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SWP-Studie Susan Stewart Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 22 November 2020, Berlin
Kurzfassung ∎ Die derzeitige russische Führung legt großen Wert darauf, die über Jahrhunderte hinweg bestehende Kontinuität der russischen und sowje- tischen Geschichte zu betonen. ∎ Historische Brüche sind in der offiziellen russischen Darstellung der eigenen Geschichte unerwünscht und negativ konnotiert. ∎ Gepflegt wird eine Kultur des Sieges, vor allem aufgrund der sowjetischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, der in Russland »Großer Vaterlän- discher Krieg« genannt wird. ∎ Die russische Führung setzt historische Inhalte selektiv ein, um das Regime und seine Handlungen gegenüber der russischen Bevölkerung sowie externen Akteuren zu legitimieren. ∎ Der Wahrheitsgehalt historischer Botschaften ist zweitrangig im Ver- gleich zu der Frage, wie sie sich für Zwecke der politischen Legitimation gebrauchen lassen. ∎ Historische Inhalte werden insbesondere dazu genutzt, eine Verknüpfung zu heutigen politischen Entwicklungen herzustellen, zum Beispiel in der Ukraine.
SWP-Studie Susan Stewart Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 22 November 2020, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Verfahren der Begut- achtung durch Fachkolle- ginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review), sie werden zudem einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https:// www.swp-berlin.org/ueber- uns/qualitaetssicherung/. SWP-Studien geben die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2020 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-200 www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org ISSN 1611-6372 doi: 10.18449/2020S22
Inhalt 5 Problemstellung und Empfehlungen 7 Geschichtspolitik: Definition und Schwerpunkte 9 Umgang mit Kontinuität: Die ideale Geschichte ist ununterbrochen 9 Der Kontinuitätsdiskurs auf der rhetorischen Ebene 11 Betonung der Kontinuität auf der Handlungsebene 12 Die Verknüpfung von historischen Persönlichkeiten und dem fortdauernden Staat 14 Zwischenfazit 16 Umgang mit Brüchen: Unerwünscht und vom Ausland unterstützt 16 Die Revolutionen von 1917 18 Der Bürgerkrieg 1918–1921 und die gesellschaftliche Versöhnung 20 Revolutionäre Brüche und ausländische Einmischung 21 Zwischenfazit 23 Umgang mit Siegen: Krieg als Identitätsstifter 23 Offizielle Feierlichkeiten zum Gedenken an den Sieg 26 »Falsifizierung der Geschichte« 30 Einstellungen zu Josef Stalin 31 Stellenwert der Leningrader Blockade 32 Zwischenfazit 34 Schlussfolgerungen und Empfehlungen 37 Anhang 37 Relevante Akteure im Bereich der Geschichtspolitik 40 Abkürzungen
Dr. Susan Stewart ist Leiterin (a. i.) der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
Problemstellung und Empfehlungen Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands: Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst Die letzten Jahre haben deutlich vor Augen geführt, dass und wie die politische Elite in Russland auf his- torische Themen zurückgreift. Der vorläufige Höhe- punkt dieser Bezugnahme auf geschichtliche Ereig- nisse wurde für den 9. Mai 2020 erwartet, da an dem Tag der Sieg über das nationalsozialistische Deutsch- land mit der traditionellen Militärparade zum 75. Mal gefeiert werden sollte. Zwar hat das Coronavirus die Verschiebung der Feier erzwungen, so dass sie erst am 24. Juni stattfinden konnte; aber die Hast Putins, die Parade nachzuholen, unterstreicht, wie wichtig der Rückgriff auf Geschichtsthemen für die russische Füh- rung ist. Außerdem demonstriert diese Entwicklung die Tendenz, solche Themen mit aktuellen innen- politischen Ereignissen zu verknüpfen. In diesem Fall leitete die Parade eine Woche ein, in der über wesent- liche Änderungen der russischen Verfassung abge- stimmt wurde, die unter anderem ermöglichen, dass Putin 2024 erneut für das Präsidentenamt kandidiert. Gleichzeitig ist das Thema Zweiter Weltkrieg eng mit der russischen Außenpolitik verbunden. Auf dem Gipfel der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) im Dezember 2019 hielt Putin eine Rede, in der er vor allem Polen die Schuld am Beginn dieses Krieges zu- schrieb. Diese Rede hat eine Phase eingeleitet, in der sich die Beziehungen zu Polen aufgrund von Unter- schieden im historischen Diskurs rasant verschlech- tert haben. Zudem kann sie als Reaktion auf die Resolution des Europäischen Parlaments vom Septem- ber 2019 gelesen werden, die den Hitler-Stalin-Pakt verurteilt und sowohl kommunistische Regime als auch den Nationalsozialismus als totalitär bezeichnet und damit auf eine Stufe stellt. Mit seiner Rede ver- suchte Putin die Staatsoberhäupter der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken für seine Geschichts- deutung zu gewinnen und gleichzeitig gegen vor- herrschende Interpretationen innerhalb der Euro- päischen Union (EU) vorzugehen. Im offiziellen russischen Diskurs über Geschichts- fragen sind vornehmlich drei Botschaften erkennbar: Erstens wird die russische und sowjetische Geschichte als ein langer Fluss von Ereignissen und Entwick- SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 5
Problemstellung und Empfehlungen lungen gesehen, der als einheitliches Ganzes zu ver- stehen ist und eine hohe Kohärenz aufweist. Zweitens werden Brüche in diesem Fluss negativ konnotiert. Insbesondere revolutionäre Ereignisse werden als schädlich und von externen Akteuren angestoßen dar- gestellt. Drittens wird Russland als eine Siegernation beschrieben. Dabei dient namentlich der Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« 1941–1945 als sinn- stiftend für den Zusammenhalt des russischen Volkes und dessen Identifikation mit dem russischen Staat. Wie mit diesen Botschaften umgegangen wird, zeigt, dass die Behandlung der Geschichte für die russische Führung innen- wie außenpolitische Funk- tionen erfüllt. Innenpolitisch soll sie die Legitimität des Regimes stärken und die Bevölkerung um das Regime konsolidieren. Außenpolitisch soll die Beschäf- tigung mit historischen Themen unterschiedliche Narrative unterstützen. Zu diesen gehören die Cha- rakterisierung Russlands als Großmacht sowie das Störpotenzial ausländischer Akteure, denen die Hauptverantwortung für Brüche in der russischen Geschichte zugeschrieben wird. Schließlich werden diese Botschaften häufig mit der aktuellen Politik verknüpft. Das heißt, Diskurse über historische Entwicklungen werden benutzt, um aktuelle politische Narrative zu untermauern. Dies gilt vor allem für die Entwicklung in der Ukraine, aber auch für die Beziehungen zu Polen und anderen EU-Mitgliedstaaten. In diesem Sinne dient die Ge- schichte als Instrument, das für heutige politische Zwecke einsetzbar ist. SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 6
