Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de

Die Seite wird erstellt Annika Kretschmer
 
WEITER LESEN
Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de
Gemeindebrief Nr. 1/2022
   Dezember 2021 – Februar 2022
Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de
Inhaltsverzeichnis

Editorial                                                                        Seite   1
Hans-Christoph Goßmann, Predigt über Römer 10, 9-18                              Seite   2
Michael Arretz, Zukunft braucht Erinnerung zwischen erstem
Spatenstich und Eröffnung der Kirche                                             Seite   5
Frank Bonkowski – der neue Pastor der jesusfriends –                             Seite   6
Gedanken zu Monatssprüchen:
   - Dorothea Pape, Sacharja 2, 14 (Dezember 2021)                               Seite    7
   - Onno Hofmann, Johannes 1, 39 (Januar 2022)                                  Seite    9
   - Oliver Haupt, Epheser 4, 26 (Februar 2022)                                  Seite   11
Frank Scheerer, Das Konzert des Jüdischen Kammerorchesters Hamburg
am 2. September 2021 in der Jerusalem-Kirche                                     Seite   12
Germaine Paetau, „Haschiwenu: Bringe uns zurück“                                 Seite   14
Neuerscheinung                                                                   Seite   16
Aus dem Programm der Jerusalem-Akademie                                          Seite   17
Lebendiger Adventskalender in Eimsbüttel                                         Seite   18
Zu guter Letzt: Elfchen                                                          Seite   19
Veranstaltungskalender                                                           Seite   20

Spenden für die Gemeinde erbitten wir auf folgende Konten:
Haspa:     IBAN - DE33 2005 0550 1211 1292 16 BIC - HASPDEHHXXX
Evangelische Bank eG: IBAN – DE25520604106306446019 BIC – GENO DEF1 EK1
Konto des Fördervereins Jerusalem-Kirchengemeinde Hamburg e.V.:
Haspa: IBAN - DE40 2005 0550 1211 1237 55 BIC - HASPDEHHXXX
Unsere Internet-Seiten finden Sie unter: Jerusalem-Kirche = www.jerusalem-kirche.de
Bestellungen und andere Anfragen richten Sie bitte an die Jerusalem-Gemeinde
Sekretariat: Frau Birthe Henkel, Schäferkampsallee 36, 20357 Hamburg, Öffnungszei-
ten:
Di. und Do. von 9.00 bis 12.00 Uhr und Mi. von 14.30 bis 17.30 Uhr, Telefon: 040/202 28
136, Fax: 040/202 28 138, E-Mail: buero@jerusalem-kirche.de
Pastor: Dr. Hans-Christoph Goßmann, E-Mail: jerusalem-pastor@gmx.de

Impressum:
Herausgeber ist die ev.-luth. Jerusalem-Gemeinde zu Hamburg. Auflage: 600 Stück
Redaktion: Dr. Hans-Christoph Goßmann, Druck: H.-D. Dietrich Druckerei, Beeksfelde 18, 25482
Appen/Pi. Für namentlich gekennzeichnete Artikel zeichnen die Autoren verantwortlich.
Der Brief erscheint viermal im Jahr und wird auf Spendenbasis an Mitglieder und Freunde der
Gemeinde verschickt. Redaktionsschluss für den Jerusalem-Brief 2-2022 ist der 1. Februar 2022.
Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de
1

                                           Editorial

                          Liebe Leserin,            Reise zu den Traditionen des Chorgesangs
                          lieber Leser,             in den deutschen Synagogen“ am 13. Sep-
                          am Beginn die-            tember 2021. Frank Scheerer berichtet über
                          ser Ausgabe des           das erste diese beiden Konzerte, Germaine
                           Jerusalem-Brie-          Paetau über das zweite.
                          fes steht eine
                          Predigt     über          In der Buchreihe der Jerusalem-Akademie
                          Römer 10, 9-18            ‚Jerusalemer Texte. Schriften aus der Ar-
                          – zehn Verse, in          beit der Jerusalem-Akademie‘ ist ein neuer
                          denen der Apos-           Band erschienen, der hier vorgestellt wird.
                          tel Paulus eine
                          Gelassenheit an           Aus dem Akademieprogramm der nächsten
                          den Tag legt,             Monate wird auf folgende Veranstaltungen
die auch wir uns zu eigen machen können.            hingewiesen: das Soziodrama ‚Die Stadt
                                                    mit Juden‘ am 4. Dezember 2021, das
Dr. Michael Arretz, unser Kirchengemein-            nächste Seminar im Rahmen der Reihe ‚Zu
deratsvorsitzender, blickt auf den Israel-          Gast in Abrahams Zelt‘ in der Zeit vom 14.
Sonntag 2021 zurück, an dem wir das                 bis zum 16. Dezember 2021, in dem es um
110jährige Jubiläum des ersten Spaten-              Gottesvorstellungen in Judentum, Chris-
stichs für unsere Jerusalem-Kirche gefeiert         tentum und Islam gehen wird, und die bei-
haben, und gibt einen Ausblick auf Jubilä-          den Lektürekreise, die monatlich stattfin-
en im Jahr 2022.                                    den: der Martin Buber-Lektürekreis sowie
                                                    der Reinhard von Kirchbach-Lektürekreis.
Der neue Pastor der jesusfriends, Frank
Bonkowski, stellt sich auf den folgenden            Die Einladung zum ‚Lebendigen Advents-
Seiten vor.                                         kalender‘, den wir in unserer Gemeinde am
                                                    17. Dezember 2021 gestalten werden, fin-
In dieser Ausgabe des Jerusalem-Briefes             den Sie ebenfalls auf den folgenden Seiten.
können Sie Gedanken zu den Monatssprü-
chen für die nächsten drei Monate lesen:            Teilnehmende an den „Heilung & Spiritua-
für Dezember 2021 („Freue dich und sei              lität“-Treffen haben Elfchen gedichtet ha-
fröhlich, du Tochter Zion! Denn siehe, ich          be, kleine Gedichte, die aus elf Wörtern
komme und will bei dir wohnen, spricht              bestehen, die Sie am Ende dieser Ausgabe
der Herr“ [Sacharja 2, 14] von Dorothea             finden.
Pape), für Januar 2022 („Jesus Christus
spricht: Kommt und seht!“ [Johannes 1,              Wann die nächsten Gottesdienste und Bi-
39] von Onno Hofmann) und für Februar               belstunden stattfinden werden, können Sie
2022 („Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die       dieser Ausgabe des Jerusalem-Briefes na-
Sonne nicht über eurem Zorn untergehen“             türlich wie gewohnt auch entnehmen.
[Epheser 4, 26] von Oliver Haupt).
                                                    Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen Ihr
Im Rahmen unserer Veranstaltungen zum                               Hans-Christoph Goßmann
Festjahr ‚1700 Jahre jüdisches Leben in
Deutschland‘ fanden in der Jerusalem-
Kirche zwei Konzerte statt: das Konzert
des Jüdischen Kammerorchesters Hamburg                               * * *
am 2. September 2021 und das Konzert
„‘Haschiwenu: Bringe uns zurück‘ – eine
Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de
2

                             Predigt über Römer 10, 9-18
                        von Pastor Dr. Hans-Christoph Goßmann

