StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin
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Liebe Leserinnen, liebe Leser! Corona, Klimawandel, massenhaftes Arten Gerade in der Krisenzeit sind Dialog, Netz sterben, Fridays for Future und vieles mehr werk und das Miteinander wichtig. Die – sind das alles apokalyptische Reiter, die Urania Berlin versteht sich als eine Platt den nahenden Untergang unserer irdischen form für Wissensvermittlung, offenen Aus Welt verkünden? Übergeben wir den nächs tausch und kontroversen Diskurs. Dabei ist ten Generationen leere Hände? Der Versuch es uns wichtig, neue Themengebiete zu der Menschen, die Natur als eine Art willen erschließen und diese mit fundiertem Wis loses Experimentierfeld zu benutzen, führt sen und interessanten Menschen zu füllen. uns ganz offensichtlich an unsere eigenen Während des Covid-19-Lockdowns in Grenzen und in eine Welt, in der die Ant Berlin wurde uns wieder deutlich, wie worten den Fragen zuvorkommen. wichtig eine gesunde Umwelt für uns Men Zu wissen, „was die Welt im Innersten schen ist. Viele Bürgerinnen und Bürger zusammenhält“, ist heute – wie zu Goethes haben sich wieder mehr auf die Natur be Zeiten – wichtig, bekommt aber im Zeitalter sonnen und die zahlreichen Grünanlagen des Anthropozän, dem vom Menschen in und um Berlin genossen. Wir sind Teil dominierten Erdzeitalter, in der Wechsel einer enormen biologischen Vielfalt, die es wirkung zur Ökologie eine ganz andere zu kennen und zu schützen gilt. In der kom Dimension. Begreifen wir den Reset als evo menden Saison 2020/2021 „StadtNatur – lutionäre Chance, alte Denkmuster zu ver Berlin ökologisch denken“ dreht sich daher lassen und dabei insbesondere Wachstum alles um Klimabildung, Umweltbewusst neu zu definieren. Dazu müssen wir neue sein, Nachhaltigkeit und Artenvielfalt. Wege finden durch Wissen, im Austausch, Ich lade Sie herzlich ein, die Saison mit Freude und vor allem: gemeinsam. Wir, aktiv mitzugestalten und gemeinsam von Sie und Ihre Urania Berlin. der Natur und voneinander zu lernen. C Gabriele Thöne C Ulrich Weigand Vorstandsvorsitzende Urania Berlin e. V. Direktor Urania Berlin e. V. 03
Liebe Berlinerinnen und Berliner, die gravierenden Veränderungen des Welt Ich bin dankbar, dass die Urania mit dem klimas und die massiven Verluste von Bio Projekt „StadtNatur – Berlin ökologisch diversität gehören zu den großen Über denken“ einen wichtigen Impuls zu den lebensfragen unserer Zeit. Gerade für dicht vielfältigen Facetten dieser Themen an besiedelte Ballungszentren wie Berlin sind bietet. Sehr gerne unterstützen wir dieses Natur in der Stadt und ihre Zugänglichkeit Projekt. Es ist wichtig, dass sich die Stadt von herausragender Bedeutung für unsere gesellschaft, gemeinsam mit unterschied Lebensqualität und auch eine Frage der so lichen Expertinnen und Experten, den zialen Gerechtigkeit. Deshalb ist der Zu verschiedenen Fragestellungen widmet. gang aller Berlinerinnen und Berliner zu Auf die Ergebnisse dieses Prozesses sind grünen Erholungsräumen so wichtig. wir alle sehr gespannt. Das Dreieck aus der Bekämpfung der Den Verantwortlichen in der Urania Klimaerhitzung und ihrer Folgen, die und a llen Beitragenden danke ich für ihr B ewahrung von Biodiversität sowie die Engagement sehr herzlich und wünsche vielfältige Rolle von Natur in der Stadt dem Projekt viel Erfolg, auch und weil wir bilden eine komplexe Herausforderung für gerade bei diesem für Berlin wichtigen die Politik in Berlin. Aus Umweltschutz- Thema Fortschritte so dringend brauchen. und Überlebensgründen, aber auch aus Gründen des guten und gerechten Lebens in der Stadt. C Regine Günther Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz 05
Inhalt StadtNatur – Wilde Nachbarn Berlin ökologisch im Hinterhof denken C Sophie Bengelsdorf 38 C Highlights der Saison 08 Grüne Stadt im Waldextrakt Klimawandel C Antje Boetius 14 C Peter Fehrmann 42 Das Ende des Ko statt Kuh Kapitalismus C Christian Blees 45 C Ulrike Herrmann 18 Nutzungsdruck Klimaschutz im contra Alltag Artenvielfalt C Fritz Reusswig 23 C Thomas Borsch 48 Cradle to Cradle Stadtökologie gibt C Isabel Gomez 26 es nicht umsonst C Christiane Heiß 53 Autolast statt Autolust Komm, wir C Andreas Knie 30 retten Essen! C Wenke Heuts, Theresa Keller 56 Kreisläufe schließen Besucher C Thomas Klöckner 34 information / Impressum 62 07
StadtNatur – Berlin ökologisch denken In der neuen Saison wird die Urania zur zentralen Anlauf stelle für die Stadtnatur Berlins. Unter dem Motto „Stadt Natur – Berlin ökologisch denken“ laden wir Sie ein, Fragen zu stellen und gemeinsam mit Expert*innen, Künstler*innen und Kurator*innen Vorschläge und Lösungen zu entwickeln oder sich auch einfach nur eine eigene Meinung zu bilden. 08
StadtNatur möchte Berliner*innen für das C Saisoneröffnung 4.9.2020, 19:30 Uhr vielseitige Thema der biologischen Vielfalt Junge Initiativen, Aktivist*innen und sensibilisieren und durch innovative Forma Politiker*innen auf der Suche nach der te zeigen, dass auch Recycling und Themen, ökologischen Kehrtwende die im Alltag eher „mitlaufen“ oder auch Mit Hanna Legleitner, Geschäftsleitung gerne mal unter den Teppich gekehrt werden, Restlos Glücklich e. V.; Marco C lausen, interessant und unterhaltsam sein können. Initiator von Kollektives Lernen; Gemeinsam können wir unsere Stadt grüner, Jan Körbes, Refunc; Ulrich Weigand, umweltverträglicher und lebenswerter Direktor der Urania. machen. Gefördert wird das Projekt durch Moderation: Tarik Tesfu die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz des Landes Berlin. 09
High- lights der neuen Urania Goes Green Saison Was ist eigentlich Biodiversität? - Eine Podcastreihe mit Tarik Tesfu Was können die Berliner*innen für mehr Artenvielfalt tun? Wie kommen wir zu zu StadtNatur einer autofreien Innenstadt? Diesen und anderen Fragen zum Thema Stadtöko- logie geht Tarik Tesfu auf den Grund. Er Artenvielfalt ist das „Gesicht“ des fünfteiligen Online- Reportageprojekts „Urania Goes Green“. Umwelt und Pro Folge besucht Tarik Tesfu zwei Pro- tagonist*innen — von Bürger*innen über Klimaschutz Kulturschaffende bis hin zu Wissenschaft- ler*innen. Durch den offenen Dialog wird einmal mehr deutlich: Der Erhalt der biologischen Vielfalt und eines gesun- den Stadtklimas betrifft uns alle. Und die Urania Berlin mischt vorne mit. C Alle Podcasts finden Sie auf urania.de Das Projekt StadtNatur wird geleitet von High Art Bureau. Sie möchten sich ein- bringen, haben Ideen und Vorschläge? Dann wenden Sie sich bitte an Franziska Benger unter stadtnatur@urania-berlin.de 10
