Geographien des Schwarzen Mittelmeers

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Geogr. Helv., 77, 193–206, 2022
https://doi.org/10.5194/gh-77-193-2022
© Author(s) 2022. This work is distributed under
the Creative Commons Attribution 4.0 License.

                       Geographien des Schwarzen Mittelmeers
                                                     Camilla Hawthorne
          University of California, Santa Cruz, Sociology & Critical Race and Ethnic Studies, Santa Cruz, CA, USA
                                 Correspondence: Camilla Hawthorne (camilla@ucsc.edu)

                                                     Published: 18 May 2022

Abstract. In the wake of the 2015 Mediterranean refugee            culturale“ nel cuore della civiltà europea, fonte di perico-
crisis, a growing number of scholars has increasingly turned       losa contaminazione razziale, e – in anni recenti – il più
to the „Black Mediterranean“ as an analytical framework for        mortifero luogo di attraversamento di confini al mondo. Il
understanding the historical and geographical specificities        Mediterraneo Nero non costituisce una rivendicazione di
of Blackness in the Mediterranean region. This work draws          differenza incommensurabile o di eccezionalità e il mio
upon and extends Paul Gilroy’s powerful theorizations              contributo attinge alle intuizioni offerte dalle geografie Nere,
of the Black Atlantic by asking how Blackness is con-              femministe e postcoloniali per sostenere che questa regione
structed, lived, and transformed in a region that has been         – attualmente in una posizione marginale nelle teorizzazioni
alternatively understood as a „cultural crossroads“ at the         globali dei razzismi usualmente orientate verso l’America
heart of European civilization, a source of dangerous racial       del Nord e l’Atlantico – è in realtà uno spazio relazionale che
contamination, and – more recently – as the deadliest border       sprigiona profonde intuizioni sull’organizzazione del mondo
crossing in the world. But the Black Mediterranean is not a        moderno. Le nuove realtà e prassi presenti nel Mediterraneo
claim to any incommensurable difference or exceptionalism.         Nero improntate a politiche di solidarietà, in molti casi,
In my talk, I draw on insights from Black, feminist, and           guidate da donne Nere, rivelano un grande potenziale di
postcolonial geographies to argue that the Mediterranean           sfida alla Nazione come costrutto etero-patriarcale e di
– which currently occupies a marginal position in global           ordine arborescente, inteso come famiglia razziale. Al di là
theorizations of racisms that are typically oriented on North      del loro impatto puramente regionale o metodologicamente
America and the Atlantic – is actually a relational space          nazionalista, tali sviluppi dovrebbero indurci a ripensare le
that offers profound insights about the organization of            categorie di razza, genere, cittadinanza e Nerezza su scala
the modern world. I argue that new solidaristic political          globale.
formations in the Black Mediterranean (which are, in
many cases, led by Black women) have the potential to              Kurzfassung. Seit der Flüchtlingskrise im Mittelmeerraum
challenge heteropatriarchal, arborescent constructions of          im Jahr 2015 wächst die Zahl der Wissenschaftler*innen,
nation-as-racial-family, and should prompt us to rethink the       die das „Schwarze Mittelmeer“ als Analyserahmen zum
categories of race, gender, citizenship, and Blackness on          Verständnis der historischen und geographischen Spezifitä-
a global (rather than purely regional or methodologically          ten des Schwarzseins in der Mittelmeerregion nutzen. Ihre
nationalist) scale.                                                Arbeiten beziehen sich auf Paul Gilroys (1993) einflussrei-
                                                                   che Theorie des Schwarzen Atlantiks bzw. erweitern diese,
Riassunto. Sulla scia della „crisi“ dei rifugiati nel Me-          indem sie fragen, wie Schwarzsein in einer Region kon-
diterraneo, dal 2015 è in costante aumento il numero di            struiert, gelebt und transformiert wird, die abwechselnd als
studiosi e studiose che si rivolgono al Mediterraneo Nero          „kulturelle Schnittstelle“ im Herzen der europäischen Zivili-
come quadro analitico per comprendere le specificità stori-        sation, als Quelle gefährlicher „rassischer Verunreinigung“
che e geografiche della Nerezza nella regione mediterranea.        oder – zuletzt – als tödlichster Grenzübergang der Welt
Questo lavoro attinge a e amplia le feconde teorizzazioni          verstanden wurde und wird. Aber das Schwarze Mittelmeer
di Paul Gilroy sull’Atlantico Nero interrogandosi sulla            erhebt keinen Anspruch auf irgendeine unvergleichbare
costruzione, il vissuto e le trasformazioni della Nerezza in       Differenz oder Ausnahmestellung. Gestützt auf Erkenntnisse
una regione caratterizzata in fasi alterne come „crocevia          aus der Schwarzen, feministischen und postkolonialen

Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
194                                                               C. Hawthorne: Geographien des Schwarzen Mittelmeers

