Gemeindebrief Nr. 1/2022 - Dezember 2021 - Februar 2022 - jerusalem-kirche.de
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Inhaltsverzeichnis Editorial Seite 1 Hans-Christoph Goßmann, Predigt über Römer 10, 9-18 Seite 2 Michael Arretz, Zukunft braucht Erinnerung zwischen erstem Spatenstich und Eröffnung der Kirche Seite 5 Frank Bonkowski – der neue Pastor der jesusfriends – Seite 6 Gedanken zu Monatssprüchen: - Dorothea Pape, Sacharja 2, 14 (Dezember 2021) Seite 7 - Onno Hofmann, Johannes 1, 39 (Januar 2022) Seite 9 - Oliver Haupt, Epheser 4, 26 (Februar 2022) Seite 11 Frank Scheerer, Das Konzert des Jüdischen Kammerorchesters Hamburg am 2. September 2021 in der Jerusalem-Kirche Seite 12 Germaine Paetau, „Haschiwenu: Bringe uns zurück“ Seite 14 Neuerscheinung Seite 16 Aus dem Programm der Jerusalem-Akademie Seite 17 Lebendiger Adventskalender in Eimsbüttel Seite 18 Zu guter Letzt: Elfchen Seite 19 Veranstaltungskalender Seite 20 Spenden für die Gemeinde erbitten wir auf folgende Konten: Haspa: IBAN - DE33 2005 0550 1211 1292 16 BIC - HASPDEHHXXX Evangelische Bank eG: IBAN – DE25520604106306446019 BIC – GENO DEF1 EK1 Konto des Fördervereins Jerusalem-Kirchengemeinde Hamburg e.V.: Haspa: IBAN - DE40 2005 0550 1211 1237 55 BIC - HASPDEHHXXX Unsere Internet-Seiten finden Sie unter: Jerusalem-Kirche = www.jerusalem-kirche.de Bestellungen und andere Anfragen richten Sie bitte an die Jerusalem-Gemeinde Sekretariat: Frau Birthe Henkel, Schäferkampsallee 36, 20357 Hamburg, Öffnungszei- ten: Di. und Do. von 9.00 bis 12.00 Uhr und Mi. von 14.30 bis 17.30 Uhr, Telefon: 040/202 28 136, Fax: 040/202 28 138, E-Mail: buero@jerusalem-kirche.de Pastor: Dr. Hans-Christoph Goßmann, E-Mail: jerusalem-pastor@gmx.de Impressum: Herausgeber ist die ev.-luth. Jerusalem-Gemeinde zu Hamburg. Auflage: 600 Stück Redaktion: Dr. Hans-Christoph Goßmann, Druck: H.-D. Dietrich Druckerei, Beeksfelde 18, 25482 Appen/Pi. Für namentlich gekennzeichnete Artikel zeichnen die Autoren verantwortlich. Der Brief erscheint viermal im Jahr und wird auf Spendenbasis an Mitglieder und Freunde der Gemeinde verschickt. Redaktionsschluss für den Jerusalem-Brief 2-2022 ist der 1. Februar 2022.
1 Editorial Liebe Leserin, Reise zu den Traditionen des Chorgesangs lieber Leser, in den deutschen Synagogen“ am 13. Sep- am Beginn die- tember 2021. Frank Scheerer berichtet über ser Ausgabe des das erste diese beiden Konzerte, Germaine Jerusalem-Brie- Paetau über das zweite. fes steht eine Predigt über In der Buchreihe der Jerusalem-Akademie Römer 10, 9-18 ‚Jerusalemer Texte. Schriften aus der Ar- – zehn Verse, in beit der Jerusalem-Akademie‘ ist ein neuer denen der Apos- Band erschienen, der hier vorgestellt wird. tel Paulus eine Gelassenheit an Aus dem Akademieprogramm der nächsten den Tag legt, Monate wird auf folgende Veranstaltungen die auch wir uns zu eigen machen können. hingewiesen: das Soziodrama ‚Die Stadt mit Juden‘ am 4. Dezember 2021, das Dr. Michael Arretz, unser Kirchengemein- nächste Seminar im Rahmen der Reihe ‚Zu deratsvorsitzender, blickt auf den Israel- Gast in Abrahams Zelt‘ in der Zeit vom 14. Sonntag 2021 zurück, an dem wir das bis zum 16. Dezember 2021, in dem es um 110jährige Jubiläum des ersten Spaten- Gottesvorstellungen in Judentum, Chris- stichs für unsere Jerusalem-Kirche gefeiert tentum und Islam gehen wird, und die bei- haben, und gibt einen Ausblick auf Jubilä- den Lektürekreise, die monatlich stattfin- en im Jahr 2022. den: der Martin Buber-Lektürekreis sowie der Reinhard von Kirchbach-Lektürekreis. Der neue Pastor der jesusfriends, Frank Bonkowski, stellt sich auf den folgenden Die Einladung zum ‚Lebendigen Advents- Seiten vor. kalender‘, den wir in unserer Gemeinde am 17. Dezember 2021 gestalten werden, fin- In dieser Ausgabe des Jerusalem-Briefes den Sie ebenfalls auf den folgenden Seiten. können Sie Gedanken zu den Monatssprü- chen für die nächsten drei Monate lesen: Teilnehmende an den „Heilung & Spiritua- für Dezember 2021 („Freue dich und sei lität“-Treffen haben Elfchen gedichtet ha- fröhlich, du Tochter Zion! Denn siehe, ich be, kleine Gedichte, die aus elf Wörtern komme und will bei dir wohnen, spricht bestehen, die Sie am Ende dieser Ausgabe der Herr“ [Sacharja 2, 14] von Dorothea finden. Pape), für Januar 2022 („Jesus Christus spricht: Kommt und seht!“ [Johannes 1, Wann die nächsten Gottesdienste und Bi- 39] von Onno Hofmann) und für Februar belstunden stattfinden werden, können Sie 2022 („Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die dieser Ausgabe des Jerusalem-Briefes na- Sonne nicht über eurem Zorn untergehen“ türlich wie gewohnt auch entnehmen. [Epheser 4, 26] von Oliver Haupt). Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen Ihr Im Rahmen unserer Veranstaltungen zum Hans-Christoph Goßmann Festjahr ‚1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland‘ fanden in der Jerusalem- Kirche zwei Konzerte statt: das Konzert des Jüdischen Kammerorchesters Hamburg * * * am 2. September 2021 und das Konzert „‘Haschiwenu: Bringe uns zurück‘ – eine
2 Predigt über Römer 10, 9-18 von Pastor Dr. Hans-Christoph Goßmann Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus len, Jude war, dass seine ersten Anhänge- und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft rinnen und Anhänger ebenfalls dem jüdi- des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. schen Volk angehörten und dass unser Al- Amen. tes Testament mit der Hebräischen Bibel des Judentums weitestgehend identisch ist. Liebe Jerusalem-Gemeinde, Die römisch-katholische Kirche hat in ih- vor drei Tagen, am vergangenen Donners- rem Zweiten Vatikanischen Konzil die tag, haben wir eine der Veranstaltungen Erklärung ‚Nostra Aetate‘ verabschiedet unserer Jerusalem-Akademie durchgeführt. und viele evangelische Landeskirchen ha- Es ging um die Erklärung „Christen und ben entsprechende Synodalbeschlüsse ge- Juden“, die unsere damalige Landeskirche, fasst, so auch unsere damalige Landeskir- die ‚Nordelbische Evangelisch-Lutherische che die eingangs genannte Erklärung Kirche‘ vor zwanzig Jahren, genauer ge- „Christen und Juden“. Fast alle dieser mitt- sagt: am 22. September 2001, verabschie- lerweile zahlreichen Erklärungen beziehen det hatte. Dass wir diese Veranstaltung sich auf die Kapitel 9 bis 11 des Briefes, nicht am 22. September, also am Mitt- den der Apostel Paulus an die Gemeinde in woch, durchgeführt haben, sondern einen Rom geschrieben hat. Viele der dort be- Tag später, war der Tatsache geschuldet, gegnenden Aussagen – die vom ungekün- dass aufgrund des diesjährigen Sukkot- digten Bund Gottes mit seinem erwählten Festes am Mittwoch die jüdische Mitwir- Volk Israel, im sprachlichen Bild von Öl- kenden und Teilnehmenden nicht hätten baum der Satz, dass die Wurzel uns trägt dabei sein können. Und ohne sie wäre die- und nicht wir die Wurzel – wurden in die- se Akademieveranstaltung nicht sinnvoll sen Erklärungen aufgegriffen und entfaltet. gewesen; schließlich war es wichtig, ihre Im Römerbrief entfaltet Paulus seine Theo- Stellungnahmen zu der Synodenerklärung logie, und dies in einer grundlegenden Art zu hören und zu diskutieren. Zudem war und Weise. Melanchthon hat diesen Brief die Liberale Jüdische Gemeinde Pinneberg dementsprechend als „doctrinae christianae ja auch Mitveranstalterin dieses Work- compendium“ bezeichnet, als Kompendi- shops. um der christlichen Lehre. Paulus entfaltet Worum geht es in dieser Synodener- seine Theologie dort deshalb in so grundle- klärung, in welchem