Musik und Mode Auch für die kreative Szene ist es Smart ReUse höchste Zeit, ökologisch Verantwortung zu übernehmen. Und weil Berlin ein Hotspot für Musi- Das Kollektiv Refunc schärft den ker*innen und Modedesigner*innen aus Blick auf unseren Umgang mit gebrauch der ganzen Welt ist, hat die Musik- und ten Materialien aus dem Alltag. Modeindustrie in unserer Stadt eine wich- Wie lassen sich diese vielleicht völlig tige Rolle. Egal, ob es um die Energieeffi- anders nutzen, als wir es bislang gewohnt zienz von Kulturstätten geht oder um den sind – und das mit so geringer Umwelt- Einsatz umweltbelastender Materialien: belastung wie möglich? Beispiele zeigt Radiohead, Coldplay, Peggy Gou und eine „Smart ReUse“-Workshopreihe, die zahlreiche Künstler*innen in Deutschland Grundkenntnisse über Herkunft, Zusam- gehen bereits mit gutem Beispiel voran. mensetzung, Eigenschaften, Verarbeitung und Weiterverwendung von Ressourcen C MI 30.9.2020, 17:30 Uhr und Restmaterialien vermittelt. So wird Klimaneutrale Musiktourneen und etwa beim Workshop „Mobilität, African -events Solutions und Reifenkunde“ erklärt, wie Wie können internationale Musikveran- man aus dem synthetischen Gummi alter staltungen umweltbewusst umgesetzt Reifen neue funktionelle Objekte herstel- werden? Mit Fine Stammnitz (Green Tou- len kann – vom Spielgerät bis zur Sitzge- ring Network), Ines Bartl (TMom Merch), legenheit. Tine Theurich (Gründerin Superunknown, Green Touring Network & Music Declares C SA 5.9.2020, 14:00 – 18:00 Uhr Emergeny GER), Moderation: Mia Heresch Mobilität, African Solutions und Reifenkunde C DI 21.10.2020, 19:30 Uhr Workshopleiter: Jan Körbes, Refunc Musik im nachhaltigen Gewand So beeinflusst Musik das Umweltbewusst- C SA 24.10.2020, 14:00 – 18:00 Uhr sein von Mode. Mit Pete Boateng (Green Smart ReUse „House in a day“ Berlin), Hiwot Schulte (Nature Friend) und Workshopleiter: Jan Körbes, Refunc Nicolas Reitmeier (KINAM), Layla Mül- ler (Layla De Mue & Kaleidoscope Berlin), Moderation: Mia Heresch 11
Filmfestival Der Urania Garten Kurzfilmabend 2020 StadtNatur auf dem Vorplatz der Urania C SA 19.12.2020, 20:00 Uhr Die Aktiven von „Prinzessinnengartenbau/ Kurzfilmabend zum Thema „Biodiversität nomadisch grün“ stellen auf dem Urania und Naturschutz in der urbanen Gesell- Vorplatz eine zweiteilige Installation zum schaft“ Thema Stadtnatur auf. Um zwei mit Was- ser gefüllte Container herum gruppieren Naturfilmtage 2021 sich Beete und Aufenthaltsflächen. Alle Im Oktober 2021 präsentiert das viertä- können sich an der Bepflanzung beteili- gige Film- und Medienfestival zu „Bio- gen. diversität und Naturschutz in der urba- nen Gesellschaft“ ein buntes Programm Daneben gestaltet die Skulptur von Jan aus Spiel-, Dokumentar-, Animations- Körbes den Vorplatz und bietet Raum für und Experimentalfilmen. Herausragende, Ankündigungen und Botschaften. Nachts preisgekrönte Produktionen verschiede- leuchtet das Objekt in alle Richtungen ner Genres werden gezeigt, eingeführt und schickt die Nachrichten von Stadt- oder von den Filmemacher*innen selbst Natur in die Stadt. Es ist ein Ort für alle, vorgestellt. Im Anschluss daran ist das um sich zu informieren, auszutauschen, Publikum eingeladen, mit den Filmma- zu sitzen, miteinander zu sein. cher*innen zu diskutieren. Ein zusätzli- ches Rahmenprogramm für Jugendliche Und gemeinsam mit dem Team von „Prin- mit Workshops und Infoveranstaltungen zessinnengartenbau/nomadisch grün“ lädt zum Mitmachen ein. Viel Wert wird wird im Urania Garten natürlich auch ge- dabei auf die Auswahl der Gäste und gärtnert und geerntet. Expert*innen gelegt. C Jeden zweiten Donnerstag im Monat 17:00 – 19:00 Uhr Gartensprechstunde im Urania Garten bis Oktober 2020 und ab der neuen Gartensaison 2021 12
Klimastreitgespräch Online-Fotowettbewerb Die bekannte Fernseh- und Hörfunkjour- „Natur in Berlin entdecken“ – dazu lädt nalistin Natalie Amiri moderiert die Reihe der Fotowettbewerb ein im Rahmen von „Urania kontrovers“, bei der die Podiums- Urania Goes Green. Ist Ihnen in Ihrem gäste mit unterschiedlichen Haltungen Kiez schon mal ein Fuchs begegnet? Wie offen miteinander und dem Publikum dis- viele Vögel der Roten Liste haben Sie am kutieren. Im Rahmen von StadtNatur wird Berliner Himmel beobachtet? An welchen Natalie Amiri den kontroversen Dialog Berliner Gewässern sind Flusskrebse fortsetzen. heimisch? Und standen Sie schon mal vor dem ältesten Baum unserer Stadt? Wenn C FR, 18. 9. 2020, 19:30 Uhr Sie Freude daran haben, schöne Natur- Die Auflagen des Green Deal der EU bilder zu machen und diese auch mit Sind sie der Corona-Pandemie g eopfert anderen zu teilen, dann machen Sie mit! worden? Oder hat der Kampf um den Klimaschutz in Europa gerade erst Vom 1.9. bis zum 30.11.2020 können Sie begonnen? Wie sollten die Subventio- sich am Wettbewerb beteiligen und uns nen verteilt werden, um den Klimaschutz zu Bewusstsein bringen, wie vielfältig die bestmöglich zu fördern? Natur von Berlin ist. C FR, 19. 10. 2020, 19:30 Uhr Auf der Website er Urania, auf Facebook Die Zukunft der Mobilität in der Stadt und Instagram werden alle zwei Wochen Die deutsche Automobilindustrie hinkt im neue Aufgaben zum Mitmachen veröf- Vergleich zur internationalen Konkurrenz fentlicht. um mehrere Jahre hinterher. Nach wie vor setzen einheimische Fahrzeughersteller Als Begleitprogramm werden vier Natur- auf komplexe Architekturen mit umfang- bzw. Fotoführungen rund um die Urania reichen Lieferketten, die Innovationszy- organisiert. klen sind zu langsam. Sind Kaufprämien für Elektroautos sinnvoll? Oder halten wir C DO, 10.9., 24.9, 8.10. und 22.10.2020, uns nicht ohnehin zu lange mit batterie- jeweils 18:00 Uhr getriebenen Fahrzeugen auf? 13
Wald- extrakt Antje Boetius Stadtwälder können wir in sehr heißen Sommern, von denen wir künftig immer mehr erleben werden, gar nicht genug wertschätzen. Sie spenden Schatten, schaffen ein kühleres Mikroklima, erhöhen die Luftfeuchtigkeit, bieten Singvögeln ein Heim und vieles mehr. Zudem gibt es unglaublich alte Bäume, die einiges an Stadtgeschichte miterlebt haben. 14
