                                     39%
 8                     Europäisches Parlament                       37%
 9                     Niederlande                                  34%
 10                    Polen                                        33%
 11                    Schweiz                                      30%
 12                    Estland                                      29%
 12                    Tschechien                                   29%
 14                    Frankreich                                   27%
 15                    Slowakei                                     26%
 16                    Bulgarien                                    25%
 17                    Deutschland                                  23%
 17                    Portugal                                     23%
 19                    Spanien                                      21%
 20                    Italien                                      20%
 21                    Rat der Europäischen Union                   19%
 22                    Ungarn                                       14%
 22                    Zypern                                       14%
 Durchschnitt          Alle Länder & EU-Institutionen               31%
Tabelle 1 – Die Transparenz der Schweiz im europäischen Vergleich
Quelle: Biscaro und Biedermann (2019)

Am besten schneiden wir wegen des tendenziell gleichberechtigten Zugangs zu
Behörden ab. Ausgewogene Konsultationsverfahren und Expertengruppen sind
die Pluspunkte, auch im Vergleich zur EU. Ähnlich wie in der EU wird die Integrität
unseres Lobbyings bewertet. Verhaltenskodizes für Beschäftigte im öffentlichen
Sektor sind da unser Plus; die fehlende Gesetzgebung für LobbyistInnen an sich
jedoch das Minus. Am schlechtesten bewertet wird die Transparenz des
Lobbyings in der Schweiz – geringer noch als in der EU! Es mangle vor allem an
Offenlegungspflichten für LobbyistInnen, die hinreichend überwacht würden.
Und es gebe keinen legislativen Fussabdruck.
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 Transparenz                                                            CH    EU
                          Informationsfreiheit                          50%

                          Registrierung und Offenlegungspflichten von
                          Lobbyisten                                  3%

                          Überwachung von Registern und Sanktionen      0%
       16%
                          Legislativer Fussabdruck                      13%

                          Transparenz (Gesamt)                          16%   25%

 Integrität                                                             CH    EU
                          Restriktionen zu ehemaligen und
                          zukünftigen Arbeitsverhältnissen              8%

                          Verhaltenskodex für Beschäftigte des
                          öffentlichen Sektors                          75%

                          Gesetzlicher Verhaltenskodex für Lobbyisten   0%
       29%
                          Ethikkodizes zur Selbstregulierung            33%

                          Integrität (Gesamt)                           29%   33%

 Gleichberechtigter                                                     CH    EU
 Zugang
                          Konsultationen und öffentliche Teilnahme
                          an Entscheidungsprozessen                     58%

                          Zusammensetzung von Beratungs- und
                                                                        30%
       44%                Expertengruppen

                          Gleichberechtigter Zugang (Gesamt)            44%   33%
Tabelle 2 – Abschneiden der Schweiz nach Bereich
Quelle: Biscaro und Biedermann (2019)

Als ich 1995 begann, Lobbying zu unterrichten, wussten die meisten nicht, dass
es das gab. 1998 änderte sich das mit dem nachrichtenlosen Vermögen. Wir
lernten, dass ausländische Organisationen Einfluss auf unser Bankengeheimnis
nehmen. Damals stand Botschafter Borer auf Seiten der Verteidiger der Schweiz.
Die Kasachstan-Affäre 2015 war ein zweiter Einschnitt. Betroffen war unsere
damalige Nationalratspräsidentin Christa Markwalder. Ebenfalls betroffen war
Thomas Borer, nun Lobbyist für das Ausland. Beide wurden beschuldigt, für die
Anerkennung des autoritären Regimes in Kasachstan mit Vorstössen im
Parlament lobbyiert zu haben. Mittlerweilen wurden die Verfahren eingestellt.
Wir werden uns so des Lobbyings in der Schweiz allmählich bewusst.
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    Würdigung und Kritiken
Viele ParlamentarierInnen sind noch nicht soweit. Für sie ist die Einflussnahme
auf den Gesetzgeber die logische Folge des Milizsystems. Darüber werden wir
noch sprechen.
Ausserhalb kann man verschiedene Grade an Kritik unterscheiden:

                                                                                        Lobbywatch
SPAG

        •Lobbying als Rück-/        Transparency International   •Systemverträgliches                •Das Lobbying ist mit
         Einbindung der                                           Lobbying:                           Korruption
         Politik in die                                           Transparenz,                        verwandt.
         Gesellschaft                                             Bewusstsein,
        •Mehr Lobbying ist                                        Beschränkung
         gut für die
         Demokratie.

Abbildung 5 – Beurteilung des Lobbyings in der Schweiz aus der Perspektive externer Akteure
Quelle: Eigene Abbildung

      Die sehr gemässigte Kritik aus der Branchenvereinigung SPAG, die Zugang zum
       Parlament durch Akkreditierung wie in der EU möchte.
      Die Anhänger der liberalen Demokratie wie Fritz Sager, für welche Lobbying
       zwar nichts Anrüchiges hat, solange dieses transparent und geregelt erfolgt.
      Die starke Kritik meist von links, bisweilen aber auch von rechts, die Lobbying
       mit verdeckter Manipulation und Korruption gleichsetzt.
      Selber stufe ich mich nahe, wenn auch nicht identisch mit Transparency
       International ein. Und damit es klar ist: Ich bin kein Lobbyist. Aber ich habe
       mich als Wissenschafter mit vielen LobbyistInnen auseinandergesetzt.
       Manche mögen meine Analyse und nutzen sie. Andere finden sie
       überzeichnet und lehnen sie ab.
Wir haben hier begonnen, bleiben aber nicht hier stehen. Wir machen einen
Rundgang durch das Regierungsviertel mit allen wichtigen Institutionen und
AkteurInnen.
Los geht’s!
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2. Station: Bundesplatz
Wir stehen auf dem Bundesplatz. Er repräsentiert den modernen Bundesstaat.
Die 26 Brunnen sind die Kantone, die gesamte Fläche repräsentiert den Bund.

   Schweizer Demokratiegeschichte
Man könnte den Bundesplatz auch als Platz der Demokratie bezeichnen. In den
1830er Jahren wurden die meisten Kantone, welche der Wiener Kongress
geschaffen oder bestätigt hatte, demokratisiert. 1848 entstand, nach einem
kurzen Bürgerkrieg, der Bundesstaat mit Volk und Ständen als Souveräne.
Damals waren wir noch eine repräsentative Demokratie mit dem Parlament im
Zentrum, aber ohne Volksrechte. Diese kamen in den 1860er Jahren in den
Kantonen      hinzu.    1874     wurde      das    Gesetzesreferendum      gegen
Parlamentsbeschlüsse und 1891 die Volksinitiative für Verfassungszusätze
eingeführt. Wir wurden so schrittweise zur halbdirekten Demokratie. Diese
begünstigte ihrerseits die Entwicklung der Konsensdemokratie als Alternative zur
Mehrheitsdemokratie. Bei uns wird verhandelt, um zur besten Lösung zu
gelangen. Dafür war die Inklusion sozialer Gruppen wie der katholisch-
konservative Bevölkerung, der Bauern- und der Arbeiterschaft nötig. Mehr Mühe
hatte (bzw. hat) die Schweiz mit der Integration der Frauen, der jungen Menschen
und der AusländerInnen.