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus            len, Jude war, dass seine ersten Anhänge-
und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft         rinnen und Anhänger ebenfalls dem jüdi-
des Heiligen Geistes sei mit Euch allen.          schen Volk angehörten und dass unser Al-
Amen.                                             tes Testament mit der Hebräischen Bibel
                                                  des Judentums weitestgehend identisch ist.
Liebe Jerusalem-Gemeinde,                         Die römisch-katholische Kirche hat in ih-
vor drei Tagen, am vergangenen Donners-           rem Zweiten Vatikanischen Konzil die
tag, haben wir eine der Veranstaltungen           Erklärung ‚Nostra Aetate‘ verabschiedet
unserer Jerusalem-Akademie durchgeführt.          und viele evangelische Landeskirchen ha-
Es ging um die Erklärung „Christen und            ben entsprechende Synodalbeschlüsse ge-
Juden“, die unsere damalige Landeskirche,         fasst, so auch unsere damalige Landeskir-
die ‚Nordelbische Evangelisch-Lutherische         che die eingangs genannte Erklärung
Kirche‘ vor zwanzig Jahren, genauer ge-           „Christen und Juden“. Fast alle dieser mitt-
sagt: am 22. September 2001, verabschie-          lerweile zahlreichen Erklärungen beziehen
det hatte. Dass wir diese Veranstaltung           sich auf die Kapitel 9 bis 11 des Briefes,
nicht am 22. September, also am Mitt-             den der Apostel Paulus an die Gemeinde in
woch, durchgeführt haben, sondern einen           Rom geschrieben hat. Viele der dort be-
Tag später, war der Tatsache geschuldet,          gegnenden Aussagen – die vom ungekün-
dass aufgrund des diesjährigen Sukkot-            digten Bund Gottes mit seinem erwählten
Festes am Mittwoch die jüdische Mitwir-           Volk Israel, im sprachlichen Bild von Öl-
kenden und Teilnehmenden nicht hätten             baum der Satz, dass die Wurzel uns trägt
dabei sein können. Und ohne sie wäre die-         und nicht wir die Wurzel – wurden in die-
se Akademieveranstaltung nicht sinnvoll           sen Erklärungen aufgegriffen und entfaltet.
gewesen; schließlich war es wichtig, ihre         Im Römerbrief entfaltet Paulus seine Theo-
Stellungnahmen zu der Synodenerklärung            logie, und dies in einer grundlegenden Art
zu hören und zu diskutieren. Zudem war            und Weise. Melanchthon hat diesen Brief
die Liberale Jüdische Gemeinde Pinneberg          dementsprechend als „doctrinae christianae
ja auch Mitveranstalterin dieses Work-            compendium“ bezeichnet, als Kompendi-
shops.                                            um der christlichen Lehre. Paulus entfaltet
Worum geht es in dieser Synodener-                seine Theologie dort deshalb in so grundle-
klärung, in welchem Kontext haben wir sie         gender Weise, weil er sich mit diesem
zu verorten, um sie angemessen würdigen           Brief der Gemeinde in Rom vorstellen
zu können? Ich unternehme der Versuch             möchte, um von ihr empfangen zu werden.
eines kleines Rückblickes: In der zweiten         Denn diese Gemeinde möchte er zur Aus-
Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat es        gangsbasis für seine geplante Missionsrei-
in Deutschland viele Neuaufbrüche im              se im Westen des Reiches, in Spanien, ma-
Bereich des christlich-jüdischen Dialogs          chen. Und so stellt Paulus hier der Ge-
gegeben. Das Erschrecken darüber, dass            meinde in Rom seine Theologie dar. Das
der Weg zu dem Grauen von Auschwitz               ist nichts für den eiligen Leser. Denn das
durch den jahrhundertelangen christlichen         ist eine auf hohem Niveau entfaltete, sehr
Antijudaismus geebnet worden ist, hat zu          differenzierte Darstellung. Walter Jens hat
neuen Aufbrüchen in der christlichen The-         das einmal treffend in Worte gekleidet,
ologie geführt, die ihren Ort in der ‚Theo-       indem er schrieb: „Der Römerbrief ist
logie nach Auschwitz‘ haben. Nun wurde            nicht so einfach wie die ‚Bildzeitung’, und
in den Blick genommen, dass Jesus von             das sollte man getrost betonen“ (in: Die
Nazareth, dem wir in unserem Leben als            Zeit, 4. März 1988). Lesen wir diesen Brief
Christinnen und Christen nachfolgen wol-          des Apostels Paulus, arbeiten wir ihn
Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de
3

durch, so kann er für uns zu einer höchst          se 6 bis 8 umfasst; soviel Zeit muss sein.
anregenden intellektuellen Herausforde-            Und so lese ich jetzt zunächst die Verse 6
rung werden, besonders wenn wir dessen             bis 8. Sie haben in der Lutherübersetzung
Kapitel 9 bis 11 lesen. Zu Beginn meines           folgenden Wortlaut:
Studiums habe ich einmal an einem einwö-
chigen Seminar teilgenommen, bei dem               Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben
Otto Michel, damals Professor für Neues            spricht so: „Sprich nicht in deinem Herzen:
Testament an der Universität Tübingen,             Wer will hinauf gen Himmel fahren?“ –
einen Satz gesagt hat, den ich nie verges-         nämlich um Christus herabzuholen –, oder:
sen habe, den Satz: „An Römer 9 bis 11             „Wer will hinab in die Tiefe fahren?“ –
wird man zum Theologen“. Paulus, für den           nämlich um Christus von den Toten
völlig außer Frage steht, dass Gott zu sei-        heraufzuholen –, sondern was sagt sie?
nem erwählten Volk Israel steht, setzt sich        „Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde
in diesen Kapiteln mit der Frage auseinan-         und in deinem Herzen.“ Dies ist das Wort
der, wie das „Nein“ der überwiegenden              vom Glauben, das wir predigen.
Mehrheit der Juden zu Jesus als Messias zu                                       Römer 10, 6-8
dieser Treue Gottes passt. In diesen drei
Kapiteln gibt er eine Zusammenschau der            Und im Anschluss an diesen Satz folgt
Heilsgeschichte Gottes mit seinem erwähl-          dann der eigentliche Predigttext. Er lautet:
ten Volk Israel und den dazugekommenen
Völkern, zu denen auch wir gehören. In             Denn wenn du mit deinem Munde be-
Kapitel 9 legt Paulus dar, dass sich die           kennst, dass Jesus der Herr ist, und in dei-
Treue Gottes in der Vergangenheit gezeigt          nem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den
hat, und in Kapitel 11, dass diese Treue           Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet.
sich auch in der Zukunft erweisen wird.            Denn wenn man von Herzen glaubt, so
Auf die Frage, wie es denn nun in der Ge-          wird man gerecht; und wenn man mit dem
genwart aussieht, geht er in Kapitel 10 ein.       Munde bekennt, so wird man gerettet.
Diesem Kapitel, dem zehnten Kapitel sei-           Denn die Schrift spricht: „Wer an ihn
nes Römerbriefes, ist der Predigttext für          glaubt, wird nicht zuschanden werden.“ Es
den heutigen siebzehnten Sonntag nach              ist hier kein Unterschied zwischen Juden
Trinitatis entnommen. Es ist kein kurzer           und Griechen; es ist über alle derselbe
Predigttext; er umfasst die Verse 9 bis 17         Herr, reich für alle, die ihn anrufen. Denn
dieses Kapitels. Vers 18 kann durchaus             „wer den Namen des Herrn anrufen wird,
noch mit dazu genommen werden; im                  soll gerettet werden“.
Perikopenbuch, in dem die Predigttexte für         Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie
die einzelnen Sonntage zusammengestellt            nicht glauben? Wie sollen sie aber an den
sind, ist auch der 18. Vers angegeben, in          glauben, von dem sie nichts gehört haben?
eckigen Klammern, das heißt, dass er bei           Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?
der Predigt mit hinzugezogen werden                Wie sollen sie aber predigen, wenn sie
kann. Er ist also keineswegs kurz, der heu-        nicht gesandt werden? Wie denn geschrie-
tige Predigttext, aber dennoch ist er zu           ben steht: „Wie lieblich sind die Füße der
kurz. Um ihn verstehen zu können, ist es           Freudenboten, die das Gute verkündigen!“
sehr hilfreich, den Vers 8 noch mit hinzu-         Aber nicht alle sind dem Evangelium ge-
zunehmen. Da hat die Liturgische Kom-              horsam. Denn Jesaja spricht: „Herr, wer
mission für die Evangelische Kirche in             glaubt unserm Predigen?“ So kommt der
Deutschland, die für die Auswahl und Ab-           Glaube aus der Predigt, das Predigen aber
grenzung der Predigttexte verantwortlich           durch das Wort Christi.
zeichnet, am falschen Ende gespart. Der            [Ich frage aber: Haben sie es nicht gehört?
Vers 8 sollte auf jeden Fall mit gelesen und       Doch, es ist ja „in alle Lande ausgegangen
bedacht werden, auch wenn er der letzte            ihr Schall und ihr Wort bis an die Enden
Teil eines längeren Satzes ist, der die Ver-       der Welt“.]             Römer 10, 9-17 [18]
Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de
4