Ich bin Meeresforscherin und daher sind für Vor 300 Millionen Jahren wuchsen mich Bäume eine ganz besondere, eher d amals an Land unter warm-feuchten neue Naturerfindung. Denn die Meere ent Bedingungen riesige Wälder aus Farn-, Bär standen schon kurz nach der Geburt der lapp- und Schachtelhalmbäumen in einem Erde, vor ca. 4.5 Milliarden Jahren. Sie be günstigen tropischen Klima. Die wesentli decken 70 Prozent der Erde und vermutlich che Erfindung der landbesiedelnden Pflan ist auch das erste Leben in ihnen entstan zen bestand darin, emporzuwachsen, der den. Das erste Leben, das mit Hilfe von Son Sonne entgegen. Durch die Veränderung der nenlicht Photosynthese betreiben und da klimatischen Bedingungen, die Formung bei Sauerstoff produzieren konnte, waren von Landschaften, das Auffalten von Gebir sogenannte Blaualgen – Cyanobakterien. gen, aber auch den Krieg der Pflanzen un Ihre Nachfahren leben heute als Symbion tereinander um Platz, Licht und Wasser ten in allen Pflanzenzellen und vollziehen entstanden neue Gewächse, die Holzpflan diesen eigenartigen Prozess, der die Erd zen. atmosphäre lebensfreundlich macht: Sie nutzen Sonnenlicht als Energiequelle für VERHOLZUNG ERMÖGLICHT die Fixierung von Kohlenstoffdioxid in Bio STABILE STRUKTUREN masse, sie spalten dabei Wasser und produ Das war erst vor ca. 200 Millionen Jahren. zieren Sauerstoff als Abfallprodukt – wofür Holzbildung bedeutet, dass die Zellwände wir allen Pflanzen so dankbar sein müssen. der Pflanzen aus Zellulose verholzen, bis Im Meer gibt es keine Bäume, dort sind die Zellen absterben. Dazu lagert sich bis heute (wie zum größten Teil der Erd Lignin ein, schwer abbaubares Material. Die geschichte) Einzeller für die Produktion Verholzung ermöglicht es der Pflanze, sehr von Biomasse aus Sonnenlicht und Wasser stabile Strukturen zu bilden. Im Meer zuständig. Sie produzieren ungefähr die braucht es kein Holz, denn es reichen ein Hälfte des Sauerstoffs, den wir atmen. Die paar Gasblasen in Blättern und Stengeln andere Hälfte kommt von den Bäumen und von Algen, dann erledigt der Auftrieb das Gräsern an Land. Aber das ist erdgeschicht Emporwachsen in Richtung Sonnenlicht. lich eben erst seit kurzer Zeit so. Im Meer Die Sümpfe speicherten damals un entstanden die ältesten Algenwälder schon glaubliche Mengen an Waldbiomasse. Das vor 2,5 Milliarden Jahren. Erst vor rund 400 abgestorbene Pflanzenmaterial bleibt im Millionen Jahren entwickelten sich aus den sauerstofffreien Sumpf liegen, wird dann Wasserpflanzen die ersten einfachen Land immer wieder von Flusssedimenten und pflanzen. Baumartiges Leben entstand Geröll bedeckt, von neuen Wäldern besie dann vor 300 Millionen Jahren, im Karbon delt. Was darauf wächst und abgelagert – der sogenannten Steinkohlezeit. Damals wird, verdichtet durch sein Gewicht das be waren alle Kontinente noch in einem grabene Material und presst den Pflanzen Urkontinent vereint – diesen nennen wir saft aus. Unter hohem Druck und Tempe Pangaea. Deutschland lag damals ungefähr ratur entsteht über Millionen von Jahren am Äquator, es entstand aus sich auffalten erst Braun- und dann Steinkohle. dem Meeresboden. Das beweisen heute Nadelbäume und Laubbäume, die noch die Kalksteine aus Ablagerungen ma unsere heutigen Wälder formen, entstan riner Lebewesen auf der Zugspitze, unse den recht spät. Europa kühlte weiter ab und rem höchsten Berg. die Eiszeiten kamen. Die europäische Land 15
schaft wurde seit ungefähr drei Millionen RODUNGEN WAREN Jahren von Eiszeiten geprägt. Erst seit dem ANFANGS SCHWIERIG Rückzug der letzten großen Inlandverei Nach ein paar Jahrhunderten hatte der sungen vor 20.000 Jahren und der Zunahme Wald den Lebensraum der Menschen und der Temperatur auf recht stabile, für die ihrer Jagdbeute in Mitteleuropa stark Entwicklung der Menschheit zuträgliche eingeschränkt. Aus archäologischen Gra Klimaverhältnisse vor 8.000 Jahren blieb bungen wissen wir, dass Menschen seit zerfurchter, nasser, aber sehr fruchtbarer B eginn der Landwirtschaft den Wald zu Boden zurück. Die Bäume mussten den Bo rückzudrängen versuchten. Mit Steinwerk den dann neu besiedeln. Zunächst war das zeug waren Rodungen schwierig, zum Land eher tundra- und steppenartig, die Brandroden war es oft zu feucht – Siedlun Menschen waren Jäger, zum Beispiel von gen entstanden also an den Sonnenseiten Rentieren, denen sie hinterher zogen. Der von Tälern, um Lichtungen oder an Fluss Meeresspiegel war noch wesentlich tiefer – ufern oder in der Nähe von Hochmooren – gute 15 Meter – und England war noch mit überall dort, wo Wald aus natürlichen dem Kontinent verbunden. Es wanderten Gründen licht blieb. Der Übergang in die dann zunächst sogenannte Pionierbaumar Bronzezeit vor ca. 4.000 Jahren erlaubte ten wie zum Beispiel Birken, Fichten und den Menschen, immer mehr Fläche vom Kiefern ein – die sich gegen Kräuter und Wald abzugewinnen, durch Beschneiden Gräser und die jungen Triebe abgrasenden und Roden mit zunehmend besserem, Tiere durchsetzen mussten. Die Besiedlung schärferem Werkzeug. Seit damals sind im Europas durch Mischwälder erfolgte vor al mer größere Teile der Wälder durch Acker lem durch widerstandsfähige Bäume, die bau, Tierhaltung und Besiedlung beein aus der Landschaft des Tertiärs nach der flusst. Die Einführung von Eisen als Eiszeit ins Holozän zurückfanden – wie Werkstoff, Technologien wie Pflug, Winden, Tanne, Haselnuss und Eiche. Sägemühlen ließ den Menschen den Krieg 16
Urania-Medaille 2020 Am 3. 12. 2020 wird Prof. Dr. Antje Boetius die Urania-Medaille verliehen. Diese geht an Persönlich keiten, die sich über ihre interna tional herausragende fachliche Leistung hinaus um die V ermittlung von Bildung und Aufklärung an eine breite Öffentlichkeit b esonders verdient gemacht haben. Frau Prof. Dr. Antje Boetius erhält die Aus zeichnung für ihre Arbeiten zur Erforschung der Tiefsee und der Polarregionen, ihr außerordentliches Engagement für den K lima- und Umweltschutz und ihre interdiszi plinär angelegte und so anschau liche Vermittlung von W issen. gegen den Wald gewinnen. Holz war das Waldes killt den Wald der Gegenwart. Wir wichtigste Material zum Bauen und Heizen haben auch noch so viel Kohle im Erdboden – die Wälder fielen. Im 18. Jahrhundert weltweit, dass wir durch ihre Verbrennung brach ein solcher Holznotstand aus, dass die Erde um über 6° C Durchschnittstem der Begriff „Nachhaltiges Wirtschaften“ er peratur aufheizen könnten und damit voll funden wurde. Größere Waldflächen blie ständig und eventuell für immer das Holo ben in Europa vor allem dort bestehen, wo zän – also den Klimabereich, der für uns Adelige ihre Jagdgebiete