Geographie behaupte ich, dass der Mittelmeerraum – der           diterranen Italiens und zum anderen die überwältigende Do-
in den üblicherweise auf Nordamerika und den Atlantik            minanz Schwarzer atlantischer Geographien und nordame-
ausgerichteten Rassismustheorien momentan nur eine Rand-         rikanischer Auffassungen von race in Gesprächen über das
position einnimmt – in Wirklichkeit ein relationaler Raum        Schwarzsein. Wie sollen in Italien lebende junge Menschen
ist, der tiefgreifende Erkenntnisse über die Organisation der    mit afrikanischem Hintergrund ihre ganz eigenen politischen
modernen Welt bietet. Ich behaupte, dass neue, solidarische      Subjektivitäten als Schwarze Italiener*innen artikulieren,
politische Formationen im Schwarzen Mittelmeer (die häufig       ohne die Existenz von Rassismus in Italien zu leugnen, die
von Schwarzen Frauen angeführt werden) das Potenzial             globalen Ausmaße anti-Schwarzer Ressentiments und rassi-
haben, die heteropatriarchalen, baumartigen Konstruktionen       fizierender Strukturbildung außen vor zu lassen oder Opfer
der Nation als „Blutsverwandtschaft“ infrage zu stellen, und     einer allzu romantischen Vorstellung von „Mediterranismus“
uns dazu bewegen sollten, die Kategorien race, Geschlecht,       zu werden? Besonders interessieren mich die Beziehungen
Staatsbürgerschaft und Schwarzsein im globalen (statt im         zwischen Nation und Staatsbürgerschaft, Italienischsein und
rein regionalen oder methodisch nationalen) Maßstab zu           Schwarzsein sowie zwischen nationaler italienischer Kultur
überdenken.                                                      und transnationalem Schwarzsein – alles umkämpftes Gelän-
                                                                 de, auf dem Diskurse über [Bluts-]Verwandtschaft, Abstam-
                                                                 mung und Geburtsrecht stets mit ins Spiel kommen.
1   Einleitung                                                      In meinem heutigen Vortrag werde ich Erkenntnisse aus
                                                                 der Schwarzen und postkolonialen feministischen Theorie
Vielen herzlichen Dank für die Einladung, heute vor Ihnen zu     und der Schwarzen Geographien zusammenführen, um über
sprechen. Es ist wirklich eine Ehre, die Geographica Helve-      die theoretischen und politischen Provokationen nachzuden-
tica Journal Lecture halten zu dürfen. Meinen Dank möch-         ken, die das Konzept des „Schwarzen Mittelmeers“ bietet. In-
te ich insbesondere Hanna Hilbrandt, Nadine Marquardt            folge der Flüchtlingskrise im Mittelmeerraum im Jahr 2015
und Timothy Raeymaekers aussprechen, die geholfen haben,         wird das Schwarze Mittelmeer von einer wachsenden Zahl
meinen Vortrag zu organisieren.                                  von Wissenschaftler*innen zunehmend als Analyserahmen
    In meiner Forschung untersuche ich, wie junge Schwar-        zum Verständnis der historischen und geographischen Spezi-
ze Aktivist*innen derzeit um die Entwicklung einer Sprache       fitäten des Schwarzseins in der Mittelmeerregion herangezo-
ringen, die den spezifischen Konturen von Rassismus und          gen. Diese Arbeiten beziehen sich auf Robert Farris Thomp-
Exklusion in Italien gerecht wird, aber auch versuchen, die      sons ([1984] 2010) und Paul Gilroys (1993) einflussreiche
gelebte Realität des Schwarzen Italiens in einem viel weiter     Theorie des Schwarzen Atlantiks bzw. erweitern diese, in-
gefassten globalen Kontext Schwarzer Diaspora zu verorten.       dem sie fragen, wie Schwarzsein konstruiert, gelebt und
Menschen mit afrikanischem Hintergrund, die in Italien ge-       transformiert wird in einer Region, die abwechselnd als „kul-
boren oder aufgewachsen sind, geht es nicht nur um den Zu-       turelle Schnittstelle“ im Herzen der europäischen Zivilisati-
gang zur nationalen Staatsbürgerschaft, sondern um die po-       on, als Quelle gefährlicher „rassischer Verunreinigung“ oder
litischen Kollektive, die sich durch ein gemeinsames Gefühl      – zuletzt – als tödlichster Grenzübergang der Welt verstan-
des Schwarzseins schmieden lassen – und darum, wie die-          den wurde und wird. Aber das Schwarze Mittelmeer erhebt
se Ausrichtung auf die Schwarze Diaspora zwangsläufig die        keinen Anspruch auf irgendeine unvereinbare Differenz oder
Grenzen der nationalen Staatsbürgerschaft als Mittel zur Mil-    Ausnahmestellung. Ich behaupte, dass der Mittelmeerraum –
derung der schwersten Kränkungen durch den italienischen         der in den üblicherweise auf Nordamerika und den Atlantik
racial state in Frage stellt. Gleichzeitig aber ist Schwarz-     ausgerichteten globalen Theorien zu Rassismen momentan
sein keine einheitliche, selbstevidente Kategorie. Wer ist das   eine Randposition einnimmt – genau genommen ein relatio-
„Schwarze Italien“ und wessen Interessen vertritt die neue,      naler Raum ist, der tiefgreifende Erkenntnisse über die Orga-
auf der Basis eines „Schwarzen Italienischseins“ mobilisier-     nisation der modernen Welt bietet. Es ist in der Tat dringend
te Politik? Was bewirkt diese neue Kategorie und wer könnte      erforderlich, dass wir anfangen, die USA und den Nordatlan-
unbeabsichtigt außen vor gelassen werden?                        tik bewusst zu provinzialisieren, wenn wir über die globale
    Da Schwarz-italienische Aktivist*innen über den italieni-    Geschichte von Rassismen sowie über Schwarze Subjekti-
schen Kontext hinaus nach Solidarität und politischer Inspi-     vität, Widerständigkeit und Lebendigkeit sprechen. Ich be-
ration Ausschau halten, stellt sich im Gegenzug zudem die        haupte, dass die neuen politischen Formationen im Schwar-
Frage, wo sie Italien auf der Landkarte der globalen Schwar-     zen Mittelmeer (die in vielen Fällen von Frauen angeführt
zen Diaspora einordnen, vor allem in dieser Zeit des weltwei-    werden) die heteropatriarchalen, stammbaumartigen (Malk-
ten Kampfes gegen anti-Schwarzen Rassismus. Meine Arbeit         ki, 1992) Konstruktionen nationaler Staatsbürgerschaft als
befasst sich mit dem produktiven Spannungsverhältnis, auf        „Blutsverwandtschaft“ infrage stellen können. Ihre Mobili-
das Schwarze Italiener*innen stoßen, wenn sie die Spezifi-       sierungsarbeit sollte uns alle auch dazu bewegen, die tücki-
ka Schwarzer Subjektivität (und des anti-Schwarzen Rassis-       schen Verflechtungen von anti-Schwarzem Rassismus, (Post-
mus) in Italien in Bezug auf zwei Phänomene artikulieren:        )Kolonialität und Grenzsicherung im globalen (statt im rein
zum einen den Mythos eines angeblich „farbenblinden“ me-

Geogr. Helv., 77, 193–206, 2022                                                     https://doi.org/10.5194/gh-77-193-2022
C. Hawthorne: Geographien des Schwarzen Mittelmeers                                                                       195

regionalen oder methodisch nationalen) Maßstab ernster zu        le meiner Schwarz-italienischen Genoss*innen entrechtet.
nehmen.                                                          Trotz der Tatsache, dass ich in Kalifornien zur Welt kam,
   Wenn ich feministische Theorien und Ansätze konkre-           während sie in Italien geboren oder aufgewachsen sind, bin
tisiere, so beziehe ich mich nicht allein auf die Frauen-        ich italienische Staatsbürgerin schlicht deshalb, weil auch
und Frauenbewegungsforschung, sondern im weiteren Sin-           meine Mutter als italienische Staatsbürgerin geboren wur-
ne auch darauf, wie vergeschlechtlichte diskursive Praktiken     de – ein weiteres Beispiel für die gegenseitige Verflechtung
normative Auffassungen von Nation als einer abstammungs-         von „Rasse“, Geschlecht, Verwandtschaft und Staatsbürger-
basierten „Blutsverwandtschaft“ durchdringen. Anders for-        schaft. Diese Parallelen und Dissonanzen zwischen meinen
muliert, in meiner Arbeit verstehe ich Geschlecht als ei-        Erfahrungen als Schwarze Italienerin und den Erfahrungen
ne leistungsfähige „Analysekategorie“ (Scott, 1986), die uns     meiner Gesprächspartner*innen bildeten die Grundlage für
helfen kann, Machtverhältnisse zu begreifen, die in den Ver-     eine Reihe gemeinsamer Projekte, die wir sowohl innerhalb
flechtungen und wechselseitigen Konstituierungen von race,       als auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebs entwickelt ha-
Geschlecht, Staatsbürgerschaft und Nation zum Ausdruck           ben.
kommen. Meine Arbeit basiert zudem auf feministischer Pra-          Mein Vortrag gliedert sich in vier Teile. Zuerst werde ich
xis. Als selbstidentifizierte Schwarze Italienerin habe ich      den Begriff des Schwarzen Mittelmeers erläutern und dar-
meine Forschung so organisiert, dass sie zwangsläufig re-        stellen, wie er sich auf das Konzept des Schwarzen Atlan-
flexiv, aber auch sensibel für Machtunterschiede ist. Die-       tiks bezieht und es in reparativer Absicht aufgreift (Sedg-
ser Ansatz stammt aus der feministischen Erkenntnistheorie       wick, 2003). Anschließend überlege ich, wie das Schwarze
und Forschungsethik (Collins, 2002; Haraway, 1988; Har-          Mittelmeer universalisierende Narrative verkompliziert, die
ding, 2004), die besagt, dass wir nicht nur immer von ir-        Schwarzsein ausschließlich über die Plantage und die Nach-
gendwo aus „wissen“, sondern, dass die Räumlichkeit des          wirkungen der Sklaverei interpretieren. Davon ausgehend
Wissens auch ein produktiver Ausgangspunkt der Theorie-          denke ich dann über die heikle, aber notwendige Aufgabe
bildung sein kann. Meine Mutter ist eine weiße Italienerin,      nach, Schwarzsein über die unterschiedlichen, aber mitein-
die in der Kleinstadt Trescore (ca. eine Stunde von Mailand      ander verbundenen Geographien und Geschichten rassifizie-
entfernt) aufwuchs; mein Vater ist Schwarzer Amerikaner,         render Strukturbildung hinweg zu übersetzen – eine Aufga-
geboren im ländlichen Virginia und aufgewachsen in Oak-          be, der sich Schwarz-italienische Aktivist*innen bereits heu-
land (Kalifornien). Sie lernten sich kennen, als mein Vater      te widmen. Mein Vortrag schließt mit einigen Lehren, die das
während seines Dienstes in der US-Armee nach Italien ge-         Schwarze Mittelmeer für antirassistische Kämpfe bereithält,
schickt wurde. Sie heirateten 1976 in Italien und gingen eini-   wie wir sie in der politischen Gegenwart überall auf der Welt
ge Jahre später nach Kalifornien, wo ich geboren wurde. Un-      erleben.
ser Haushalt war zweisprachig, und genau genommen habe
ich Italienisch früher gesprochen als Englisch. Und da mei-
ne Mutter die jüngste von dreizehn Geschwistern war, habe        2   Das Schwarze Mittelmeer
ich als Kind und Jugendliche jeden Sommer (und oft auch
den Winter) bei ihrer Familie in Italien verbracht. Damit will   Als analytischer Begriff bezieht „Schwarzes Mittelmeer“
ich sagen, dass mein Leben von einer tiefen Verbundenheit        sich auf die Arbeiten von Robert Farris Thompson und Paul
zum diasporischen Schwarzsein und zum Italienischsein ge-        Gilroy und fragt, wie wir uns das Schwarze Mittelmeer als
prägt wurde. Und weil mein weißer italienischer Großvater        einen weiteren Seeweg vorstellen können, auf dem Schwar-
in den italienischen Kolonialkriegen in Libyen gekämpft hat,     ze Subjektivitäten geformt, gelebt und angefochten werden.
bin ich sowohl mit dem transatlantischen Sklavenhandel als       Was bedeutet es, den Atlantik zu dezentrieren, d.h. nicht
auch mit der Geschichte des italienischen Kolonialismus auf      mehr als den einzigen Ort anzusehen, der die Schwarze Dia-
dem afrikanischen Kontinent verbunden. Im Verlauf meiner         spora hervorgebracht hat? Das Schwarze Mittelmeer, wie ich
Forschung war ich erstaunt über die weitreichenden Paral-        es verstehe, bietet uns eine Möglichkeit, uns mit den his-
lelen zwischen den Geschichten Schwarzer Italiener*innen         torischen und geographischen Besonderheiten der vielfälti-
in Italien und meinen eigenen Lebenserfahrungen, und ihre        gen Formen Schwarzen Lebens zu befassen, über alternati-
Einblicke haben mir letztlich geholfen, mich selbst und mei-     ve Genealogien und Technologien von Rassismen (und Wi-
ne Familie auf ganz neue Weise zu sehen.                         derstand) nachzudenken und alternative politische Horizon-
   Aber dennoch ließen sich die Varianten unseres italieni-      te jenseits des Nationalstaates zu entwickeln. Wir sollten im
schen Schwarzseins nicht immer ganz einfach miteinander          Blick behalten, dass Cedric Robinson in seinem Werk Black
in Deckung bringen. Ich habe das Privileg der mit einem          Marxism die Anfänge des racial capitalism faktisch im Mit-
amerikanischen Pass und der Zugehörigkeit zu einer Eliteu-       telmeerraum verortet – von den einflussreichen Handels- und
niversität in den USA einhergehenden relativ ungehinderten       Finanzzentren und Seerepubliken der italienischen Halbinsel
transnationalen Mobilität. Außerdem besitze ich die italie-      hin zur Plantagenwirtschaft und Sklavenarbeit auf den Mit-
nische Staatsangehörigkeit dank desselben abstammungsba-         telmeerinseln (Robinson, [1983] 2005). In der Tat hat Robin-
sierten Systems des jus sanguinis, das gleichzeitig so vie-      son „eine Konzeption des Schwarzen Mittelmeers als Vorbe-