Der Vers 8, den ich hier mit dazu genom-          die vorher zitierte Stelle aus dem Buch
men habe, mündet in ein Zitat aus dem             Deuteronomium macht deutlich, dass der
Buch Deuteronomium, dem Fünften Buch              Glaube, dass Gott Jesus „von den Toten
Mose, ein, das folgenden Wortlaut hat:            auferweckt hat“, nicht etwa bedeutet, dass
„Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete,       Jesus Christus im Himmel und somit weit
ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es       entfernt ist und wir hier auf Erden fern von
ist nicht im Himmel, dass du sagen müss-          ihm sind. Nein: Jesus Christus ist uns im
test: Wer will für uns in den Himmel fah-         gesprochenen Wort nahe; er ist uns nahe,
ren und es uns holen, dass wir's hören und        wenn wir uns zu ihm mit dem Munde be-
tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres,       kennen. Der jüdische Religionsphilosoph
dass du sagen müsstest: Wer will für uns          Emmanuel Lévinas hat zwischen dem Sa-
über das Meer fahren und es uns holen,            gen und dem Gesagten unterschieden. In
dass wir's hören und tun? Denn es ist das         Anlehnung an diese Unterscheidung hieße
Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde           das: Im Akt des Sagens wird der Glaube,
und in deinem Herzen, dass du es tust.“ Im        das Gesagte, lebendig. Christlicher Glaube
achten Vers zitiert Paulus Vers 14, den           lebt nicht davon, dass Behauptungen auf-
letzten Satz dieses Abschnittes, wenn er          gestellt werden, sondern vielmehr vom
dort schreibt: „Das Wort ist dir nahe, in         Sprechen. Das Bekenntnis mit dem Munde
deinem Munde und in deinem Herzen.“               bedeutet Rettung. Denn im Aussprechen
Aus diesem Wort der Tora gewinnt Paulus           wird auch körperlich Verbindlichkeit her-
Trost. Erläuternd fährt er dann fort: „Dies       gestellt und erneuert.
ist das Wort vom Glauben, das wir predi-          Im Folgenden zitiert Paulus aus dem Buch
gen.“                                             des Propheten Joel, wenn er schreibt: „wer
Das ist eine Erkenntnis, die dem Apostel          den Namen des Herrn anrufen wird, soll
wichtig ist, die er seinen Leserinnen und         gerettet werden“ (Joel 3,5a). Dieser Satz ist
Lesern in Rom auf keinen Fall vorenthal-          der letzte Teil des Abschnittes aus dem
ten möchte: dass das Wort vom Glauben             Joel-Buch, in dem es um die Ausgießung
nicht abstrakt und fern, sondern – ganz im        des Heiligen Geistes geht. Im ersten Vers
Gegenteil – nah ist. Das „Wort des Glau-          dieses Abschnittes heißt es: „Und nach
bens“ ist körperlich erfahrbar – nämlich          diesem will ich meinen Geist ausgießen
dann, wenn es mit dem Munde ausgespro-            über alles Fleisch“ (Joel 3, 1a). Durch die-
chen wird. Hier sagt Paulus etwas ganz            ses Zitat bringt Paulus zur Sprache, dass
Entscheidendes über den Glauben: dass der         Gott über alle seinen Geist ausgießen und
Glaube keine Geisteshaltung ist, sondern          sie somit retten wird – alle, ohne Ausnah-
vielmehr eine Aktivität des Herzens. Das          me.
betont Paulus, wenn er hier gleich zweimal        In den nächsten Versen unseres heutigen
vom Herzen spricht: „Denn wenn du mit             Predigttextes ringt Paulus damit, dass nicht
deinem Munde bekennst, dass Jesus der             alle auf die Botschaft hören, die er verkün-
Herr ist, und in deinem Herzen glaubst,           digt. Das irritiert ihn; es verunsichert ihn
dass ihn Gott von den Toten auferweckt            zutiefst. Diese verunsichernde Erfahrung
hat, so wirst du gerettet. Denn wenn man          setzt er zu der des Propheten Jesaja in Be-
von Herzen glaubt, so wird man gerecht;           ziehung, dem es auch so ergangen war.
und wenn man mit dem Munde bekennt, so            Damit verbindet Paulus die Hoffnung, dass
wird man gerettet“ (Verse 9 und 10).              Gott selbst die Rettung bringen wird. Das
Und was der Inhalt eines solchen Glaubens         ist für ihn entlastend; nicht er als Apostel
ist, benennt der Apostel an dieser Stelle         hat die Verantwortung dafür, dass alle ge-
sehr genau: „dass Jesus der Herr ist“ und         rettet werden; nein, diese Verantwortung
„dass ihn Gott von den Toten auferweckt           kann er getrost an Gott abgeben. Im fol-
hat“. Damit betont der Apostel, dass Gott,        genden elften Kapitel seines Römerbriefes
der Gott Israels, das Subjekt der Jesus-          kann Paulus dann schreiben, dass ganz
Geschichte ist und bleibt. Der Bezug auf          Israel gerettet werden wird (Vers 26) und
Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de
5

dass Gottes Erbarmen allen Menschen gilt,           wir Unterschiede auch dann nicht mehr als
seien es nun Juden oder Heiden (Vers                ärgerlich oder verunsichernd empfinden,
32b).                                               wenn wir sie nicht verstehen können. Eine
Heißt das, dass Paulus nun die Wege Got-            solche Gelassenheit kann uns helfen, mit
tes versteht? Nein, das tut er nicht, aber er       Differenzen besser umgehen zu können –
muss es auch nicht. Nun kann er damit               beispielsweise mit Differenzen zwischen
umgehen, dass er sie nicht versteht, und            unserem christlichen Glauben und dem
kann dies – im wahrsten und ursprüng-               jüdischen Glauben.
lichsten Sinne des Wortes – getrost Gott            Möge Gott uns eine solche Gelassenheit
überlassen. Er hat nun eine Gelassenheit,           schenken!
die auch wir uns zu eigen machen können.            Amen.
Wenn es uns gelingt, uns in dieser Hinsicht
am Apostel Paulus zu orientieren, werden                             * * *

           Zukunft braucht Erinnerung zwischen erstem Spatenstich
                         und Eröffnung der Kirche
                                   von Dr. Michael Arretz

Wir haben am Israelsonntag mit den drei             meindesälen widmen und diskutieren dafür
Gemeinden, Gästen und Freunden den 110.             Ideen und Konzepte aus verschiedenen
Jahrestag des ersten Spatenstichs für unse-         Blickwinkeln, um die Akademiearbeit zu
re Kirche gefeiert. Und jetzt erinnern wir          ermöglichen, aber genauso Kindern und
uns, dass vor 110 Jahren die Arbeiten in            Jugendlichen attraktive Räumlichkeiten zu
vollem Gange waren, um in der Rekordzeit            bieten. Zudem haben wir unsere Anker-
von acht Monaten unsere Kirche zu bauen.            mieter, wie die Kammerspiele und ver-
Da waren die Materialbeschaffung und die            schiedene Chöre im Blick und sind mit
Bezahlung vonnöten, die                                              potentiell neuen Mietern
Bereitstellung von Arbei-                                            in Gesprächen. Alles
tern und Handwerkern                                                 nicht unbedingt einfach,
und die genaue Abarbei-                                              aber wer erlebt, wie die
tung der Pläne. Sicher                                               Räume genutzt werden,
nicht eine einfache Auf-                                             freut sich über diesen
gabe, da ringsherum ge-                                              Dienst an der Nachbar-
baut wurde, weil Ham-                                                schaft und ist motiviert,
burg ein Wirtschafts-                                                exzellente Lösungen für
wachstum in nicht ge-                                                das Jerusalem-Ensemble
kanntem Ausmaß durch                                                 zu erarbeiten. Im kom-
die vielen Importe für                                               menden Jahr werden sich
Deutschland und Europa                                               noch mehr Anlässe zum
erlebte. Mit der Liebe zu                                            gemeinsamen Feiern er-
den Details ging es voran                                            geben. Die Immanuel-
und wir werden uns die-                                              Gemeinschaft hat sich im
sem Ereignis vor 110                                                 Januar 1997, also vor 25
Jahren nähern, um dann                                               Jahren, entschlossen, zu
am Sonntag, den 10. April 2022, einen               uns zu kommen. Und damit zu einer Berei-
Festgottesdienst zu begehen. Aber in der            cherung unseres Gemeindelebens beigetra-
Zwischenzeit wollen wir uns der Moderni-            gen. Genauso verhält es sich mit den jesus-
sierung unseres Standortes mit den Ge-              friends, die in 2012 zu uns gekommen
Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de
6

sind, also das Zehnjährige feiern. Es wird       unter einem Dach, die auch für die Nach-
also gefeiert werden und wenn wir dann           barn da sind und diese herzlich einladen,
noch die Räumlichkeiten intensiver nutzen        an den Veranstaltungen bei uns teilzuneh-
können, haben wir viel erreicht. Wenn wir        men oder eben auch selbst welche durch-
uns so bewusst erinnern, gestalten wir           zuführen. Für heute sage ich: Bitte den
nicht nur die Gegenwart, sondern immer           Sonntag, 10. April 2022, vormerken!
auch unsere Zukunft: als drei Gemeinden