Kontext haben wir sie gender Weise, weil er sich mit diesem zu verorten, um sie angemessen würdigen Brief der Gemeinde in Rom vorstellen zu können? Ich unternehme der Versuch möchte, um von ihr empfangen zu werden. eines kleines Rückblickes: In der zweiten Denn diese Gemeinde möchte er zur Aus- Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat es gangsbasis für seine geplante Missionsrei- in Deutschland viele Neuaufbrüche im se im Westen des Reiches, in Spanien, ma- Bereich des christlich-jüdischen Dialogs chen. Und so stellt Paulus hier der Ge- gegeben. Das Erschrecken darüber, dass meinde in Rom seine Theologie dar. Das der Weg zu dem Grauen von Auschwitz ist nichts für den eiligen Leser. Denn das durch den jahrhundertelangen christlichen ist eine auf hohem Niveau entfaltete, sehr Antijudaismus geebnet worden ist, hat zu differenzierte Darstellung. Walter Jens hat neuen Aufbrüchen in der christlichen The- das einmal treffend in Worte gekleidet, ologie geführt, die ihren Ort in der ‚Theo- indem er schrieb: „Der Römerbrief ist logie nach Auschwitz‘ haben. Nun wurde nicht so einfach wie die ‚Bildzeitung’, und in den Blick genommen, dass Jesus von das sollte man getrost betonen“ (in: Die Nazareth, dem wir in unserem Leben als Zeit, 4. März 1988). Lesen wir diesen Brief Christinnen und Christen nachfolgen wol- des Apostels Paulus, arbeiten wir ihn
3 durch, so kann er für uns zu einer höchst se 6 bis 8 umfasst; soviel Zeit muss sein. anregenden intellektuellen Herausforde- Und so lese ich jetzt zunächst die Verse 6 rung werden, besonders wenn wir dessen bis 8. Sie haben in der Lutherübersetzung Kapitel 9 bis 11 lesen. Zu Beginn meines folgenden Wortlaut: Studiums habe ich einmal an einem einwö- chigen Seminar teilgenommen, bei dem Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben Otto Michel, damals Professor für Neues spricht so: „Sprich nicht in deinem Herzen: Testament an der Universität Tübingen, Wer will hinauf gen Himmel fahren?“ – einen Satz gesagt hat, den ich nie verges- nämlich um Christus herabzuholen –, oder: sen habe, den Satz: „An Römer 9 bis 11 „Wer will hinab in die Tiefe fahren?“ – wird man zum Theologen“. Paulus, für den nämlich um Christus von den Toten völlig außer Frage steht, dass Gott zu sei- heraufzuholen –, sondern was sagt sie? nem erwählten Volk Israel steht, setzt sich „Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde in diesen Kapiteln mit der Frage auseinan- und in deinem Herzen.“ Dies ist das Wort der, wie das „Nein“ der überwiegenden vom Glauben, das wir predigen. Mehrheit der Juden zu Jesus als Messias zu Römer 10, 6-8 dieser Treue Gottes passt. In diesen drei Kapiteln gibt er eine Zusammenschau der Und im Anschluss an diesen Satz folgt Heilsgeschichte Gottes mit seinem erwähl- dann der eigentliche Predigttext. Er lautet: ten Volk Israel und den dazugekommenen Völkern, zu denen auch wir gehören. In Denn wenn du mit deinem Munde be- Kapitel 9 legt Paulus dar, dass sich die kennst, dass Jesus der Herr ist, und in dei- Treue Gottes in der Vergangenheit gezeigt nem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den hat, und in Kapitel 11, dass diese Treue Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet. sich auch in der Zukunft erweisen wird. Denn wenn man von Herzen glaubt, so Auf die Frage, wie es denn nun in der Ge- wird man gerecht; und wenn man mit dem genwart aussieht, geht er in Kapitel 10 ein. Munde bekennt, so wird man gerettet. Diesem Kapitel, dem zehnten Kapitel sei- Denn die Schrift spricht: „Wer an ihn nes Römerbriefes, ist der Predigttext für glaubt, wird nicht zuschanden werden.“ Es den heutigen siebzehnten Sonntag nach ist hier kein Unterschied zwischen Juden Trinitatis entnommen. Es ist kein kurzer und Griechen; es ist über alle derselbe Predigttext; er umfasst die Verse 9 bis 17 Herr, reich für alle, die ihn anrufen. Denn dieses Kapitels. Vers 18 kann durchaus „wer den Namen des Herrn anrufen wird, noch mit dazu genommen werden; im soll gerettet werden“. Perikopenbuch, in dem die Predigttexte für Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie die einzelnen Sonntage zusammengestellt nicht glauben? Wie sollen sie aber an den sind, ist auch der 18. Vers angegeben, in glauben, von dem sie nichts gehört haben? eckigen Klammern, das heißt, dass er bei Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? der Predigt mit hinzugezogen werden Wie sollen sie aber predigen, wenn sie kann. Er ist also keineswegs kurz, der heu- nicht gesandt werden? Wie denn geschrie- tige Predigttext, aber dennoch ist er zu ben steht: „Wie lieblich sind die Füße der kurz. Um ihn verstehen zu können, ist es Freudenboten, die das Gute verkündigen!“ sehr hilfreich, den Vers 8 noch mit hinzu- Aber nicht alle sind dem Evangelium ge- zunehmen. Da hat die Liturgische Kom- horsam. Denn Jesaja spricht: „Herr, wer mission für die Evangelische Kirche in glaubt unserm Predigen?“ So kommt der Deutschland, die für die Auswahl und Ab- Glaube aus der Predigt, das Predigen aber grenzung der Predigttexte verantwortlich durch das Wort Christi. zeichnet, am falschen Ende gespart. Der [Ich frage aber: Haben sie es nicht gehört? Vers 8 sollte auf jeden Fall mit gelesen und Doch, es ist ja „in alle Lande ausgegangen bedacht werden, auch wenn er der letzte ihr Schall und ihr Wort bis an die Enden Teil eines längeren Satzes ist, der die Ver- der Welt“.] Römer 10, 9-17 [18]
4 Der Vers 8, den ich hier mit dazu genom- die vorher zitierte Stelle aus dem Buch men habe, mündet in ein Zitat aus dem Deuteronomium macht deutlich, dass der Buch Deuteronomium, dem Fünften Buch Glaube, dass Gott Jesus „von den Toten Mose, ein, das folgenden Wortlaut hat: auferweckt hat“, nicht etwa bedeutet, dass „Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, Jesus Christus im Himmel und somit weit ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es entfernt ist und wir hier auf Erden fern von ist nicht im Himmel, dass du sagen müss- ihm sind. Nein: Jesus Christus ist uns im test: Wer will für uns in den Himmel fah- gesprochenen Wort nahe; er ist uns nahe, ren und es uns holen, dass wir's hören und wenn wir uns zu ihm mit dem Munde be- tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, kennen. Der jüdische Religionsphilosoph dass du sagen müsstest: Wer will für uns Emmanuel Lévinas hat zwischen dem Sa- über das Meer fahren und es uns holen, gen und dem Gesagten unterschieden. In dass wir's hören und tun? Denn es ist das Anlehnung an diese Unterscheidung hieße Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde das: Im Akt des Sagens wird der Glaube, und in deinem Herzen, dass du es tust.“ Im das Gesagte, lebendig. Christlicher Glaube achten Vers zitiert Paulus Vers 14, den lebt nicht davon, dass Behauptungen auf- letzten Satz dieses Abschnittes, wenn er gestellt werden, sondern vielmehr vom dort schreibt: „Das Wort ist dir nahe, in Sprechen. Das Bekenntnis mit dem Munde deinem Munde und in deinem Herzen.“ bedeutet Rettung. Denn im Aussprechen Aus diesem Wort der Tora gewinnt Paulus wird auch körperlich Verbindlichkeit her- Trost. Erläuternd fährt er dann fort: „Dies gestellt und erneuert. ist das Wort vom Glauben, das wir predi- Im Folgenden zitiert Paulus aus dem Buch gen.