Geschichtspolitik: Definition und Schwerpunkte Geschichtspolitik: Definition und Schwerpunkte* Im deutschen Sprachraum ist der Begriff »Geschichts- Idee kaum aufgegriffen. Diejenigen, die in Wissen- politik« gut etabliert, wenn auch nicht frei von Kon- schaft und Praxis mit dem Phänomen zu tun haben, troversen. Er umfasst laut dem deutschen Historiker nutzen in der Regel den Begriff »politika pamjati« und Professor für Kulturgeschichte Stefan Troebst (Erinnerungspolitik bzw. politics of memory). Das zum einen ein Forschungsfeld, zum anderen ein heißt, sie fassen es als vielgestaltig und facettenreich Politikfeld, das gekennzeichnet ist durch den Umgang auf; es beschränkt sich nicht nur auf die Handlungen politischer Akteure mit »historischen« Ereignissen, des Staates, sondern bezieht in der Regel auch private Orten und Persönlichkeiten, mit Ausstellungen zur Rituale oder zivilgesellschaftliche Veranstaltungen Geschichte, Gedenktagen und Ähnlichem. Dabei lasse mit ein. sich ein »qualitativer Unterschied zwischen demo- Insofern als sich diese Analyse auf die offizielle kratisch verfassten Gesellschaften […] und autoritär Geschichtspolitik konzentriert, liegt ihr Schwerpunkt bis diktatorisch verfassten Gesellschaften« aus- auf staatlichen Akteuren und auf solchen, die vom machen: In ersteren wirkten staatliche wie nichtstaat- Staat ins Leben gerufen bzw. von ihm unterstützt liche geschichtspolitische Akteure, in letzteren »[hat] werden. 3 Die Akteure, die sich in Opposition zur offi- der Staat das Monopol auf Geschichtspolitik inne«. 1 ziellen Geschichtspolitik befinden, stehen nicht im In Russland werden für das Phänomen, das in Fokus der Analyse. In diesem Sinne bildet in der Tat dieser Studie untersucht wird, verschiedene Begriffe »istoričeskaja politika« im Verständnis Aleksej Millers debattiert, sowohl von Wissenschaftlerinnen und das Zentrum der Untersuchung. Wissenschaftlern als auch von Aktivisten und Aktivis- Ein Blick auf den russischen Kontext zeigt, dass tinnen. Der russische Historiker Aleksej Miller hat historische Inhalte in vielen Politikfeldern präsent versucht, den Terminus »istoričeskaja politika« und relevant sind. Diese Studie analysiert ihrer drei: (Geschichtspolitik) in den russischen Diskurs einzu- die Bildungspolitik, die Kulturpolitik und die Außen- führen, um vor allem auf den offiziellen Umgang politik. Die Verknüpfungen zwischen Geschichte mit Geschichte hinzuweisen. 2 Allerdings wurde diese und Außenpolitik sind zum Beispiel bei der völker- rechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim sowie bei den russischen Aussagen zu Polens Rolle im * Ich möchte Felix Krawatzek für seine sehr hilfreichen Zweiten Weltkrieg offensichtlich geworden. Dass Kommentare zu einer früheren Fassung des Textes herzlich Bildung(-spolitik) von grundlegender Bedeutung ist für danken. Auch Anastasia Vishnevskaya-Mann und Julia Mierau bin ich für ihre Hilfe bei der Recherche und der die Vermittlung historischer Sachverhalte, etwa Formatierung des Manuskripts sehr dankbar. Zitate aus durch Geschichtsunterricht, leuchtet ein. Es geht aber englischsprachigen und russischsprachigen Quellen hat die gleichermaßen um den Umgang mit Geschichts- Autorin übersetzt. wissenschaft und ihren Vertreterinnen und Vertre- 1 Stefan Troebst, »Geschichtspolitik«, 4.8.2014, (Zugriff am 24.10.2020). politik zu berücksichtigen, weil sie unterschiedliche Neben einer Geschichte des Begriffs findet sich hier eine Aktivitäten wie die Errichtung von Denkmälern, die hilfreiche Auseinandersetzung mit dem Begriff inklusive Gestaltung von Feiertagen und die Finanzierung von einschlägiger Literatur. Kunstformen zu historischen Themen beinhaltet. 2 Siehe zum Beispiel Aleksej Miller, »Rossija: vlast’ i istorija« [Russland: Macht und Geschichte], Polit.ru, 25.11.2009, 3 Detaillierte Informationen zu den hier behandelten (Zugriff am 24.10.2020). Akteuren sind im Anhang zu finden (S. 37ff.). SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 7
Geschichtspolitik: Definition und Schwerpunkte Ausgangspunkt der Analyse dieser drei Politik- felder ist die Frage, wie mit der Idee von historischer Kontinuität umgegangen wird, wie mit Brüchen in der Geschichte bzw. mit Siegen. Hierbei wird sowohl die Rhetorik führender russischer Politikerinnen und Politiker untersucht als auch Handlungen, die historische Inhalte vermitteln. Die geschilderten Beispiele stehen stellvertretend für allgemeine Ten- denzen in der russischen Geschichtspolitik. Auf dieser Grundlage wird der zentralen Frage dieser Studie nachgegangen: Welche Funktionen erfüllt die Geschichte für die russische Führung? Schließlich kann beurteilt werden, welchen Platz die Geschichts- politik in dem breiteren Rahmen der Innen- und Außenpolitik im heutigen Russland einnimmt. Der Untersuchungszeitraum umfasst die letzten sechs Jahre, da die Annexion der Krim durch Russ- land und seine Unterstützung der Besetzung von Teilen des Donbas eine Zäsur bilden, die auch für den Umgang mit historischen Fragen wichtige Implikatio- nen hat. In einigen Fällen wird zudem auf frühere Zeiträume rekurriert, wenn dies für die Erläuterung eines bestimmten Phänomens oder Trends sinnvoll erscheint. Im Folgenden werden drei Botschaften näher betrachtet, die staatliche Akteure in Bezug auf die Geschichtsdeutung vermitteln. Sie betreffen die russische Geschichte in ihrer Gesamtheit sowie zwei herausragende Ereignisse, nämlich die Oktoberrevo- lution als Beispiel für einen Bruch im Fluss der russischen Geschichte sowie den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Der Umgang mit diesen beiden Ereignissen ist bezeichnend für den Stellenwert von Brüchen bzw. Siegen in der russischen Geschichtspolitik. In allen drei Fällen wird herausgearbeitet, wie histori- sche Inhalte als Instrument eingesetzt werden, um derzeitige innen- wie außenpolitische Zwecke zu erreichen. SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 8