https://doi.org/10.5194/gh-77-193-2022                                                     Geogr. Helv., 77, 193–206, 2022
196                                                                 C. Hawthorne: Geographien des Schwarzen Mittelmeers

dingung für den Schwarzen Atlantik und die Entstehung Eu-          Mittelmeerraum und den Geographien der Mittleren Passage
ropas entwickelt“, wie Robin D. G. Kelley in seinem Vorwort        zu ziehen.
zu Black Marxism ausführt, weil es bei der „Austreibung               Wir waren mit beiden Ansätzen unzufrieden und stellten
des Schwarzen Mittelmeers um die Erfindung Europas als             uns daher die Frage, wie sich die Analyse der „Flüchtlings-
eigenständiger, ,rassisch‘ reiner und allein für die Moderne       krise“ ändern würde, wenn wir das Mittelmeer als histori-
verantwortlicher Entität auf der einen und die Erfindung des       schen und gegenwärtigen Ort der Reproduktion des „Rassen-
negro auf der anderen Seite geht“ (Kelley, [1983] 2005:xix,        kapitalismus“ und Schwarzer Diaspora-Subjektivitäten zum
xiv)1 . Die heutige Literatur zum Thema Schwarzes Mittel-          Ausgangspunkt unserer Erzählungen machten. Form anzu-
meer setzt hier an, indem sie zeigt, dass das Schwarze Mittel-     nehmen begann unsere Zusammenarbeit durch zwei Sympo-
meer mehr als nur eine inzwischen überholte Vorbedingung           sien, die wir 2016 und 2017 an der Birmingham City Uni-
ist, die durch das nordatlantische System des racial capita-       versity im Rahmen der Einführung des ersten Black-Studies-
lism ersetzt wurde, sondern ein weiterhin aktiver Schauplatz       Studiengangs in Großbritannien organisierten. Ausgehend
der Reproduktion von Rassismen, Schwarzsein und Wider-             von den Ideen und Texten, die wir bei diesen Veranstaltungen
stand.                                                             entwickelt hatten, begannen wir dann mit der Arbeit an un-
   Die Auseinandersetzung mit diesen – über das Mittelmeer         serem gemeinsam herausgegebenen Sammelband The Black
verlaufenden – unumstößlichen historischen und bis heu-            Mediterranean: Bodies, Borders, and Citizenship (Proglio et
te fortbestehenden Verbindungen zwischen dem subsahari-            al., 2021).
schen Afrika und Italien ermöglicht, die europäische Moder-           Bevor ich fortfahre, möchte ich noch einen wichtigen Vor-
ne selbstkritischzu überdenken, da die Trennung zwischen           behalt anbringen – vor allem, da ich hier zu Geograph*innen
subsaharisch-afrikanischem Schwarzsein und dem Bild des            spreche! Bislang haben sich die Arbeiten, die explizit un-
Mittelmeerraums als dem Kessel, in dem die mutmaßlich              ter dem Banner „Schwarzes Mittelmeer“ entstanden sind,
weiße europäische Zivilisation zusammengebraut worden              größtenteils mit Italien befasst. Dies bedeutet nicht, Itali-
sein soll, infrage gestellt wird. Die Arbeit von Wissenschaft-     en ganz selbstverständlich als einen begrenzten nationalen
ler*innen wie Olivette Otele (2021) hat eindrucksvoll ge-          Raum anzusehen, sondern vielmehr, den Fokus darauf zu
zeigt, dass ein Wiedereinbeziehen der Komplexitäten von            richten, wie sich in Italien seit der Zeit der nationalen Ei-
Schwarzsein und Schwarzem Leben in die Geschichte der              nigung des Landes gegen Ende des 19. Jahrhunderts Vorstel-
euro-mediterranen Moderne dazu beitragen kann, die gefähr-         lungen von Staatsbürgerschaft und Differenz in Bezug auf
lichen Anmaßungen des europäischen ethnischen Absolutis-           die wahrgenommene eigene Grenzlage im Mittelmeerraum
mus zu untergraben. Und dies genau deshalb, weil der Mit-          herausgebildet haben. Aber die Geographien des Schwarzen
telmeerraum – von Hegel über Mackinder bis Braudel – vor           Mittelmeers beschränken sich keineswegs allein auf Italien.
allem als die politische, kulturelle und ökonomische Brutstät-     Es gibt faszinierende neue wissenschaftliche Studien zu Spa-
te Europas begriffen wurde, als eine Wiege der Zivilisation.       nien, Griechenland und Portugal. Und wie der Anthropolo-
   Das Forschungskollektiv, dem ich angehöre, das Black            ge Ampson Hagan (2017) anmahnt, muss Forschung zum
Mediterranean Collective, formierte sich infolge der „Migra-       Thema Schwarzes Mittelmeer auch die andere Seite des Mit-
tionskrise“, die der Mittelmeerraum 2015/16 erlebte. Als in-       telmeers miteinbeziehen. In seiner eigenen Arbeit befasst er
terdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftler*innen, die Ras-         sich beispielsweise mit der rassistischen Gewalt, der Schwar-
sismus, Kolonialismus, Schwarzsein und die italienische            ze Migrant*innen ausgesetzt sind, wenn sie auf ihrem Weg
Migrations- und Staatsbürgerschaftspolitik erforschen, stell-      zu den Südufern des Mittelmeers die Sahelzone und Saha-
ten wir fest, dass die meisten wissenschaftlichen und jour-        ra durchqueren. Dabei wirft er schwerwiegende Fragen auf,
nalistischen Kommentare zur Migrationskrise die vielfache          wie etwa nach der Reproduktion anti-Schwarzer Rassismen
Gewalt der europäischen Grenzregimes als Verletzungen ei-          auf dem afrikanischen Kontinent, dem Erbe des europäischen
nes abstrakten, universell geteilten Humanismus thematisier-       Kolonialismus oder der Ausweitung der EU-Grenzregimes
ten. Dieselben Berichte erwähnten kaum jemals die Tatsa-           auf Gebiete jenseits des Schengen-Raums. Kurzum, es gibt
che, dass die Menschen, die über die zentrale Mittelmeer-          noch viele weitere Geschichten zu erzählen.
route nach Italien kamen, in der Mehrzahl Schwarze Immi-
grant*innen aus dem subsaharischen Afrika waren (und in
vielen Fällen mit direkten post-/kolonialen Bezügen zu Itali-      3   Plantagenzukünfte und das Nachleben der
en) – oder wenn sie es erwähnten, dann eher am Rande und               Sklaverei
nicht als wesentlichen Aspekt der Geschichte. In den größ-
tenteils aus den USA stammenden Kommentaren, die das               Eine zentrale Forschungslinie der Black Studies und der
Schwarzsein der Geflüchteten und Asylsuchenden themati-            Schwarzen Geographien befasst sich damit, auf welche Wei-
sierten, zeigte sich häufig eine irritierende Tendenz, unkri-      se die rassistische Besitzsklaverei der Plantagenwirtschaft
tisch Analogien zwischen den aktuellen Geschehnissen im            die weiterhin anhand des Kriteriums rac organisierten räum-
                                                                   lichen Arrangements der Gegenwart prägt. Entstanden sind
   1 Alle Zitate aus dem Englischen übersetzt von Andrea Tönjes.   Arbeiten dieser Art mehrheitlich im nordamerikanischen