 Jahr/Periode            Ereignis
 1830er Jahre            Regeneration der Kantone mit gescheiterter Bundesverfassung
                         Bundesstaat mit erster Verfassung
 1848
                          Demokratische Phase
                         Revision der ersten Bundesverfassung, Referendumsdemokratie
 1874
                          Direktdemokratische Phase
 1981                    Halbdirekte Demokratie
 1918                    Proporzwahlen, BGB/SP werden relevant
                         Sozialpartnerschaft
 1937
                          Sozialpartnerschaftliche Phase
 1971                    Frauenstimmrecht
                         Stimmrechtalter 18
 1991
                          Globalisierungsphase
Tabelle 3 – Einige Entwicklungen in der Geschichte der Eidgenossenschaft
Quelle: basierend auf comparis.ch (2018)
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  Machteliten
Eine ganz andere Interpretation habe ich in den
1970ern in meinem Studium an der Universität
Zürich bei der Lektüre von «The Power Elite»
entdeckt. Autor Charles Wright Mills (1956)
analysiert darin die USA nach dem Zweiten
Weltkrieg. Er hält fest, dass der Staat, das Militär
und die Wirtschaft zu einer Superballung von Macht
zusammengewachsen          waren,    welche      die
Demokratie bedroht. Eingebürgert hat sich, dies den
militärisch-industriellen Komplex, kurz MIK, zu        Abbildung 6 – The Power Elite
nennen.                                                Quelle: Wright Mills (1956)

Heute liest sich das Buch von Mills wie eine Verschwörungstheorie. Geblieben ist
aber die zentrale Frage der Macht in der Demokratie.
Heutige DemokratietheoretikerInnen sprechen in diesem Zusammenhang von
Korporatismus. Gemeint ist damit, dass organisierte Wirtschaftsinteressen in den
Staat integriert sind. Genau genommen spricht man vom Neokorporatismus oder
liberalen Korporatismus. Denn die Mitgliedschaft in Wirtschaftsorganisationen ist
heute freiwillig. Wenngleich ebendiese Organisationen die Regierung nicht mehr
direkt bilden, sind sie doch nach wie vor tief ins Regierungssystem integriert.
In der Schweiz sind das beispielsweise die Sozialpartner, also Gewerkschaften,
Gewerbeverband und Arbeitgeber. Sie verpflichten sich, weder zu streiken, noch
Arbeiter auszusperren, aber miteinander zu verhandeln. Den Anfang nahm dieses
System 1937 in der Metallindustrie, also kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Trotz
Schwierigkeiten besteht es heute noch und gilt als wichtige Systemstütze. Die
zentrale Vorstellung ist, dass durch diese Partnerschaft innerer Friede einkehrt
und Verbände einen Beitrag zum Allgemeinwohl leisten.

  Vom Korporatismus zum Pluralismus
Hanspeter Kriesi, der Schweizer Wright Mills, schrieb vor diesem Hintergrund
seine wegeweisende Habilitationsschrift. Er erstellte aufgrund von
Experteninterview eine Rangliste der zugeschriebenen Macht für die Schweiz der
1970er Jahre. Sie sah den Gewerkschaftsbund an der Spitze, gefolgt von Vorort
(Schweizerischer Handels- und Industrieverein), der Vorläuferorganisation der
economiesuisse. An dritter Stelle folgte der Gewerbeverband, womit sich alle drei
vor Bundesrat, weiteren Branchenverbänden und den politischen Parteien in die
Rangliste einreihen. Das war Neokorporatismus pur. Der Bundesrat regiert für das
‘big business’ unter Einschluss der Gewerkschaften (Kriesi 1980).
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 1971–1976 (Kriesi 1980)                              2001–2006 (Sciarini 2015)
 92% Schweizerischer Gewerkschaftsbund                92% SVP
 91% economiesuisse                                   88% economiesuisse
 87% Schweizerischer Gewerbeverband                   87% Bundesrat
 84% Bundesrat                                        82% SP
 81% Schweizer Bauernverband                          77% FDP.Die Liberalen
 74% CVP                                              77% CVP
 73% FDP.Die Liberalen                                76% Schweizerischer Gewerkschaftsbund
 72% SP                                               74% Eidgenössisches Finanzdepartement
 64% Schweizerische Nationalbank                      63% Konferenz der kant. Finanzdirektoren
 63% ED Wirtschaft, Bildung und Forschung             61% Schweizerischer Gewerbeverband
Tabelle 4 – Machtverteilung im zeitlichen Vergleich
Quelle: Kriesi (1980), Sciarini (2015)

Pascal Sciarini (2015), Kriesis wichtigster Schüler, wiederholte die Studie 30 Jahre
später. Sein neuer Hauptbefund aus dem Jahre 2015: Der Verbandseinfluss ist
weitgehend gesunken. Nur die economiesuisse konnte sich auf der Höhe des
Bundesrats halten. Vor beiden liegt aber mit der SVP eine transformierte
Regierungspartei. Hinter ihnen kommen alle anderen Regierungsparteien. Sie
rangieren noch vor den weiteren Verbänden und neu den Spitzen der
Finanzverwaltungen in Bund und Kantonen. Nicht mehr das vorparlamentarische
Verfahren entscheidet; vielmehr sind die Kommissionen im Parlament
massgebend.
Eine eigene Studie mit direktem Bezug auf das Lobbying bestätigte das. Dafür liess
ich die LobbyistInnen die jeweils anderen einschätzen. So erfuhr ich Allerlei. Mein
Hauptergebnis ist, dass der Einfluss des Lobbyings steigt, je intensiver er
betrieben wird. Mein Ranking sah economiesuisse, den Dachverband der
Wirtschaft,     an     der     Spitze,    umgeben       von     Umwelt-         und
KonsumentInnenverbänden. Der Bundesrat kommt selbstredend nicht vor, aber
die Parteien, die Verwaltung und die Kantone erscheinen plötzlich als wichtige
Lobbygruppen (Burson-Marsteller und gfs.bern 2011).
Solche Ergebnisse führten zu einer neuen Diagnose. Die Interessenvertretung ist
heute nicht mehr vorwiegend korporatistisch, aber pluralistisch. Pluralismus
meint, dass die Zahl und Art der relevanten Interessenvertretungen zunimmt, sich
diese nicht mehr auf Wirtschaftsverbände konzentrieren und vom politischen
System nicht zwingend vorgesehen sein müssen.
11

    Populärwissenschaftliche Diagnosen
Wirksames Lobbying gemäss Burson-Marsteller und gfs.bern (2011):
    Erfolgreiche Lobbyisten sind Wirtschafts- und Umweltverbände sowie
     KonsumentInnen-Organisationen.
    Erfolglos sind demgegenüber die Kirchen.
    Mit der wahrgenommenen Intensität des Lobbyings steigt auch der
     wahrgenommene Erfolg eines Akteurs/einer Akteurin.
    Als relativ erfolgreich gelten insbesondere die Verwaltung und die Kantone.
    Die Trennung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Lobbyakteuren wird
    Sobsolet.
       tre udiag ram m Erfo lg / Häufig ke it Lo bby-Org anis atio ne n
    "Uns interessieren auch die im Lobbying tätigen Organisationen. Sie sehen in der Folge eine Liste von Organisationen oder
    Als vergleichsweise
    Interessengruppen.                 erfolglos
                        Beurteilen Sie bitte             fallen
                                             auch für jede         NGOs, PA-Agenturen
                                                           Organisation/Interessengruppe, ob diese in derund  Think
                                                                                                          Schweiz sehr Tanks ab.
    erfolgreich/häufig, eher erfolgreich/häufig, eher erfolglos/selten oder sehr erfolglos/selten lobbyiert."

                                              100

                                                                                                                           Wirtschaftsverbände

                                              80
                                                                                                                     Umwelt-Organisationen
                                                                                                          KonsumentInnen-Organisationen

                                                                                                            Kantone                        Pol. Parteien
                                                                                                                  Verbände allg.
                                              60                                                                                        Arbeitnehmerorg.