Der Kontinuitätsdiskurs auf der rhetorischen Ebene Umgang mit Kontinuität: Die ideale Geschichte ist ununterbrochen Alle einschlägigen staatlichen Akteure betonen die Medinskij spricht von »Anerkennung der Kontinuität Kontinuität der russischen bzw. sowjetischen Ge- [preemstvennost’] der historischen Entwicklung vom schichte. Dies macht sich besonders auf der rhetori- Russischen Reich über die UdSSR [Union der Sozia- schen Ebene bemerkbar, schlägt sich aber auch listischen Sowjetrepubliken] hin zum heutigen Russ- auf der Handlungsebene nieder. Die Botschaft der land«. Dabei verbindet er die Idee von Kontinuität mit Kontinuität erfüllt mehrere Funktionen: Auf innen- dem Konzept der Versöhnung, die in der aktuellen politischer Ebene stärkt sie die Legitimität des herr- russischen Geschichtspolitik ebenfalls eine maßgeb- schenden Regimes sowie diejenige Putins, weil sie liche Rolle spielt (siehe S. 18ff). Außerdem zeigt seine seine Person und das Regime, das er verkörpert, als Formulierung, dass es ihm nicht darum geht, die Teil einer jahrhundertelangen Tradition darstellt. sowjetische Phase auszublenden und direkt an das Außenpolitisch wird die Kontinuität mit dem Status zaristische Russland anzuknüpfen, sondern darum, Russlands als Großmacht verknüpft. Aus Sicht der eine ununterbrochene Linie durch die Jahrhunderte russischen Elite impliziert dieser bestimmte Ver- bis zum heutigen Regime zu ziehen – das somit pflichtungen für andere Akteure, wie sie sich Russ- legitimiert wird. Das gegenwärtige Regime wird als land gegenüber auf der internationalen Bühne zu das (vorläufig) letzte in einer Reihe von Modellen verhalten haben. Eine Großmacht dürfe Ansprüche aufgefasst, die die Existenz und Weiterentwicklung stellen (z. B. auf eine hegemoniale Rolle in ihrer des russischen bzw. sowjetischen Staates gesichert Nachbarschaft) und sollte von anderen internationalen und gefördert haben. So wird der russischen Bevölke- Akteuren mit Respekt und Achtung behandelt werden. rung nahegebracht, dass sie vom herrschenden Diese Haltung ist nicht neu, wird jedoch durch die Regime geschützt wird, das im Interesse der Bürge- Beschäftigung mit der Geschichte untermauert. rinnen und Bürger handelt. Im außenpolitischen Rahmen hat Außenminister Sergej Lawrow die Kontinuität wiederholt unter- Der Kontinuitätsdiskurs auf strichen. Ein Beispiel hierfür ist sein vielfach beach- der rhetorischen Ebene teter Artikel in der einflussreichen Zeitschrift Russia in Global Affairs vom März 2016. 5 Interessant ist dabei Die Botschaft einer durchgehenden und vor allem positiv konnotierten Kontinuität vermittelt etwa Versöhnung Russlands], Lenta.ru, 20.5.2015, (Zugriff am und damit qua Funktion einer der Schlüsselakteure 24.10.2020). Die Thesen beziehen sich auf die Frage des der Geschichtspolitik, zudem selbst studierter Histori- Umgangs mit der »Großen Oktoberrevolution«. ker. Sie ist in der ersten seiner fünf Thesen enthalten, 5 Sergej Lawrow, »Istoričeskaja perspektiva vnešnej politiki die er im Mai 2015 bei einer Veranstaltung im Rossii« [Historische Perspektive der Außenpolitik Russlands], Museum für Zeitgeschichte in Moskau erläuterte. 4 in: Russia in Global Affairs, 3.3.2016, ; Sergey Lavrov, »Russia’s Foreign Policy 4 »Dokument dnja: Platforma nacionalnogo primirenija in a Historical Perspective«, in: Russia in Global Affairs, Rossii« [Dokument des Tages: Plattform der nationalen 30.3.2016,
Umgang mit Kontinuität: Die ideale Geschichte ist ununterbrochen nicht nur die enge Verknüpfung zwischen histori- tigen internationalen Entscheidungen eine Schlüssel- schen Fragen und Außenpolitik, sondern auch rolle spielen. Laut Lawrow hat die Geschichte be- die Entscheidung, den Artikel in einer Zeitschrift zu wiesen, dass Russland in der Lage sei, diese Rolle zu veröffentlichen, die auf Russisch und auf Englisch übernehmen, und mehr noch: Wenn man von diesen erscheint. Der Aufsatz war also offensichtlich auch Ratschlägen abweiche, könne dies negative Konse- oder sogar primär für ein ausländisches Publikum quenzen für die Stabilität Europas haben. Deutlich bestimmt. Der erste Abschnitt des Artikels ist mit wird auch, dass die russische Führung nicht bereit ist, »Die Kontinuität der Geschichte« überschrieben, was sich mit negativen Aspekten der russischen Geschichte in sich selbst eine starke Botschaft ist. zu beschäftigen, sondern Siege und Errungenschaften Lawrow greift einige Aspekte von Kontinuität auf, herausgreift, um Russland im europäischen Kontext die aus Sicht der russischen Führung für die heutige in ein positives Licht zu stellen. Insgesamt wird durch Rolle Russlands auf der internationalen Bühne eine selektive Auseinandersetzung mit der eigenen wichtig sind. Er betont vor allem die Epochen der Geschichte die Legitimität gegenwärtiger außenpoliti- russischen Geschichte, in denen Russland eine scher Entscheidungen gestärkt, insbesondere gegen- bedeutsame und einflussreiche Rolle für die Entwick- über fremden Mächten, mit denen Russland zu tun hat. lung Europas gespielt habe. Dabei wiederholt er die Diese Betonung der Kontinuität der russischen Behauptung, dass es oft unmöglich war, bei zentralen Geschichte ist nicht nur bei russischen Regierungs- Entscheidungen auf Russland zu verzichten. Auch mitgliedern zu finden, sondern auch im präsidentiel- die europäische Natur Russlands hebt er hervor, len Diskurs. Im Dezember 2017 bei einer Veranstal- ebenso seine Fähigkeit zur Modernisierung. Gleich- tung der Allrussischen Volksfront (ONF) 6 erklärte zeitig weist Lawrow auf den besonderen russischen Wladimir Putin: »Wir haben ein neues Land gebaut, Charakter dieser Entwicklung hin sowie auf die wir haben ein starkes unabhängiges Russland wieder- zahlreichen Versuche fremder Mächte, Russland in hergestellt, wir haben gelernt, unsere Interessen seiner Entwicklung zu behindern. Trotz dieser Ani- mit Nachdruck zu verteidigen, wir haben die Macht mositäten sei es Russland bzw. der Sowjetunion und die Kontinuität unserer gemeinsamen Geschichte gelungen, immer wieder zu Frieden und Stabilität in erkannt, den Wert unserer Errungenschaften, die Europa beizutragen. Indem er die Kontinuität unter- Zuverlässigkeit unserer Geschlossenheit.« 7 Wie später streicht, geht es Lawrow offensichtlich darum auf- gezeigt werden wird, ist die Verknüpfung zwischen zuzeigen, dass spezielle, Russland zugeschriebene dem Verlauf der Geschichte und der Geschlossenheit Eigenschaften Bestand haben, ferner darum, auf das des Staates und der Gesellschaft ein Kernelement der Verhaltensmuster externer Mächte hinzuweisen, offiziellen Deutung der Geschichte. die Russland seiner Ansicht nach schaden wollen. Auf Die Idee der historischen Kontinuität wird zuneh- diese Weise werden außenpolitische Schlüssel- mend in offiziellen Dokumenten verankert. In der botschaften historisch eingebettet und durch den Nationalen Sicherheitsstrategie der Russischen Föderation Bezug auf die Geschichte bekräftigt. erscheint sie als ein Aspekt russischer Werte. In einer Auflistung »traditioneller russischer geistiger und Durch die selektive Auseinander- ethischer Werte« wird unter anderem »die Kontinuität setzung der russischen Führung der Geschichte unseres Vaterlandes« aufgeführt. 