Geogr. Helv., 77, 193–206, 2022                                                       https://doi.org/10.5194/gh-77-193-2022
C. Hawthorne: Geographien des Schwarzen Mittelmeers                                                                           197

Kontext, was entscheidende Fragen aufwirft, inwieweit sich         Eine Darstellung des Nachlebens der Sklaverei muss sich
ihre wertvollen Erkenntnisse im Fanonschen Sinne (Fanon,        jedoch nicht darauf beschränken, vom Tod und Sterben
2007:5) auf das Schwarze Mittelmeer übertragen lassen.          Schwarzer Menschen zu berichten – man kann durchaus auch
Wissenschaftler*innen haben das Erbe der Sklaverei in den       das Leben im Nachleben hervorheben. In ihrer Konzeptua-
zeitgenössischen Konfigurationen des racial capitalism und      lisierung von „Plantagenzukünften“ (plantation futures) er-
der Akkumulation durch Enteignung sowie in den damit            kennt McKittrick (2011, 2013) das Fortbestehen der planto-
verbundenen rassifizierten Kategorien wie Eigentum, Arbeit      kratischen Logik an, während sie gleichzeitig versucht, ei-
und Wert nachgezeichnet. Andere haben untersucht, auf wel-      ne autopoetische Lesart zu vermeiden, die den Tod Schwar-
che Weise die Sklaverei in den heutigen physischen Land-        zer immer wieder aufs Neue rekapituliert und reproduziert.
schaften und Formen der soziopolitischen Organisation sedi-     Laut McKittrick (2016:6, 2020) zeigt die Arbeit von Wis-
mentiert bleibt, beispielsweise in den Disziplinierungs- und    senschaftler*innen wie Hartman zudem, wie die Verdingli-
Strafregimes, zu denen die miteinander verflochtenen Sys-       chung Schwarzer – wie sie in den Geographien der Mitt-
teme der polizeilichen Kontrolle, der Überwachung und der       leren Passage, der Sklaverei und der Plantage zum Aus-
Masseninhaftierung gehören.                                     druck kommt – auch „die Bedingungen geschaffen hat, un-
   Einige Theoretiker*innen haben die wechselseitige Ver-       ter denen Schwarzsein als rebellisch-diasporisch umformu-
wobenheit zwischen der Sklaverei und der Entwicklung            liert wurde“. Die Plantage ist, anders ausgedrückt, nicht nur
moderner ontologischer Kategorisierungs- und Hierarchi-         ein sozialräumlicher Disziplinierungsapparat, sondern auch
sierungssysteme nachgezeichnet, die bis heute den Zugang        eine politische Technologie der Subjektwerdung. Nach mei-
zum vollwertigen „Menschsein“ bestimmen. Schwarze Fe-           nem Verständnis präsentiert McKittrick eine Reihe von Ar-
minist*innen haben uns darauf aufmerksam gemacht, wie           gumenten zur Frage, was passiert, wenn wir die Geschichte
das moderne Verständnis von Geschlecht, Geschlechterdif-        der Sklaverei auch weiterhin und immer wieder so schreiben,
ferenz und damit verbundenen sozialen Systemen, wie etwa        als sei sie ausschließlich der Beginn des Sterbens und der
Verwandtschaft und heteropatriarchale Familie, in der Skla-     Unterdrückung Schwarzer und der Zerstörung des Schwar-
verei und der Entgeschlechtlichung Schwarzer Körper wäh-        zen Körpers gewesen:
rend der Mittleren Passage zum Ausdruck kamen. Andere
Wissenschaftler*innen haben sich mit der Frage befasst, wie          Die intellektuelle Arbeit der Würdigung komple-
sich gegenwärtige rassifizierte Ungleichheiten – bei Gesund-         xer auf race basierender Narrative, die das Kämp-
heit, Bildung, Inhaftierung[sraten], um nur einige Beispiele         fen gegen den Tod beim Namen nennen, kann pa-
zu nennen – auf die Gewalt der Sklaverei und der anderen aus         radoxerweise durch die analytische Rahmung, die
ihr hervorgegangenen „eigentümlichen Regelungen“ (Black              sich auf rassistische Gewalt konzentriert und diese
Codes, Convict Leasing, Jim-Crow-Gesetze, Segregation)               konkretisiert, untergraben werden. Die konzeptio-
zurückführen lassen. Und natürlich findet die Kontextuali-           nelle Schwierigkeit liegt darin, wie Beschreibun-
sierung der Sklaverei auch bei der Herausbildung Schwarzer           gen rassistischer Gewalt faktisch zur anhaltenden
Subjektivitäten, Schwarzen Widerstands und Schwarzer Re-             Fragmentierung menschlicher Beziehungen beitra-
bellion statt.                                                       gen (McKittrick, 2016:15).
   Diese breitgefächerte Forschung bietet also eine Reihe von      Dies bringt sie zu der Aussage, dass „Schwarzes Leben
Ansätzen, um darüber nachzudenken, wie die Plantagenskla-       – und nicht nur Schwarzes Überleben – die Moderne prägt“
verei unsere heutige Welt nach wie vor prägt. Saidiya Hart-     (McKittrick 2016:13, 2020).
man (2008:6) bezeichnet die Nachwirkungen der Sklave-              Die Geographie – und speziell eine Schwarze feministi-
rei bekanntermaßen als „rassifizierendes Kalkül und poli-       sche Praxis der Geographie, die auf Zusammenarbeit, Rela-
tische Arithmetik, die vor Jahrhunderten etabliert wurden“      tionalität und einer leidenschaftlichen Liebe zu Schwarzem
und das Leben Schwarzer auch weiterhin durch „ungleiche         Leben basiert – ist für McKittricks Darstellung der „Planta-
Lebenschancen, eingeschränkten Zugang zu Gesundheit und         genzukünfte“ von zentraler Bedeutung. In einem Gespräch
Bildung, vorzeitigen Tod, Inhaftierung und Verarmung“ in        mit Nick Mitchell hat sie kürzlich erklärt, dass wir uns da-
Gefahr bringen. Entscheidend für Hartman ist, dass das En-      vor hüten müssten, jede zeitgenössische Erscheinung oder
de der Sklaverei nicht Freiheit bedeutete, sondern die Umge-    Institution (z. B. die Universität) mit der Plantage in eins zu
staltung und Neukonfigurierung Schwarzer Knechtschaft in        setzen, sondern vielmehr darüber sprechen sollten, inwiefern
anderen Formen. Indem sie die vereinfachte, liberale teleolo-   moderne Systeme Ausdrucksformen plantokratischer Ideen
gische Erzählung einer historischen Entwicklung von Gefan-      in sich tragen (McKittrick und Mitchell, 2021). Dieser Schritt
genschaft und Leibeigenschaft hin zur Freiheit durchbricht,     scheint subtil, aber er ist von enormer Tragweite. Wie sie in
zeigt Hartman auf, wie wir uns mit dem Umstand auseinan-        On Plantations, Prisons, and a Black Sense of Place aus-
dersetzen können, dass das Erbe der Sklaverei bis zum heu-      führt:
tigen Tag in Form der „Abwertung Schwarzen Lebens als ir-
relevant [the ,unmattering of Black life‘]“ (Crenshaw, 2020)         . . . da die Plantage die Zukunft darstellt, durch die
nachwirkt.                                                           sich gegenwärtige rassistische Geographien und