“ des Propheten Joel, wenn er schreibt: „wer Das ist eine Erkenntnis, die dem Apostel den Namen des Herrn anrufen wird, soll wichtig ist, die er seinen Leserinnen und gerettet werden“ (Joel 3,5a). Dieser Satz ist Lesern in Rom auf keinen Fall vorenthal- der letzte Teil des Abschnittes aus dem ten möchte: dass das Wort vom Glauben Joel-Buch, in dem es um die Ausgießung nicht abstrakt und fern, sondern – ganz im des Heiligen Geistes geht. Im ersten Vers Gegenteil – nah ist. Das „Wort des Glau- dieses Abschnittes heißt es: „Und nach bens“ ist körperlich erfahrbar – nämlich diesem will ich meinen Geist ausgießen dann, wenn es mit dem Munde ausgespro- über alles Fleisch“ (Joel 3, 1a). Durch die- chen wird. Hier sagt Paulus etwas ganz ses Zitat bringt Paulus zur Sprache, dass Entscheidendes über den Glauben: dass der Gott über alle seinen Geist ausgießen und Glaube keine Geisteshaltung ist, sondern sie somit retten wird – alle, ohne Ausnah- vielmehr eine Aktivität des Herzens. Das me. betont Paulus, wenn er hier gleich zweimal In den nächsten Versen unseres heutigen vom Herzen spricht: „Denn wenn du mit Predigttextes ringt Paulus damit, dass nicht deinem Munde bekennst, dass Jesus der alle auf die Botschaft hören, die er verkün- Herr ist, und in deinem Herzen glaubst, digt. Das irritiert ihn; es verunsichert ihn dass ihn Gott von den Toten auferweckt zutiefst. Diese verunsichernde Erfahrung hat, so wirst du gerettet. Denn wenn man setzt er zu der des Propheten Jesaja in Be- von Herzen glaubt, so wird man gerecht; ziehung, dem es auch so ergangen war. und wenn man mit dem Munde bekennt, so Damit verbindet Paulus die Hoffnung, dass wird man gerettet“ (Verse 9 und 10). Gott selbst die Rettung bringen wird. Das Und was der Inhalt eines solchen Glaubens ist für ihn entlastend; nicht er als Apostel ist, benennt der Apostel an dieser Stelle hat die Verantwortung dafür, dass alle ge- sehr genau: „dass Jesus der Herr ist“ und rettet werden; nein, diese Verantwortung „dass ihn Gott von den Toten auferweckt kann er getrost an Gott abgeben. Im fol- hat“. Damit betont der Apostel, dass Gott, genden elften Kapitel seines Römerbriefes der Gott Israels, das Subjekt der Jesus- kann Paulus dann schreiben, dass ganz Geschichte ist und bleibt. Der Bezug auf Israel gerettet werden wird (Vers 26) und
5 dass Gottes Erbarmen allen Menschen gilt, wir Unterschiede auch dann nicht mehr als seien es nun Juden oder Heiden (Vers ärgerlich oder verunsichernd empfinden, 32b). wenn wir sie nicht verstehen können. Eine Heißt das, dass Paulus nun die Wege Got- solche Gelassenheit kann uns helfen, mit tes versteht? Nein, das tut er nicht, aber er Differenzen besser umgehen zu können – muss es auch nicht. Nun kann er damit beispielsweise mit Differenzen zwischen umgehen, dass er sie nicht versteht, und unserem christlichen Glauben und dem kann dies – im wahrsten und ursprüng- jüdischen Glauben. lichsten Sinne des Wortes – getrost Gott Möge Gott uns eine solche Gelassenheit überlassen. Er hat nun eine Gelassenheit, schenken! die auch wir uns zu eigen machen können. Amen. Wenn es uns gelingt, uns in dieser Hinsicht am Apostel Paulus zu orientieren, werden * * * Zukunft braucht Erinnerung zwischen erstem Spatenstich und Eröffnung der Kirche von Dr. Michael Arretz Wir haben am Israelsonntag mit den drei meindesälen widmen und diskutieren dafür Gemeinden, Gästen und Freunden den 110. Ideen und Konzepte aus verschiedenen Jahrestag des ersten Spatenstichs für unse- Blickwinkeln, um die Akademiearbeit zu re Kirche gefeiert. Und jetzt erinnern wir ermöglichen, aber genauso Kindern und uns, dass vor 110 Jahren die Arbeiten in Jugendlichen attraktive Räumlichkeiten zu vollem Gange waren, um in der Rekordzeit bieten. Zudem haben wir unsere Anker- von acht Monaten unsere Kirche zu bauen. mieter, wie die Kammerspiele und ver- Da waren die Materialbeschaffung und die schiedene Chöre im Blick und sind mit Bezahlung vonnöten, die potentiell neuen Mietern Bereitstellung von Arbei- in Gesprächen. Alles tern und Handwerkern nicht unbedingt einfach, und die genaue Abarbei- aber wer erlebt, wie die tung der Pläne. Sicher Räume genutzt werden, nicht eine einfache Auf- freut sich über diesen gabe, da ringsherum ge- Dienst an der Nachbar- baut wurde, weil Ham- schaft und ist motiviert, burg ein Wirtschafts- exzellente Lösungen für wachstum in nicht ge- das Jerusalem-Ensemble kanntem Ausmaß durch zu erarbeiten. Im kom- die vielen Importe für menden Jahr werden sich Deutschland und Europa noch mehr Anlässe zum erlebte. Mit der Liebe zu gemeinsamen Feiern er- den Details ging es voran geben. Die Immanuel- und wir werden uns die- Gemeinschaft hat sich im sem Ereignis vor 110 Januar 1997, also vor 25 Jahren nähern, um dann Jahren, entschlossen, zu am Sonntag, den 10. April 2022, einen uns zu kommen. Und damit zu einer Berei- Festgottesdienst zu begehen. Aber in der cherung unseres Gemeindelebens beigetra- Zwischenzeit wollen wir uns der Moderni- gen. Genauso verhält es sich mit den jesus- sierung unseres Standortes mit den Ge- friends, die in 2012 zu uns gekommen
6 sind, also das Zehnjährige feiern. Es wird unter einem Dach, die auch für die Nach- also gefeiert werden und wenn wir dann barn da sind und diese herzlich einladen, noch die Räumlichkeiten intensiver nutzen an den Veranstaltungen bei uns teilzuneh- können, haben wir viel erreicht. Wenn wir men oder eben auch selbst welche durch- uns so bewusst erinnern, gestalten wir zuführen. Für heute sage ich: Bitte den nicht nur die Gegenwart, sondern immer Sonntag, 10. April 2022, vormerken! auch unsere Zukunft: als drei Gemeinden Frank Bonkowski – der neue Pastor der jesusfriends – Moin, liebe Menschen in der Jerusalem- die Menschen dort und sie wird immer Kirche, irgendwie ein Strick Heimat für uns blei- mein Name ist Frank Bonkowski und ich ben. bin seit Oktober der neue Pastor der Dann ein Burnout, den Begriff kannte ich jesusfriends. damals noch gar nicht. Das war eine sehr Meine Frau Loretta (Lolly) ist Musikerin dunkle Zeit. und wir haben drei gemeinsame Kinder, Neben den typischen Ursachen, zu viel zu Jubilee, Lukas und Kasey. Die Töchter lange ohne Pausen verarbeitet, habe ich wohnen in Calgary, Ka- damals auch eine Glau- nada und der Rest von benskrise erlebt, wo fast uns in Bad Segeberg, alles auf dem Prüfstand meiner Geburtsstadt. kam. Vieles entsorgt Hier ein paar Highlights und die Dinge behalten, aus unserem bewegten die sich bewährt hatten: Leben: eine Liebe und Bewun- Nach dem Abitur habe derung für Jesus, Hun- ich in der Nähe von Mar- ger nach Gemeinschaft burg angefangen, Theo- und sozialer Gerechtig- logie zu studieren, habe keit. dort Lolly kennengelernt Wir sind 2005, „für ein und 1989 haben wir in Jahr“ zurück nach Kelowna in Britisch Ko- Deutschland gezogen, lumbien geheiratet. Mei- in meine Heimat nach ne Frau hat damals in Schleswig Holstein. allen möglichen Büros Zu der Zeit wollte ich gearbeitet, damit ich in nie wieder Pastor sein Vancouver mein Theolo- und habe angefangen, giestudium abschließen als Erlebnispädagoge konnte. und Storyteller zu arbeiten und Bücher zu Zwei Jahre später sind wir an die Sunshine schreiben. Lolly hat dann ziemlich schnell Coast gezogen, wo wir mit Jugendlichen ihre Loreddajacque Band gegründet und gearbeitet, Musik gemacht, Kinder be- 2007 war „nie wieder Pastor“ dann auch zu kommen, Camps organisiert, mit unseren Ende und ich war bis 2020 Pastor in mei- Kindern am Trout Lake gefrühstückt und ner Heimatgemeinde in Bad Segeberg. geschwommen sind und mit Freunden eine Tatsächlich die Kirche, in die meine stol- Gemeinde gegründet haben. zen Eltern mich als 14 Tage altes Baby im Das waren gerade 16 sehr ereignisreiche Kinderwagen in den Gottesdienst gescho- Jahre in einem Satz. Wir lieben die Küste, ben haben.