                                                                        Öffentliche Verwaltung                                     NGO
                                                                                                   Unternehmen              Public Affairs Agenturen

                                                                                     Medien/Verlage
                                              40
                                                                                                 Kultur-Organisationen
                                                                          Experten
                                                                                                 Journalisten
                             Erfolg Akteure

                                              20
                                                         Kirchen                     Think Tanks

                                               0
                                                    0              20                  40                       60                 80                 100
                                                    Häufigkeit Akteure

                                              Abbildung 7 – Streudiagramm Erfolg & Häufigkeit
                                              Lobby-Akteure
     gfs.bern, Lobbying Survey 2011, April/Mai 2011 (N = 143)
                                              Quelle: Burson-Marsteller und gfs.bern (2011)

Diese Erkenntnisse sind zwischenzeitlich als Populärwissenschaft in den
Massenmedien angekommen. Zu Zeiten Kriesis gab der Tages-Anzeiger-Journalist
Hans Tschäni die gleiche Antwort wie der Politologe. Dieser hat nämlich 300
GeneralistInnen und SpezialistInnen der Schweizer Politik identifiziert, welche die
entscheidenden Weichen bei den wichtigsten Herausforderungen gestellt haben.
Das war unsere Powerelite (Tschäni 1983).
Gut 30 Jahre nach Tschäni gab ein Schweizer Autorenkollektiv, das für die
deutsche Zeitung «Die Zeit» recherchierte, eine abweichende Antwort. Sie
glauben, auch in fortgeschrittenen Demokratien gäbe es eine Entwicklung zur
Postdemokratie. Dabei hätten Experten die Macht übernommen. Die
demokratischen Formen würden weiterbestehen, allerdings von Fachleuten so
gestaltet, dass die Entscheidungen vorhersehbar seien und vom Volk kaum mehr
beeinflusst würden.
12

Immerhin stellen die Autoren bezogen auf die Schweiz eine für die direkte
Demokratie des Landes typische Reaktion auf die geschilderten Entwicklungen
fest. Hier sei es zu einer Retrodemokratie mit den Massenmedien im Zentrum
gekommen. Diese würden Demokratie inszenieren. Hauptdarsteller sei der
Volkstribun Christoph Blocher mit seiner SVP. Er bilde, in der pluralistisch
geprägten, liberalen Demokratie, das eigentliche Machtzentrum (Daum et al.
2014).

                 Abbildung 8 – Bücher: "Wer regiert die Schweiz?"
                 Quelle: Daum et al. (2014), Tschäni (1983)

  Neuerliche Umbrüche
Natürlich stellt sich heute die Frage, ob die Interpretation von 2014 noch stimmt.
Die Polarisierung durch die SVP hat wohl 2015 ihren Höhepunkt erreicht. 2019
haben SVP und SP die Wahlen verloren. Zahlreiche Interessengruppen haben ihre
Vertretung im Parlament verloren. Dazu gehörten die Sozialpartner, aber auch die
GesundheitspolitikerInnen. Politische Macht gewonnen haben die VertreterInnen
der Grünen und die Frauen. Sie erreichten im Jahr der Klima- resp. Frauenwahl
Spitzenwerte. Das alles spricht für noch mehr Pluralismus.
Bis COVID-19 kam! 2020 erlebten wir eine massive Neubelebung des
Neokorporatismus. Vielleicht sogar einen Neo-Neokorporatismus. Denn seit der
«zweiten Welle» sind Verbände der Wirtschaft und der Freizeitindustrie, aber
auch Fachleute wie EpidemiologInnen und Massenmedien von zentraler
Bedeutung, wenn es um Einflüsse auf den stark geforderten Bundesrat geht.
13

 Bereich/Organisation     «Götti» in der BV      Badge-InhaberIn          Rolle
                                                                          Leiterin Finanz- &
 Gewerbeverband           Jean-François Rime     Alexandra Krattinger     Steuerpolitik
                                                 Dieter Kläy              Leiter Mobilität
 Gewerbeverband           Hans-Ueli Bigler                                Baumeisterverband
                                                 Bernhard Salzmann
 Arbeitgeberverband       Peter Schilliger       Roland A. Müller         Direktor
 Schweiz Tourismus        Claude Béglé           Anja Wyden Guelpa        Verwaltungsrätin
 Treuhand Suisse          Thomas Egger           Stefan Wyer              Leiter Kommunikation
 Hauseigentümer-
 verband                  Thomas Müller          Monika Sommer            Direktorin
 Hauseigentümer-
 verband                  Claudio Zanetti        Felix Schneuwly          -

 Nestlé                   Sebastian Frehner      Jean-Christophe Britt Head PA
 Swisscom                 Bernhard Guhl          Stefan Kilchenmann       Head PA
                                                                          Leiter Chemie &
 Unia                     Corrado Pardini        Manuel Wyss              Pharma
                                                                          Leiterin
 Travail Suisse           Adrian Wüthrich        Linda Rosenzkranz        Kommunikation
 santésuisse              Heinz Brand            Verena Nold              Direktorin
 Groupe Mutuel            Felix Müri             Miriam Gurtner           Head PA
 Comparis                 Claudio Zanetti        Felix Schneuwly          Head PA
Tabelle 5 – Beispiele aus dem "Götti"-System: Parlamentarier und die von ihnen vergebenen Badges
Quelle: Bernet (2019)
14

3. Station: Das Regierungsviertel als Miniatur

Abbildung 9 – Bronze-Miniatur des Bundeshauses
Quelle: Peter Klaunzer/Keystone

Wir stehen hier vor dem Kern des Regierungsviertels. Allerdings nur im
Kleinformat. Das Grossformat ist gleich hinter uns.
Wir überblicken hier das Parlaments- und zwei Regierungsgebäude. Sie
beinhalten die beiden Säle für National- und Ständerat sowie den Sitz des
Bundesrats und einzelne seiner Departemente.

   Gewaltenverschränkung nicht Gewaltenteilung
In der klassischen Lehre sind die beiden Gewalten getrennt, um sie kontrollieren
zu können. In der Schweiz ist diese Teilung eher wenig entwickelt. Man spricht
deshalb vorwiegend von Gewaltenverschränkung denn Gewaltenteilung.
Dies hat Folgen für den Gesetzgebungsprozess. Über Gesetze entscheidet zwar
das Parlament, ihre Vorbereitung und Umsetzung liegt aber weitgehend in den
Händen der Regierung. Selbst wenn ein Gesetz beschlossen ist, aber ein
Referendum zu Stande kommt, ist das zwar noch ein Teil der Entscheidung, aber
vom Bundesrat bestimmt.
Generell stellt die Politikwissenschaft eine Verlagerung fest, bei welcher die
zentrale Bedeutung des Parlaments schwindet und jene der Regierung wächst.
15

Machen wir ein Beispiel: Nach der abgelehnten Volksabstimmung über den
Gripen kam das Parlament zu Schluss, die Stimmberechtigten sollten nur über den
Kredit für ein neues Kampfflugzeug bestimmen, nicht aber über den Typ.
Entsprechend stimmten wir letztes Jahr nur über den Kredit von 6 Milliarden CHF
ab; dies ohne zu wissen, welches Flugzeug damit gekauft würde. Denn das
bestimmt nun der Bundesrat in eigener Regie. Im Vergleich zur
Kompetenzordnung von 2013 fand hier eine De-Parlamentarisierung statt.
                                                    Analysen verschiedener Berner
                                                    PolitikwissenschafterInnen zeigen,
                                                    dass dieser Trend bis in die 90er
                                                    Jahre überwog. Seither gibt es aber
                                                    auch eine Gegenbewegung, die
                                                    man         Re-Parlamentarisierung
                                                    nennt. Sie ist eine Reaktion auf die
                                                    EWR-Entscheidung 1992, als sich
                                                    die innenpolitischen Kräfte wie das
                                                    Parlament und die Kantone
                                                    tendenziell übergangen fühlten.
                                                    Seither verlangen sie mehr
Abbildung 10 – Die Schweiz im Vergleich mit ihren   Mitspracherechte       gerade     in
Vorbildern über die Zeit (Niederlande, Weimarer
Republik und USA)                                   aussen- und europapolitischen
Quelle: Vatter et al. (2020)                        Entscheidungen.