https://doi.org/10.5194/gh-77-193-2022                                                     Geogr. Helv., 77, 193–206, 2022
198                                                                C. Hawthorne: Geographien des Schwarzen Mittelmeers

      Formen der Gewalt bemerkbar machen, sind es ge-             terschiedlich sich Schwarze Italiener*innen in Bezug auf die
      rade unsere kollektiven Plantagenzukünfte, in de-           Geschichte der transatlantischen Sklaverei positionieren.
      nen gebrochene und multiple (schwarze und nicht-               Abstammung: Ich bin Schwarze Italienerin aufgrund
      schwarze) Perspektiven auf Ort und Zugehörig-               ganz anderer Pfade als die meisten meiner Gesprächspart-
      keit gepflegt und diskutiert werden (McKittrick,            ner*innen in Italien – nämlich als Schwarze Amerikane-
      2011:950).                                                  rin, deren Vorfahr*innen sie mit dem transatlantischen Skla-
                                                                  venhandel verbinden, die aber zufälligerweise auch „ethni-
    Die Tatsache, dass Herrschaftssysteme niemals total sind,     sche“ Italienerin mit geburtsrechtlicher Staatsangehörigkeit
dass Geographien immer umstritten und veränderbar sind            ist. Zu Beginn meiner Forschung, als die Verwendung von
und dass Schwarzes Leben immer über rassistische Gewalt           Formulierungen wie „Schwarz-italienisch“ oder „afroitalie-
hinausgeht, ist von großer politischer Tragweite, weil sie im-    nisch“ noch recht zögerlich erfolgte, behaupteten einige mei-
pliziert, dass diese Brüche zu bedeutsamen Kampfschauplät-        ner Freund*innen in Italien, dass Vorsilben wie „Schwarz-
zen werden können.                                                “ oder „afro-“ nur im amerikanischen Kontext Sinn mach-
    Wenn wir diese eindrücklichen Erkenntnisse über die Viel-     ten, weil wir Schwarze Amerikaner*innen nicht wüssten, aus
fältigkeit Schwarzer Geographien – die von plantokratischen       welchem afrikanischen Land oder welcher ethnischen Grup-
Ideen und Räumlichkeiten zwar geprägt sind, aber gleichzei-       pe unsere Eltern stammten. Allerdings schien sich ihr Behar-
tig auch über sie hinausweisen – ernsthaft beherzigen wollen,     ren darauf, wie wichtig es sei, die Abstammung zu bestimm-
was passiert dann, wenn wir unseren analytischen Blick auf        ten afrikanischen Ländern zurückverfolgen zu können, zum
einen Teil der Welt richten, wo die meisten der dort leben-       einen implizit auf eine Form des anti-Schwarzen Rassismus
den Schwarzen tatsächlich keine Nachfahr*innen versklav-          zu berufen, die auf dem „Makel“ der Sklaverei beruht, zum
ter Menschen sind? Dies gilt für einen Großteil, wenn nicht       anderen reifizierte es die Bedeutung biologischer Verwandt-
gar für die überwiegende Mehrheit der Schwarzen Diaspo-           schaft – und damit ironischerweise dasselbe Prinzip, das ih-
ra im heutigen Europa, und daher ist diese Frage zu einem         ren eigenen Zugang zur italienischen Staatbürgerschaft ein-
zentralen Anliegen meiner Arbeit geworden. Sogar in Groß-         schränkt. In der Frühphase meiner Feldforschung habe ich
britannien, wo die Schwarze Bevölkerung einst vor allem           mir angewöhnt, auf die Frage „Aber wo genau in Afrika
aus Migrant*innen aus der Karibik bestand, die postkolo-          kommt die Familie deines Vaters her?“ mit einem Achselzu-
niale britische Untertan*innen waren und von Versklavten          cken zu antworten. Wenn man mich dazu drängt, könnte ich
abstammten, wird die Schwarz-karibische Bevölkerung heu-          hinzufügen „Wir wissen es nicht mit Sicherheit. Von irgend-
te zahlenmäßig bei weitem von Immigrant*innen aus afri-           wo in Westafrika, wahrscheinlich aus dem heutigen Ghana
kanischen Ländern und ihren Kindern übertroffen (Minority         oder Nigeria.“
Rights Group, 2015). Was die physischen Landschaften an-             Rhizome: Gleichzeitig waren viele andere Schwarze Ita-
belangt, so weisen europäische Länder nicht dieselben, mit        liener*innen, mit denen ich sprach, weniger daran interes-
„settlement-plantation geographies“ (King, 2015) verbunde-        siert, Schwarz-amerikanische und Schwarz-italienische Er-
nen Architekturen und Formen der materiellen sozialräumli-        fahrungen klar voneinander abzugrenzen, und dachten über
chen Anordnung auf. Dies liegt natürlich an der internationa-     lineare, geschlechtsbasierte Familienstammbäume hinaus,
len rassifizierten Arbeitsteilung, für die der transatlantische   um rhizomartige Beziehungsgeflechte und verschiedenste
Sklavenhandel steht – was Europa logischerweise auch den          Zugangswege zur Diaspora-Gemeinschaft zu berücksichti-
geographischen Taschenspielertrick ermöglicht, die Sklave-        gen. Der Gründerin der allerersten italienischsprachigen On-
rei als etwas abzutrennen, das „da draußen“ passiert ist, drü-    lineressource für die Pflege natürlicher Afrohaare war es bei-
ben in Amerika.                                                   spielsweise ein Anliegen, auf ihrer Internetseite auch Ge-
    Während des vergangenen Jahrzehnts konnte ich beobach-        schichten über den transatlantischen Sklavenhandel und die
ten, wie die Kinder afrikanischer Immigrant*innen in Italien      Haarpflegemethoden versklavter Schwarzer Frauen vorzu-
zunehmend begonnen haben, sich auf Basis einer eigenen po-        stellen, die Frisuren als Mittel des Widerstands nutzten. Zwar
litischen Subjektivität als „Schwarze Italiener*innen“ zu or-     betonte sie, wie wichtig es sei, für die Auseinandersetzung
ganisieren und zu mobilisieren. Und in diesem Prozess haben       mit Schwarz-italienischen Erfahrungen von Rassismus und
viele ein kompliziertes Verhältnis zur Geschichte der Skla-       Frauenfeindlichkeit eine spezifisch italienische Sprache zu
verei zum Ausdruck gebracht. Für die meisten Schwarzen            entwickeln, sah aber dennoch den transatlantischen Sklaven-
Italiener*innen stellt die Sklaverei keinen unmittelbaren Teil    handel ebenfalls als Teil ihrer eigenen Geschichte, da er der
ihrer persönlichen Geschichten dar (für die Kinder afrolatini-    Ausgangspunkt für die globale Verbreitung von Vorstellun-
scher Immigrant*innen in Italien sieht dies allerdings anders     gen über Schwarzsein und die Verkörperung von Geschlecht
aus). Ihre gemeinschaftlichen Narrative orientieren sich viel-    war (Frisina und Hawthorne, 2018; Hawthorne, 2019).
mehr an bestimmten afrikanischen Ländern, an Erfahrungen             Verwobene Raum-Zeiten: Schließlich ist die literarische
(post-/neo-)kolonialer Herrschaft und des Widerstands dage-       Arbeit Schwarzer Frauen in Italien ebenfalls zu einer er-
gen sowie an Familiengeschichten transmediterraner Migra-         giebigen Quelle der Auseinandersetzung Schwarzer Italie-
tion. Die folgenden drei kurzen Anekdoten zeigen, wie un-         ner*innen mit den atlantischen und mediterranen Entwick-