                                 Frank Bonkowski
                        – der neue Pastor der jesusfriends –

Moin, liebe Menschen in der Jerusalem-           die Menschen dort und sie wird immer
Kirche,                                          irgendwie ein Strick Heimat für uns blei-
mein Name ist Frank Bonkowski und ich            ben.
bin seit Oktober der neue Pastor der             Dann ein Burnout, den Begriff kannte ich
jesusfriends.                                    damals noch gar nicht. Das war eine sehr
Meine Frau Loretta (Lolly) ist Musikerin         dunkle Zeit.
und wir haben drei gemeinsame Kinder,            Neben den typischen Ursachen, zu viel zu
Jubilee, Lukas und Kasey. Die Töchter            lange ohne Pausen verarbeitet, habe ich
wohnen in Calgary, Ka-                                              damals auch eine Glau-
nada und der Rest von                                               benskrise erlebt, wo fast
uns in Bad Segeberg,                                                alles auf dem Prüfstand
meiner Geburtsstadt.                                                kam. Vieles entsorgt
Hier ein paar Highlights                                            und die Dinge behalten,
aus unserem bewegten                                                die sich bewährt hatten:
Leben:                                                              eine Liebe und Bewun-
Nach dem Abitur habe                                                derung für Jesus, Hun-
ich in der Nähe von Mar-                                            ger nach Gemeinschaft
burg angefangen, Theo-                                              und sozialer Gerechtig-
logie zu studieren, habe                                            keit.
dort Lolly kennengelernt                                            Wir sind 2005, „für ein
und 1989 haben wir in                                               Jahr“    zurück     nach
Kelowna in Britisch Ko-                                             Deutschland gezogen,
lumbien geheiratet. Mei-                                            in meine Heimat nach
ne Frau hat damals in                                               Schleswig Holstein.
allen möglichen Büros                                               Zu der Zeit wollte ich
gearbeitet, damit ich in                                            nie wieder Pastor sein
Vancouver mein Theolo-                                              und habe angefangen,
giestudium abschließen                                              als    Erlebnispädagoge
konnte.                                          und Storyteller zu arbeiten und Bücher zu
Zwei Jahre später sind wir an die Sunshine       schreiben. Lolly hat dann ziemlich schnell
Coast gezogen, wo wir mit Jugendlichen           ihre Loreddajacque Band gegründet und
gearbeitet, Musik gemacht, Kinder be-            2007 war „nie wieder Pastor“ dann auch zu
kommen, Camps organisiert, mit unseren           Ende und ich war bis 2020 Pastor in mei-
Kindern am Trout Lake gefrühstückt und           ner Heimatgemeinde in Bad Segeberg.
geschwommen sind und mit Freunden eine           Tatsächlich die Kirche, in die meine stol-
Gemeinde gegründet haben.                        zen Eltern mich als 14 Tage altes Baby im
Das waren gerade 16 sehr ereignisreiche          Kinderwagen in den Gottesdienst gescho-
Jahre in einem Satz. Wir lieben die Küste,       ben haben.
Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de
7

Viel Flüchtlingsarbeit, Netzwerk Inklusion,        den Ethik unterrichten, gestern Abend war
Konzerte, Camps, Bücher und jeden Frei-            Vorstandssitzung in der Jerusalem-Kirche.
tag Pizza. Also tatsächlich die Chance,            Alles Arbeitsbereiche, die ich liebe, und
Jesus, soziale Gerechtigkeit und Gemein-           gleichzeitig muss ich mal wieder neu ler-
schaft zu leben.                                   nen, wie ein vernünftiges Arbeitstempo
Seit Oktober darf ich das jetzt sogar mit          aussehen kann. Ich brauche also eure Ge-
euch leben.                                        duld und gleichzeitig freue ich mich über
Ich freue mich auf viele Gespräche, ge-            jeden Kontakt, der neu entsteht.
meinsames Essen, weil mich wirklich inte-          Ab 2022 soll der Ablauf immer so sein,
ressiert, was euch wichtig ist, welche Ideen       dass ich in der Woche vor den Gottesdiens-
ihr für uns jesusfriends habt.                     ten in Hamburg sein werde. Erreichen kann
Im Moment versuche ich herauszufinden,             man mich unter 015142542003 oder:
wie 45% -Stelle aussehen kann.                     frankbonkowski@web.de oder über meine
Ich schreibe diese Zeilen gerade im Zug            Webseite www.untenwieoben.de
nach Krefeld, wo ich morgen früh fünf              Ich freue mich, sehr viele von euch, von
Schulklassen treffen werde, die endlich            ihnen kennenzulernen.
wieder auf Klassenfahrt raus dürfen. Ges-
tern und heute durfte ich jeweils drei Stun-

                                           * * *

                     Gedanken zur Monatsspruch im Dezember 2021
„Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und
         will bei dir wohnen, spricht der Herr“ (Sacharja 2, 14)
                                     von Dorothea Pape

Wer von uns kennt nicht die wunderbare             drückt in einem metaphorischen Bild. Es
Melodie von Georg Friedrich Händels                ist die Freude der Tochter Zion, die von
Tochter Zion, freue dich? Der Text des             Gott aus der Höhe besucht wird, für Chris-
Chorals entstand später als die Melodie,           ten (Frauen sind im Plural mit gemeint) ein
erst 1820, und wurde von Friedrich Hein-           direkter Verweis auf die Geburt Jesu
rich Ranke zu der Melodie, die 1747 kom-           Christi, als die Geburt des lang erwarteten
poniert worden war, erdacht. Er entstand           jüdischen Messias. Aber wer ist die Toch-
aus umgetexteten Chorsätzen aus Georg              ter Zion eigentlich?
Friedrich Händels Oratorien Joshua und J.          Dass Zion topografisch einen Berg be-
Makkabäus. Was wäre der Advent ohne                zeichnet, und zwar den, auf dem Jerusalem
dieses schöne Lied? Und nun haben wir              erbaut wurde, ist bekannt. Hin und wieder
auch einen Monatsspruch, der uns die               wird Zion aber auch metaphorisch für die
Tochter Zion beschreibt.                           Stadt Jerusalem gebraucht (z.B. Ps 48,2).
Wir sind es gewohnt, die christliche Inter-        Die Stadt, in der der Tempel stand, und bis
pretation, auch durch dieses Lied, als ganz        heute eine seiner mächtigen Mauern. Zion
selbstverständlich anzunehmen. In diesem           ist ein Begriff, der im Judentum ganz eng
Lied wird das Kommen von Davids Sohn,              mit der Nähe, der Anwesenheit Gottes ver-
dem Nachkommen des großen Königs Da-               bunden wird. Gott wurde (und wird) auf
vid, der sein ewig andauerndes Friedens-           dem Zion verehrt. Es gibt die Vorstellung
reich erbaut, anschaulich und schön besun-         im Judentum, dass am Ende der Zeit alle
gen. Die Freude über dieses große Ereignis         Völker zum Zion kommen werden, wenn
ist in Text und Melodie wunderbar ausge-           der Messias am Ende der Tage (wieder)
Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de
8