  Der Entscheidungsprozess
Der Berner Politologe Wolf Linder hat die Stationen der Entscheidungsfindung
minutiös in einem Rad-Diagramm nachgezeichnet (siehe unten, Linder 2005). In
der vorparlamentarischen Phase unterscheidet er das Wirken von
verwaltungsinternen Arbeitsgruppen, externen Experten und Vernehmlassungen
bei betroffenen Organisationen. Das alles mündet in die Botschaft des Bundesrats
an das Parlament.
Das Parlament bestimmt einen Erst- und Zweitrat. Beide verfahren
hintereinander, aber gleich: Zuerst beraten die Kommissionen, dann das Plenum.
Kommen beide Kammern zu unterschiedlichen Schlüssen, kommt es zur
Differenzbereinigung und schliesslich den Schlussabstimmungen.
Alsdann folgt die Referendumsphase, wenn eine Nachentscheidung des Volkes
verlangt wird. Hier hat sich vordergründig der Abstimmungskampf mit
Bürgerbeteiligung etabliert.
16

   Vollzugskomplex                                                                                 Vorparlamentarischer Entscheidungsprozess
   Departemente, Ämter,                                                                            Vollzugsbeteiligte, Interessengruppen,
   beauftragte Dritte,                                                                             beratende Kommissionen,
   Private, Kantone                                                                                Expertenkommissionen des Bundesrats

                                                                   starke informelle Kontakte

                                                                          ANTRAG AUF

                                                               Revision Gesetz oder Verfassung
                                                               Neuerlass Gesetz oder Verfassung
                                                                                                                    VORPROJEKT
                            VOLLZUG
                                                                                                                  des zuständigen
                                                                                                                   Departements
                        Departemente und
                        Ämter, beauftragte
                        Dritte und Private

                                                     Verordnungsgebung
                                                             und
                                                      Vollzugserfahrung                                              EXPERTENENTWURF
                    INKRAFTSETZUNG
                                                                                                                    durch von Bundesrat
                          Bundesrat                                                                                 ernannte Kommission

                                                                                                                                                       starke informelle Kontakte
                                                                                                                     VERNEHMLASSUNG
                        ABSTIMMUNG
                                                                           BUNDES-
                                                                               RAT                                     Stellungnahme
                  doppeltes Mehr für                                                                                 Interessengruppen,
                  Verfassungsvorlagen                                     als leitende                                Parteien, Kantone
                                                                           Behörde

                                                                                                                    BUNDESRATENTWURF
                 ANSETZUNG ABSTIMMUNG
                                                                                                                    nach Auswertung der
                         durch Bundesrat                                                                              Vernehmlassung

                                  REFERENDUMSVORBEHALT                                              KOMMISSIONSENTWÜRFE

      Volksinitiative                    obligatorisch für                                        nach Beratung Ständerats- und           Parlamentarische
     Standesinitative                 Verfassungsrevisionen                                          Nationalratskommission                    Motion
                                      fakultativ für Gesetze

                                                                   PARLAMENTSVORLAGE
                                      Fakultatives                                                           Parlamentarische
                                      Referendum                  Verabschiedung nach Eintreten                  Initiative
                                                                    Detailberatung und Schluss-
                                                                   abstimmung beider Kammern

   Mitwirkung des Volkes                                                                            Parlamentarischer Entscheidungskomplex
   Wahlen National- und Ständerat; Nachentscheidung                                                 Zwei gleichberechtigte Kammern mit je 12 ständigen
   Verfassungs- und Gesetzesvorlagen; Verfassungsinitiative,                                        Kommissionen und 11 gemeinsamen Delegationen und
   kantonale Initiativen und Mitwirkung an der                                                      Kommissionen; Differenzbereinigungsverfahren
   Vernehmlassung nach kantonalem Recht                                                             Fraktionen und informelle Interessengruppen

 Abbildung 11 – Der politische Entscheidungsprozess beim Bund
 Quelle: Linder (2005)

Geht das Referendum zugunsten der Behörden aus, beginnt die Vollzugsphase
mit Verordnungen und Massnahmen. Allenfalls kommt es wieder zu einer
Vernehmlassung, nicht mehr aber zu einer parlamentarischen Beratung.
Dass der Bundesrat im Entscheidungsprozess wichtiger als das Parlament
geworden ist, hat mit seiner Involvierung im ganzen Prozess zu tun. Das Parlament
entscheidet zwar über Gesetze, ist aber nicht durchgehend beteiligt. Zudem ist
seitens des Bundesrats meistens nur ein Mitglied involviert, während im
17

Parlament entweder alle oder die Mitglieder der entsprechenden Kommissionen
mitwirken.
Im Grossen und Ganzen ist sich die Forschung einig, dass der Ständerat dabei
tendenziell mehr Gewicht hat als der Nationalrat. Er ist kleiner, verhandelt
konsensualer und ist häufiger näher beim Bundesrat. Deshalb ist er meist
schneller fertig und somit schneller offen für Neues. So kommt es, dass er
häufiger als Erstrat wirkt. Erst ganz am Schluss, im Falle von Uneinigkeiten
zwischen den Räten, ist der Nationalrat in der Einigungskonferenz leicht
bevorteilt.

  Folgen für das Lobbying
Das alles hat Folgen für das Lobbying. Transparency International hat versucht,
Licht in diese Sache zu bringen. In der vorparlamentarischen Phase sind die
Vernehmlassung und die Expertenkommissionen am wichtigsten. Während der
parlamentarischen Phase gelten die Beratungen in den Kommissionen als
zentrales Moment. In der Referendumsphase ist namentlich der
Abstimmungskampf von Bedeutung und im Vollzug bieten Verordnungen häufig
ein letztes Mal Gelegenheit zur Intervention (Biscaro und Biedermann 2019).
Generell wird heute die Auffassung vertreten,
wichtiger als punktuelle Interventionen sei die
Behandlung ganzer Prozesse durch Lobbyisten. Die
eine      geglückte       Einflussnahme      im
vorparlamentarischen Prozess bedeutet noch
keinen gesicherten Erfolg im Parlament und eine
Mehrheit in beiden Räten garantiert noch keine
sichere Mehrheit in der Volksabstimmung.
LobbyistInnen           sind            demnach
ProzessbegleiterInnen. Sie müssen in der Lage
sein, fachlich vertiefte Vernehmlassungen zu
beeinflussen. Sie müssen einen direkten Draht ins
Parlamentsgeschehen haben. Und sie müssen
einen Abstimmungskampf führen können.                Abbildung 12 – Bericht der
                                                     Transparency        International
Das kann sich über mehrere Jahre hinweg dehnen.      Schweiz: Lobbying in der Schweiz
Das macht es für EinzelkämpferInnen unter den        Quelle: Biscaro und Biedermann
                                                     (2019)
LobbyistInnen schwieriger. Einfacher haben es da
Verbände und Agenturen, die fachlich spezialisiert
sind und etablierte Kompetenzen haben.
18

   Wirksames Lobbying
Die wichtigste Folge daraus lässt sich am Profil guter LobbyistInnen ablesen.
Eigentlich sagen alle, dass die Führung von Prozessen mittels Informationen
massgeblich ist. Man könnte es auch so zusammenfassen: Das Richtige im
richtigen Moment an der richtigen Stelle in der richtigen Form einfliessen zu
lassen, das macht den Unterschied aus.
Das hat zur Konsequenz, dass sich Lobbyisten nicht nur nach dem
Entscheidungsverfahren der Politik richten, sondern auch nach dem Lebenszyklus
eines Konfliktthemas. Da unterscheidet man zwischen der Latenzphase mit neu
auftretenden Themen, der Emergenzphase, wenn diese zum öffentlichen Thema
werden, der eigentlichen Krisenphase mit einer politischen Kontroverse und der
Regulationsphase, in welcher die verbindlichen Entscheidungen getroffen
werden. Die Öffentlichkeit interessiert sich meist am stärksten für die
Krisenphase. Was davor und was danach geschieht, erscheint weniger von Belang.