Geogr. Helv., 77, 193–206, 2022                                                      https://doi.org/10.5194/gh-77-193-2022
C. Hawthorne: Geographien des Schwarzen Mittelmeers                                                                      199

lungslinien des Schwarzseins geworden. Ein bemerkenswer-         und Luftaufnahmen von Migrantenbooten im endlosen Blau
tes Beispiel dafür ist das Buch La linea del colore (Scego,      des Mittelmeers nebeneinanderzustellen. Was bewirken die-
2020) der somalisch-italienischen Schriftstellerin Igiaba Sce-   se visuellen Vergleiche und welche Analysen lassen sie au-
go. La linea del colore verwebt die Geschichten von Lanafu       ßen vor?
Brown – einer Schwarzen Amerikanerin im 19. Jahrhundert,            Außerhalb Italiens gibt es eine Reihe von Wissenschaft-
Tochter eines afrohaitianischen Vaters und einer indigenen       ler*innen, die sich mit dem breiteren Spektrum von Be-
Mutter vom Volk der Chippewa, die schließlich in Rom zur         ziehungen zur Geschichte bzw. zum Nachleben der Plan-
weltbekannten Malerin wird – und Leila, einer somalisch-         tagensklaverei quer durch die globale Schwarze Diaspo-
italienischen Kuratorin, die 2019 eine Ausstellung der Ar-       ra auseinandersetzen. In einer faszinierenden ethnographi-
beiten Browns organisiert. Scegos Roman bietet einen wei-        schen Studie zeichnet der Anthropologe Bayo Holsey (2008)
teren Ansatz, wie sich die Geschichten transatlantischer und     beispielsweise nach, wie sich Schwarz-amerikanische Tou-
transmediterraner Überfahrten, der historischen Formen und       rist*innen auf der Suche nach ihren Wurzeln und Ghana-
Vermächtnisse des Kolonialismus sowie des Schwarzen Wi-          er*innen in oftmals ganz unterschiedlicher Weise auf die Ge-
derstands miteinander verweben lassen, ohne dass eine Seite      schichte der Sklaverei und die physischen Orte des Skla-
zu kurz kommt oder in der anderen verschwindet.                  venhandels an der ghanaischen Küste beziehen. Diese Art
   Durch diese drei Modalitäten – Abstammung, Rhizo-             von Arbeit ist mit einer Reihe von Fragen verbunden, die
me und verwobene Raum-Zeiten – ziehen sich tiefgehen-            die Black Diaspora Studies bewegen, nämlich, was Einheit
de Spannungslinien. Schwarze Italiener*innen sind bestrebt,      oder Verbundenheit in der Diaspora ausmacht, wie örtliche
die Unverwechselbarkeit ihrer gelebten Erfahrungen geltend       Besonderheiten bestimmte diasporische Beziehungen prägen
zu machen und gleichzeitig den Fallstricken eines italieni-      und wie sich Widerspruch und Spannungen in der Diaspo-
schen Exzeptionalismus zu entgehen, der den sich durch           ra ebenso häufig (wenn nicht gar häufiger) manifestieren als
seine Grenzen definierenden italienischen Nationalstaat mit      Harmonie und Einklang. In seinem Werk Dusk of Dawn hat
Aussagen wie „Wir können nicht rassistisch sein, weil es         Du Bois ([1940] 2011) beispielsweise versucht, auf der Kate-
bei uns keine Sklaverei und keine Jim-Crow-Gesetze gab“          gorie race basierende Verwandtschaft von biologischer Ab-
reifiziert. Wie soll man historische und geographische Be-       stammung zu lösen, und empfiehlt, Diaspora als Differenz
sonderheit würdigen, ohne dieselben verwandtschaftszerstö-       und eben nicht als Einheit zu denken. In ähnlicher Weise
renden Systeme der Entgeschlechtlichung zu reproduzieren,        schrieb Stuart Hall (1990), dass diasporische Einheit nicht
die Hortense Spiller in Mama’s Baby, Papa’s Maybe (Spil-         Identität bedeutet, sondern vielmehr eine komplexe Struk-
lers, 1987) diskutiert und die für die Gewalt während der        tur darstellt. Hall betonte die Erfahrung des Werdens in der
Mittleren Passage zentral waren (z. B. „Ihr seid nicht wie       Diaspora (im Unterschied zu einem statischen Sein), eine Er-
wir, weil ihr nicht wisst, woher ihr kommt“)? Wie lässt sich     fahrung, die die Subjektwerdung von Diasporaner*innen im
die globale Bedeutung der transatlantischen Sklaverei aner-      Herrschaftsraum eurozentrischer Repräsentation anerkennt.
kennen und gleichzeitig den Erzählungen Schwarzer Italie-        Mit anderen Worten, sowohl DuBois als auch Hall verstehen
ner*innen über ihre eigenen Erfahrungen – in denen die Skla-     Diaspora nicht als weit entfernten gemeinsamen Ursprung,
verei normalerweise nicht im Vordergrund steht – Geltung         sondern als Vermischung (Du Bois) oder Hybridität (Hall).
verschaffen? Einige neuere Forschungsarbeiten haben genau           Diese Überlegungen wurden von Wissenschaftlerinnen
dies versucht. Zu nennen sind hier beispielsweise Christi-       aus der Tradition des Schwarzen Feminismus aufgegriffen,
na Sharpes Überlegungen zum Schwarzen Mittelmeer in In           um die Art und Weise, in der das vorherrschende Verständnis
the Wake (Sharpe, 2016) und Grace Musilas (2020) Reflexio-       von Diaspora das diasporische Subjekt oft implizit als männ-
nen über das Nachleben der Sklaverei im literarischen Werk       lich vergeschlechtlicht, infrage zu stellen. Jacqueline Nas-
afrikanischer Immigrant*innen. Was mich jedoch weiterhin         sy Brown (2005) merkt beispielsweise an, dass Paul Gilroy
beunruhigt, ist, dass sich diese Arbeiten nicht immer umfas-     in The Black Atlantic den Schwerpunkt auf Seefahrt und die
send mit den affektiven und phänomenologischen Dimensio-         Atlantiküberquerungen von Männern setzt, wodurch wenig
nen dessen auseinandersetzen, was es für diese unterschied-      Platz dafür bleibt, auch die Schaffung diasporischer Räu-
lich lokalisierten Diaspora-Gemeinschaften tatsächlich be-       me durch Frauen anzuerkennen. Anders formuliert, Gilroy
deutet, mit den Nachwirkungen der Sklaverei zu leben, oder       nimmt die Realitäten des ungleichen Zugangs zu Mobilität
gar damit, wie dieses Leben danach im Kontext einer ganz         und die Vergeschlechtlichung des Ortes bzw. „des Lokalen“
bestimmten (in diesem Fall) italienischen Geschichte, also       als weiblich nicht in vollem Umfang zur Kenntnis. Über Dia-
jenseits eines breiteren Spektrums welthistorischer Transfor-    spora im Sinne von Differenz nachzudenken ist aber genau
mationen aussieht. Wie können wir den Austausch zu diesen        deshalb wichtig, weil, wie Brown (2009:201) schreibt, „das
Themen über den Bereich der theoretischen Abstraktion hin-       Assoziieren von Diaspora mit weltweiter Schwarzer Ver-
ausheben? All diese Fragen habe ich mir 2015/16 während          wandtschaft bestimmte Arten von Schwarzen Subjekten, Ge-
der „Flüchtlingskrise“ im Mittelmeerraum gestellt, als einige    schichten und Identitäten gewissermaßen unsichtbar machen
Beobachter*innen in den USA damit anfingen, das berühmte         kann.“
Diagramm des Sklavenschiffs „Brookes“ (siehe Wood, 2000)

https://doi.org/10.5194/gh-77-193-2022                                                     Geogr. Helv., 77, 193–206, 2022
200                                                              C. Hawthorne: Geographien des Schwarzen Mittelmeers