8 mit der Geschichte wird die Legitimität aktueller außen- 6 Die Allrussische Volksfront (ONF) ist eine im Jahr 2011 politischer Entscheidungen gestärkt. gegründete Organisation, die zwar offiziell »über politischen Parteien« steht, aber de facto als Stütze für die herrschende Zudem wird klar, dass Lawrow eine bestimmte Partei »Einiges Russland« fungiert. An der Spitze der Organi- Deutung von Geschichte nutzt, um die heutige außen- sation steht seit 2013 Putin selbst. politische Rolle Russlands zu rechtfertigen und um zu 7 »Putin zajavil o vosstanovlenii silnoj nezavisimoj Rossii« skizzieren, welchen Umgang mit Russland durch [Putin erklärt die Wiederherstellung eines starken unabhän- andere Mächte er für angebracht hält. Auf Russland gigen Russlands], RIA Novosti, 19.12.2017, (Zugriff am 24.10.2020). 8 Gudrun Persson, »The Patriotic Great Power – History and National Security in Russia«, in: Andris Sprūds/ foreign-policy-in-a-historical-perspective/> (Zugriff jeweils am Diāna Potjomkina (Hg.), Coping with Complexity in the Euro- 24.10.2020). Atlantic Community and Beyond, Rīga Conference Papers 2016, SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 10
Betonung der Kontinuität auf der Handlungsebene Der starke Rückgriff auf sogenannte traditionelle Die Ausstellung begann im November 2013 als Werte im Diskurs russischer politischer Akteure einmalige Möglichkeit, sich mit verschiedenen Perio- in den letzten Jahren weist darauf hin, dass eine sol- den der russischen und sowjetischen Geschichte zu che Auflistung nicht pro forma geschieht, sondern beschäftigen, und zwar in der zentralen Ausstellungs- durchaus politisch relevant ist. 9 Hinzu kommt, dass halle »Manege« nahe des Kremls in Moskau. Seit 2015 das Konzept der Kontinuität auch in die russische ist sie in Moskau auf dem Ausstellungsgelände WDNKh Verfassung aufgenommen worden ist. Artikel 67.1 (Große Errungenschaften der Nationalen Wirtschaft) wurde folgender Passus hinzugefügt: »Die Russische zu sehen – einem Gelände, auf dem zu Sowjetzeiten Föderation, geeint durch eine tausendjährige Waren und Technologien aus verschiedenen Sowjet- Geschichte, die Erinnerung an die Vorfahren wah- republiken präsentiert wurden. Seit 2017 sind rend, die uns ihre Ideale und ihren Glauben an Gott ähnliche »historische Parks« in mehreren anderen weitergereicht haben sowie die Kontinuität der russischen Regionen entstanden, um ein breiteres Entwicklung des russischen Staates, würdigt die his- Publikum anzusprechen. torisch entstandene staatliche Einheit.« 10 Es ist problemlos möglich, die Ausstellung an Die Bedeutung einer ununterbrochenen Geschichte mehreren Orten gleichzeitig zu zeigen, weil sie kom- ist also sowohl in Schlüsseldokumenten als auch in plett auf historische Artefakte, Dokumente und der Rhetorik verschiedener hochrangiger politischer dergleichen verzichtet. Stattdessen besteht sie aus Akteure fest etabliert. wandgroßen Bildschirmen und Panoramen, die relevante Szenen und Informationen aus drei Perio- den der russischen Geschichte vorstellen, interaktiv Betonung der Kontinuität auf und multimedial: aus der Dynastie der Rjurikiden, 11 der Handlungsebene derjenigen der Romanow-Familie, schließlich aus der sowjetischen und postsowjetischen Phase. So wird Außerhalb der Sphäre der Rhetorik, auf der Hand- fast die gesamte Geschichte des Landes bzw. Imperi- lungsebene, wird die Botschaft der Kontinuität zum ums seit dem 9. Jahrhundert bis 2016 an einem Ort Beispiel in der Ausstellung »Russland – Meine geschildert. Ausgelassen wird lediglich die sogenannte Geschichte« vermittelt. Die Inhalte dieser Ausstellung Zeit der Wirren (smuta) zwischen 1598 und 1613. sind von enormer Bedeutung – nicht nur als Nach- Praktischerweise befindet sie sich zwischen dem weis offizieller Positionen im Hinblick auf historische Ende der Rjurikiden- und dem Beginn der Romanow- Sachverhalte, sondern auch, weil die Ausstellung Dynastie, weswegen ihre Abwesenheit in der Aus- im ganzen Land präsent ist und Millionen von russi- stellung nicht sonderlich auffällt. schen Bürgerinnen und Bürgern erreicht. Gleichzeitig Diese Aufmachung erlaubt nicht nur die parallele gewährt sie aufschlussreiche Einblicke in die Zu- Präsentation der Ausstellung an verschiedenen Orten, sammenarbeit zwischen Staat und Russischer Ortho- sondern auch die einfache Veränderung der Inhalte, doxer Kirche (ROK) bei Geschichtsthemen. indem Filme und Präsentationen ausgetauscht werden. Ferner kann sie technisch auf dem neuesten Stand gehalten werden. Riga: Latvian Institute of International Affairs, 2016, S. 117–128, (Zugriff am 24.10.2020). russische Führung und die Russische 9 Zu diesen Werten gehören z. B. Heterosexualität und das Orthodoxe Kirche eng zusammen. Recht der Eltern, ihre Kinder körperlich zu bestrafen. Siehe Melissa Hooper, »Russia’s ›Traditional Values‹ Leadership«, Die Initiative für die Ausstellung ging von der ROK London: The Foreign Policy Centre, 24.5.2016, (Zugriff am für Kultur, der 2010 ins Leben gerufen wurde und 24.10.2020). dem Bischof Tichon (mit weltlichem Nachnamen 10 »Konstitucija Rossijskoj Federacii. Polnyj tekst so vsemi Schewkunow) vorsteht. Die Regierung der Stadt Mos- popravkami« [Die Verfassung der Russischen Föderation. Der komplette Text mit allen Änderungen], in: Vedomosti, 10.3.2020, Kiewer Rus. Im östlichen Teil ihres Reiches stellten sie bis (Zugriff am 24.10.2020). 1598 die Moskauer Zaren und Großfürsten. SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 11