schützten. Welt Menschen förderlich ist – verlassen würden. weit waren von ehemals zwei Dritteln Wald Das geht uns alle an. Denn durch unseren besiedlung der Erde nach der Industriellen hohen Energieverbrauch in Europa bräuch Revolution nur noch ein Drittel der Land te jeder von uns ungefähr 1.000 erwachsene fläche der Erde bewaldet, heute ist es nur Eschen, damit unserer jährlicher Ausstoß noch ein Viertel. So gehen auch die großen neutralisiert wird. Was wäre das für ein Leistungen des Waldes verloren. Wälder Stadtwald … stabilisieren Klima und Wasserhaushalt, bieten einer riesigen Lebensvielfalt von Tie C Prof. Dr. Antje Boetius ist Polar- und Tiefseeforscherin ren und Pflanzen Schutz, spenden Schatten, und leitet seit 2017 das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz- Zentrum für Polar- und Meeresforschung. Seit 2009 ist sie speichern CO2 und produzieren Sauerstoff. Professorin für Geomikrobiologie an der Universität Neben Brandrodungen und nicht Bremen. Ihr besonderes Interesse gilt der Tiefsee und den Auswirkungen des Klimawandels in den polaren Regionen. nachhaltiger Forstwirtschaft ist zuneh Ihre Arbeit führte sie auf fast 50 Schiffsexpeditionen, von denen sie viele geleitet hat. Als Wissenschaftskommuni mend der Klimawandel der Feind des Wal katorin wurde sie mit dem Communicator-Preis der DFG ausgezeichnet. Unter der Schirmherrschaft der Humboldt- des. Es sind genauer gesagt die riesigen Universität zu Berlin hat sie mit dem Dramaturgen Frank Mengen Kohle, die wir weltweit verfeuern. Raddatz das Projekt „Theater des Anthropozän“ gegrün- det. Die Aufführung „Requiem für den Wald“ beschäftigt Irgendwie grausig – das Konzentrat des Ur- sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Wald. 17
Das Ende des Kapitalis- mus
Ulrike Herrmann Essay Klimaschutz kann nur gelingen, wenn das Wachstum aufhört. Was sich aus der Corona-Krise lernen lässt – und von der britischen Kriegswirtschaft ab 1940. Die Corona-Pandemie machte das Undenk Staat Kredite aufnimmt. Im wahrsten Sinne bare denkbar: Plötzlich flogen keine Flug des Wortes wird die Corona-Krise mit Geld zeuge mehr, der Ausstoß an Treibhausga zugeschüttet. Die EU mobilisiert mehr als sen sank rapide, Öl wurde zur Ramschware, eine Billion Euro; Deutschland ist bei denk und viele Länder führten eine Art bedin baren Hilfen von etwa 1,4 Billionen Euro gungsloses Grundeinkommen ein. Der angekommen. Es ist unmöglich, diese gi Staat hatte allerorts das Sagen, und sogar gantischen Schulden zu tilgen und zurück die Neoliberalen forderten plötzlich milliar zuzahlen. Stattdessen setzt man auf Wachs denschwere Konjunkturprogramme. Die tum. Sobald die Wirtschaftsleistung steigt, Globalisierung schien genauso beendet wie verlieren die Schulden an Relevanz – bis sie der ungebremste Kapitalismus. Es wirkte, irgendwann vergessen sind. als wäre ein Weg gefunden, der zu mehr Bleibt nur ein Problem: Die Klima Nachhaltigkeit führt. schützer*innen haben ja Recht, dass man Doch dieser Schein trügt. Die Corona- in einer endlichen Welt nicht unendlich Krise zeigt gerade nicht, wie man den Kapi wachsen kann. Die Europäer*innen, inklu talismus verlassen kann – sondern beweist sive Deutschland, hinterlassen einen öko im Gegenteil, dass unser Wirtschaftssystem logischen Fußabdruck, als könnten sie drei zum Wachstum verdammt ist. Der Lock Planeten verbrauchen, aber bekanntlich down dauerte in den meisten Ländern nur gibt es nur die eine Erde. wenige Wochen, und dennoch belaufen sich Bisher hoffen die Regierungen, dass die Corona-Schäden nun auf Billionen Dol sie Wirtschaft und Umwelt langfristig lar. Längst wären viele Unternehmen pleite i rgendwie versöhnen könnten. Die Stich und fast alle Beschäftigten arbeitslos, wenn worte heißen „Green New Deal“ oder „Ent die Staaten nicht permanent neue Hilfspro kopplung“ von Wachstum und Energie. gramme auflegen würden, um die Wirt Auch in den jetzigen Pandemiezeiten wird schaft zu stabilisieren. intensiv diskutiert, wie sich der Wiederauf Momentan besteht der Trick darin, bau nach der Corona-Krise ökologisch einfach neues Geld zu „drucken“, indem der gestalten ließe. 19
Angeblich wäre es sogar billig, die Welt gestaltet werden. So wird bei der deutschen zu retten. Die meisten Studien gehen davon CO2-Abgabe diskutiert, dass der Staat auf aus, dass ein vernünftiger Klimaschutz nur die Einnahmen verzichtet und ein „Energie maximal ein bis zwei Prozent des Bruttoin geld“ an die Haushalte auszahlt. Arme Fa landsprodukts kosten würde. Fragt sich bloß, milien würden profitieren, weil sie eher we warum sich in der Umweltpolitik so wenig nig Energie verbrauchen, während die tut, wenn sie doch fast umsonst wäre? Ir Reichen belastet würden. So gerecht diese gendwo muss sich ein Denkfehler verbergen. Umverteilung wäre: In der Summe hätten die Haushalte genauso viel Geld wie vorher, KLIMASTEUERN um zu fliegen, Auto zu fahren und im Inter Um diesem Fehler auf die Spur zu kommen, net zu surfen. lohnt sich ein Blick auf die CO2-Steuer, die Die Politik verwechselt Betriebs- mit demnächst in Deutschland eingeführt wird Volkswirtschaft: Ein höherer CO2-Preis hat und das „Herzstück“ der hiesigen Klima zwar eine Lenkungswirkung – aber nur politik sein soll. Ab 2021 wird die Abgabe beim einzelnen Produkt. Die Gesamtwirt bei 25 Euro pro Tonne CO2 liegen, dann bis schaft wird weiter in die Klimakatastrophe 2025 auf 55 Euro steigen und anschließend gesteuert. Die Deutschen tappen in eine alt 55 bis 65 Euro betragen. bekannte Falle, die Bumerangeffekt heißt. Kritiker bemängeln vor allem, dass die Steuer viel zu niedrig sei. So fordert das Um weltbundesamt, dass der CO2-Preis bei 180 „In der Umweltpolitik hat es Euro die Tonne liegen sollte. Um diese daher wenig Sinn, nur auf abstrakten Zahlen in die konkrete Welt zu übersetzen: Ein Liter Diesel würde dann Preise und Marktmechanis etwa 50 Cent mehr kosten. men zu setzen. Das weiß Das ist viel Geld. Doch leider gilt auch hier, dass der Satz „viel hilft viel“ falsch ist. auch die Politik.“ Dem Klima würden die „Klimasteuern“ nichts nützen. Denn egal, wie hoch die Dieses Paradox wurde bereits 1865 vom Energiesteuern sind: Dieses Geld ver b ritischen Ökonomen William Stanley schwindet nicht. Es wird nicht in einen tie Jevons beschrieben und ist eine der wenigen fen Brunnen geworfen, um dort zu ver Voraussagen über den Kapitalismus, die sich schimmeln, sondern bleibt im System. Die als richtig herausgestellt haben: Wer Energie Bürger*innen müssten zwar tiefer ins Porte oder Rohstoffe spart und mit weniger Mate monnaie greifen, wenn sie Energie verbrau rialeinsatz die gleiche Gütermenge herstellt, chen – aber ihr Geld landet dann beim Staat, der steigert in Wahrheit die Produktivität der es wieder ausgeben kann und damit für und ermöglicht damit neues Wachstum. neue Nachfrage und neue CO2-Emissionen In der Umweltpolitik hat es daher we sorgt. Die OECD musste bereits feststellen, nig Sinn, nur auf Preise und Marktmecha dass es „keinen klaren Zusammenhang gibt nismen zu setzen. Das weiß auch die Politik. zwischen den Emissionen eines Landes und Die große Hoffnung ist daher, dass man die der Energiebesteuerung“. gesamte Wirtschaft komplett auf Ökostrom An diesem Befund ändert sich auch umstellen könnte – ob Verkehr, Industrie nichts, wenn die Energiesteuern sozial aus oder Heizung. 20