kommen und Gottes Herrschaft über die              verbunden sind, werden nachexilisch ver-
Welt für alle Völker sichtbar und greifbar         ortet. Literargeschichtliche Untersuchun-
sein wird. … Noch einmal: wer ist die              gen im Buch Jeremia, „das alle drei Arten
Tochter Zion (z.B. in Jes 16,1)??                  personifizierter Texte bietet, zeigen dabei
Es scheint um eine Person, eine Frau, zu           deutlich, dass die anklagenden Texte die
gehen, eine Tochter, die also Eltern hat,          klagenden aufnehmen und sich späterer
aber schon erwachsen ist? Ist sie jung oder        Bearbeitung verdanken“1.
alt? Wahrscheinlich ist sie jung, denn sie         In Sacharja 2 ist, wie auch in anderen Pro-
ist es, die mit Gott eine Ehe eingeht – in         phetenschriften, von einer Wendung zum
poetischer Dichtung. Wir lesen von der             Guten die Rede. Die Tochter Zion soll
Tochter Zion in der Bibel aber auch in             wieder neu von Gott angenommen werden.
Klagen und Sinnbildern, wenn sie durch             Ihre Schuld ist zu Ende, die Feinde werden
Kriege leidet, oder als eine Witwe oder            der Plünderung anheim gegeben. Beson-
verlassene Mutter beschrieben wird. Wenn           ders das Buch des zweiten Jesaja, des
über sie geklagt wird, wird sie auch als           Deuterojesaja, ist von diesen Gedanken
Ehebrecherin und Hure dargestellt. Das             getragen (vgl. Jes 40, 1-5 und Jes 52, 7-
bezieht sich auf Götzendienst bzw. den             10). Jerusalem wird zu Herzen geredet.
Abfall von JHWH durch                                                  Das Blatt hat sich „mit
Israel. Dann aber gibt es                                              der Zusage der Freu-
Texte wie bei Sacharja,                                                denboten Dein Gott ist
wo sie mit dem Heil oder                                               König geworden ge-
der Ankündigung von                                                    wendet (vgl. Klgl 1,20;
Heil verbunden wird, als                                               Jer 8,19)“2. In den Ka-
Braut JHWHs. In der                                                    piteln 40-66 wird im-
Heils-Vorstellung ist die                                              mer wieder entfaltet,
Beziehung zwischen Is-                                                 wie die Rückkehr der
rael und Gott in Ordnung                                               Söhne und Töchter aus
oder wieder in Ordnung                                                 dem Exil (Jes 49, 14-
gebracht. Dann ist das                                                 26) und der Wiederauf-
Miteinander von Liebe,                                                 bau sein wird. Jerusa-
Zuwendung und Vertrau-                                                 lem soll aufstehen und
en geprägt. So wie es sein                                             sich prächtig kleiden,
soll, wenn man heiratet und sich gegensei-         um in aller Pracht die Vermählung mit
tig das Ja-Wort gibt.                              JHWH zu feiern. Gott hat den Zornesbe-
Grammatikalisch ist Bat-Zion, ‫בת ציון‬, eine        cher aus ihrer Hand genommen und ihr den
Genitiv-Konstruktion. Es ist ein Ehrentitel.       Thron bereitet (Jes 51,9 -52,2). Zion soll
Wir kennen aber z.B. auch den Titel Toch-          jubeln und sich freuen. Gott kann dieses
ter Jerusalem (z.B. in Jes 37,22; Mi 4,8;          Heil zusagen, weil er selbst es war, der ihre
Klgl 2,13.15). Auch bei anderen Städten            Leiden schuf und sie verstieß (Jes 51, 11-
gibt es diesen Ehrentitel, z.B. bei Babel          17). In Jes 60 bekommt sie schließlich den
(Jer 50,42; Sach 2,11; Ps 137,8). Das heb-         Titel Licht der Völker. Es ist die Vertraut-
räische Wort für Stadt ist weiblich. Des-          heit, die Nähe, die Anwesenheit Gottes, die
halb sind es weibliche Vorstellungen, die          sie zum Leuchten bringt3.
mit einer Stadt verbunden werden. Das war          Gottes Zorn war kein Willkürakt. Sondern
auch im Umfeld Israels eine bekannte Pra-          er bezog sich auf das Verhalten des Volkes
xis.                                               Israel, das sich immer wieder von ihm ab-
Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass          wandte. Gottes Gnade allein ist es – so sind
vor allem die Klagen über Jerusalem als            die hebräischen Texte theologisch zu inter-
Tochter Zion mit der Zerstörung der Stadt          pretieren –, die diesen Wechsel zum neuen
im 6.Jh.v.d.Z. entstanden. Die Texte, die          Leben und zum Heil hervorruft. Die Licht-
mit einer Heilsvision oder -verkündigung           gestalt der Tochter Zion, die königliche
9

Braut JHWHs, lässt nicht nur Jerusalem,            uns Gott sichtbar machen und uns durch
sondern die ganze Welt an der Offenba-             sie mit Gott verbinden. Es ist derselbe
rung Gottes als König der Könige, als              Gott, dessen Gegenwart auf dem Zion er-
Herrscher über die ganze Welt teilhaben.           wartet wird.
Sie hebt sie eschatologisch in die Rolle der       Die Juden setzen ihre Hoffnung auf Gott
Heil vermittelnden Gottesstadt4.                   und sein anbrechendes Friedensreich – im
Nun hören wir, dass Gott bei ihr wohnen            Thron auf dem Zion. Auf die Tochter Zion,
möchte. Das ist ein Bild für eine dauernde         der Gott seine Anwesenheit und die Hoch-
Anwesenheit. Gott will sich nicht mehr             zeit ankündigt. Auf das (vollkommene)
abwenden, sondern bei ihr sein, mittendrin         Anbrechen des Reiches Gottes in der End-
in der Stadt. Es ist ein Bild für ein Zusam-       zeit – zum Heil aller Menschen.
menleben, einen lebendigen Austausch.              Abschließend möchte ich betonen, so oder
Wenn Gott kommt und in der Stadt wohnt             so: Das Heil kommt von den Juden (So
mit ihren herrlichen Brünnlein, werden die         spricht es Jesus aus: Joh 4,22). Nur durch
Menschen Segen erfahren, Glück, Gebor-             sie kommt es zu uns. Nur durch sie, wen-
genheit, Schutz, Erfolg, Gesundheit und            det sich Gottes Güte Menschen zu, denen
dergleichen mehr….Wenn Gott nahe ist, ist          er vertraut und denen er sich richtig, le-
Schalom da. Und es gibt eine tragfähige            benslang total verbindet. Nur durch die
Zukunft. Und das nicht nur für das Volk            Juden werden auch wir gesegnet und haben
Israel. Es geht um alle Menschen, alle             Anteil an der Erlösung. Jesus, der Jude, hat
Völker. Sie alle werden in jenen Tagen             uns die Tür zum Segen Gottes geöffnet. In
Gott als Herrscher, als König sehen und            ihm finden wir Gottes Anwesenheit unter
anerkennen…                                        uns. Amen.
Sacharjas Ankündigung von Gottes Kom-
                                                   1
men und seinem Besuch der Tochter Zion               https://www.bibelwissenschaft.de/stichwo
ist ein klein wenig anders, als wir es „nor-       rt/35902, zuletzt aufgerufen am 20.10.21
malerweise“ kennen. Für uns Christinnen            um 18:45 Uhr.
                                                   2
und Christen ist Weihnachten mit der Ge-             Ebd.
                                                   3
burt Jesu Christi das Kommen Gottes in               Ebd. Mit folgendem Literaturhinweis:
die Welt erfüllt. Und obwohl wir die Welt          Steck, O. H.,1991, Lumen Gentium. Exe-
nach wie vor als leidvoll und begrenzt er-         getische Bemerkungen zum Grundsinn von
leben, setzen wir doch unsere Hoffnung             Jes 60, 1-3, in: O.H.Steck, Studien zu
auf Jesus Christus und auf sein Friedens-          Tritojesaja (BZAW 203), Berlin, New
reich, auf seine durchbrechende Kraft des          York, 101-105).
                                                   4
Lebens, auf seine Güte und Liebe – die für            Ebd.

                                           * * *

                       Gedanken zur Monatsspruch im Januar 2022
         „Jesus Christus spricht: Kommt und seht!“ (Johannes 1, 39)
                                    von Onno Hofmann

 „Wieder beginnt ein neues Jahr.“ Je nach-         wiederum einen Energieschub innehaben
dem, wie wir uns gerade fühlen, kann die-          kann.
ser Satz gelesen werden.                           Dem düsteren Januar entgegenfiebernd
Die Vorsätze fürs neue Jahr frisch und             kann der Satz mit einer gewissen Ängst-
noch nicht verworfen kann der Satz in              lichkeit gelesen werden. Gerade Men-
Aufbruchsstimmung gelesen werden. Denn             schen, die besonders „wetterfühlig“ sind
jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der            oder gerade in ihrem Leben psychisch be-
10

lastende Phasen durchmachen, berichteten            der Wunsch nach mehr Gemeinschaft und
mir von ihrer Angst vor den Wintermona-             einem Stürzen ins Leben, nach einer länge-
ten, die auf das Weihnachtsglitzern und das         ren Zeit des Lockdowns. Jesus lädt ein, zu
Festefeiern folgen. Für Geburtstagskinder           ihm zu kommen, aber auch den Blick auf
im Januar und Februar ist der Jahresanfang          das Wesentliche zu richten, was wiederum
mit wieder anderen Emotionen verknüpft.             wesentlich bestimmt, was es heißt: „zu
Je nachdem wie die individuellen Corona-            Jesus zu kommen“. Was das neue Jahr
prognosen aussehen, kann es als das Jahr            bringen kann, was der Glaube geben kann,
nach der Krise und dem prophezeiten Ende            was einem die kirchliche Gemeinschaft
der Maskenpflicht gelten. Oder aber man             individuell bedeuten kann… ist maßgeb-
liest ein wenig resigniert, dass eben wieder        lich von uns und unserem Blick bestimmt.
ein neues Jahr in Coronazeiten beginnt.             Jesu Einladung, den Blick zu weiten oder
Unsere Sicht aufs neue Jahr ist maßgeblich          auf das Wesentliche zu fokussieren, ist
von unserer Sicht und unserer aktuellen             immer wieder eine Erinnerung wert. So
Lebenssituation geprägt.                            lädt sie auch ein, sich im Handeln an Jesus
Der Spruch Jesu „Kommt und seht!“ rich-             zu orientieren, wie es die ersten Jünger
tet sich im Kontext des Johannesevangeli-           getan haben und es weitergesagt haben. So
ums an die Jünger, die er                                             steht diese Einladung
zur Nachfolge auffordert.                                             auch für das Jahr 2022,
Unabhängig von ihren Le-                                              die Pandemie noch im
benssituationen, die alle                                             Nacken, das Leben neu zu
sehr verschieden sind,                                                sortieren und neu auszu-
folgen sie ihm, viele las-                                            richten. Es ist eine Einla-
sen ihr komplettes vorhe-                                             dung, Jesu weiterhin, neu
riges Leben zurück. Sie                                               oder in anderer Art und
sind so beeindruckt von                                               Weise nachzufolgen. Sich
dem, was sie sehen, dass                                              an die Einladung zu erin-
sie nicht nur kommen,                                                 nern und die Schätze des
sondern nachfolgen.                                                   Glaubens zu erkennen, die
Dieser Einladung Jesu                                                 er für jede individuelle
nachzufolgen, überdauerte                                             Lebenssituation      bieten
die Zeit und kann auch                                                kann. Denn wie die Ein-
universell verstanden wer-                                            ladung Jesu ist der Glaube
den. Sie stellt sich immer                                            ein Geschenk Gottes.
wieder neu, unabhängig                                                Wie „Kommt und seht!“
von unserer Lebenssituation. Sie richtet            eine gewisse Aufbruchsstimmung innehat,
sich an alle und bietet die Möglichkeit,            kann der Satz „wieder beginnt ein neues
dem nachzuspüren, was jede*r aktuell, für           Jahr“ voller Hoffnung und Möglichkeiten
das neue Jahr, aber auch für das Leben an           stecken, die wir mit Gottes Hilfe nutzen
sich braucht. Sei es die Beschäftigung mit          können, für uns und unser Leben, aber
sich selbst, den eigenen psychischen                auch für die Gemeinschaft, in der wir le-
und/oder sozialen Problemen, oder sei es            ben.