Umgang mit Kontinuität: Die ideale Geschichte ist ununterbrochen kau unterstützte das Vorhaben. Später kam auch Die Betonung der historischen Kontinuität zeigte die Administration des Präsidenten hinzu, zumindest sich einmal mehr bei der Einweihung eines Denkmals für einige der regionalen Ausstellungen. Die Rechte für Wladimir I., die im November 2016 auf dem Roten an der Ausstellung wurden der »Stiftung für Humani- Platz in Moskau stattfand. Wladimir I. war der Herr- täre Projekte« übertragen. Der Vorsitzende des scher der Kiewer Rus im 10. Jahrhundert; unter ihm Expertenbeirats dieser Stiftung ist ebenjener Bischof ist der Staat der Kiewer Rus zum Christentum konver- Tichon. Geleitet wird sie von einem ehemaligen tiert. Daher verwundert es nicht, dass nicht nur Putin, Berater der Gasprom, Iwan Jesin. Die Doppelrolle des der damalige Premierminister Dmitrij Medwedew Bischofs belegt, dass kirchliche Strukturen großen und Verteidigungsminister Sergej Schojgu an der Ein- Einfluss auf die Ausstellung hatten und haben. Das weihung teilgenommen haben, sondern auch hoch- wirkt sich insofern auf ihren Inhalt aus, als dass rangige Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche. in allen Ausstellungsteilen explizit und positiv auf die Patriarch Kirill hat das Denkmal eingesegnet. Dies ist Rolle der Kirche eingegangen wird. Finanziert hat ein weiteres Beispiel für die Verwobenheit von Staat die Ausstellung nach Jesins Aussage die Firma Norilsk und Kirche, wenn es um geschichtliche Themen geht. 13 Nickel, die drei russischen Oligarchen gehört Putin erklärte bei der Zeremonie in Bezug auf (Wladimir Potanin, Oleg Deripaska und Roman Wladimirs Entscheidung, das Christentum in der Abramovich). Kiewer Rus einzuführen: Bereits 2017 zählte die Ausstellung über vier Millio- nen Besucherinnen und Besucher. Zurzeit ist sie in »Diese Wahl [zugunsten des Christentums] war die mindestens 16 Regionen für Interessierte zugänglich. gemeinsame geistige Quelle für die Völker Russ- Hinzu kommt der häufige Besuch von Schulklassen, lands, Belarus’ und der Ukraine und hat die Grund- die durch die Ausstellung geführt und denen die lagen unserer moralischen Standards und Werte- von den Ausstellungsverantwortlichen gewünschten prioritäten gelegt, die unsere Leben bis heute prägen. Inhalte beigebracht werden. 12 Auf diese Weise wird Es waren eine starke Moral, Solidarität und Einheit, zahlreichen russischen Bürgerinnen und Bürgern die unseren Vorfahren geholfen haben, Schwierig- vermittelt, dass ihr Land über eine positive Entwick- keiten zu überwinden und Siege zum Ruhm des lung und eine kontinuierliche Geschichte verfügt. Vaterlandes zu erzielen, um es mit jeder Generation Dies bildet die Grundlage für weitere Botschaften, die stärker und größer zu machen. Heute ist es unsere auf die Legitimität des herrschenden Regimes und Pflicht, gemeinsam zeitgenössischen Herausforde- die Priorität des Staates über die Gesellschaft abzielen. rungen und Bedrohungen zu begegnen und unser spirituelles Erbe sowie unsere unschätzbaren Tra- ditionen der Einheit und der Harmonie zu nutzen, Die Verknüpfung von historischen um vorwärts zu gehen und die Kontinuität unserer Persönlichkeiten und dem fort- tausendjährigen Geschichte zu bewahren.« 14 dauernden Staat Für Putin reicht die Kontinuität der Geschichte also Eine weitere Funktion der Kontinuitätsthese besteht mindestens bis ins 10. Jahrhundert zurück. Außer- darin, dass sie Wladimir Putin in eine Gruppe von dem weist die Wahl Wladimir I. darauf hin, dass die mächtigen Herrschern einreiht, die vor ihm (und wie russische Führung selektiv vorgeht und sich diejeni- er) auf ein mächtiges und gefürchtetes Russland gen historischen Persönlichkeiten heraussucht, die hingearbeitet haben. Dies ist nicht nur für Putin zu ihrer Deutung der eigenen Geschichte passen, und selbst, sondern auch für andere Teile der russischen dabei auf ganz unterschiedliche Epochen zurück- Elite wichtig, da es dem Regime zusätzliche Legiti- mität verleiht. 13 Zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Russland siehe Uwe Halbach, Kirche und Staat in Russland. Nationale und außenpolitische Akzente von Orthodoxie, Berlin: Stiftung Wissen- 12 »›Bez panegirikov carjam‹: projekt ›Rossija – moja schaft und Politik, April 2019 (SWP-Studie 8/2019), (Zugriff am 24.10.2020). Kritikern in Schutz genommen], RIA Novosti, 13.12.2017, 14 »Monument to Vladimir the Great Opened in Moscow (Zugriff am on Unity Day«, Kremlin.ru, 4.11.2016, (Zugriff am 24.10.2020). SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 12
Die Verknüpfung von historischen Persönlichkeiten und dem fortdauernden Staat greift. Die Entscheidung für Wladimir war besonders es allerdings nicht ausschließlich um territoriale kontrovers, gilt er doch auch als herausragende Figur Gewinne, sondern auch darum, die Integration der der ukrainischen Geschichte. Dementsprechend betroffenen Staaten in die Nato und die EU zu ver- wurde in der Ukraine die Errichtung des Denkmals just hindern. Bei Erfolg könnte dies zur Rückkehr der ent- vor den Toren des Kremls als Affront gewertet. Sie sprechenden Staaten in den russischen Orbit führen, demonstriert die Absicht der russischen Führung, die was einem Zuwachs an Territorium fast gleichkäme. russische und die ukrainische Geschichte nicht Das würde die Rolle Russlands als Großmacht festigen voneinander getrennt zu betrachten, sondern sie als und an seine Rolle in der Geschichte anknüpfen. gemeinsame zu präsentieren. Die Verknüpfung zwischen dem einstigen Reich und der heutigen Großmacht kommt in der (quasi) Durch die Betonung von Kontinuität offiziellen Rhetorik explizit zum Ausdruck. Als Beispiel kommen Aspekte wie Territorium kann ein Zeitungsartikel des ehemaligen Putin- und militärische Macht ins Spiel. Beraters Wladislaw Surkow vom 11. Februar 2019 Das einstige Reich wird mit dienen, der Russland als historisch determiniertes der heutigen Großmacht verknüpft. Imperium darstellt: Die Betonung von Kontinuität erlaubt ferner, »Es haben sich Wege einer Staatsbildung geöffnet, Aspekte wie Territorium und militärische Macht her- die nicht von importierten Chimären gelenkt wird, vorzuheben und damit die siegreiche Nation in den sondern von der Logik historischer Prozesse, von der Blick zu nehmen. So kehrt das Narrativ zurück zum ›Kunst des Möglichen‹. Der unmögliche, nicht- Thema Großmacht, zu deren wesentlichen Merk- natürliche und kontrahistorische Zerfall Russlands malen aus russischer Sicht Territorium und militäri- wurde entschieden gestoppt, auch wenn dies ver- sche Stärke gehören. Russland ist seit Jahrhunderten spätet geschah. Gefallen von der Ebene der UdSSR von der Landmasse her der größte Staat der Welt. auf die Ebene der RF [Russischen Föderation], hörte Diese Größe und die Verteidigung der Grenzen haben Russland auf zu zerfallen, begann sich wiederherzustellen zumindest in der Vergangenheit eine erhebliche und kehrte zu seinem natürlichen und einzig möglichen militärische Macht erfordert, die heute wieder ausge- Zustand einer großen, wachsenden und Länder sammeln- baut und eingesetzt wird. Niemand kann Russland den Gemeinschaft der Völker zurück. Die unbescheidene der Größe und der militärischen Macht, die es in Rolle, die unserem Land in der Weltgeschichte der Vergangenheit besessen hat, berauben; von daher zugedacht wurde, erlaubt es nicht, die Bühne zu ist die Geschichte für die russische Führung ein verlassen oder in der Masse zu schweigen, sie [die sicherer Hafen, in den man immer wieder zurück- Rolle] bedeutet keine Ruhe und determiniert den kehren kann, um ein positives Image des Landes schwierigen Charakter der hiesigen Staatlich- zu verbreiten und den Nationalstolz anzufeuern. keit.