Diese Idee klingt jedoch nur so lange Hälfte der Nettoenergie liefern kann, die gut, wie man die offensichtlichen Probleme sich mit fossilen Varianten erzeugen lässt. dahinter verschweigt. Ein E-Auto ist, auch Das ist bitter. Denn damit ist klar, dass Öko wenn es mit Ökostrom fährt, keineswegs strom teuer ist und sich die Effizienz hal umweltfreundlich, sobald auch die rohstoff bieren würde. Sobald aber die Produktivität intensive Herstellung berücksichtigt wird. sinkt, kann es kein Wachstum mehr geben. Zudem entsteht Ökostrom nicht aus dem Die Wirtschaft muss schrumpfen, wenn Nichts, sondern produziert ebenfalls Folge man sie allein mit Ökostrom antreiben will. kosten. Windräder sind zwar längst nicht so Es ist also ein Denkfehler zu glauben, es umweltschädlich wie Kohlekraftwerke, aber wäre mit Kosten von einem bis zwei Prozent auch sie greifen in die Landschaft ein und der Wirtschaftsleistung getan, wenn man werden bald zu einem Müllproblem. Denn vernünftigen Klimaschutz betreiben will. Windräder laufen nur maximal 30 Jahre Aber wie soll man sich dieses Schrump und sind anschließend eine Industrieruine fen der Wirtschaft vorstellen? Es hilft, vom aus neunzig Metern Schrott. Bisher ist noch Ende her zu denken. Wenn Ökostrom völlig unklar, wie man die verschlissenen knapp bleibt, dann ist eine klimaneutrale Rotorenblätter eigentlich recyclen soll. Wirtschaft nur denkbar, wenn man auf Vor allem aber: Ökostrom wird immer sämtliche Flugreisen und das private Auto knapp bleiben. Diese Aussage mag zunächst verzichtet. Auch Banken und Versicherun seltsam wirken, denn die Sonne schickt gen sind weitgehend überflüssig, wenn eine 10.000 Mal mehr Energie zur Erde, als die Wirtschaft schrumpft. Gleiches gilt für PR- sieben Milliarden Menschen benötigen Berater*innen, Reisebüros, Messelogisti würden, wenn sie alle den Lebensstandard ker*innen oder Grafikdesigner*innen. der Europäer*innen genießen könnten. An In einer klimaneutralen Wirtschaft physikalischer Energie fehlt es also nicht, würde niemand hungern – aber Millionen und dennoch wäre es eine Milchmädchen von Arbeitnehmer*innen müssten sich um rechnung zu glauben, dass Ökoenergie im orientieren. Zum Beispiel würden sehr viel Überfluss zur Verfügung stehen kann. mehr Menschen in der Landwirtschaft und Denn Sonnenenergie allein nutzt gar auch in den Wäldern benötigt, um die Fol nichts; sie muss erst eingefangen werden. gen des Klimawandels zu lindern. Solarpanele und Windräder sind jedoch technisch aufwändig – jedenfalls deutlich ALTERNATIVLOS aufwändiger, als Kohle, Öl oder Gas zu för Diese Sicht auf die Zukunft mag radikal dern und zu verbrennen. Momentan wirkt erscheinen, aber sie ist im wahrsten Sinne der Ökostrom konkurrenzfähig, weil damit des Wortes „alternativlos“. Wenn wir unse „nur“ fossiler Strom ersetzt wird – und zwar ren CO2-Ausstoß nicht auf netto null redu im laufenden Betrieb. Die Bilanz wird sofort zieren, geraten wir in eine „Heißzeit“, die schlechter, wenn der Ökostrom gespeichert von selbst dafür sorgt, dass die Wirtschaft und in der gesamten Wirtschaft eingesetzt schrumpft. In diesem ungeplanten Chaos werden soll. Erhellend ist der „Erntefaktor“ käme es wahrscheinlich zu einem Kampf EROI, der misst, wie viele Energieeinheiten aller gegen alle, den die Demokratie nicht investiert werden müssen, um neue Ener überleben würde. gieeinheiten zu gewinnen. Dabei stellt sich Der Rückbau des Kapitalismus muss dann heraus, dass Ökostrom maximal die geordnet vonstattengehen. Zum Glück gibt 21
es bereits ein historisches Schrumpfungs gel, aber es wurde rationiert. Die Briten er modell, an dem man sich orientieren könn fanden also eine private und demokratische te: die britische Kriegswirtschaft ab 1940. Planwirtschaft, die mit dem dysfunktiona Damals standen die Briten vor einer mons len Sozialismus in der Sowjetunion nichts trösen Herausforderung. Sie hatten den zu tun hatte. Zweiten Weltkrieg nicht kommen sehen Die staatliche Lenkung war ungemein und mussten nun in kürzester Zeit ihre populär. Wie die britische Regierung bereits Friedenswirtschaft auf den Krieg umstellen, 1941 feststellen konnte, war das „Rationie ohne dass die Bevölkerung hungerte. rungsprogramm“ einer der größten Erfolge Das erste Ergebnis war eine statisti an der „Heimatfront“. Denn die verordnete sche Revolution: Damals entstand die volks Gleichmacherei erwies sich als ein Segen: wirtschaftliche Gesamtrechnung, die bis Ausgerechnet im Krieg waren die unteren he u te e i n St a nd a rd we rk z e u g a l le r Schichten besser versorgt als je zuvor. Zu Ö konom*innen ist. Mit diesem neuen Friedenszeiten hatte ein Drittel der Briten nicht genug Kalorien erhalten, weitere zwanzig Prozent waren zumindest teilwei „In einer klimaneutralen se mangelernährt. Nun, mitten im Krieg, Wirtschaft würde niemand war die Bevölkerung so gesund wie nie. Heute herrscht zum Glück Frieden, hungern – aber Millionen aber die gesamtgesellschaftliche Aufgabe von Arbeitnehmer*innen ist beim Klimawandel ähnlich groß. Wieder geht es ums Überleben der Menschheit. Aus müssten sich umorientieren. der Corona-Krise lässt sich zwar nicht viel Zum Beispiel würden sehr für die Zukunft lernen, aber eine Lektion hält sie doch parat: Der Staat hat erneut ge viel mehr Menschen in zeigt, dass er schnell und wirkmächtig han der Landwirtschaft und deln kann. Diese Kompetenz muss er als Nächstes nutzen, um geordnet aus dem auch in den Wäldern benö Wachstum auszusteigen. tigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern.“ C Ulrike Herrmann wird im kommenden Jahr im Rahmen des Projekts „StadtNatur“ in der U rania auftreten. I nstrument ließ sich ausrechnen, wie viele Fabriken man nutzen konnte, um Militär ausrüstung herzustellen, ohne die zivile Versorgung zu gefährden. Es entstand ein Kapitalismus ohne Markt, der bemerkenswert gut funktionier te. Die Fabriken blieben in privater Hand, aber die Produktionsziele von Waffen und C Ulrike Herrmann ist ausgebildete Bankkauffrau und hat Konsumgütern wurden staatlich vorgege Geschichte und Philosophie an der FU Berlin studiert. ben – und die Verteilung der Lebensmittel Neben ihrer aktuellen Tätigkeit als Wirtschaftskorrespon- dentin der „tageszeitung“ (taz) ist sie Buchautorin und öffentlich organisiert. Es gab keinen Man regelmäßiger Gast in Radio und Fernsehen. 22