7 Viel Flüchtlingsarbeit, Netzwerk Inklusion, den Ethik unterrichten, gestern Abend war Konzerte, Camps, Bücher und jeden Frei- Vorstandssitzung in der Jerusalem-Kirche. tag Pizza. Also tatsächlich die Chance, Alles Arbeitsbereiche, die ich liebe, und Jesus, soziale Gerechtigkeit und Gemein- gleichzeitig muss ich mal wieder neu ler- schaft zu leben. nen, wie ein vernünftiges Arbeitstempo Seit Oktober darf ich das jetzt sogar mit aussehen kann. Ich brauche also eure Ge- euch leben. duld und gleichzeitig freue ich mich über Ich freue mich auf viele Gespräche, ge- jeden Kontakt, der neu entsteht. meinsames Essen, weil mich wirklich inte- Ab 2022 soll der Ablauf immer so sein, ressiert, was euch wichtig ist, welche Ideen dass ich in der Woche vor den Gottesdiens- ihr für uns jesusfriends habt. ten in Hamburg sein werde. Erreichen kann Im Moment versuche ich herauszufinden, man mich unter 015142542003 oder: wie 45% -Stelle aussehen kann. frankbonkowski@web.de oder über meine Ich schreibe diese Zeilen gerade im Zug Webseite www.untenwieoben.de nach Krefeld, wo ich morgen früh fünf Ich freue mich, sehr viele von euch, von Schulklassen treffen werde, die endlich ihnen kennenzulernen. wieder auf Klassenfahrt raus dürfen. Ges- tern und heute durfte ich jeweils drei Stun- * * * Gedanken zur Monatsspruch im Dezember 2021 „Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und will bei dir wohnen, spricht der Herr“ (Sacharja 2, 14) von Dorothea Pape Wer von uns kennt nicht die wunderbare drückt in einem metaphorischen Bild. Es Melodie von Georg Friedrich Händels ist die Freude der Tochter Zion, die von Tochter Zion, freue dich? Der Text des Gott aus der Höhe besucht wird, für Chris- Chorals entstand später als die Melodie, ten (Frauen sind im Plural mit gemeint) ein erst 1820, und wurde von Friedrich Hein- direkter Verweis auf die Geburt Jesu rich Ranke zu der Melodie, die 1747 kom- Christi, als die Geburt des lang erwarteten poniert worden war, erdacht. Er entstand jüdischen Messias. Aber wer ist die Toch- aus umgetexteten Chorsätzen aus Georg ter Zion eigentlich? Friedrich Händels Oratorien Joshua und J. Dass Zion topografisch einen Berg be- Makkabäus. Was wäre der Advent ohne zeichnet, und zwar den, auf dem Jerusalem dieses schöne Lied? Und nun haben wir erbaut wurde, ist bekannt. Hin und wieder auch einen Monatsspruch, der uns die wird Zion aber auch metaphorisch für die Tochter Zion beschreibt. Stadt Jerusalem gebraucht (z.B. Ps 48,2). Wir sind es gewohnt, die christliche Inter- Die Stadt, in der der Tempel stand, und bis pretation, auch durch dieses Lied, als ganz heute eine seiner mächtigen Mauern. Zion selbstverständlich anzunehmen. In diesem ist ein Begriff, der im Judentum ganz eng Lied wird das Kommen von Davids Sohn, mit der Nähe, der Anwesenheit Gottes ver- dem Nachkommen des großen Königs Da- bunden wird. Gott wurde (und wird) auf vid, der sein ewig andauerndes Friedens- dem Zion verehrt. Es gibt die Vorstellung reich erbaut, anschaulich und schön besun- im Judentum, dass am Ende der Zeit alle gen. Die Freude über dieses große Ereignis Völker zum Zion kommen werden, wenn ist in Text und Melodie wunderbar ausge- der Messias am Ende der Tage (wieder)
8 kommen und Gottes Herrschaft über die verbunden sind, werden nachexilisch ver- Welt für alle Völker sichtbar und greifbar ortet. Literargeschichtliche Untersuchun- sein wird. … Noch einmal: wer ist die gen im Buch Jeremia, „das alle drei Arten Tochter Zion (z.B. in Jes 16,1)?? personifizierter Texte bietet, zeigen dabei Es scheint um eine Person, eine Frau, zu deutlich, dass die anklagenden Texte die gehen, eine Tochter, die also Eltern hat, klagenden aufnehmen und sich späterer aber schon erwachsen ist? Ist sie jung oder Bearbeitung verdanken“1. alt? Wahrscheinlich ist sie jung, denn sie In Sacharja 2 ist, wie auch in anderen Pro- ist es, die mit Gott eine Ehe eingeht – in phetenschriften, von einer Wendung zum poetischer Dichtung. Wir lesen von der Guten die Rede. Die Tochter Zion soll Tochter Zion in der Bibel aber auch in wieder neu von Gott angenommen werden. Klagen und Sinnbildern, wenn sie durch Ihre Schuld ist zu Ende, die Feinde werden Kriege leidet, oder als eine Witwe oder der Plünderung anheim gegeben. Beson- verlassene Mutter beschrieben wird. Wenn ders das Buch des zweiten Jesaja, des über sie geklagt wird, wird sie auch als Deuterojesaja, ist von diesen Gedanken Ehebrecherin und Hure dargestellt. Das getragen (vgl. Jes 40, 1-5 und Jes 52, 7- bezieht sich auf Götzendienst bzw. den 10). Jerusalem wird zu Herzen geredet. Abfall von JHWH durch Das Blatt hat sich „mit Israel. Dann aber gibt es der Zusage der Freu- Texte wie bei Sacharja, denboten Dein Gott ist wo sie mit dem Heil oder König geworden ge- der Ankündigung von wendet (vgl. Klgl 1,20; Heil verbunden wird, als Jer 8,19)“2. In den Ka- Braut JHWHs. In der piteln 40-66 wird im- Heils-Vorstellung ist die mer wieder entfaltet, Beziehung zwischen Is- wie die Rückkehr der rael und Gott in Ordnung Söhne und Töchter aus oder wieder in Ordnung dem Exil (Jes 49, 14- gebracht. Dann ist das 26) und der Wiederauf- Miteinander von Liebe, bau sein wird. Jerusa- Zuwendung und Vertrau- lem soll aufstehen und en geprägt. So wie es sein sich prächtig kleiden, soll, wenn man heiratet und sich gegensei- um in aller Pracht die Vermählung mit tig das Ja-Wort gibt. JHWH zu feiern. Gott hat den Zornesbe- Grammatikalisch ist Bat-Zion, בת ציון, eine cher aus ihrer Hand genommen und ihr den Genitiv-Konstruktion. Es ist ein Ehrentitel. Thron bereitet (Jes 51,9 -52,2). Zion soll Wir kennen aber z.B. auch den Titel Toch- jubeln und sich freuen. Gott kann dieses ter Jerusalem (z.B. in Jes 37,22; Mi 4,8; Heil zusagen, weil er selbst es war, der ihre Klgl 2,13.15). Auch bei anderen Städten Leiden schuf und sie verstieß (Jes 51, 11- gibt es diesen Ehrentitel, z.B. bei Babel 17). In Jes 60 bekommt sie schließlich den (Jer 50,42; Sach 2,11; Ps 137,8). Das heb- Titel Licht der Völker. Es ist die Vertraut- räische Wort für Stadt ist weiblich. Des- heit, die Nähe, die Anwesenheit Gottes, die halb sind es weibliche Vorstellungen, die sie zum Leuchten bringt3. mit einer Stadt verbunden werden. Das war Gottes Zorn war kein Willkürakt. Sondern auch im Umfeld Israels eine bekannte Pra- er bezog sich auf das Verhalten des Volkes xis. Israel, das sich immer wieder von ihm ab- Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass wandte. Gottes Gnade allein ist es – so sind vor allem die Klagen über Jerusalem als die hebräischen Texte theologisch zu inter- Tochter Zion mit der Zerstörung der Stadt pretieren –, die diesen Wechsel zum neuen im 6.Jh.v.d.Z. entstanden. Die Texte, die Leben und zum Heil hervorruft. Die Licht- mit einer Heilsvision oder -verkündigung gestalt der Tochter Zion, die königliche