« 17 Die Glorifizierung erfolgreicher Phasen des mili- tärischen und territorialen Ausbaus korreliert mit den Surkow gilt als einer der informellen Ideologen Idealzielen der heutigen russischen Führung, einen des heutigen Regimes, 2006 hat er den Begriff »souve- neuerlichen Ausbau des Territoriums unter Einsatz räne Demokratie« erfunden; seine Sichtweise ist ernst militärischer Macht voranzutreiben. 15 In der Tat gibt zu nehmen als wichtiger Baustein im gegenwärtigen es Anzeichen dafür: die Stationierung von Truppen in Diskurs. Hinzu kommt, dass Surkow bis Februar 2020 Georgien, der Republik Moldau und auf der Krim zuständig war für die Beziehungen zu den sogenannten sowie die militärische Unterstützung der sogenannten Volksrepubliken im Donbas sowie für das Verhältnis Separatisten im ukrainischen Donbas. 16 Hierbei geht 15 Siehe zum Beispiel Walter Russell Mead, »The Return of Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2018 (SWP- Geopolitics. The Revenge of the Revisionist Powers«, in: Studie 19/2018), (Zugriff am (Zugriff 24.10.2020). 24.10.2020). 17 Hervorhebungen der Autorin. Vladislav Surkov, »Dolgoe 16 Zur Stärke und zu den Funktionen dieser Truppen- gosudarstvo Putina« [Der langwährende Staat Putins], in: kontingente siehe Margarete Klein, Russlands Militärpolitik im Nezavisimaja, 11.2.2019, (Zugriff am 24.10.2020). SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 13
Umgang mit Kontinuität: Die ideale Geschichte ist ununterbrochen Russlands zu Abchasien und Südossetien 18. Seine Obrigkeit [d. h. nach der Orangen Revolution in der Worte über den »einzig möglichen Zustand einer Ukraine 2004–2005] hat versucht, ein Narrativ zu großen, wachsenden und Länder sammelnden Gemein- etablieren, das die zaristische, die sowjetische und die schaft der Völker« sind daher auch im Hinblick auf postsowjetische Vergangenheit in einer Reihe ›gut- diese Territorien zu verstehen und lassen vermuten, artiger Staaten‹ vereint, die die offensichtlichen Brüche dass Russland die »Volksrepubliken« im Osten der zwischen den Phasen der russischen Geschichte Ukraine weiterhin unterstützen wird. 19 Surkows Aus- vernachlässigt. Dieser staatsbezogene Ansatz, der alles sagen illustrieren einmal mehr, wie die Geschichte Progressive in der russischen Geschichte den Bemü- gedeutet wird, um Russlands Handlungen im heuti- hungen des Staates zuschreibt, hat in zeitgenössi- gen internationalen Geschehen zu rechtfertigen. schen Deutungen einen neuen Höhepunkt erreicht.« 21 Ein zweiter wichtiger Aspekt von Surkows Artikel Surkow stellt sicher, dass nicht nur der Staat, sondern im Sinne der Kontinuitätsthese ist seine Beschreibung auch sein Oberhaupt gebührend gewürdigt wird. des Putin’schen Regimes als etwas, das Putin über- Entscheidend ist jedoch Ersteres: die Betonung der dauern wird. Er bettet das Regime ein in eine Reihe herausragenden Rolle des Staates in der russischen historischer Regime, die Russland über die Jahr- Geschichte, denn sie impliziert eine Hierarchie, in der hunderte erlebt hat, und stellt Putin damit auf eine der Staat eindeutig über der Gesellschaft steht. Stufe mit Herrschern wie Iwan III., Peter dem Großen und Wladimir Iljitsch Lenin. Von diesen vier »Staats- modellen« sagt er: »Geschaffen von Menschen, in Zwischenfazit den Worten Gumilews ›eines langen Willens‹, haben diese großen politischen Maschinen, eine der anderen Die Hervorhebung der Kontinuität als Komponente folgend, sich dabei reparierend und adaptierend, der offiziellen russischen Geschichtspolitik erfüllt über Jahrhunderte die beharrliche Bewegung der mehrere innen- und außenpolitische Funktionen für russischen Welt nach oben gesichert.« 20 die herrschende Elite. Erstens stärkt sie die Legitimität des heutigen Regimes, indem es in eine lange Reihe Dem Staat wird eine herausragende mächtiger Herrscher gestellt wird. Diese verbindet Rolle in der russischen Geschichte nicht nur das Regime mit seinen Vorgängern, sondern zugeschrieben. Er stehe auch Wladimir Putin mit früheren Führungsfiguren eindeutig über der Gesellschaft. wie seinem Namensvetter Wladimir I. oder Peter dem Großen. Zweitens konsolidiert die Botschaft der Darüber hinaus setzt Surkow mit seinem Artikel Kontinuität (so sie denn akzeptiert wird) die russische einen Trend fort, den der russische Historiker und Gesellschaft um die Idee der Zugehörigkeit zu einem Professor an der Europäischen Universität in Sankt Staat, der seit vielen Jahrhunderten existiert und Petersburg Ivan Kurilla bereits 2010 ausgemacht hat: Hindernisse stets überwunden hat, um sich weiterzu- die Betonung des Staates als positiver Treiber der rus- entwickeln und sein Fortbestehen zu sichern. Wer sischen Geschichte. Kurilla schreibt: »Die postorange diese Interpretation akzeptiert, so die Logik der russi- schen Führung, wird weniger dazu neigen, den Staat und das Regime in Frage zu stellen, zum Beispiel 18 Diese beiden Teilregionen Georgiens werden seit 2008 durch Proteste und Dissens. Und sie fügt sich in einen von Russland als unabhängige Staaten betrachtet. 19 Die Ersetzung Surkows durch Dmitrij Kosak im Februar staatlichen Diskurs ein, der Repressalien gegen 2020 sollte nicht als Aufweichung der Kreml-Linie vis-à-vis Oppositionelle befürwortet, sofern diese als Staats- der Ukraine gedeutet werden; außerdem ist nicht ausge- oder Regimefeinde angesehen werden. schlossen, dass Surkow ein politisches Comeback plant, wie in der Vergangenheit bereits geschehen. 20 Surkov, »Dolgoe gosudarstvo Putina« [wie Fn. 17]. Lew 21 Ivan Kurilla, Rethinking the Revolutionary Past. How Color Gumilew (1912–1992) war ein russischer bzw. sowjetischer Revolutions Have Led to New Interpretations of Russian History, Historiker und Ethnologe, der den Begriff »Passionarität« Washington, D. C.: Institute for European, Russian and entwickelte. Darunter verstand er eine Reihe von Stadien, Eurasian Studies (IERES), The George Washington Univer- die jedes Volk (sowie seine Führer) durchläuft. »Menschen sity’s Elliott School of International Affairs, April 2010 eines langen Willens« waren solche, die die Traditionen (PONARS Eurasia Policy Memo Nr. 99), (Zugriff am 24.10.2020). SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 14