Klima- schutz im Alltag Fritz Reusswig 365 Tage, 100 Haushalte, ein Ziel: CO2-neutral leben in Berlin! Was Klimaschutz ganz praktisch im Alltag bedeu tet, haben Familien mit Kindern, Lebenspartnerschaften, Wohngemeinschaften und Singles im Rahmen des Projekts „Klimaneutral leben in Berlin“ (KliB) getestet. Wir geben Einblicke in die E rgebnisse eines faszinieren den Klimaschutz-Reallabors. 23
Wie groß ist mein persönlicher CO2-Fuß weniger als zu Beginn und damit rund 35 abdruck? Wie kann ich ihn reduzieren? Prozent besser als der deutsche Durch Fragen dieser Art hat sich jeder von uns schnitt. schon einmal gestellt. Und sie dann schnell Unterstützt wurden die Teilneh wieder vergessen. Zu kompliziert. Ich als mer*innen von unserem eigens entwickel Einzelperson kann sowieso nichts ändern ten „Carbon Tracker“, einem Klimarechner – diese Antworten und Ausflüchte hört man für PCs und mobile Endgeräte. Er baut auf immer wieder im Klimadiskurs. Doch dass dem CO2-Rechner des Umweltbundesamtes auch kleine Veränderungen viel bewirken auf und wurde für das wöchentliche können, hat unser durch das Bundesminis Tracking weiterentwickelt. Der Tracker terium für Umwelt finanziertes Mitmach- dokumentiert den persönlichen CO2-Fuß Projekt KliB gezeigt, ein gemeinsames abdruck, zeigt auf, wie sich die eigene Pilotprojekt des Potsdam-Instituts für Kli Klimabilanz aufsummiert und erklärt, wo mafolgenforschung (PIK), verschiedener Emissionen eingespart werden können. klimafreundlicher Berliner Unternehmen Besonders erfolgreich waren Haushal und Nichtregierungsorganisationen. te, die im Rahmen des Reallabors Energie In einem einjährigen Feldversuch ha beratungen beanspruchten – sie konnten ben die 100 teilnehmenden Haushalte aus ihren CO2-Fußabdruck um bis zu 40 Pro Berlin einen klimafreundlichen Lebensstil zent senken. Insgesamt haben wir im Rah geführt. Dabei ging es insbesondere darum, men von KliB beobachtet, dass schon relativ Handlungsfelder aufzuzeigen, in denen gro kleine Veränderungen im Alltag einen gro ßes Potenzial steckt, CO2-Emissionen ein ßen Beitrag zur Klimastabilisierung leisten zusparen – sei es beim alten Kühlschrank können: sei es eine Ernährung mit mehr mit zu hohem Verbrauch, beim Fleischkon Gemüse und wenig Fleisch, öfter auf Rad sum zu jeder Mahlzeit oder beim Auto als oder öffentliche Verkehrsmittel umzustei bevorzugten Fortbewegungsmittel. gen oder zu Hause auf Grünstrom umzu stellen. DIE BILANZ: VON 11,6 AUF 7,8 TONNEN CO2 NOCH WEIT ENTFERNT Derzeit kommen auf die Bundesbürger*in VOM PARISER nen pro Kopf im Schnitt 11,6 Tonnen CO2 KLIMAABKOMMEN pro Jahr. Dieser Wert umfasst alle Emissio Andere Haushalte waren weniger erfolg nen entlang des Lebenszyklus der Produk reich dabei, Emissionen einzusparen – etwa te und Dienstleistungen, auch wenn sie im wenn in Familien mit Kindern ein Schüler Ausland anfallen. Die KliB-Pionier*innen austausch nach Neuseeland zwar den waren von Anfang an schon deutlich klima Horizont, aber auch die Klimabilanz um sensibler; sie starteten zum Projektbeginn einige Emissionen erweiterte. Insgesamt mit gut 8,7 Tonnen (also 25 Prozent unter müsste ein persönlicher CO2-Fußabdruck, dem Bundesdurchschnitt). Obwohl ihr CO2- der mit den globalen Klimaschutzzielen von Fußabdruck schon deutlich besser war als Paris, den Klimaschutzzielen des Bundes der Durchschnitt, haben sie es dank der und dem Klimaneutralitätsziel des Berliner KliB-Interventionen geschafft, noch mehr Senats für 2050 übereinstimmt, nochmals CO2 einzusparen: Am Ende des Projekts erheblich schrumpfen: auf maximal eine waren es mit 7,8 Tonnen pro Kopf 11 Prozent Tonne pro Kopf und Jahr. 24
OHNE DIE POLITIK miert werden. Und wie die Landwirtschaft GEHT ES NICHT oder die deutsche Industrie produzieren, Eine der wichtigsten Erkenntnisse unseres lässt sich durch Einzelne auch schlecht be Klimaschutz-Reallabors nach einem Jahr: einflussen. Den Bürger*innen liegt unsere Zukunft am Hier sollte sich die Politik dafür ein Herzen; sie wollen und können ihren CO2- setzen, für Rahmenbedingungen zu sorgen, Fußabdruck signifikant reduzieren, wenn die einem klimafreundlicheren Alltag ent sie gut informiert und motiviert werden. gegenkommen. Gerade bei der Ernährung Den persönlichen CO2-Austoß auf 7,8 Ton oder dem öffentlichen Verkehr braucht es nen zu reduzieren, könnte für jeden Haus weitergehende Anstrengungen. Dort müs halt relativ leicht und ohne große Komfort sen Politik und Wirtschaft ansetzen und einbußen möglich sein – und das wäre nachhaltigere, bessere Rahmenbedingun bundesweit schon eine ganze Menge. gen und Infrastrukturen für einen klima Unser Reallabor hat jedoch auch sehr freundlichen Alltag schaffen. Das wün klar die Grenzen des/der Einzelnen aufge schen sich auch unsere Haushalte. zeigt: Selbst ambitionierte Haushalte kön nen ihre Klimabilanz maximal halbieren, C Zu diesem Thema plan das PIK 2021 doch dann ist irgendwann Schluss. Ab ei eine Veranstaltung in der Urania. nem bestimmten Punkt hilft nur eine ande C Dr. Fritz Reusswig ist Soziologe und leitender Forscher re Politik. Denn sogenannte öffentliche beim Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Emissionen – etwa durch Straßenbeleuch 2005 war er Gastwissenschaftler am Caribbean Communi- ty Climate Change Center und der Kennedy School of tung, Krankenwagen oder auch die Bundes Government in Harvard. Seine Forschungsschwerpunkte sind Lebensstil und Konsumentwicklung sowie soziologi- wehr – können nicht von Einzelnen mini sche Fragen globaler Umweltveränderungen. 25