9 Braut JHWHs, lässt nicht nur Jerusalem, uns Gott sichtbar machen und uns durch sondern die ganze Welt an der Offenba- sie mit Gott verbinden. Es ist derselbe rung Gottes als König der Könige, als Gott, dessen Gegenwart auf dem Zion er- Herrscher über die ganze Welt teilhaben. wartet wird. Sie hebt sie eschatologisch in die Rolle der Die Juden setzen ihre Hoffnung auf Gott Heil vermittelnden Gottesstadt4. und sein anbrechendes Friedensreich – im Nun hören wir, dass Gott bei ihr wohnen Thron auf dem Zion. Auf die Tochter Zion, möchte. Das ist ein Bild für eine dauernde der Gott seine Anwesenheit und die Hoch- Anwesenheit. Gott will sich nicht mehr zeit ankündigt. Auf das (vollkommene) abwenden, sondern bei ihr sein, mittendrin Anbrechen des Reiches Gottes in der End- in der Stadt. Es ist ein Bild für ein Zusam- zeit – zum Heil aller Menschen. menleben, einen lebendigen Austausch. Abschließend möchte ich betonen, so oder Wenn Gott kommt und in der Stadt wohnt so: Das Heil kommt von den Juden (So mit ihren herrlichen Brünnlein, werden die spricht es Jesus aus: Joh 4,22). Nur durch Menschen Segen erfahren, Glück, Gebor- sie kommt es zu uns. Nur durch sie, wen- genheit, Schutz, Erfolg, Gesundheit und det sich Gottes Güte Menschen zu, denen dergleichen mehr….Wenn Gott nahe ist, ist er vertraut und denen er sich richtig, le- Schalom da. Und es gibt eine tragfähige benslang total verbindet. Nur durch die Zukunft. Und das nicht nur für das Volk Juden werden auch wir gesegnet und haben Israel. Es geht um alle Menschen, alle Anteil an der Erlösung. Jesus, der Jude, hat Völker. Sie alle werden in jenen Tagen uns die Tür zum Segen Gottes geöffnet. In Gott als Herrscher, als König sehen und ihm finden wir Gottes Anwesenheit unter anerkennen… uns. Amen. Sacharjas Ankündigung von Gottes Kom- 1 men und seinem Besuch der Tochter Zion https://www.bibelwissenschaft.de/stichwo ist ein klein wenig anders, als wir es „nor- rt/35902, zuletzt aufgerufen am 20.10.21 malerweise“ kennen. Für uns Christinnen um 18:45 Uhr. 2 und Christen ist Weihnachten mit der Ge- Ebd. 3 burt Jesu Christi das Kommen Gottes in Ebd. Mit folgendem Literaturhinweis: die Welt erfüllt. Und obwohl wir die Welt Steck, O. H.,1991, Lumen Gentium. Exe- nach wie vor als leidvoll und begrenzt er- getische Bemerkungen zum Grundsinn von leben, setzen wir doch unsere Hoffnung Jes 60, 1-3, in: O.H.Steck, Studien zu auf Jesus Christus und auf sein Friedens- Tritojesaja (BZAW 203), Berlin, New reich, auf seine durchbrechende Kraft des York, 101-105). 4 Lebens, auf seine Güte und Liebe – die für Ebd. * * * Gedanken zur Monatsspruch im Januar 2022 „Jesus Christus spricht: Kommt und seht!“ (Johannes 1, 39) von Onno Hofmann „Wieder beginnt ein neues Jahr.“ Je nach- wiederum einen Energieschub innehaben dem, wie wir uns gerade fühlen, kann die- kann. ser Satz gelesen werden. Dem düsteren Januar entgegenfiebernd Die Vorsätze fürs neue Jahr frisch und kann der Satz mit einer gewissen Ängst- noch nicht verworfen kann der Satz in lichkeit gelesen werden. Gerade Men- Aufbruchsstimmung gelesen werden. Denn schen, die besonders „wetterfühlig“ sind jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der oder gerade in ihrem Leben psychisch be-
10 lastende Phasen durchmachen, berichteten der Wunsch nach mehr Gemeinschaft und mir von ihrer Angst vor den Wintermona- einem Stürzen ins Leben, nach einer länge- ten, die auf das Weihnachtsglitzern und das ren Zeit des Lockdowns. Jesus lädt ein, zu Festefeiern folgen. Für Geburtstagskinder ihm zu kommen, aber auch den Blick auf im Januar und Februar ist der Jahresanfang das Wesentliche zu richten, was wiederum mit wieder anderen Emotionen verknüpft. wesentlich bestimmt, was es heißt: „zu Je nachdem wie die individuellen Corona- Jesus zu kommen“. Was das neue Jahr prognosen aussehen, kann es als das Jahr bringen kann, was der Glaube geben kann, nach der Krise und dem prophezeiten Ende was einem die kirchliche Gemeinschaft der Maskenpflicht gelten. Oder aber man individuell bedeuten kann… ist maßgeb- liest ein wenig resigniert, dass eben wieder lich von uns und unserem Blick bestimmt. ein neues Jahr in Coronazeiten beginnt. Jesu Einladung, den Blick zu weiten oder Unsere Sicht aufs neue Jahr ist maßgeblich auf das Wesentliche zu fokussieren, ist von unserer Sicht und unserer aktuellen immer wieder eine Erinnerung wert. So Lebenssituation geprägt. lädt sie auch ein, sich im Handeln an Jesus Der Spruch Jesu „Kommt und seht!“ rich- zu orientieren, wie es die ersten Jünger tet sich im Kontext des Johannesevangeli- getan haben und es weitergesagt haben. So ums an die Jünger, die er steht diese Einladung zur Nachfolge auffordert. auch für das Jahr 2022, Unabhängig von ihren Le- die Pandemie noch im benssituationen, die alle Nacken, das Leben neu zu sehr verschieden sind, sortieren und neu auszu- folgen sie ihm, viele las- richten. Es ist eine Einla- sen ihr komplettes vorhe- dung, Jesu weiterhin, neu riges Leben zurück. Sie oder in anderer Art und sind so beeindruckt von Weise nachzufolgen. Sich dem, was sie sehen, dass an die Einladung zu erin- sie nicht nur kommen, nern und die Schätze des sondern nachfolgen. Glaubens zu erkennen, die Dieser Einladung Jesu er für jede individuelle nachzufolgen, überdauerte Lebenssituation bieten die Zeit und kann auch kann. Denn wie die Ein- universell verstanden wer- ladung Jesu ist der Glaube den. Sie stellt sich immer ein Geschenk Gottes. wieder neu, unabhängig Wie „Kommt und seht!“ von unserer Lebenssituation. Sie richtet eine gewisse Aufbruchsstimmung innehat, sich an alle und bietet die Möglichkeit, kann der Satz „wieder beginnt ein neues dem nachzuspüren, was jede*r aktuell, für Jahr“ voller Hoffnung und Möglichkeiten das neue Jahr, aber auch für das Leben an stecken, die wir mit Gottes Hilfe nutzen sich braucht. Sei es die Beschäftigung mit können, für uns und unser Leben, aber sich selbst, den eigenen psychischen auch für die Gemeinschaft, in der wir le- und/oder sozialen Problemen, oder sei es ben. * * *