Zwischenfazit Die außenpolitischen Funktionen dieser Botschaft berühren ebenfalls Fragen der Legitimität. Die fort- dauernde Existenz des russischen Staates unter mäch- tigen Herrschern impliziert aus russischer Sicht, dass externe Akteure Russland Respekt zollen und seine Führungsfiguren im außenpolitischen Kontext entsprechend behandeln sollten. Ein Auseinander- fallen des russischen Staates erscheint in diesem Rahmen undenkbar, stellt gleichsam ein Tabuthema dar. Schließlich wird Russland in seiner Rolle als Großmacht bestätigt, zu der es aufgrund seiner jahr- hundertelangen Geschichte prädestiniert sei. Dies wird nicht bloß der russischen Gesellschaft vermittelt, sondern ebenso externen Akteuren – in der Erwar- tung, dass sie Russland diese Rolle zugestehen. SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 15
Umgang mit Brüchen: Unerwünscht und vom Ausland unterstützt Umgang mit Brüchen: Unerwünscht und vom Ausland unterstützt Die Betonung von Kontinuität in der russischen (und vertreter und -vertreterinnen versucht sein, künftig sowjetischen) Geschichte impliziert eine positive stärker auf die historische Karte zu setzen, um die Assoziation mit Stabilität bzw. setzt sie voraus. Brüche Zustimmung in der Bevölkerung zu erhöhen. in diesem Fluss sind Störfaktoren, die Entwicklung Sowohl Außenminister Lawrow als auch der da- und Fortschritt behindern. Wie die russische Führung malige Kulturminister Medinskij haben sich bemüht, mit solchen Brüchen umgeht, lässt sich am Beispiel die Bedeutung der Revolution als Bruch in der Konti- der offiziellen Auseinandersetzung mit den Revolutio- nuität der russischen Geschichte herunterzuspielen. nen von 1917 und den auf sie folgenden Ereignissen Das weist auf eine einheitliche Regierungslinie zu aufzeigen. Dabei geht es nicht nur um die Revolutio- diesem Thema hin. Lawrow schrieb 2016: »Im Kontext nen im Februar und Oktober 1917, sondern auch um des hundertsten Jahrestages der Russischen Revolution den Bürgerkrieg von 1918 bis 1921, ferner um den erscheint es sehr wichtig, die Kontinuität der rus- ausländischen Einfluss auf diese Ereignisse und die sischen Geschichte zu verinnerlichen, aus der es un- Frage, wie dieser heute gedeutet wird. möglich ist, irgendwelche separaten Phasen heraus- zutrennen […].« 23 Medinskijs Einschätzung fällt komplexer aus. In seiner Rede vom Mai 2015 (siehe Die Revolutionen von 1917 S. 9) verweist er auf die Revolution als »einen Versuch der Errichtung einer gerechten Gesellschaft auf Die Botschaften von offizieller Seite zur Oktober- Erden«, der »die Wege der historischen Entwicklung revolution gehen weit über die postulierte Stabilität Russlands verändert hat«. Gleichzeitig hebt er hervor: und Kontinuität in der Geschichte des Landes hinaus: »Die letzten 100 Jahre haben gezeigt, dass eine Sie haben viel mit Versöhnung, Konsolidierung lebendige Kontinuität in der Entwicklung des Landes und der Rolle externer Akteure zu tun. Hier wie bei existiert vom Russischen Reich hin zur Sowjetunion der Betonung der historischen Kontinuität erfüllt und weiter – zur Russischen Föderation.« 24 Diese der Umgang mit der Geschichte innen- und außen- beiden Zitate sind ein Indiz für die ambivalente politische Funktionen. Innenpolitisch spielt der Einstellung der russischen Führung zur Oktober- Zusammenhalt der Gesellschaft sowie deren Unter- revolution. Diese Ambivalenz hat dazu geführt, dass stützung des Regimes eine zentrale Rolle. Beides die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag dieses für ist außenpolitisch ebenfalls von Belang, da das Regime ebenso äußeren Einflüssen gegenüber gefes- tigt werden soll, was einfacher zu erreichen ist, wenn ein hohes Maß an gesellschaftlicher Unterstützung für das Regime gegeben ist. Weil diese jüngst durch die Corona-Krise gesunken ist, 22 könnten Regime- 5.6.2020, (Zugriff am 24.10.2020). 23 Lawrow, »Istoričeskaja perspektiva« [Historische Per- spektive] [wie Fn. 5]. 22 Maria Snegovaya/Denis Volkov/Stepan Goncharov, »The 24 »Platforma nacionalnogo primirenija« [Plattform der Coronavirus Could Hit Putin Most of All«, in: Foreign Policy, nationalen Versöhnung] [wie Fn. 4]. SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 16
Die Revolutionen von 1917 Russland und die Sowjetunion durchaus prägenden Einheit« umbenannt. Gefeiert wird seitdem der Sieg Ereignisses bescheiden ausgefallen sind. 25 über polnische Truppen im Jahr 1612; an diesem Tag wurde Moskau von den Besatzungskräften befreit. Das heutige Regime hegt offenbar Außerdem wird des Endes der Zeit der Wirren Sympathien für das zaristische (1598–1613) gedacht, einer Periode, in der die Thron- Russland. An revolutionäre Brüche nachfolge umstritten war. Die Bezeichnung des wird nur ungern erinnert. Feiertags bezieht sich auf die gesellschaftliche Einheit, die Voraussetzung war für den Sieg über die pol- Erst im Dezember 2016 wurde eine Kommission nischen Truppen, der wiederum Russlands Staatlich- eingesetzt, um Pläne für das Erinnerungsjahr zu keit in dieser schwierigen Phase verteidigte. Ab 1613 entwickeln. Schon dieser späte Schritt spricht für die begann die Zeit der Romanow-Dynastie, die bis niedrige Priorität der Ereignisse von 1917 für das zu den Revolutionen von 1917 andauerte. So wurde herrschende Regime. Dadurch wurde insbesondere versucht, die Aufmerksamkeit vom alten sowjeti- die Februarrevolution, die zur Abdankung Zar schen Feiertag und der Oktoberrevolution wegzu- Nikolaus’ II. führte, offiziell kaum behandelt. Dies lenken und einen russischen Sieg gegen eine auslän- lässt erstens auf Sympathien im heutigen Regime dische Armee in den Mittelpunkt zu stellen. Um- für das zaristische Russland schließen, zweitens auf fragen zeigen allerdings, dass dies nur bedingt seine Abneigung gegen revolutionäre Brüche. Die gelungen ist. Fast die Hälfte der Befragten (48 Prozent) Oktoberrevolution, deren Ergebnis die Gründung der empfand den Tag nicht als Feiertag, nur 12 Prozent Sowjetunion durch die Bolschewiken war, erfuhr konnten seine genaue Bezeichnung nennen. 