            Latenz              Emergenz                          Krise                 Regulation

                                                                                               Aufmerksamkeit

                                                                                               Handlungsspielraum

         Einzelereignis   Öffentliches Anliegen              Konflikt-Issue              Anspruchs-             Zeit
                                                              Ansprüche                 befriedigung

       Betroffene

                          Interessenvertreter (z.B. Aktivisten, Wissenschaftler)

                                                 Medien, Politiker

                                                                       Anspruchsgruppen, Behörden

Abbildung 13 – Issue-Lebenszyklus
Quelle: Ingenhoff & Röttger (2006), Liebl (2000)

Ganz anders sehen das die LobbyistInnen. Sie wissen, dass man in der Latenz- und
Emergenzphase viel mehr erreichen kann als in der Krisen- und Regulationsphase.
Wenngleich die öffentliche Aufmerksamkeit in der Krisenphase ihren Höhepunkt
erreicht, ist zu diesem Zeitpunkt der Handlungsspielraum der Akteure schon stark
eingeschränkt. Deshalb sind die der Krise zuvorkommenden Phasen von zentraler
Bedeutung. Zu Beginn des Issue-Lebenszyklus äussern sich nur Betroffene. Dann
kommen AktivistInnen und ExpertInnen hinzu. Sie mobilisieren Medien und
PolitikerInnen, bevor der Staat handelt. Diese Phasen zu beherrschen ist die
wichtigste kommunikative Aufgabe von LobbyistInnen. Deshalb ist für sie deren
Früherkennung das A und O wirksamer Lobbying-Arbeit.
So, jetzt ab ins Parlament.
19

4. Station: Parlamentsgebäude

Abbildung 14 – Aussicht von der Kirchenfeldbrücke auf das Parlamentsgebäude

Über uns tagt der Nationalrat. Würden wir von Weitem die Fassade betrachten,
könnte man meinen, in einem Theater zu sein. Ganz anders ist die Symbolik des
Ständerats. Die Fassade auf der anderen Seite gleicht einem griechischen Tempel
und steht für das Göttliche in der Schweizer Politik.

  Schwergewichte im Parlament
Die bereits erwähnte Polarisierung der politischen Landschaft hat die
Parlamentsarbeit verändert. Zunächst sind gemeinsame Entscheidungen der
Regierungsparteien eine Rarität geworden. Erfolgreiche Allianzen bestehen in der
Regel aus drei Fraktionen, sei es nun aus SVP, FDP und CVP(resp. Mitte) oder aus
SP, FDP und CVP. Allianzen aus nur zwei Regierungsparteien sind riskanter und
weniger erfolgreich. Sodann sind die Fraktionen einheitlicher geworden. Ihre
Geschlossenheit hat zugenommen. An den Polen war das immer so. Heute findet
man es aber auch bei der FDP und der CVP resp. Mitte.
Das beeinflusst auch das Lobbying. Waren früher die Zugänge zu einzelnen
Mitgliedern interessanter, richtet man sich heute mehr an die Schwergewichte im
Parlament. Ein regelmässig publiziertes Rating der SonntagsZeitung der
einflussreichsten Mitglieder im Parlament berücksichtigt Faktoren, die auch uns
20

interessieren: Positionen im Parlament, Ämter in der Partei, Resonanz in den
Medien und vieles mehr (von Burg et al. 2019).
Gold ging 2019, wie übrigens in den Jahren zuvor, an Christian Levrat, den
Freiburger Ständerat und damaligen SP-Präsidenten. Silber erhielt Pirmin Bischof,
Solothurner Ständerat, und Bronze bekam Thomas Aeschi, der Zuger Nationalrat
und Fraktionspräsident der SVP.
Relevant für das Rating sind folgende Kriterien:
     Mitgliedschaft und Stellung in den Gremien der Räte (Kommissionen, Büro,
      Präsidium);
     Stellung innerhalb der Partei, gemessen an den Parteiämtern;
     parlamentarische Tätigkeit, gemessen einerseits an der Anzahl erfolgreicher
      Vorstösse und andererseits an der Anzahl und dem Gewicht (Länge) der Voten
      in den Debatten;
     Medienpräsenz;
     gesellschaftliches    und      wirtschaftliches Gewicht     anhand      von
      ausserparlamentarischen Mandaten
     und nicht zuletzt die Reputation im Parlament, einerseits gemessen an der
      Fähigkeit, andere ParlamentarierInnen mittels Unterschriften für Vorstösse
      für die eigenen Anliegen zu gewinnen und andererseits an der Einschätzung
      der ParlamentskollegInnen. Für letzteres wurde eine breite Umfrage im
      Parlament durchgeführt (von Burg et al. 2019).

 Rang           Name                                  Rat           Partei   Kanton
 1              Christian Levrat                      SR            SP       FR
 2              Pirmin Bischof                        SR            CVP      SO
 3              Thomas Aeschi                         NR            SVP      ZG
 4              Balthasar Glättli                     NR            GPS      ZH
 5              Gerhard Pfister                       NR            CVP      ZG
 6              Tiana Angelina Moser                  NR            glp      ZH
 7              Filippo Lombardi                      SR            CVP      TI
 8              Hannes Germann                        SR            SVP      SH
 9              Andrea Caroni                         SR            FDP      AR
 10             Albert Rösti                          NR            SVP      BE
 11             Roger Nordmann                        NR            SP       VD
 12             Heinz Brand                           NR            SVP      GR
Tabelle 6 – Top 12 des Parlamentarier-Ratings der SonntagsZeitung
Quelle: von Burg et al. (2019)
21

   Herzstück Kommissionen
Damit sind wir bei den Kommissionen angelangt. Das sind die Arbeitsausschüsse
der Parlamentskammern. Sie haben in beiden Räten die gleiche Struktur, sind von
unterschiedlicher Grösse und berücksichtigen die Stärken der Fraktionen unter
der Bundeskuppel. Wer fraktionslos im Nationalrat sitzt, kann nicht in
Kommissionen mitwirken (Schaub 2019).
In der Öffentlichkeit am bekanntesten sind die Sachbereichskommissionen,
wovon es neun gibt (siehe unten). Die wohl prestigeträchtigste ist die WAK.
Deshalb wird sie auch am liebsten untersucht. Eine an der ZHAW eingereichte
Bachelorarbeit ergab folgendes: Wenn sich deren Mitglieder in beiden Räten
treffen, sitzen 150 bis 200 mandatierte Interessen mit am Tisch (Schnurrenberger
2018). Gemäss Transparency International sind das mehr als 10% aller
Interessenbindungen in beiden Räten (Biscaro und Biedermann 2019). Denn die
Gesamtzahl liegt bei knapp 2'000, verteilt auf 1'700 Organisationen (Ruh und
Rittmeyer 2016).