Cradle to Cradle Isabel Gomez Begrünte Wände, die schick aussehen und die Luft reini gen. Teppiche, die Wohnlichkeit verbreiten und Feinstaub binden. Und Büromöbel, die auch für die Umwelt gut sind: Das C2C LAB der Cradle to Cradle NGO an der Landsberger Allee ist die weltweit erste Sanierung einer bestehenden Gewerbeeinheit, die konsequent nach eigenen Kriterien durchgeführt wurde. 26
Rohstoffe gehen hier nicht verloren, son dern können nach ihrem Einsatz wieder verwendet werden. Das Leuchtturmprojekt ist ein begeh- und erlebbares Beispiel für ressourcenschonendes Bauen und zeigt, dass aus dem Berliner Bestand heraus ge sunde und kreislauffähige Räume zum Wohnen und Arbeiten entstehen können. Ohne zusätzlichen Flächenverbrauch und ohne Bauschutt. 2018 fand die Cradle to Cradle NGO auf der Suche nach einem Büro für das wach sende Team in ganz Berlin schlicht kein Ge bäude, das C2C-Ansprüchen entsprach: ma terialgesund, reversibel, kreislauffähig. Es gab aber diese ehemalige Apotheke in einem klassischen Ost-Berliner Plattenbau, deren Finanzierung die NGO gerade so stemmen konnte. Also packte das Team die Sanierung der 400 Quadratmeter großen Gewerbeein Großer C2C-Congress 2020 mit Bundesumweltministerin heit an – mit Unterstützung zahlreicher Svenja Schulze in der Urania. Partnerunternehmen und der städtischen Wohnungsbaugesellschaft G ewobag, Eigen werden, entsteht Müll. In den meisten Fällen tümerin des Gebäudekomplexes. ist das Sondermüll, weil M aterialien verbaut Die Bauwirtschaft ist nicht nur eine der wurden, die nicht vollständig und ohne Qua ressourcenintensivsten Branchen über litätsverlust recycelt werden können. Sei es, haupt. In Deutschland ist sie auch für rund weil sie aus Verbundstoffen bestehen, die 60 Prozent des gesamten Müllaufkommens nicht rückstandslos trennbar sind. Oder weil verantwortlich. Gleichzeitig erfordern Ur Materialien Schadstoffe enthalten. Obwohl banisierung und Bevölkerungswachstum in der Nutzungsphase oft klimaneutral, tra weltweit neue Wohn- und Bürogebäude in gen diese Gebäude damit langfristig nicht Städten. dazu bei, Umweltprobleme zu lösen. Sie ver lagern sie zeitlich nur nach hinten. KLIMANEUTRAL ALLEINE Sogenanntes nachhaltiges Bauen geht IST NICHT GENUG zudem oft mit Abriss und Neubau oder der Um diesen Anforderungen zu begegnen, Erschließung neuer Bauflächen einher. wurden Nachhaltigkeitskriterien für Bau Speziell in Berlin, wo Tausende von Be vorhaben entwickelt. Es reicht allerdings standsgebäuden vorhanden sind, ist das nicht aus, Gebäude zu dämmen, um CO2 ein Verschwendung auf Kosten der Natur. Pro zusparen oder Regenwasserkonzepte und jekte wie das C2C LAB zeigen, dass selbst Dachbegrünungen umzusetzen. Sie helfen in älteren Bestandsgebäuden gesunde, res nicht dabei, die drohende Ressourcen- und sourcenschonende und moderne Räume Müllkrise aufzuhalten. Wenn diese Gebäude entstehen können. Wo bestehende Struktu in einigen Jahrzehnten wieder abgerissen ren abgerissen werden, entsteht unweiger 27
lich Müll. Und wo neue Bauflächen er schlossen werden, werden dadurch Flächen versiegelt. Cradle to Cradle geht als ganzheitlicher Ansatz, und damit auch im Baukontext, da her weit über das Konzept der Nachhaltig keit hinaus. Statt klimaneutral zu sein, ist klimapositiv das Ziel. Bei der Sanierung des C2C LAB wurden daher überwiegend nach Cradle to Cradle zertifizierte oder davon in spirierte Materialien verbaut. Die Zertifizie rung beinhaltet unter anderem die Kriterien Materialgesundheit, Verwendung erneuer barer Energien und ressourcenschonender Umgang mit Wasser bei der Herstellung. Zudem sind C2C-Produkte so entwickelt, dass ihre Bestandteile entweder kompos tierbar sind oder ohne Qualitätsverlust im mer wieder recycelt und wiederverwendet werden können. So wird der Abbau weiterer euer Kern in alter Schale: Die gesamte Einrichtung des LAB ist UN Ressourcen perspektivisch überflüssig. Und komplett kreislauffähig. ine Besuchergruppe der Deutschen Gesellschaft für Internationale DE alle Materialien sind so verbaut, dass sie Zusammenarbeit (GIZ) nimmt mit Vertretern aus der Mongolei die rückstandslos entnommen und weiterver C2C-Einrichtung im LAB gründlich in Augenschein. arbeitet werden können. entweder biologisch abbaubar sind oder im VOM HAUS ZUR mer wieder weiterverwendet werden kön MATERIALDATENBANK nen. Bevor die Sanierung losgehen konnte, Deutlich wird das Prinzip am Beispiel musste die ehemalige Apotheke zunächst der Fenstersysteme im LAB. Die Alu-Fens von schadstoffhaltigen Materialien befreit terrahmen sind nicht verschäumt, sondern werden. Die größte Schwierigkeit bestand mit Blenden verschraubt. Das Fensterglas darin, diese zu identifizieren, denn entspre besteht aus recycelten Glasscherben. Soll ein chende Daten waren für das 1986 erbaute Fenster vergrößert werden, kann das Alumi Gebäude schlicht nicht vorhanden. Neben nium der Rahmen herausgeschraubt, einge den genannten Schwerpunkten war bei der schmolzen und zu neuen, passenden Rah Sanierung daher ein Ziel, eine digitale Da men gefertigt werden. Die Fensterscheiben tenbank aller verbauten Materialien und werden entnommen, eingeschmolzen und Stoffe zu erstellen. Auch in 50 Jahren, wenn wiederverwendet. Es entsteht kein Müll und aus dem C2C LAB vielleicht wieder eine die wichtige Ressource Aluminium geht Apotheke oder eine Wohnung werden soll, nicht verloren. Wird dieses Prinzip konse ist dann nachweisbar, welcher Baustoff an quent zu Ende gedacht, entstehen für Bau welcher Stelle in welcher Form verwendet unternehmen oder Materiallieferanten gänz worden ist. Der Wert des Gebäudes besteht lich neue Geschäftsmodelle. Sie verbauen in den darin verwendeten Ressourcen, die einen Rohstoff, behalten den Wert des Roh 28