27 etwas mehr Aufmerksamkeit. Offenbar befürchtete Die offiziellen Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag die russische Führung, eine Vernachlässigung dieser der »Großen Oktoberrevolution« waren nicht nur Ereignisse von (offizieller) politischer Seite könnte gedämpft, sondern auch »verzerrt«. Am 7. November dazu führen, dass andere Akteure deren Deutung fand ein Umzug auf dem Roten Platz statt, gestaltet prägen. Naheliegend war zum Beispiel, dass die Kom- als Rekonstruktion einer Parade von Soldaten im Jahr munistische Partei durch ihren Umgang mit dem 1941, die anschließend direkt an die Front fuhren. Jahrestag die Revolutionen in ein wesentlich positi- Auf diese Weise wurde der Revolutionsfeiertag veres Licht rücken könnte, als der politischen in eine Würdigung des russischen Sieges im Zweiten Führung des Landes lieb gewesen wäre. Weltkrieg umgewandelt (siehe S. 23ff). 28 Ansonsten In der Tat würdigten die heutigen Kommunisten blieb das offizielle Engagement auf einige wenig die Ereignisse von 1917, indem sie am 7. November sichtbare Projekte und Veranstaltungen begrenzt; einen Umzug durch das Zentrum Moskaus organisier- Priorität wurde den Vorschlägen eingeräumt, ten. 26 Zu sowjetischen Zeiten war dieses Datum als die keine zusätzlichen Mittel benötigten. 29 Mit der wichtigster offizieller Feiertag fest im Kalender Umsetzung wurden regimenahe Organisationen verankert. Unter Putin wurde der Feiertag auf den betraut, etwa die Stiftung »Geschichte des Vater- 4. November verlegt und in »Tag der Nationalen 25 Ivan Kurilla, History and Memory in Russia during the 100- Year Anniversary of the Great Revolution, Washington, D. C.: 27 Wadim Schatalin, »Počti polowina rossijan ne sčitaet IERES, Januar 2018 (PONARS Eurasia Policy Memo Nr. 503), Den narodnogo edintswa nastojaščim prazdnikom« [Fast die ; für einen richtigen Feiertag], Deutsche Welle, 3.11.2017, Ekaterina Makhotina, »Erinnern und Vergessen: Wie Russ- (Zugriff am 24.10.2020). land heute der Oktoberrevolution gedenkt«, in: Russland- 28 Shaun Walker, »Tragedy or Triumph? Russians Agonise Analysen, (6.11.2017) 343, S. 2–4, (Zugriff 17.12.2016, 26 Ivan Nechepurenko, »Communists Mark Russian (Zugriff am 24.10.2020). Revolution’s Centenary in Moscow«, in: The New York Times, 29 Lisa Miller/Sofja Samochina, »Est na revolutsiju zatraty« 7.11.2017, (Zugriff am 13.2.2017, (Zugriff am 24.10.2020). SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 17
Umgang mit Brüchen: Unerwünscht und vom Ausland unterstützt landes« und die Russische Historische Gesellschaft schen Geschichte sowie die Revolution von 1917 als (für mehr Details siehe Anhang, S. 37ff). 30 ihren Gründungsmythos abzuwerten.« 32 Auf der anderen Seite haben die minimalen Be- Offizielle Aussagen zu den mühungen, der Oktoberrevolution zum 100. Jahres- Revolutionen von 1917 implizieren, tag zu gedenken, deutlich gemacht, dass die russische dass Proteste und Unruhen Führung am liebsten die Revolution als Ereignis dem Land schaden und unterbunden übergehen würde. Nicht nur stört diese das Narrativ der werden müssen. Kontinuität in der russischen Geschichte, sondern ihre Glorifizierung, wie sie zu Sowjetzeiten praktiziert Putins Einstellung zu den Ereignissen von 1917 wurde, konterkariert die heutige russische Dar- wird in nachstehendem Zitat deutlich: stellung von Revolutionen und ähnlichen Ereignissen. Diese werden als überwiegend negative Phänomene »Wir kennen sehr gut die Folgen, die diese großen betrachtet, die Chaos auslösen, Gesellschaften spalten Umbrüche bringen können. Unser Land hat und Unsicherheit säen. Zu sehen ist das zum einen leider viele solche Umbrüche und ihre Folgen im in der offiziellen russischen Darstellung der Majdan- 20. Jahrhundert erlebt […]. Das nächste Jahr, 2017, Proteste in der Ukraine; zum anderen findet man wird den 100. Jahrestag der Februar- sowie der Elemente davon in der Berichterstattung russischer Oktoberrevolution markieren. Das ist ein guter Staatsmedien über die »Gelbwesten« in Frankreich, Moment, um auf die Ursachen und die Natur die Proteste gegen Maduro in Venezuela und andere dieser Revolutionen in Russland zurückzuschau- Demonstrationen rund um den Globus. 33 In den en … Lassen wir uns daran erinnern, dass wir Reportagen wird oft die gewalttätige Natur dieser ein Volk sind, ein einheitliches Volk, und dass wir Proteste (über-)betont und die Unfähigkeit der dortigen nur ein Russland haben.« 31 Regime insinuiert. 34 Dies impliziert wiederum, dass die Gesellschaft in Russland sich um den Staat kon- Impliziert wird, dass man das Land nicht durch solidieren solle, denn alles andere sei gefährlich und Proteste bzw. Unruhen in Gefahr bringen, sondern bringe Schaden für Staat und Gesellschaft mit sich. sich (ver-)einigen solle mit dem Ziel, Stabilität und die Entwicklung des Landes voranzubringen. Solche Aussagen helfen der russischen Führung, eine Legiti- Der Bürgerkrieg 1918–1921 und mationsbasis zu schaffen für Handlungen wie die die gesellschaftliche Versöhnung Repressionen gegen Demonstrierende im Vorfeld der Kommunal- und Regionalwahlen im September 2019. Anders als dem von offizieller Seite eher vernach- Dies ist eng verknüpft mit einer weiteren innen- lässigten 100. Jahrestag der Februar- bzw. Oktober- politischen Funktion des offiziellen Umgangs mit der revolution wurde dem Bürgerkrieg, der zwischen Geschichte: der Diskreditierung oppositioneller 1918 und 1921 in Russland tobte, mehr Beachtung Stimmen und Handlungen. gewidmet. Ins Zentrum gestellt wurde dabei die Idee Die Ambivalenz der russischen Führung vis-à-vis der Versöhnung zwischen verschiedenen Teilen der Oktoberrevolution und der sowjetischen Zeit der (heutigen) russischen Gesellschaft, in Anlehnung insgesamt zeigt sich auch darin, dass das Lenin- an die damalige Kluft zwischen den »Roten«, die Mausoleum nach wie vor auf dem Roten Platz behei- die Bolschewiken unterstützten, und den »Weißen«, matet ist. Auf der einen Seite heißt das, wie der die gegen die »Roten« und teilweise für eine Rückkehr Historiker Ivan Kurilla schreibt: »Die Vision des rus- zur Monarchie kämpften. Historische Fragen dienen sischen Präsidenten von einer kontinuierlichen russischen Geschichte vom Russischen Reich über die 32 Kurilla, History and Memory in Russia [wie Fn. 25]. Sowjetunion bis hin zum postsowjetischen Russland 33 Die Verurteilung solcher Ereignisse schließt nicht aus, hindert ihn daran, die sowjetische Phase der russi- dass russische Akteure (zum Teil mit staatlicher Unter- stützung) diese Proteste anheizen. 34 Siehe zum Beispiel Aleksej Poplavskiy, »Pariž v ogne: ›želtyye žilety‹ prazdnuyut godovščinu« [Paris in Flammen: 30 Ebd. »Gelbe Westen« feiern Jubiläum], Gazeta.ru, 17.11.2019, 31 Hervorhebungen der Autorin. Walker, »Tragedy or (Zugriff am 24.10.2020). SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 18
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