        Aussenpolitische           Kommissionen für Soziale         Kommissionen für Umwelt,
      Kommissionen (APK)           Sicherheit und Gesundheit        Raumplanung und Energie
                                              (SGK)                         (UREK)

 Kommissionen für Verkehr und         Sicherheitspolitische        Kommissionen für Wirtschaft
    Fernmeldewesen (KVF)              Kommissionen (SiK)              und Abgaben (WAK)

       Kommissionen für          Staatspolitische Kommissionen    Kommissionen für Wirtschaft,
       Rechtsfragen (RK)                       (SPK)                Bildung und Kultur (WBK)

Tabelle 7 – Die neun Sachbereichskommissionen des eidgenössischen Parlaments
Quelle: parlament.ch

Auswertungen nach Parteien belegen, dass die Dichte in der letzten
Legislaturperiode in der politischen Mitte, sprich bei BDP, FDP und CVP, mit zehn
bis elf Mandaten pro Mitglied am grössten war. Absoluter Spitzenreiter war
damals Kurt Fluri von der Solothurner FDP mit 31 Mandaten. Zum Zeitpunkt der
Untersuchung kamen auf 241 ParlamentarierInnen 1'959 Mandate, woraus sich
ein Schnitt von rund acht Mandaten pro ParlamentarierIn ergibt. Laut einem
aktuelleren Artikel der NZZ am Sonntag soll der Schnitt in der aktuellen
Legislaturperiode bei rund sieben Mandaten pro ParlamentarierIn liegen; auf 246
Personen kommen rund 1'650 Mandate. Drei von vier ParlamentarierInnen
würden für ihre nebenamtlichen Tätigkeiten entschädigt. In Sachen Transparenz
habe sich aber laut Transparency International seit der letzten Periode kaum
etwas geändert (Friedli und Häuptli 2020).
Gemäss NZZ haben mindestens 17 Branchen einen direkten Draht ins Parlament.
An erster Stelle stehen dabei, etwas unerwartet, Hilfswerke, Nonprofit-
22

Organisationen und soziale Institutionen. Es folgen Medien, Telekommunikation
und Kultur. An dritter Stelle kommt die Bauwirtschaft, knapp vor Bildung und
Forschung. Eines wird bereits hier offensichtlich: Es handelt sich durchwegs um
Wirtschaftszweige, die auf Subventionen angewiesen sind (Ruh und Rittmeyer
2016).

                                                                    Schnitt (in Mandate pro
 Partei    Anzahl Mandate       Anzahl ParlamentarierInnen
                                                                    ParlamentarierIn)
 FDP       488                  46                                  10.6
 SVP       419                  70                                  5.6
 SP        400                  55                                  7.3
 CVP       388                  41                                  9.5
 BDP       86                   8                                   10.8
 GPS       75                   12                                  6.3
 übrige    50                   14                                  3.6
Tabelle 8 – Verteilung der Mandate über alle Branchen 2016
Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Ruh und Rittmeyer (2016)

   Vom Milizparlament zum Halbberufsparlament
Die zentrale Rechtfertigung für eine solch starke persönliche Vernetzung der
ParlamentarierInnen leitet sich aus dem Milizsystem ab. Namentlich bürgerliche
ParlamentarierInnen loben das. Es sichere die praktische Erfahrung der
GesetzgeberInnen und mobilisiere günstig Wissen und Erfahrung, das der Politik
sonst abgehen würden. Daran wird insbesondere von links her Kritik geübt. Was
sich in den Kantonen unverändert bewähre, sei auf Bundesebene Fiktion.
Gemäss politikwissenschaftlichen Untersuchungen setzen die PolitikerInnen wohl
80% einer normalen Arbeitszeit für ihre Mandate im Bundeshaus ein. Im
Ständerat sind es eher mehr, denn die Kommissionsmandate sind da auf weniger
Personen verteilt. Im Nationalrat kommen demgegenüber häufiger Ämter für die
Partei hinzu.
Die Website des Parlaments spricht denn auch nicht mehr von einem
Milizparlament. Andererseits scheint man auch den Begriff des Berufsparlaments
nicht zu mögen. Entsprechend haben wir in der Schweiz ein
«Halbberufsparlament».
23

  Interessenvertretung via Zusatzmandate
Eine 2019 extern durchgeführte Untersuchung zu den Einkommensverhältnissen
zeigt, dass die Mitglieder der grossen Kammer mit im Schnitt knapp 150'000 CHF
für ihre Parlamentstätigkeit entschädigt werden und sie rund 30'000 CHF
zusätzlich aus ihrer politischen Arbeit beziehen. Ständeräte stehen etwas besser
da. Die mittlere Entschädigung, die von Kanton zu Kanton variiert, beträgt rund
175'000 CHF; im Schnitt kommen noch 110'000 CHF hinzu. Wahrscheinlich ist die
Varianz hierbei aber gross. Das hängt auch mit der Mandatsstruktur zusammen.
Spitzenverdienende sollen auf ein Gehalt wie ein Bundesrat kommen (Müller
2019).

      Abbildung 15 – Einkommen der ParlamentarierInnen 2019 (mit Anzahl und Einnahmen
      der Mandate jeweils im Durchschnitt inkl. Spesen; in CHF)
      Quelle: Müller 2019, gemäss Urs Klingler

Eine Studie, welche jüngst in der Schweizerischen Zeitschrift für
Politikwissenschaft publiziert wurde, macht deutlich, dass es bei der Übernahme
von Mandaten auf zwei Determinanten ankommt: zunächst auf die Fraktion, dann
auf die Amtsdauer. Linke PolitikerInnen haben im Schnitt weniger externe
Mandate und ihre Zahl nimmt mit der Amtsdauer nicht zu. Rechts angesiedelte
                                                                   PolitikerInnen haben
                                                                   in der Regel mehr
                                                                   Mandate inne und
                                                                   deren Zahl steigt bis
                                                                   zu einer Amtsdauer
                                                                   von      12      Jahren
                                                                   kontinuierlich       an.
                                                                   Danach       ist     der
                                                                                    Verlauf
                                                                   uneinheitlich. Dies
                                                                   wohl aber, weil es zu
                                                                   wenig beobachtete
                                                                   Fälle     gibt.      Die
Abbildung 16 – Linke ParlamentarierInnen: Durchschnittliche Anzahl       Studienautoren
Interessenbindungen pro Kopf nach Branche
Quelle: Huwyler und Turner-Zwinkels (2020b)                        erklären sich die
                                                                           Unterschiede
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zwischen den Fraktionen damit, dass die Wählerschaft linker PolitikerInnen
Verbindungen zu Unternehmen skeptischer gegenübersteht und die
MandatsträgerInnen im Ernstfall bei anstehenden Wahlen sanktioniert würden
(Huwyler und Turner-
Zwinkels      2020a,
siehe auch Huwyler
und Turner-Zwinkels
2020b).
Wolf Linder hat das
auf eine griffige
Formel       gebracht:
MilizpolitikerInnen,
die viel gearbeitet
aber wenig verdient
hätten, würden dazu
neigen, mal wenig zu
arbeiten, aber viel zu    Abbildung 17 – Bürgerliche ParlamentarierInnen: Durchschnittliche
verdienen.                Anzahl Interessenbindungen pro Kopf nach Branche
                          Quelle: Huwyler und Turner-Zwinkels (2020b)
Entsprechend harzig
verlaufen Reformversuche. Noch in der Pipeline ist eine parlamentarische
Initiative von Ständerat Rieder, die es TrägerInnen wirtschaftlicher Mandate
untersagen würde, in Kommissionen Einsitz zu nehmen, die entsprechende
Tätigkeiten regulieren.

  LobbyistInnen in der Lobby
Lobbying im Sinne der externen InteressenvertreterInnen wird so noch gar nicht
erfasst. Geht es um externe VertreterInnen, kommen schnell die berühmten
Badges zur Sprache, mit welchen Externen Zutritt zum Parlamentsgebäude
verschafft werden kann.
Für die Kommissionsarbeiten sind diese nicht von zentraler Bedeutung. Die
Beziehungen der LobbyistInnen zu den SpezialistInnen wird meist schriftlich
geregelt.
Wichtiger wird die Lobby für die Plenumsberatungen. Doch nur im Ausnahmefall
produzieren diese ganz andere Ergebnisse als vorgezeichnet. Zwar sind die
LobbyistInnen da gut sichtbar, aber ihre Bedeutung wird tendenziell überschätzt.
Aktuell kann jedes Mitglied des eidgenössischen Parlaments zwei Badges
vergeben. Davon machen die meisten ParlamentarierInnen Gebrauch.
Anteilsmässig am meisten Badges vergibt die glp, am wenigsten die SVP. Gemäss
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NZZ sind die LobbyistInnen die hauptsächlichen NutzniesserInnen, gefolgt von
persönlichen MitarbeiterInnen und weiteren Gästen.
Allerdings sind dies längst nicht alle Privilegierten. Denn auch alt
ParlamentarierInnen können ihren Badge behalten, wenn sie dies wollen. Jedes
Departement und die Bundeskanzlei haben 10 weitere Badges zu ihrer Verfügung
und auch jede Konferenz der Kantone resp. ihrer Direktionen hat einen solchen.
Total haben knapp 500 Personen einen freien Zugang zur Lobby des Parlaments;
an einem Sessionstag werden im Schnitt 200 dieser Badges tatsächlich.