   Aus eben diesem Grund wendet sich Michelle Wright in         nung, Enteignung und Ausbeutung basieren, die beide Tei-
Physics of Blackness (Wright, 2015) gegen die vorherrschen-     le Amerikas, Europa und Afrika mit kontinentübergreifen-
den Narrative des Schwarzseins, die, basierend auf dem, was     der Gewalt aneinandergebunden haben (Lowe, 2015). Denn
sie als „Epistemologie der Mittleren Passage“ bezeichnet, ei-   wie Walter Rodney in How Europe Underdeveloped Africa
ne lineare Fortschrittserzählung beinhalten, welche „auf den    (Rodney, [1972] 2018) bekanntermaßen ausgeführt hat, ist
transatlantischen Sklavenhandel als den entscheidenden Mo-      die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels und sei-
ment [verweist], der Schwarze vom Land ihrer Ahnen ge-          ner Nachwirkungen letztlich keine rein amerikanische An-
trennt hat, und dann alle vorherigen und nachfolgenden Er-      gelegenheit, auch wenn der Begriff zumeist in Bezug auf
eignisse, von der Antike bis zum heutigen Tag, im Verhält-      die USA verwendet wird. Die Sklaverei entvölkerte und ver-
nis zur Mittleren Passage einordnet“ (Wright, 2006:139). In     wüstete die sozialen, ökonomischen, kulturellen und politi-
Europa, so ihr Argument, verliert die Mittlere Passage lang-    schen Systeme des afrikanischen Kontinents. Sie war mit der
sam an Bedeutung, weil die große Mehrheit der Schwarzen         Herausbildung eines rassifizierten Humanismus verbunden,
Europäer*innen nicht auf diesem Weg nach Europa gekom-          der zu den Grundfesten der globalen Moderne gehört. Ei-
men ist, sondern ihre vielfältigen Geschichten enger mit dem    ne neue Welle Schwarzer feministischer Forschung betont
Kolonialismus und dem zweiten Weltkrieg verbunden sind.         zudem, wie wichtig es ist, Untersuchungen zur Fungibili-
Gestützt auf Erkenntnisse aus der Schwarzen Queer Theo-         tät Schwarzer und der Enteignung Indigener in einer Weise
ry und dem Schwarzen Feminismus lehnt Wright die Suche          zusammenzuführen, die über das zur Unterscheidung zwi-
nach sicher belegbaren Ursprüngen und die dadurch bekräf-       schen rassistischer Sklaverei und Siedlerkolonialismus ver-
tigten patriarchalen, biozentrischen und baumartigen Model-     wendete Bild der Binarität von Arbeit und Land hinausweist
le abstammungsbasierter Verwandtschaft ab. Wie Brown ver-       – und zwar anhand der Formen körperlicher Enteignung, die
sucht auch Wright, Raum zu schaffen für „Definitionen des       Schwarze und Indigene Frauen erfahren haben (Day, 2021).
Schwarzseins, die nicht ausschließen, isolieren oder stigma-       Über den nordamerikanischen Kontext hinaus gedacht
tisieren“ – eine Aufgabe, die sie wegen der „zunehmenden        könnten uns diese Erkenntnisse auch dabei helfen, über
Ausbreitung von divers konstituierten Schwarzen Gemein-         die Verbindungen zwischen Sklaverei und kolonialem Er-
schaften und von Diversität zwischen Schwarzen Individuen,      be auf dem afrikanischen Kontinent nachzudenken und so-
deren Geschichten und gegenwärtiger Status als Schwarze         mit auch über die politisch-ökonomischen Bedingungen, die
,Bindestrich-Identitäten‘ überall auf der Welt Repräsentation   die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass afrikani-
und Inklusion beanspruchen“ (Wright 2015:5), für dringend       sche Migration über das Mittelmeer nach Italien ab Mitte
erforderlich hält.                                              des 20. Jahrhunderts möglich wurde. Diese Perspektiven-
   Sind also, wenn man all dies bedenkt, die Plantage und die   verschiebung lenkt unseren Blick auch auf die antikolonia-
Sklaverei sinnvolle Ansatzpunkte, um über die Politik(en)       len Kämpfe Schwarzer als von zentraler Bedeutung für die
des Schwarzseins in Italien nachzudenken? Dies hängt mit        Herausbildung Schwarz-europäischer Subjektivitäten. In der
einer Frage des Ausschnitts zusammen: Wenn wir die Nach-        Einleitung zu To Exist to Resist: Black Feminism in Europe
wirkungen der Sklaverei oder Plantagenzukünfte diskutieren,     weisen Akwugo Emejulu und Francesca Sobande (Emejulu
suchen wir dann nach direkten (räumlichen oder verwandt-        and Sobande, 2019:5) darauf hin, dass die Universalisierung
schaftlichen) Verbindungen oder weiter gefasst danach, wie      einer bestimmten Schwarz-amerikanischen Erfahrung in der
das System der Besitzsklaverei globale Systeme der rassifi-     Tat die „lange Geschichte antiimperialistischer Kämpfe von
zierenden Kategorisierung und Hierarchisierung geprägt hat?     Schwarz-europäischen Feminist*innen aus diversen europäi-
Anders ausgedrückt, wie können wir die Plantage konzeptua-      schen Imperien“ auslöschen könne.
lisieren, ohne entweder ihre Bedeutung auf eine Frage der          Zweitens wäre da noch die Tatsache, dass genau genom-
bio-genealogischen Verwandtschaft zu reduzieren oder sie        men viele der Plantagentechnologien in Kolonien im Mittel-
zu kaum mehr als einer vagen Metapher für anti-Schwarzen        meerraum erprobt wurden, bevor man sie über den Atlantik
Rassismus im Allgemeinen zu machen? Dies ist auch des-          exportiert hat. Wie Cedric Robinson in Black Marxism (Ro-
halb von Belang, weil europäische Politiker*innen laut Mau-     binson, [1983] 2005:102) anmerkt, war Italien ein wichtiger
rice Stierl (2019) Vergleiche mit dem transatlantischen Skla-   Knotenpunkt in jenen Netzwerken des Handels, intellektu-
venhandel heranziehen, um die Befestigung der Grenzen im        ellen Austauschs und kulturellen Schaffens, die miteinander
Mittelmeerraum zu legitimieren.                                 verbanden, was später als europäische, afrikanische, arabi-
   Ich bin immer noch dabei, diese Fragen in meiner eige-       sche und asiatische Welt bekannt werden sollte. Vor allem
nen Arbeit zu durchdenken. Aber ich sehe zwei mögliche          zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert bauten die italieni-
Wege, wie wir zu einer Antwort finden können. Der ers-          schen Seerepubliken ausgedehnte Handelsnetzwerke im gan-
te ist, dass wir über das durch den transatlantischen Skla-     zen Mittelmeerraum auf. Die Nutzung von Sklavenarbeit (die
venhandel eingeführte Weltsystem nachdenken – die „nord-        in diesem Kontext nicht allein Schwarzafrikanischer, sondern
atlantischen Universen“ (Trouillot, 2002), die faktisch auf     auch christlich-europäischer, muslimischer, jüdischer oder
ganz bestimmten, im Zentrum der Plantagenökonomien ste-         slawischer Herkunft sein konnte) war für die landwirtschaft-
henden materiellen Geschichten der rassifizierten Aberken-      liche Produktion in den italienischen Außenposten im Mit-