11 Gedanken zum Monatsspruch im Februar 2022 „Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen.“ (Epheser 4, 26) von Oliver Haupt Zorn. Eine unmittelbare, manchmal über- und umsorgt werden muss, wenn sie heil wältigende Emotion. Er bricht auf, bricht bleiben und aufblühen soll. Der Zorn ist aus, verheert, oder er wird unterdrückt, der Ausbruch unserer Sehnsucht nach Ver- hinuntergeschluckt, beherrscht. Zürnen ist bundenheit. Er ist sozusagen wie ihr Schat- menschlich, aber nicht alles Menschliche ten: Nicht die Sache selbst, aber untrennbar ist auch gut. Zorn kann sehr schlecht sein. von ihr. Wo man den Schatten sieht, kann Auf der anderen Seite wäre es aber auch das schattenspendende Objekt nicht weit unheimlich, wir empfänden ihn gar nicht. sein. Und wo man den Zorn spürt, steht die Wenn der Zorn nicht kommt, obwohl et- Sehnsucht nach Verbundenheit im Hinter- was ihn provozieren will – dann haben wir grund, nach Gleichklang zwischen mir und Abstand zu den Dingen, dann geht uns den Anderen, mir und dem Leben, sogar etwas gar nichts an. Wir wollen aber nicht mir und den Dingen. Der Mensch will ver- zu allem einen solchen Abstand haben. bunden sein mit sich und der Welt, in die Nein, wir wollen durchaus, dass uns be- er hineingestellt wurde. Und wenn die stimmte Dinge ans Herz gehen, wir wollen Verbindung nicht zustande kommt, kommt uns berührt fühlen, verbunden, gemeint, der Zorn. denn das macht für uns das Leben wert- Deshalb gilt: Wenn wir einem Menschen voll. Und die Kehrseite davon ist eben, zürnen, wünschen wir uns eigentlich, ihn dass wir dann manchmal auch enttäuscht zu erreichen. Wehe uns, wenn wir keinen und verletzt werden – und dann kommt er: Zorn mehr empfinden, wenn wir mit der der Zorn. Wer zürnt, der behauptet sich; Distanz zu unseren Mitmenschen ganz der macht den Versuch, sich zur Geltung zufrieden geworden sind. Dann spüren wir zu bringen; der fühlt sich gemeint und be- statt Zorn vielleicht nur noch Bitterkeit rührt und verletzt. Und das nicht aus- oder, noch schlimmer, Überdruss – dann schließlich bezogen auf sich selbst in eige- hören wir weg, gehen weg, weichen aus, ner Person, sondern möglicherweise auch, bleiben bei uns, werden allein. Zorn ist der wenn andere verletzt werden, mit denen Schmerz über den Verlust der Harmonie. sich der Zürnende identifiziert. Er bedeutet: Wir wollen immer noch die Natürlich: Zorn soll nicht sein. Es soll auch Nähe zu den anderen, und wir sind ge- gar nicht nötig sein, sich gegen andere zu kränkt, dass diese ersehnte Verbundenheit behaupten. Besser wäre, wir würden alle sich uns gerade so widerspenstig verwei- gut miteinander auskommen, ja nicht nur gert. auskommen, sondern einander soweit ver- Vielleicht ist das der Grund, weshalb der stehen und Rücksicht nehmen, dass wir Apostel Paulus nicht sagt: „Zürnt nicht“. Verletzungen vermeiden. Es ist, als wüsste er genau um die Nuancen Nur: Es ist geradezu die Bedingung unse- hinter dem Zorn. „Zürnt ihr, so sündigt rer Freiheit, dass wir eben mit den anderen nicht“, so schärft er den Christen ein. Diese auch uneins sein können. Könnten wir uns Balance, die der Apostel anmahnt, ist ge- nicht gegeneinander wenden, wären wir nau die schwierige Kunst. Zürnen gehört nicht frei. Erst indem wir erleben, wie zum Menschsein – aber du darfst dem Zorn schmerzhaft Entzweiung ist, lernen wir nicht freien Lauf lassen, ihn nicht unbe- auch, wie wertvoll und wie zart Verbun- herrscht an deinen Mitmenschen auslassen. denheit ist und dass sie sorgfältig bewahrt Und auch nicht an dir selbst. Der Zorn sagt
12 etwas, äußert unser Innenleben, Zorn ist denheit kann erneut gestiftet werden, muss Kommunikation. Wir müssen lernen, auf immerzu gestiftet werden, tagtäglich, von uns selbst zu hören und die Signale unserer Begegnung zu Begegnung; umso dringen- Seele richtig zu deuten. Wenn ich zornig der, wenn gerade der Zorn übers Ziel hin- werde, meldet sich meine Seele und schreit ausgeschossen war. Wenn der andere uns heraus, dass sie hier eine Entzweiung er- wirklich verbunden war und sein will, dann lebt, die sie nicht einfach hinnehmen kann. wird der Zorn uns nur bewusster machen, Das soll ich hören. Das soll ich verstehen. wie sehr wir einander nicht verlieren wol- Das soll ich ernst nehmen. Ebenso, wenn len. Dann werden wir unsere Kränkung des jemand anderes mir zürnt: Auch seine See- anderen als schmerzlicher erleben als unse- le artikuliert damit, dass re eigene Erzürnung, sie nicht hinnehmen dann sagen wir: „Ich bitte kann, in der Begegnung um Entschuldigung. Das mit mir verkannt worden war nicht in Ordnung von zu sein. „... so sündigt mir“. Und in diesem be- nicht“ – wie soll ich das sonderen Moment, in machen? Meist ist der diesen wenigen Sekunden Zorn schneller als meine unseres Offenbarungsei- Reflexion, der wütende des, wenn wir die Waffen Ausbruch oder die schar- des Zornes fallen lassen fe, verletzende Erwide- und unsere leeren Hände rung wird geradezu au- dem anderen bittend ent- tomatisiert und unter gegenstrecken, da werden Umgehung meiner Stirn- wir uns ganz überra- lappen direkt aus dem schend und plötzlich mit uralten Reptiliengehirn aller Aufmerksamkeit auf meine Zunge katapul- und Sorgfalt für diesen tiert. Der Schaden ist Mitmenschen interessie- geschehen, bevor er mir überhaupt klar ren, für das, was er gerade unter unserem wird; das Gegenüber verstört, beleidigt, Zorn gefühlt hatte, und warum. „Weißt du, eingeschüchtert, eingeschnappt. Dann hilft ich hatte einfach …“ „Ja, ich weiß. Ich nur eines, nämlich sich selbst wieder ein- habe vielleicht auch etwas unpassend ...“. fangen, sich für sein ungezogenes Repti- Zorn ist menschlich. Aber noch menschli- liengehirn ernsthaft und nüchtern entschul- cher ist die Fähigkeit zur Versöhnung. digen, ohne Ausreden. „Lasst die Sonne Fürchte den Zorn nicht. Aber suche die nicht über eurem Zorn untergehen.“ Paulus Versöhnung. Bevor die Sonne – untergeht wusste: Der Zorn ist stark, aber die Fähig- ... keit zur Verständigung ist stärker. Verbun- * * * Das Konzert des Jüdischen Kammerorchesters Hamburg am 2. September 2021 in der Jerusalem-Kirche von Frank Scheerer Ursprünglich gab es das Jüdische Kam- Sakom und Hertha Kahn, öffentlich auf. merorchester in Hamburg unter der Lei- Bei lediglich vier Aufführungen in vier tung von Edvard Moritz im Jahre 1934. Monaten wurden Tschaikowski, Mozart, Kurze Zeit nur spielten deutsch-jüdische Händel und Corelli sowie jüdische Kom- Musiker, u.a. die Solisten llse Urias, Jakob ponisten wie Berthold Goldschmidt und