     Gäste           Persönliche Mitarbeiter   Lobbyisten   Nicht vergeben
                 0                 100               200             300     400   500
                                                      0               0       0     0
   Nationalrat

    Ständerat

         Total

   Abbildung 18 – Die BesucherInnen der ParlamentarierInnen
   Quelle: Parlamentsdienste (Stand: 04.06.2019)

Ein Systemwechsel zu einem personenunabhängigen Akkreditierungssystem, wie
es etwa das EU-Parlament kennt, ist bisher nicht geglückt. Allerdings macht man
neuerdings eine Unterscheidung zwischen Personen mit einem permanenten
Zugang und solchen, die nur als Tagesgäste ins Parlamentsgebäude kommen.

  Der informelle Bereich als Corona-Opfer
Die Systematik der Zugänge zum Parlament wird durch diese formalisierten
Beziehungen nur unzureichend abgedeckt. Vernachlässigt werden so
beispielsweise die überparteilichen parlamentarischen Gruppen, die sich einfach
aus den Interessierten an einem Thema bilden können. Sie tagen meist einmal
pro Session, und werden nicht selten von einer entsprechenden
Lobbyorganisation geführt.
Noch lockerer ist das Verhältnis von informellen Schnittstellen am Rande des
Parlaments. Sie bilden sich um spezifische Interessen und bereiten häufig
parlamentarische Interventionen unter Gleichgesinnten vor.
Last but not least sei auf Sportanlässe, Veranstaltungen zum Vergnügen und
Reisen verwiesen, die meist ohne explizite Agenden stattfinden, aber der
Vernetzung von ParlamentarierInnen und LobbyistInnen dienen. «Fun & Food»
ist eine beliebte Formel der Beziehungspflege!
2020 brachte eine Rekordwelle an Vorstössen im Parlament. Das hat vor allem
mit eingereichten Fragen zu tun. Diese haben im Corona-Jahr explosionsartig
26

zugenommen. Man kann das auch als Symptom sehen, dass das Informelle der
Beziehungen im Parlament rückläufig ist, das Formelle demgegenüber aber
zunimmt.

Abbildung 19 – Anzahl eingereichte Vorstösse nach Einreichungsjahr
Quelle: parlament.ch

Das hat auch die NZZ vor allem mit Blick auf die Neugewählten beobachtet. Deren
Vernetzungsmöglichkeiten seien erschwert. Zudem würden relevante taktische
Winkelzüge so undurchschaubarer.
Zeuge dieser Sichtweise ist Martin Schläpfer, heute Verwaltungsrat bei Farner,
davor langjähriger Lobbyist der Migros. Widerspruch kassierte er aber von
Gerhard Pfister. Corona zeige, twitterte dieser als Antwort, dass solches Lobbying
via Apéro unnütz sei und dass dessen Einfluss nur von LobbyistInnen erfunden
werde, um ihre eigene Wichtigkeit zu bezeichnen.
Es kann sein, dass Pfister damit recht hat. Er braucht es nicht. Er sitzt als Lobbyist
der Tourismusbranche mit Albert Rösti, Petra Gössi und Matthias Aebischer in
einer Arbeitsgruppe, die direkt beim Bundesrat interveniert. Das ist unser
nächstes Thema.
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5. Station: Bundesratsgebäude

Abbildung 20 – Südseite des Bundesratsgebäude mit Balkon
Quelle: Eigene Aufnahme

Wir stehen unter dem Balkon des Bundesratszimmers. Die Aussicht auf den
Berner Hausberg, den Gurten, sind ausgezeichnet. Weniger gute Einsicht haben
wir in die Funktionsweise des Lobbyings gegenüber dem Bundesrat. Selbst das
kürzlich erschienene Buch «Blackbox Exekutive», herausgegeben vom
Kompetenzzentrum für Public Management, hilft hier nicht viel weiter (siehe Ritz
et al. 2019).

   Die Wahl in den Bundesrat
Für unser Thema hilfreich ist der Einstieg über die Wahl in den Bundesrat. Das hat
Adrian Vatter für die vergangenen 30 Jahre in seinem Buch «Der Bundesrat. Die
Schweizer Regierung» untersucht. Für ihn ist klar, dass die politische und
parlamentarische Verankerung der Kandidierenden entscheidend ist. Sie müssen
aus der richtigen Partei stammen; sie müssen von der Fraktion nominiert worden
sein. Dabei werden sowohl geschriebene (wie z.B. jene zur Sprachregion) als auch
ungeschriebene Regeln (wie z.B. zum Geschlecht des Kandidaten/der Kandidatin)
berücksichtigt. Praktisch unabdingbar ist die Erfahrung im Bundesparlament;
damit zusammenhängend kristallisiert sich ein gewisses Alter und eine gewisse
politische Erfahrung als Voraussetzung heraus.
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Zu meiner Überraschung schreibt Vatter, die Verankerung in der Wirtschaft sei
kein signifikantes Wahlkriterium. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass
er das anhand von Verwaltungsratspräsidien in der Privatwirtschaft untersucht
hat. Klarer wird das Ergebnis, wenn man es auf Verbandsmitgliedschaften
bezieht. Bei der Wahl von FDP-KandidatInnen war das nur in Ausnahmefällen
nicht gegeben. Bei der SVP und SP haben starke Minderheiten mindestens ein
solches Mandate bei der Wahl innegehabt. Lediglich bei der CVP war es lediglich
eine kleine Minderheit (Vatter 2020).

Abbildung 21 – Beispiel eines Netzwerks um SVP BundesratskandidatInnen 2015
Quelle: Tscherrig (2015) (siehe auch lobbywatch.ch)

Was das heisst, sah man beispielsweise 2015, als die SVP ihren zweiten
Bundesratssitz zurückerhielt. Norman Gobbi, der Kandidat aus dem Tessin,
scheiterte. Er war «nur» Mitglied der Lega, bewarb sich als Regierungsrat, stand
aber ohne Wirtschaftsmandate da. Zur Auswahl standen zudem Thomas Aeschi,
der Zuger Nationalrat und Fraktionspräsident, sowie Guy Parmelin, der
Weinbauer aus der Waadt. Letzterer machte das Rennen.
Lobbywatch zeigte auf, wie gut er sich davor im Parlament vernetzt hatte. Er war
Mitglied zweier wichtiger Kommissionen und wirkte in mindestens vier
Parlamentsgruppen mit. Zudem war er in Vorständen verschiedener
Arbeitgeberorganisationen sowie Organisationen der Landwirtschaft und
Gentechnologie aktiv. Bestens bekannt war er Thomas Cueni, dem legendären
Lobbyisten der Interpharma. Das alles förderte seine breite Verankerung; ein
Kriterium, das Thomas Aeschi letztlich abging (Tscherrig 2015).
29

   Die DepartementsvorsteherInnen
Einmal gewählt, müssen Bundesratsmitglieder diese Verbindungen abgeben.
Anders als ParlamentarierInnen sind sie offiziell BerufspolitikerInnen. Das ist
selbst bei alt Bundesräten wie Christoph Blocher oder Johann Schneider-Ammann
so; beides erfolgreiche Unternehmer und Milliardäre, die in die Milizpolitik
eingestiegen und da erfolgreich aufgestiegen sind.
Was bleibt, sind die Netzwerke, die sich Bundesratsmitglieder meist in jahrelanger
Kleinarbeit aufgebaut haben. Das ist auch nötig, denn als
DepartementsvorsteherIn führt man einen Teil der Verwaltung.