                                           * * *
11

                      Gedanken zum Monatsspruch im Februar 2022
                   „Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne
               nicht über eurem Zorn untergehen.“ (Epheser 4, 26)
                                       von Oliver Haupt

Zorn. Eine unmittelbare, manchmal über-              und umsorgt werden muss, wenn sie heil
wältigende Emotion. Er bricht auf, bricht            bleiben und aufblühen soll. Der Zorn ist
aus, verheert, oder er wird unterdrückt,             der Ausbruch unserer Sehnsucht nach Ver-
hinuntergeschluckt, beherrscht. Zürnen ist           bundenheit. Er ist sozusagen wie ihr Schat-
menschlich, aber nicht alles Menschliche             ten: Nicht die Sache selbst, aber untrennbar
ist auch gut. Zorn kann sehr schlecht sein.          von ihr. Wo man den Schatten sieht, kann
Auf der anderen Seite wäre es aber auch              das schattenspendende Objekt nicht weit
unheimlich, wir empfänden ihn gar nicht.             sein. Und wo man den Zorn spürt, steht die
Wenn der Zorn nicht kommt, obwohl et-                Sehnsucht nach Verbundenheit im Hinter-
was ihn provozieren will – dann haben wir            grund, nach Gleichklang zwischen mir und
Abstand zu den Dingen, dann geht uns                 den Anderen, mir und dem Leben, sogar
etwas gar nichts an. Wir wollen aber nicht           mir und den Dingen. Der Mensch will ver-
zu allem einen solchen Abstand haben.                bunden sein mit sich und der Welt, in die
Nein, wir wollen durchaus, dass uns be-              er hineingestellt wurde. Und wenn die
stimmte Dinge ans Herz gehen, wir wollen             Verbindung nicht zustande kommt, kommt
uns berührt fühlen, verbunden, gemeint,              der Zorn.
denn das macht für uns das Leben wert-               Deshalb gilt: Wenn wir einem Menschen
voll. Und die Kehrseite davon ist eben,              zürnen, wünschen wir uns eigentlich, ihn
dass wir dann manchmal auch enttäuscht               zu erreichen. Wehe uns, wenn wir keinen
und verletzt werden – und dann kommt er:             Zorn mehr empfinden, wenn wir mit der
der Zorn. Wer zürnt, der behauptet sich;             Distanz zu unseren Mitmenschen ganz
der macht den Versuch, sich zur Geltung              zufrieden geworden sind. Dann spüren wir
zu bringen; der fühlt sich gemeint und be-           statt Zorn vielleicht nur noch Bitterkeit
rührt und verletzt. Und das nicht aus-               oder, noch schlimmer, Überdruss – dann
schließlich bezogen auf sich selbst in eige-         hören wir weg, gehen weg, weichen aus,
ner Person, sondern möglicherweise auch,             bleiben bei uns, werden allein. Zorn ist der
wenn andere verletzt werden, mit denen               Schmerz über den Verlust der Harmonie.
sich der Zürnende identifiziert.                     Er bedeutet: Wir wollen immer noch die
Natürlich: Zorn soll nicht sein. Es soll auch        Nähe zu den anderen, und wir sind ge-
gar nicht nötig sein, sich gegen andere zu           kränkt, dass diese ersehnte Verbundenheit
behaupten. Besser wäre, wir würden alle              sich uns gerade so widerspenstig verwei-
gut miteinander auskommen, ja nicht nur              gert.
auskommen, sondern einander soweit ver-              Vielleicht ist das der Grund, weshalb der
stehen und Rücksicht nehmen, dass wir                Apostel Paulus nicht sagt: „Zürnt nicht“.
Verletzungen vermeiden.                              Es ist, als wüsste er genau um die Nuancen
Nur: Es ist geradezu die Bedingung unse-             hinter dem Zorn. „Zürnt ihr, so sündigt
rer Freiheit, dass wir eben mit den anderen          nicht“, so schärft er den Christen ein. Diese
auch uneins sein können. Könnten wir uns             Balance, die der Apostel anmahnt, ist ge-
nicht gegeneinander wenden, wären wir                nau die schwierige Kunst. Zürnen gehört
nicht frei. Erst indem wir erleben, wie              zum Menschsein – aber du darfst dem Zorn
schmerzhaft Entzweiung ist, lernen wir               nicht freien Lauf lassen, ihn nicht unbe-
auch, wie wertvoll und wie zart Verbun-              herrscht an deinen Mitmenschen auslassen.
denheit ist und dass sie sorgfältig bewahrt          Und auch nicht an dir selbst. Der Zorn sagt
12

etwas, äußert unser Innenleben, Zorn ist            denheit kann erneut gestiftet werden, muss
Kommunikation. Wir müssen lernen, auf               immerzu gestiftet werden, tagtäglich, von
uns selbst zu hören und die Signale unserer         Begegnung zu Begegnung; umso dringen-
Seele richtig zu deuten. Wenn ich zornig            der, wenn gerade der Zorn übers Ziel hin-
werde, meldet sich meine Seele und schreit          ausgeschossen war. Wenn der andere uns
heraus, dass sie hier eine Entzweiung er-           wirklich verbunden war und sein will, dann
lebt, die sie nicht einfach hinnehmen kann.         wird der Zorn uns nur bewusster machen,
Das soll ich hören. Das soll ich verstehen.         wie sehr wir einander nicht verlieren wol-
Das soll ich ernst nehmen. Ebenso, wenn             len. Dann werden wir unsere Kränkung des
jemand anderes mir zürnt: Auch seine See-           anderen als schmerzlicher erleben als unse-
le artikuliert damit, dass                                            re eigene Erzürnung,
sie nicht hinnehmen                                                   dann sagen wir: „Ich bitte
kann, in der Begegnung                                                um Entschuldigung. Das
mit mir verkannt worden                                               war nicht in Ordnung von
zu sein. „... so sündigt                                              mir“. Und in diesem be-
nicht“ – wie soll ich das                                             sonderen Moment, in
machen? Meist ist der                                                 diesen wenigen Sekunden
Zorn schneller als meine                                              unseres Offenbarungsei-
Reflexion, der wütende                                                des, wenn wir die Waffen
Ausbruch oder die schar-                                              des Zornes fallen lassen
fe, verletzende Erwide-                                               und unsere leeren Hände
rung wird geradezu au-                                                dem anderen bittend ent-
tomatisiert und unter                                                 gegenstrecken, da werden
Umgehung meiner Stirn-                                                wir uns ganz überra-
lappen direkt aus dem                                                 schend und plötzlich mit
uralten Reptiliengehirn                                               aller    Aufmerksamkeit
auf meine Zunge katapul-                                              und Sorgfalt für diesen
tiert. Der Schaden ist                                                Mitmenschen interessie-
geschehen, bevor er mir überhaupt klar              ren, für das, was er gerade unter unserem
wird; das Gegenüber verstört, beleidigt,            Zorn gefühlt hatte, und warum. „Weißt du,
eingeschüchtert, eingeschnappt. Dann hilft          ich hatte einfach …“ „Ja, ich weiß. Ich
nur eines, nämlich sich selbst wieder ein-          habe vielleicht auch etwas unpassend ...“.
fangen, sich für sein ungezogenes Repti-            Zorn ist menschlich. Aber noch menschli-
liengehirn ernsthaft und nüchtern entschul-         cher ist die Fähigkeit zur Versöhnung.
digen, ohne Ausreden. „Lasst die Sonne              Fürchte den Zorn nicht. Aber suche die
nicht über eurem Zorn untergehen.“ Paulus           Versöhnung. Bevor die Sonne – untergeht
wusste: Der Zorn ist stark, aber die Fähig-         ...
keit zur Verständigung ist stärker. Verbun-