13 auch der zeitgenössische Florent Schmitt Emanuel Meshvinski die Viola, seine Mut- gespielt – bis zum Berufsverbot durch die ter Natascha Alenitsyna war an der Violine NS-Behörden. Dann wurde das Orchester zu hören. Das JCO hatte ein Programm mit aufgelöst, da der Leiter – um sein Leben zu Musik von Schubert, Krása und von retten – in die USA emigrierte. Dohnányi zusammengestellt. Nun lebt seit 30 Jahren eine russische Mu- Nach der Begrüßung durch Dr. Hans- sikerfamilie in Hamburg, die sich auf die Christoph Goßmann, Leiter der Jerusalem- Fahnen geschrieben hat, an die verfemten Akademie und Pastor der Jerusalem- jüdischen Musiker und Komponisten mit Kirche, sprach der Vertreter der Bezirks- ihrem Konzertprogramm ‚Musikalische versammlung Eimsbüttel Andreas Birn- Stolpersteine‘ zu erinnern. Die Meshvin- baum ein Grußwort, in dem er die Wich- skis stammen aus St. Petersburg und Odes- tigkeit des Ortes des Konzertes dieses JCO, sa. Sie haben erst 2018 das Jüdische die Jerusalem-Kirche zu Hamburg, beton- Kammerorchester Hamburg, auch als JCO te. Ein zweites Grußwort kam von Esther Hamburg (Jewish Chamber Orchestra) Kaufmann vom Vorstand des Verbands der bekannt, wieder neu gegründet. Das Ziel Schriftsteller*innen. Da sie nicht persön- des Orchesters ist laut Direktor Pjotr lich kommen konnte, verlas Frank Schee- Meshvinski: „Wir rer ihr Grußwort. wollen an die au- Nach diesen Vorre- ßerordentlichen, den gab Emanuel jungen, jüdischen Meshvinski Einbli- Komponisten erin- cke in die Vita des nern.“ Sie waren verfemten jüdischen talentiert und voller Komponisten im Schaffenskraft und Programm des JCO. wurden in der Shoa Hans Krasa war ein ermordet. Die tschechischer Mu- Meshvinskis selbst sikschaffender, der kommen aus jüdi- nach Therezin ins schen Kreisen. In KZ-Theresienstadt dem Orchester kann deportiert wurde. übrigens jede(r) Dort im Lager kom- mitspielen, sofern die Person das Instru- ponierte er u.a. die bekannte Kinderoper ment gut beherrscht. Brundibar und brachte sie mit jüdischen Bereits als Kinder spielten die Meshvinskis Kindern aus Prag zur Aufführung. ihre Instrumente mit Verve. Sie studierten Das Konzert des JCO begann leicht mit an hervorragenden russischen Konser- Schuberts Streichtrio Nr. 1, B-dur, D 471 vatorien und deutschen Universitäten, u.a. (1816), dann folgte ein Tanz für Violine, in St. Petersburg, Moskau, Köln und Ham- Viola und Violoncello (1944) von Hans burg. Vater Pjotr spielt Violoncello, der Krasa und es endete mit der Serenade C- Sohn Emanuel Violine/Viola und die Mut- Dur, op. 10 (1903) von Ernst von ter Natalia Alenitsyna ebenfalls Violi- Dohnányi (1877-1960), dem Großvater des ne/Viola. gleichnamigen ehemaligen Hamburger Am 2. September konnte endlich die Mu- Bürgermeisters. Die deutsch-ungarische sik des Jüdischen Kammerorchesters in der Familie war mit ihren Mitgliedern im Wi- Jerusalem-Kirche erklingen. Das Konzert derstand gegen den Nationalsozialismus. war wegen der Pandemie zweimal ver- So hatte Hans von Dohnanyi Christine, die schoben worden. Aufgrund einer schweren Schwester von Dietrich Bonhoeffer gehei- Erkrankung von Pjotr Meshvinski wurde ratet. Sie überlebte, Bonhoeffer und Hans die Besetzung des Ensembles verändert: von Dohnanyi wurden bekanntlich von den Elisabeth Kogon spielte das Violoncello, Nazis hingerichtet. Die Musik von Krasa
14 wirkte wie Filmmusik, melodisch und be- Die rätselhafte und äußerst gefühlvoll into- schwingend und doch wieder gebrochen nierte Zugabe war übrigens das musikali- und atonal. Ebenso ‚modern‘ mutete die sche Thema aus dem Film ‚Schindler’s Komposition von Ernst von Dohnanyi an. Liste‘ von Steven Spielberg. Ein Film nach Das anwesende Publikum war vom Spiel der wahren Geschichte des in Krakau akti- des Jüdischen Kammerorchesters Hamburg ven Fabrikanten Oskar Schindler, der jüdi- so gebannt, dass es zeitweise vergessen sche Menschen vor der Vernichtung be- hatte, zu klatschen. „Es war wie ein Stück wahrte. So ist die Gegenwart der Vergan- Himmel“ sagte eine Teilnehmerin hinter- genheit durch die wundervolle Musik des her. Als Zugabe wurde noch eine Weise Jüdischen Kammerorchesters Hamburg gespielt, welche Emanuel Meshvinski mit heute hier präsent. den Worten ankündigte: „Nun spielen wir Dieses Konzert war eine Kooperationsver- eine Melodie, die Sie bestimmt alle ken- anstaltung von der Jerusalem-Akademie nen.“ Wehmütig und zuckersüß, melancho- und dem Verband der Schriftsteller Ham- lisch und hoffnungsvoll erklang nun der burg. Sie wurde vom Bezirk Eimsbüttel volle Satz des Streichorchesters. gefördert, wofür wir auch an dieser Stelle Es war ein Konzert auf höchstem Niveau, unseren Dank zum Ausdruck bringen klassisch und empathisch und es war wirk- möchten. lich etwas Besonderes für Hamburg, diese * * * Premiere in der Jerusalem-Kirche. Eine Auflösung des Rätsels gab es zunächst Kurz vor Drucklegung dieser nicht. Die Menschen, ca. 30 Personen im Ausgabe des Jerusalem-Briefes Kirchenschiff, mochten sich nicht von ih- ren Sitzen lösen. Frank Scheerer wünschte erreichte uns die traurige Nach- allen einen guten Abend und rief den An- richt, dass Pjotr Meshvinski ver- wesenden „Shana Towa“– für ein gutes storben ist. Unser Mitgefühl gilt jüdisches Neujahr zu, das am Montag- seiner Familie. abend, den 6. September, begonnen hat. * * * „Haschiwenu: Bringe uns zurück“ von Germaine Paetau Am 13. September erfreute das Ensemble Das Programmheft erklärt: Dieses „Pro- „Deutscher Kammerchor“ die Herzen aller gramm wäre ohne den Einfluss der jüdi- Zuhörer:innen mit seinem Programm schen Aufklärungsbewegung ‚Haskala‘ „Haschiwenu: Bringe uns zurück“, das nicht denkbar. Auf den Ideen und Schriften eine Reise zu den Traditionen des Chorge- der europäischen Aufklärung beruhend trat sanges in den deutschen Synagogen vor- sie für Toleranz und eine gleichberechtigte stellte. Die Leitung hatte Katharina Eberl Stellung der Juden in den europäischen inne; die Chasanim (Kantoren), Ammon Gesellschaften ein. Der Beginn einer jüdi- Seelig und Assaf Levitin, stellten das Pro- schen Aufklärungsbewegung in Preußen gramm vor, erläuterten es und sangen häu- wird im Allgemeinen in den Aktivitäten fig gemeinsam mit dem Chor, trugen aber von Moses Mendelssohn (1729 – 1786) auch Soli vor. Stefan Pöll begleitete an der gesehen. Orgel.