 Departement                                           Bundesrat/Bundesrätin
 Eidgenössisches Departement für Verteidigung,         Viola Amherd
 Bevölkerungsschutz und Sport VBS
 Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD   Karin Keller-Sutter
 Eidgenössisches Finanzdepartement EFD                 Ueli Maurer
 Eidgenössisches Departement des Innern EDI            Alain Berset
 Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr,
 Energie und Kommunikation UVEK                        Simonetta Sommaruga

 Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung
 und Forschung WBF                                     Guy Parmelin

 Eidgenössisches Departement für auswärtige
 Angelegenheiten EDA                                   Ignazio Cassis
Tabelle 9 – Aktuelle Departementsverteilung
Quelle: Schweizerische Bundeskanzlei 2020

Nicht alle Departemente sind gleich gross und wichtig: Umfassend sind das UVEK
und das EDI; die Anforderungen sind multipel. Schlanker sind das VBS, das EDA
und das EJPD. Sie gehen meist an die «Novizen» im Gremium. Auf Anhieb
bekommt ein Bundesrat kaum die Finanzen oder die Wirtschaft. Sie gelten als
Querschnittsdepartemente und haben deshalb viel Gewicht.

   Der Prozess der Willensbildung
Ein politischer Entscheidungsprozess in einem Departement kennt drei Phasen:
die amtsinterne Vorbereitung in Arbeitsgruppen, die Phase der
Expertenkommission mit Fachleuten von aussen und die Phase der
Vernehmlassung. In allen drei Phasen kommt Lobbying zum Zug.
Geregelt ist das vor allem bei Vernehmlassungen. So werden Projekte der
Regierung einem Lackmustest unterzogen, bevor sie ins Parlament kommen. Es
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gilt, sie wetterfest zu machen. Man könnte es auch Vetospiel nennen, denn in
Vernehmlassungen werden vor allem solche Gruppen gewichtig berücksichtigt,
die erfolgreich ein Referendum gegen einen Parlamentsbeschluss erheben
könnten.

 Jahr          Ereignis

 1874          Einführung, um Wirksamkeit von Referenden durch Abschätzung der
               Opposition resp. Veränderung von Vorlage zu bremsen

 1947          Wirtschaftsartikel formalisiert die politische Praxis, die sich im Zweiten
               Weltkrieg entwickelt und politisch etabliert hatte
 1970          Richtlinien für das Vorverfahren der Gesetzgebung (Folge der Mirage-Affäre)
 1991          Verordnung über das Vorverfahren
 2005          Vernehmlassungsgesetz
 Gründe
  Parlament soll referendumssichere Vorlagen verabschieden
  Heute jährlich weit mehr als 100 Verordnungen
 Verfahren
  Vorgängige Konsultationen
  Eingaben einsehbar
  Botschaft des Bundesrats ans Parlament
 Beteiligte
  Kanton
  Parteien
  Verbände
  Bürger*innen
Tabelle 10 – Vernehmlassungsverfahren: Vom informellen zum institutionalisierten Verfahren

Selbst Transparency International lobt das Vernehmlassungsverfahren in der
Schweiz als geregelte Form der Einflussnahme durch Lobbygruppen im
vorparlamentarischen Verfahren. Nur die Gewichtung der Eingaben durch den
Bundesrat wird als unzureichend nachvollziehbar kritisiert.
Ebenfalls weniger klar ist, warum ExpertInnen-Kommissionen entstehen und wie
sie bestückt werden. Da ist der Einfluss von DepartementsvorsteherInnen und
Verwaltungsinteressen durchaus gegeben. Doch auch hier gibt es eine bewährte
Regel: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sollen mit ihren Vertrauensleuten
integriert werden. ExpertInnen sind deshalb bei Weitem nicht nur
WissenschafterInnen. Vielmehr sind es mit der Materie vertraute, bewährte
Fachleute.
Weitgehend ungeregelt ist schliesslich, wie die verwaltungsinternen
Arbeitsgruppen entstehen. Da ist der Handlungsspielraum von Verwaltung und
Regierung am grössten.
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  Das Fallbeispiel
Ein anschauliches Beispiel für das Zusammenspiel von Lobbying und Behörden
war der Vorschlag aus dem Wirtschaftsdepartement, die Ausfuhr von
Kriegsmaterial zu lockern. Der Vorschlag, welcher 2018 vorgebracht wurde, sah
vor, dass die Ausfuhr neu auch in kriegsführende Länder erlaubt wird.
     «Weniger als neun Monate ist es her, seit die vereinten Chefs der Schweizer
     Rüstungsindustrie ihr «Begehren» an die Sicherheitspolitische Kommission des
     Ständerats gerichtet haben: die Lockerung der Kriegsmaterialverordnung. […] Dem
     Vernehmen nach hatten die beiden SP-Bundesratsmitglieder Alain Berset und
     Simonetta Sommaruga sowie CVP-Bundesrätin Doris Leuthard in Mitberichten
     grundsätzliche Bedenken gegen die Lockerung angemeldet – unter anderem
     gestützt auf neutralitätspolitische Überlegungen, aber auch mit dem Verweis auf
     die Tatsache, dass die Schweiz immerhin Sitzstaat des Internationalen Komitees
     vom Roten Kreuz (IKRK) ist […].» (Gmür 2018)
Die NZZ mokierte sich umgehend darüber, das Vorhaben sei mit
generalstabsmässiger Zielstrebigkeit aus dem WBF in und durch den Bundesrat
gepeitscht worden. In der Öffentlichkeit kam der Vorschlag aber gar nicht gut an.
Man warf dem Bundesrat vor, sein Versprechen bei der letzten Volksabstimmung
gegen die Waffenausführ gebrochen zu haben. Im Nationalrat setzte die BDP ihre
Forderung durch, dem Bundesrat die Kompetenz für die Bestimmung der Liste
von ausfuhrfähigen Ländern zu entziehen. Und die Zivilgesellschaft mobilisierte
subito mit der Ankündigung einer Volksinitiative, welche die Praxis verschärfen
sollte. Angesichts der Opposition verzichtete der Bundesrat schliesslich auf seine
Forderung und zog das Geschäft zurück.
Verschiedene Quellen bestätigten, dass das Generalsekretariat des WBF
federführend war. Unterstellt wird auch, dass man damit die Interessen der
Metallindustrie bedient habe. Das wäre dann klassisches Lobbying gegenüber der
Exekutive. Dem stand aber ein neuartiges Lobbying der Zivilgesellschaft
gegenüber, die ihre Fähigkeit zur Opposition mittels angedrohten Volksinitiativen
dank den neuen Möglichkeiten der Digitalisierung demonstriert hatte. Letztlich
hat sie sich in der Allianz mit der Öffentlichkeit und dem Druck aus dem Parlament
durchgesetzt.
Der Generalsekretär aus dem WBF verliess dieses bald danach; heute ist er
Direktor von Swissmem. Vorwürfe der Interessenkollision wurden durch die
Bundesanwaltschaft untersucht. Das Verfahren wurde eingestellt, als man
befand, dass die Verfehlungen nur geringfügig gewesen sind.
Die Aufwertung der Generalsekretariate zur Führung von Departementen ist ein
Kind der jüngsten Regierungsreform. Die eigentliche Staatsleitungsreform,
basieren auf der Bundesverfassung von 1999, misslang. Realisiert wurden aber
Teilreformen. Die GeneralsekretärInnen gelangten damit in einer Art
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