                                           * * *

           Das Konzert des Jüdischen Kammerorchesters Hamburg
               am 2. September 2021 in der Jerusalem-Kirche
                                    von Frank Scheerer

Ursprünglich gab es das Jüdische Kam-               Sakom und Hertha Kahn, öffentlich auf.
merorchester in Hamburg unter der Lei-              Bei lediglich vier Aufführungen in vier
tung von Edvard Moritz im Jahre 1934.               Monaten wurden Tschaikowski, Mozart,
Kurze Zeit nur spielten deutsch-jüdische            Händel und Corelli sowie jüdische Kom-
Musiker, u.a. die Solisten llse Urias, Jakob        ponisten wie Berthold Goldschmidt und
13

auch der zeitgenössische Florent Schmitt           Emanuel Meshvinski die Viola, seine Mut-
gespielt – bis zum Berufsverbot durch die          ter Natascha Alenitsyna war an der Violine
NS-Behörden. Dann wurde das Orchester              zu hören. Das JCO hatte ein Programm mit
aufgelöst, da der Leiter – um sein Leben zu        Musik von Schubert, Krása und von
retten – in die USA emigrierte.                    Dohnányi zusammengestellt.
Nun lebt seit 30 Jahren eine russische Mu-         Nach der Begrüßung durch Dr. Hans-
sikerfamilie in Hamburg, die sich auf die          Christoph Goßmann, Leiter der Jerusalem-
Fahnen geschrieben hat, an die verfemten           Akademie und Pastor der Jerusalem-
jüdischen Musiker und Komponisten mit              Kirche, sprach der Vertreter der Bezirks-
ihrem Konzertprogramm ‚Musikalische                versammlung Eimsbüttel Andreas Birn-
Stolpersteine‘ zu erinnern. Die Meshvin-           baum ein Grußwort, in dem er die Wich-
skis stammen aus St. Petersburg und Odes-          tigkeit des Ortes des Konzertes dieses JCO,
sa. Sie haben erst 2018 das Jüdische               die Jerusalem-Kirche zu Hamburg, beton-
Kammerorchester Hamburg, auch als JCO              te. Ein zweites Grußwort kam von Esther
Hamburg (Jewish Chamber Orchestra)                 Kaufmann vom Vorstand des Verbands der
bekannt, wieder neu gegründet. Das Ziel            Schriftsteller*innen. Da sie nicht persön-
des Orchesters ist laut Direktor Pjotr             lich kommen konnte, verlas Frank Schee-
Meshvinski: „Wir                                                          rer ihr Grußwort.
wollen an die au-                                                         Nach diesen Vorre-
ßerordentlichen,                                                          den gab Emanuel
jungen, jüdischen                                                         Meshvinski Einbli-
Komponisten erin-                                                         cke in die Vita des
nern.“ Sie waren                                                          verfemten jüdischen
talentiert und voller                                                     Komponisten       im
Schaffenskraft und                                                        Programm des JCO.
wurden in der Shoa                                                        Hans Krasa war ein
ermordet.         Die                                                     tschechischer Mu-
Meshvinskis selbst                                                        sikschaffender, der
kommen aus jüdi-                                                          nach Therezin ins
schen Kreisen. In                                                            KZ-Theresienstadt
dem Orchester kann                                                        deportiert    wurde.
übrigens       jede(r)                                                    Dort im Lager kom-
mitspielen, sofern die Person das Instru-          ponierte er u.a. die bekannte Kinderoper
ment gut beherrscht.                               Brundibar und brachte sie mit jüdischen
Bereits als Kinder spielten die Meshvinskis        Kindern aus Prag zur Aufführung.
ihre Instrumente mit Verve. Sie studierten         Das Konzert des JCO begann leicht mit
an hervorragenden russischen Konser-               Schuberts Streichtrio Nr. 1, B-dur, D 471
vatorien und deutschen Universitäten, u.a.         (1816), dann folgte ein Tanz für Violine,
in St. Petersburg, Moskau, Köln und Ham-           Viola und Violoncello (1944) von Hans
burg. Vater Pjotr spielt Violoncello, der          Krasa und es endete mit der Serenade C-
Sohn Emanuel Violine/Viola und die Mut-            Dur, op. 10 (1903) von Ernst von
ter Natalia Alenitsyna ebenfalls Violi-            Dohnányi (1877-1960), dem Großvater des
ne/Viola.                                          gleichnamigen ehemaligen Hamburger
Am 2. September konnte endlich die Mu-             Bürgermeisters. Die deutsch-ungarische
sik des Jüdischen Kammerorchesters in der          Familie war mit ihren Mitgliedern im Wi-
Jerusalem-Kirche erklingen. Das Konzert            derstand gegen den Nationalsozialismus.
war wegen der Pandemie zweimal ver-                So hatte Hans von Dohnanyi Christine, die
schoben worden. Aufgrund einer schweren            Schwester von Dietrich Bonhoeffer gehei-
Erkrankung von Pjotr Meshvinski wurde              ratet. Sie überlebte, Bonhoeffer und Hans
die Besetzung des Ensembles verändert:             von Dohnanyi wurden bekanntlich von den
Elisabeth Kogon spielte das Violoncello,           Nazis hingerichtet. Die Musik von Krasa
14

wirkte wie Filmmusik, melodisch und be-             Die rätselhafte und äußerst gefühlvoll into-
schwingend und doch wieder gebrochen                nierte Zugabe war übrigens das musikali-
und atonal. Ebenso ‚modern‘ mutete die              sche Thema aus dem Film ‚Schindler’s
Komposition von Ernst von Dohnanyi an.              Liste‘ von Steven Spielberg. Ein Film nach
Das anwesende Publikum war vom Spiel                der wahren Geschichte des in Krakau akti-
des Jüdischen Kammerorchesters Hamburg              ven Fabrikanten Oskar Schindler, der jüdi-
so gebannt, dass es zeitweise vergessen             sche Menschen vor der Vernichtung be-
hatte, zu klatschen. „Es war wie ein Stück          wahrte. So ist die Gegenwart der Vergan-
Himmel“ sagte eine Teilnehmerin hinter-             genheit durch die wundervolle Musik des
her. Als Zugabe wurde noch eine Weise               Jüdischen Kammerorchesters Hamburg
gespielt, welche Emanuel Meshvinski mit             heute hier präsent.
den Worten ankündigte: „Nun spielen wir             Dieses Konzert war eine Kooperationsver-
eine Melodie, die Sie bestimmt alle ken-            anstaltung von der Jerusalem-Akademie
nen.“ Wehmütig und zuckersüß, melancho-             und dem Verband der Schriftsteller Ham-
lisch und hoffnungsvoll erklang nun der             burg. Sie wurde vom Bezirk Eimsbüttel
volle Satz des Streichorchesters.                   gefördert, wofür wir auch an dieser Stelle
Es war ein Konzert auf höchstem Niveau,             unseren Dank zum Ausdruck bringen
klassisch und empathisch und es war wirk-           möchten.
lich etwas Besonderes für Hamburg, diese                               * * *
Premiere in der Jerusalem-Kirche. Eine
Auflösung des Rätsels gab es zunächst                  Kurz vor Drucklegung dieser
nicht. Die Menschen, ca. 30 Personen im               Ausgabe des Jerusalem-Briefes
Kirchenschiff, mochten sich nicht von ih-
ren Sitzen lösen. Frank Scheerer wünschte            erreichte uns die traurige Nach-
allen einen guten Abend und rief den An-             richt, dass Pjotr Meshvinski ver-
wesenden „Shana Towa“– für ein gutes                 storben ist. Unser Mitgefühl gilt
jüdisches Neujahr zu, das am Montag-                           seiner Familie.
abend, den 6. September, begonnen hat.