Cradle to Cradle – so geht morgen zahlt wird. Er hat dadurch einen Anreiz, die Im menschlichen Denken und Handeln Maschine so herzustellen, dass sie einfach von morgen ist Cradle to Cradle (wört- reparierbar, rückstandslos in ihre Einzeltei lich: „von Wiege zu Wiege“, sinngemäß: le zerlegbar und möglichst lange nutzbar ist, „vom Ursprung zum Ursprung“) selbst- um so lange wie möglich so viele Waschgän verständlich. Nach dem Vorbild der Natur ge wie möglich zu verkaufen. Gepaart mit ist jeglicher Abfall Nährstoff für etwas einer Grauwasseraufbereitung entsteht ein Neues. Das destruktive Konzept „Müll“ Wasserkreislauf, der der Verschwendung kennt kein Mensch mehr. Alles besteht sämtlicher involvierter Ressourcen vor aus gesunden und geeigneten Materia- beugt. Diese Innovationen und die Partner lien. Nutzungsszenarien sind konsequent schaft mit ihren Herstellenden geben dem durchdacht. Alles zirkuliert in kontinuier- LAB den Charakter eines Reallabors. Es ist lichen Kreisläufen. Technologische, bio- Anreizgeber und Ideenpool. Zu den nächs logische und kulturelle Vielfalt ist überall ten geplanten Projekten gehören unter an fest verankert. Energie wird ausschließ- derem eine Zinkfassade mit eingebautem lich regenerativ gewonnen. Arbeitsbe Fahrradständer, die perspektivisch begrünt dingungen sind fair, soziale Strukturen und mit einem Grauwasseraufbereitungs intakt. Mit der Denkschule und dem system versehen werden soll. Mehr als 40 Designkonzept von Cradle to Cradle hin- Partnerunternehmen haben die Sanierung terlassen wir Menschen einen positiven und Ausstattung des LABS unterstützt. ökologischen Fußabdruck. Das ist die Vision von Cradle to Cradle. EINGEBETTET IN EIN KOMMUNALES C2C-KONZEPT Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit aus stoffes aber in ihren Büchern. Nach der Nut dem LAB heraus ist die Begleitung von zungsphase eines Gebäudes für einen be Städten und Kommunen, die C2C in ihrer stimmten Zweck entnehmen sie den Rohstoff Region verankern wollen. Durch ihre Ver wieder, recyceln und verarbeiten ihn weiter. waltungsbehörden und angeschlossenen Der Wert des Rohstoffs geht ebenso wenig staatlichen Institutionen wie städtische verloren wie der Rohstoff selbst. Vielmehr Baugesellschaften sind Städte und Kommu kann die Nutzung ein und desselben Roh nen die größten Beschaffer des Landes. Sie stoffs mehrfach verkauft werden. sind einer der größten Hebel, Cradle to Cradle in der Fläche einzuführen und somit VERWENDEN STATT zu einem schonenden Umgang mit Res BESITZEN sourcen beizutragen und das von Menschen Dieser Ansatz findet sich im LAB bereits an gemachte Prinzip Müll abzuschaffen. Beide anderen Stellen. Die PVC-freien Böden im Probleme sind letztlich eine der Ursachen LAB bestehen unter anderem aus recycel für die Klima- und Umweltprobleme, die ten Windschutzscheibenfolien. Der Her unsere Gesellschaft dringend bewältigen steller recycelt die Bodenfliesen und stellt muss, um eine lebenswerte Zukunft für daraus neue her. Sie werden nicht verklebt, Mensch und Umwelt zu sichern. sondern schwimmend verlegt. C Isabel Gomez ist Kommunikationsreferentin bei Cradle to Die Spülmaschine im LAB ist vom Her Cradle NGO und für die Pressearbeit zuständig. Sie hat Volkswirtschaftslehre studiert und war anschließend zehn steller geliehen, der für die Waschgänge be Jahre als Wirtschafts- und Finanzjournalistin tätig. 29
Andreas Knie Interview Christian Blees Autolast statt Autolust Mit dem im Juni 2018 vom Abgeordnetenhaus verab schiedeten Mobilitätsgesetz schreibt der Berliner Senat Maßnahmen vor, durch welche die Leistungsfähigkeit des Verkehrssystems in seiner Gesamtheit verbessert werden soll. Mit dieser Frage beschäftigt sich der Leiter der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesell schaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) schon seit mehreren Jahren. Im Interview mit der Urania verrät Andreas Knie unter anderem, warum er die Hauptstadt gerne in die 1960er Jahre zurückversetzen möchte, Stadtrand- bewohner*innen zunehmend von Armut bedroht sind – und was Berlins Autoverkehr aus seiner Sicht mit dem Rauchverbot in Restaurants zu tun hat. 30
Inwiefern gehören hat der Verkehr derart viel Reformeifer gebaut „digitale Mobilität“ und zugenommen, dass bei wurden, wie etwa in Berlin „gesellschaftliche Diffe- vielen Menschen die die Gropiusstadt oder das renzierung“ zusammen – Autolust inzwischen zur Märkische Viertel. Sie alle und woran forschen Autolast mutiert ist. Aber dienten ursprünglich dazu, Sie genau? es ändern sich Dinge. Weil die Menschen aus den Wir analysieren zunächst heutzutage praktisch alles, dunklen und schmutzigen einmal, wie sich unsere was wir tun, ohne Smart Innenstädten herauszuho Gesellschaft bewegt – und phone kaum noch denkbar len und weiter draußen mit dies gleich in doppelter erscheint, sprechen wir in reichlich Licht, Luft und Hinsicht. Bei der soge diesem Kontext gerne von Sonne zu versorgen. nannten sozialen Mobilität digitaler Mobilität. Wir Leisten konnten sich das geht es um die Frage, wie fragen: Wie wirkt sich seinerzeit eigentlich nur sich der Einzelne innerhalbdiese „digitale Mächtigkeit“ solche Bürger*innen, die der Gesellschaft entwi auf gesellschaftliche über ein eigenes Auto – ckelt: Welche Aufstiegs Strukturen aus? Lassen und somit über einen möglichkeiten hat er und sich dadurch soziale gewissen Wohlstand – ver was können wir tun, um Ungerechtigkeiten abbau fügten. Das hat sich im hier Chancengleichheit zu en? Oder werden diese Laufe der Jahrzehnte erreichen? Was in diesem vielleicht sogar eher noch verschoben: In den vergan Zusammenhang oft verges größer und damit die genen Jahren sind die sen wird, ist die Rolle derMöglichkeiten des Einzel Leute zunehmend an den verkehrlichen Mobilität: nen, in unserer Gesell Stadtrand gezogen, weil Wie bewegen sich Men schaft voranzukommen, das Leben im Zentrum für schen im wahrsten Sinne geringer? sie zu teuer wurde. Zwar des Wortes, um gesell besitzen viele Bewohner in schaftliche Chancen Können Sie diese Frage den Großsiedlungen am überhaupt wahrnehmen zu schon beantworten? Stadtrand nach wie vor ein können? Wir glauben, dass diese eigenes Auto. Doch ist das Hypothese in vielerlei inzwischen kein Ausdruck Früher hieß es: Hinsicht durchaus noch persönlichen Wohlstands Nur wer sich bewegt, zutrifft – dass aber ausge mehr, sondern reine kommt voran … rechnet in solchen Gebie Notwendigkeit: Die Betref … und zwar am besten mit ten, in denen sich früher fenden arbeiten nicht dem eigenen Pkw. Das galt sozialer Wohlstand entwi selten in systemrelevanten in den 1960er Jahren ckelte und viele Autos als Berufen – wie etwa als zunächst im Westen Wohlstandsindikator Krankenschwester oder als Deutschlands, nach dem galten, mittlerweile ein Servicetechniker –, in Fall der Mauer auch im verstärktes Armutsrisiko denen sie wegen einer Osten. Heute ist das anders. erkennbar ist. schlechten ÖPNV-Anbin Die wachsende Zahl der dung oder aus Mangel an Fahrzeuge hat das Voran Welche Gebiete sind das? anderen verkehrlichen kommen immer beschwer Vor allem Großsiedlungen Alternativen schlicht auf licher gemacht. Insgesamt am Stadtrand, die einst mit einen eigenen Pkw ange 31
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