Geogr. Helv., 77, 193–206, 2022                                                    https://doi.org/10.5194/gh-77-193-2022
C. Hawthorne: Geographien des Schwarzen Mittelmeers                                                                        201

telmeerraum von zentraler Bedeutung (Davis, 2003). Dieses         Hottentotten-Venus“, undatiert) – obwohl sie nie nach Itali-
Wirtschaftssystem diente letztlich als Vorlage für den Ein-       en gebracht worden war. Trotzdem hat er durch das visuelle
satz versklavter Afrikaner*innen in den atlantischen Koloni-      Sezieren ihres Körpers (und dessen Vergleich mit den Kör-
en während des transatlantischen Sklavenhandels (Robinson,        pern süditalienischer Prostituierter) Theorien über Atavis-
[1983] 2005:16; Bono, 2016). Ein Hauptakteur in dem lukra-        mus und Kriminalität aufgestellt, die Italienischsein anhand
tiven Geschäft, das in rasantem Tempo vom Mittelmeerraum          der relativen Entfernung oder Nähe zu einem biozentrisch
und Maghreb über den Atlantik hinweg expandierte, war Ge-         verstandenen Schwarzen Frauenkörper konzipierten (Sòrgo-
nua (Robinson, [1983] 2005). Das Genueser Handelskapital          ni, 2003). Die gespenstische Präsenz Sarah Baartmans in den
diente als wichtiger Geld- und Kreditgeber der portugiesi-        Lombroso-Archiven verfolgt mich noch immer.
schen Krone und versorgte das portugiesische Bürgertum mit           Aus den genannten Gründen behaupte ich, dass wir das
Finanzmitteln, und zwar in einem Ausmaß, das letztlich „be-       Schwarze Mittelmeer nicht länger als eine (heute nicht
stimmend für Richtung und Tempo der ,Entdeckung‘“ (Ro-            mehr gegebene) Voraussetzung für eine auf den Nordatlan-
binson, [1983] 2005:104) in beiden Teilen Amerikas war.           tik konzentrierte rassistisch-kapitalistische Ordnung behan-
   Dieser zweite Ansatz ist genau genommen eine „Umkeh-           deln können. Ebenso reicht es nicht aus, sich der Dyna-
rung“ dessen, wie die Beziehung zwischen Sklaverei und            mik des heutigen Mittelmeerraums so anzunähern, als leite
globalem Schwarzsein üblicherweise dargestellt wird. Statt        sie sich schlicht aus den Nachwirkungen der Sklaverei des
zu fragen, ob wir Nordamerika und den Nordatlantik auf das        Schwarzen Atlantiks ab. Stattdessen ist es zwingend erfor-
Mittelmeer zurückspiegeln können, fordert er uns vielmehr         derlich, die permanente Reproduktion des Schwarzen Mit-
dazu auf, mediterrane Geographien wieder in unsere Erzäh-         telmeers in der Gegenwart zusammen mit all ihren anhalten-
lungen über die Geschichte des racial capitalism einzufügen.      den, nicht-linearen Verbindungen zum Schwarzen Atlantik
Das ist der Ansatz, den P. Khalil Saucier und Tyron Woods         (wie auch zum Schwarzen Pazifik und zum Schwarzen Indi-
aufgreifen, wenn sie behaupten, dass gegenwärtige Bewe-           schen Ozean) zu erforschen. Und dies bringt mich zu meinem
gungen „gegen Sklaverei“, deren Bezugspunkt die Flücht-           zweiten Untersuchungsbereich – nämlich der Frage, wie sich
lingskrise im Mittelmeerraum ist, die eigentliche Geschich-       Politiken der Diaspora übersetzen lassen.
te des anti-Schwarzen Rassismus und der Sklavenhaltung in
dieser Weltregion verdecken:                                      4   Übersetzungsarbeit und die Politik(en) der
   Anti-Schwarze Gewalt im europäischen Mittelmeerraum                Diaspora
hat ihren Ursprung im Handel mit afrikanischen Sklav*innen
zu Beginn des 15. Jahrhunderts und den anschließenden             Im Zuge meiner Forschung zur Schwarzen Diaspora in Ita-
„Entdeckungsreisen“, die die europäische Herrschaft über          lien ist mir in einigen Kommentaren zum Thema Schwarzes
die Küsten des Mittelmeers und Atlantiks weiter ausbauten.        Italien noch eine zweite Tendenz aufgefallen – sie verortet
Schon bald kauften die Europäer*innen Baumwolle und an-           die Anfänge Schwarzer Diaspora-Politik und Mobilisierung
dere Rohstoffe in Indien, um sie in Afrika gegen Sklav*innen      in den USA (bzw. alternativ in Nordamerika oder teilweise
einzutauschen, die in Amerika Gold fördern sollten, wodurch       auch in der Karibik), von wo aus sie sich ausgebreitet und die
vier Kontinente in kürzester Zeit in ein globales, auf rassis-    Schwarzen Gemeinschaften in Europa erreicht habe. Linea-
tischer Gewalt basierendes Akkumulationssystem eingebun-          re Narrative dieser Art wurden im Feld der Black European
den wurden (Woods und Saucier, 2015).                             Studies einer umfassenden Kritik unterzogen, vor allem von
   Beiden Ansätzen gemeinsam ist die Ablehnung jeglicher          Schwarz-europäischen Wissenschaftler*innen, die unseren
singulären, totalisierenden oder universalisierenden Logik        Blick auf die ungleiche Verteilung von Macht und Privilegi-
beim Versuch, die Politik des Schwarzseins in globalem            en innerhalb der Schwarzen Diaspora lenken. Beispielsweise
Maßstab theoretisch zu fassen. Beide verweisen darauf, wie        ist das Arbeitsgebiet Black Studies in den USA institutionell
wichtig es ist, sich sowohl mit unterschiedlich sedimentier-      stärker verankert als in Europa, was die Ökonomien der Wis-
ten Geschichten als auch mit deren vielfältigen globalen Ver-     sensproduktion über die Schwarze Diaspora so geprägt hat,
bindungen und Verflechtungen auseinanderzusetzen. Immer-          dass einige Schwarz-europäische Wissenschaftler*innen den
hin war Italien – um ein Beispiel zu nennen – Teil eines          umstrittenen Begriff einer „Schwarz-amerikanischen Hege-
globalen Systems des „Rassendenkens“ und der „Rassenfor-          monie“ ins Spiel gebracht haben. Dies ist zweifellos ein un-
schung“ im 19. und 20. Jahrhundert und eingebettet in trans-      angenehmes Thema, das zu jenen Spannungen führt, die in
nationale Netzwerke wissenschaftlicher Wissensproduktion,         dem bahnbrechenden Sammelband Black Europe and the Af-
die den Schwarzen weiblichen Körper als materielle Grund-         rican Diaspora (Hine et al., 2009) in Beiträgen von Darle-
lage zur Festlegung und Anfechtung der Grenzen rassifizier-       ne Clarke Hine (Hine, 2009), Gloria Wekker (Wekker, 2009),
ter nationaler Identität und Staatsbürgerschaft nutzte. Cesa-     Jacqueline Nassy Brown und Alexander Weheliye (Wehe-
re Lombroso, der heute als Begründer der modernen Krimi-          liye, 2009) diskutiert und erörtert werden.
nologie und als Italiens vielleicht berühmtester und produk-
tivster „einheimischer“ Rassentheoretiker gilt, hatte in seiner
Sammlung ein Gemälde der Sarah Baartman („Bildnis der

https://doi.org/10.5194/gh-77-193-2022                                                       Geogr. Helv., 77, 193–206, 2022
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