                                           * * *

                          „Haschiwenu: Bringe uns zurück“
                                   von Germaine Paetau

 Am 13. September erfreute das Ensemble             Das Programmheft erklärt: Dieses „Pro-
„Deutscher Kammerchor“ die Herzen aller             gramm wäre ohne den Einfluss der jüdi-
Zuhörer:innen mit seinem Programm                   schen Aufklärungsbewegung ‚Haskala‘
„Haschiwenu: Bringe uns zurück“, das                nicht denkbar. Auf den Ideen und Schriften
eine Reise zu den Traditionen des Chorge-           der europäischen Aufklärung beruhend trat
sanges in den deutschen Synagogen vor-              sie für Toleranz und eine gleichberechtigte
stellte. Die Leitung hatte Katharina Eberl          Stellung der Juden in den europäischen
inne; die Chasanim (Kantoren), Ammon                Gesellschaften ein. Der Beginn einer jüdi-
Seelig und Assaf Levitin, stellten das Pro-         schen Aufklärungsbewegung in Preußen
gramm vor, erläuterten es und sangen häu-           wird im Allgemeinen in den Aktivitäten
fig gemeinsam mit dem Chor, trugen aber             von Moses Mendelssohn (1729 – 1786)
auch Soli vor. Stefan Pöll begleitete an der        gesehen.
Orgel.
15

Ihre Hauptziele richteten sich auf die              Zu hören gab es zwölf Gesänge aus dem
Trennung von Religion und Staat sowie die           jüdischen Gottesdienst, intoniert von zehn
Öffnung in die christliche Mehrheitsgesell-         verschiedenen Komponisten wie Emanuel
schaft. Dies geschah durch die Aufnahme             Kirschner, dem Hamburger Leon Kor-
und Pflege persönlicher und institutioneller        nitzer, Maier Kohn, Israel Meyer Japhet,
Kontakte und die Heranführung an jüdi-              Albert Kellermann, Max Löwenstamm,
sche Glaubenslehren. Dabei entwickelte              Samuel Naumbourg, Immanuel Faißt, Hu-
sich ein Spannungsfeld zwischen einer               go Chaim Adler und Louis Lewandowski
erstrebten Erneuerung des Judentums und             aus Berlin.
einer dadurch verstärkten Konfrontation             Das Konzert begann mit „Ma Towu“, ei-
mit der jüdischen Orthodoxie.                       nem Gebet, das im Schabbatgottesdienst
Diese Reformbestrebungen beeinflussten              sowohl am Freitagabend wie auch am
nicht nur den liturgischen Ablauf des Got-          Samstagmorgen gesungen wird, gefolgt
tesdienstes, sondern wirkten sich mit der           von „Tow Lehodot“, Psalm 92, und „Ado-
Integration von Orgel, Chor und Predigt-            nai Malach“, Psalm 93. Beide sind Be-
kanzel als neue Elemente auch auf das               standteile des Abendgottesdienstes.
Synagogengebäude aus. Nachdem die neu-              Dann wurden das Ausheben, „En ka-
en Ideen in Berlin und anderen Städten              mocha“, und das Einheben, „Jehallelu“,
Einzug gehalten hatten, entstand als neues          der Tora am Samstagvormittag besungen.
architektonisches                                                         Ersteres findet ge-
Konzept die soge-                                                         nau vor dem Öffnen
nannte ‚Orgelsyna-                                                        des Tora-Schreins
goge‘. Eine musika-                                                       und letzteres direkt
lisch durchkompo-                                                         beim Wiederhinein-
nierte Liturgie kor-                                                      bringen der Tora-
respondierte mit der                                                      Rolle statt.
neuen ‚Kompositi-                                                         Es folgten „Min Ha-
on‘ des Synagogen-                                                        Mezar“, Psalm 118,
raumes, und mit ihr                                                       Verse 2 bis 25, und
blühte die Tradition                                                      „Hodu“, ebenfalls
des mehrstimmigen                                                         aus dem Psalm 118.
Chorgesanges mit                                                          Beide Psalmen ge-
Begleitung der Or-                                                        hören zu den Hallel-
gel auf. Jede große Stadt in Deutschland            Gesängen, die Lobgesänge darstellen und
hatte damals einen Kantor für ihre Syna-            an Festtagen vorgetragen werden.
goge, der in dieser Funktion häufig auch            „Isch Jehudi“ aus dem Buch Esther, Kapi-
als Komponist wirkte. Er komponierte für            tel 2, Vers 5, und Kapitel 8, Vers 16, ist
den Synagogengottesdienst Musik für                 Bestandteil des Purim-Festgottesdienstes.
Vorbeter, Chor und Orgel und veröffent-             Die folgenden vier Gesänge – „Aus den
lichte diese Werke, die sich im Stil der            Tiefen ruf‘ ich Dich“, „Mima‘amakim“,
klassisch-romantischen Kunstmusik und               „Aschamnu“ und „Ki Anu Amecha“ – ha-
der evangelischen Kirchenmusik dieser               ben ihren Platz beim Versöhnungsfest
Zeit annäherten. Dadurch entstand eine              „Jom Kippur“. Das Volk bekennt seine
eigene Klanglandschaft in jeder dieser              Sünden, alle versöhnen sich mit allen und
Gemeinden. Das heutige Programm möch-               dadurch auch mit Gott.
te die verschiedenen Traditionen aus den            So verschiedenen Charakters die Psalmen
jüdischen Gemeinden in Deutschland zum              sind, genauso unterschiedlich erscheinen
Erklingen bringen und damit auch die                auch ihre Vertonungen. Das Berückende
Komponisten wieder zurück in ihre Städ-             an diesem Abend war der große Melodien-
te.“                                                reichtum, der uns vorgestellt wurde. Dieser
                                                    wurde erschaffen von zehn deutschen Ton-
16

dichtern, deren Namen aus dem deutschen           innigen Texte in gedruckter Form vorlag,
Gedächtnis „verschwunden“ sind. Wie               sodass auch für das Publikum Gesang und
dankbar bin ich, dass ihre unglaublich be-        Wort miteinander verschmolzen zu einem
eindruckenden Chorgesänge uns durch die           die Seele berührenden Ganzen. Dies haben
beiden Chasanim und das Ensemble                  die Sänger, ihre Leitung, die Chasanim und
„Deutscher Kammerchor“ vorgestellt wur-           der Organist für uns möglich gemacht.
den. Und wie gut, dass die Übersetzung der

                                         * * *

                                   Neuerscheinung

In der Buchreihe der Jerusalem-Akademie           geprägt haben. Insofern versteht sich diese
‚Jerusalemer Texte. Schriften aus der Ar-         Studie als ein Beitrag dazu, die jüdische
beit der Jerusalem-Akademie‘ ist ein neuer        Bildungsgeschichte in Deutschland als
Band erschienen:                                  einen Aspekt deutscher Bildungsgeschichte
                                                  sichtbar zu machen.
Band 24:                                          In Zeiten wie diesen mit einem Backlash
Michaela Will, Konstruk-                                           im Blick auf bürgerliche
tionen von Weiblichkeit                                              Geschlechterstereotypen
in der Zeitschrift Sula-                                           wie auch auf zunehmen-
mith, 2021, 162 S., ISBN                                           den        Antisemitismus
978-3-95948-542-5, 18.-                                            möchte diese Studie dazu
€                                                                  beitragen,    Stereotypen
                                                                   und Hass zu überwinden
Die Konstruktionen von                                             und durch eine differen-
„Weiblichkeit“, die im                                             zierte Sicht zu ersetzen,
19. Jahrhundert im Zuge                                            die die vielschichtigen
der Entstehung der bür-                                                Aushandlungsprozesse
gerlichen     Gesellschaft                                         zwischen Idealen und
propagiert wurden und                                              Wirklichkeiten in unter-
mit einer Polarisierung                                            schiedlichen, sich wech-
der Geschlechtscharakte-                                           selseitig beeinflussenden
re einhergingen, sind in                                           Kontexten in Vergangen-
vieler Hinsicht bis heute                                          heit und Gegenwart in
prägend. Die vorliegende                                           den Blick nimmt. Dies ist
Studie zeigt am Beispiel                                           verbunden mit der Hoff-
der jüdischen Zeitschrift                                          nung, dass es gelingt,
Sulamith, wie die entstehenden bürgerli-          eine Zukunft zu gestalten, in der alle Men-
chen Weiblichkeitsvorstellungen in Ab-            schen sich gleichermaßen frei entfalten
grenzung zu den faktischen Realitäten von         können, wie auch immer sie sich religiös
Frauen entwickelt wurden und sich u.a.            oder im Blick auf Geschlechterverhältnisse
mithilfe einer entsprechenden Mädchenbil-         verorten.
dung durchsetzen konnten. Dabei wird
deutlich, wie die entstehenden jüdisch-
bürgerlichen Geschlechterverhältnisse ei-                          * * *
nerseits von der Mehrheitskultur beein-
flusst waren und diese andererseits mit
Sie können auch lesen