15 Ihre Hauptziele richteten sich auf die Zu hören gab es zwölf Gesänge aus dem Trennung von Religion und Staat sowie die jüdischen Gottesdienst, intoniert von zehn Öffnung in die christliche Mehrheitsgesell- verschiedenen Komponisten wie Emanuel schaft. Dies geschah durch die Aufnahme Kirschner, dem Hamburger Leon Kor- und Pflege persönlicher und institutioneller nitzer, Maier Kohn, Israel Meyer Japhet, Kontakte und die Heranführung an jüdi- Albert Kellermann, Max Löwenstamm, sche Glaubenslehren. Dabei entwickelte Samuel Naumbourg, Immanuel Faißt, Hu- sich ein Spannungsfeld zwischen einer go Chaim Adler und Louis Lewandowski erstrebten Erneuerung des Judentums und aus Berlin. einer dadurch verstärkten Konfrontation Das Konzert begann mit „Ma Towu“, ei- mit der jüdischen Orthodoxie. nem Gebet, das im Schabbatgottesdienst Diese Reformbestrebungen beeinflussten sowohl am Freitagabend wie auch am nicht nur den liturgischen Ablauf des Got- Samstagmorgen gesungen wird, gefolgt tesdienstes, sondern wirkten sich mit der von „Tow Lehodot“, Psalm 92, und „Ado- Integration von Orgel, Chor und Predigt- nai Malach“, Psalm 93. Beide sind Be- kanzel als neue Elemente auch auf das standteile des Abendgottesdienstes. Synagogengebäude aus. Nachdem die neu- Dann wurden das Ausheben, „En ka- en Ideen in Berlin und anderen Städten mocha“, und das Einheben, „Jehallelu“, Einzug gehalten hatten, entstand als neues der Tora am Samstagvormittag besungen. architektonisches Ersteres findet ge- Konzept die soge- nau vor dem Öffnen nannte ‚Orgelsyna- des Tora-Schreins goge‘. Eine musika- und letzteres direkt lisch durchkompo- beim Wiederhinein- nierte Liturgie kor- bringen der Tora- respondierte mit der Rolle statt. neuen ‚Kompositi- Es folgten „Min Ha- on‘ des Synagogen- Mezar“, Psalm 118, raumes, und mit ihr Verse 2 bis 25, und blühte die Tradition „Hodu“, ebenfalls des mehrstimmigen aus dem Psalm 118. Chorgesanges mit Beide Psalmen ge- Begleitung der Or- hören zu den Hallel- gel auf. Jede große Stadt in Deutschland Gesängen, die Lobgesänge darstellen und hatte damals einen Kantor für ihre Syna- an Festtagen vorgetragen werden. goge, der in dieser Funktion häufig auch „Isch Jehudi“ aus dem Buch Esther, Kapi- als Komponist wirkte. Er komponierte für tel 2, Vers 5, und Kapitel 8, Vers 16, ist den Synagogengottesdienst Musik für Bestandteil des Purim-Festgottesdienstes. Vorbeter, Chor und Orgel und veröffent- Die folgenden vier Gesänge – „Aus den lichte diese Werke, die sich im Stil der Tiefen ruf‘ ich Dich“, „Mima‘amakim“, klassisch-romantischen Kunstmusik und „Aschamnu“ und „Ki Anu Amecha“ – ha- der evangelischen Kirchenmusik dieser ben ihren Platz beim Versöhnungsfest Zeit annäherten. Dadurch entstand eine „Jom Kippur“. Das Volk bekennt seine eigene Klanglandschaft in jeder dieser Sünden, alle versöhnen sich mit allen und Gemeinden. Das heutige Programm möch- dadurch auch mit Gott. te die verschiedenen Traditionen aus den So verschiedenen Charakters die Psalmen jüdischen Gemeinden in Deutschland zum sind, genauso unterschiedlich erscheinen Erklingen bringen und damit auch die auch ihre Vertonungen. Das Berückende Komponisten wieder zurück in ihre Städ- an diesem Abend war der große Melodien- te.“ reichtum, der uns vorgestellt wurde. Dieser wurde erschaffen von zehn deutschen Ton-
16 dichtern, deren Namen aus dem deutschen innigen Texte in gedruckter Form vorlag, Gedächtnis „verschwunden“ sind. Wie sodass auch für das Publikum Gesang und dankbar bin ich, dass ihre unglaublich be- Wort miteinander verschmolzen zu einem eindruckenden Chorgesänge uns durch die die Seele berührenden Ganzen. Dies haben beiden Chasanim und das Ensemble die Sänger, ihre Leitung, die Chasanim und „Deutscher Kammerchor“ vorgestellt wur- der Organist für uns möglich gemacht. den. Und wie gut, dass die Übersetzung der * * * Neuerscheinung In der Buchreihe der Jerusalem-Akademie geprägt haben. Insofern versteht sich diese ‚Jerusalemer Texte. Schriften aus der Ar- Studie als ein Beitrag dazu, die jüdische beit der Jerusalem-Akademie‘ ist ein neuer Bildungsgeschichte in Deutschland als Band erschienen: einen Aspekt deutscher Bildungsgeschichte sichtbar zu machen. Band 24: In Zeiten wie diesen mit einem Backlash Michaela Will, Konstruk- im Blick auf bürgerliche tionen von Weiblichkeit Geschlechterstereotypen in der Zeitschrift Sula- wie auch auf zunehmen- mith, 2021, 162 S., ISBN den Antisemitismus 978-3-95948-542-5, 18.- möchte diese Studie dazu € beitragen, Stereotypen und Hass zu überwinden Die Konstruktionen von und durch eine differen- „Weiblichkeit“, die im zierte Sicht zu ersetzen, 19. Jahrhundert im Zuge die die vielschichtigen der Entstehung der bür- Aushandlungsprozesse gerlichen Gesellschaft zwischen Idealen und propagiert wurden und Wirklichkeiten in unter- mit einer Polarisierung schiedlichen, sich wech- der Geschlechtscharakte- selseitig beeinflussenden re einhergingen, sind in Kontexten in Vergangen- vieler Hinsicht bis heute heit und Gegenwart in prägend. Die vorliegende den Blick nimmt. Dies ist Studie zeigt am Beispiel verbunden mit der Hoff- der jüdischen Zeitschrift nung, dass es gelingt, Sulamith, wie die entstehenden bürgerli- eine Zukunft zu gestalten, in der alle Men- chen Weiblichkeitsvorstellungen in Ab- schen sich gleichermaßen frei entfalten grenzung zu den faktischen Realitäten von können, wie auch immer sie sich religiös Frauen entwickelt wurden und sich u.a. oder im Blick auf Geschlechterverhältnisse mithilfe einer entsprechenden Mädchenbil- verorten. dung durchsetzen konnten. Dabei wird deutlich, wie die entstehenden jüdisch- bürgerlichen Geschlechterverhältnisse ei- * * * nerseits von der Mehrheitskultur beein- flusst waren und diese andererseits mit
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