StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin

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StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin
StadtNatur – Berlin     Saison
ökologisch denken     2020/2021
StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin
StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin
Liebe Leserinnen,
liebe Leser!

Corona, Klimawandel, massenhaftes Arten­        Gerade in der Krisenzeit sind Dialog, Netz­
sterben, Fridays for Future und vieles mehr     werk und das Miteinander wichtig. Die
– sind das alles apokalyptische Reiter, die     ­Urania Berlin versteht sich als eine Platt­
den nahenden Untergang unserer irdischen         form für Wissensvermittlung, offenen Aus­
Welt verkünden? Übergeben wir den nächs­         tausch und kontroversen Diskurs. Dabei ist
ten Generationen leere Hände? Der Versuch        es uns wichtig, neue Themengebiete zu
der Menschen, die Natur als eine Art willen­     ­erschließen und diese mit fundiertem Wis­
loses Experimentierfeld zu benutzen, führt        sen und interessanten Menschen zu füllen.
uns ganz offensichtlich an unsere ­eigenen               Während des Covid-19-Lockdowns in
Grenzen und in eine Welt, in der die Ant­         Berlin wurde uns wieder deutlich, wie
worten den Fragen zuvorkommen.                    wichtig eine gesunde Umwelt für uns Men­
       Zu wissen, „was die Welt im Innersten      schen ist. Viele Bürgerinnen und Bürger
zusammenhält“, ist heute – wie zu Goethes         ­haben sich wieder mehr auf die Natur be­
Zeiten – wichtig, bekommt aber im Zeitalter        sonnen und die zahlreichen Grünanlagen
des Anthropozän, dem vom Menschen                  in und um Berlin genossen. Wir sind Teil
­dominierten Erdzeitalter, in der Wechsel­         einer enormen biologischen Vielfalt, die es
 wirkung zur Ökologie eine ganz andere             zu kennen und zu schützen gilt. In der kom­
 ­Dimension. Begreifen wir den Reset als evo­      menden Saison 2020/2021 „StadtNatur –
  lutionäre Chance, alte Denkmuster zu ver­        Berlin ökologisch denken“ dreht sich daher
  lassen und dabei insbesondere Wachstum           alles um Klimabildung, Umweltbewusst­
  neu zu definieren. Dazu müssen wir neue          sein, Nachhaltigkeit und Artenvielfalt.
  Wege finden durch Wissen, im Austausch,                Ich lade Sie herzlich ein, die Saison
  mit Freude und vor allem: gemeinsam. Wir,        ­aktiv mitzugestalten und gemeinsam von
  Sie und Ihre Urania Berlin.                      der Natur und voneinander zu lernen.

C Gabriele Thöne                                C Ulrich Weigand
Vorstandsvorsitzende Urania Berlin e. V.        Direktor Urania Berlin e. V.

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StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin
StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin
Liebe Berlinerinnen
und Berliner,

die gravierenden Veränderungen des Welt­       Ich bin dankbar, dass die Urania mit dem
klimas und die massiven Verluste von Bio­      Projekt „StadtNatur – Berlin ökologisch
diversität gehören zu den großen Über­         denken“ einen wichtigen Impuls zu den
lebensfragen unserer Zeit. Gerade für dicht    vielfältigen Facetten dieser Themen an­
besiedelte Ballungszentren wie Berlin sind     bietet. Sehr gerne unterstützen wir dieses
Natur in der Stadt und ihre Zugänglichkeit     Projekt. Es ist wichtig, dass sich die Stadt­
von herausragender Bedeutung für unsere        gesellschaft, gemeinsam mit unterschied­
Lebensqualität und auch eine Frage der so­     lichen Expertinnen und Experten, den
zialen Gerechtigkeit. Deshalb ist der Zu­     ­verschiedenen Fragestellungen widmet.
gang aller Berlinerinnen und Berliner zu       Auf die Ergebnisse dieses Prozesses sind
grünen Erholungsräumen so wichtig.             wir alle sehr gespannt.
       Das Dreieck aus der Bekämpfung der            Den Verantwortlichen in der Urania
Klimaerhitzung und ihrer Folgen, die            und a­ llen Beitragenden danke ich für ihr
­B ewahrung von Biodiversität sowie die         Engagement sehr herzlich und wünsche
 vielfältige Rolle von Natur in der Stadt      dem Projekt viel Erfolg, auch und weil wir
 ­bilden eine komplexe Herausforderung für     gerade bei diesem für Berlin wichtigen
  die Politik in Berlin. Aus Umweltschutz-     ­Thema Fortschritte so dringend brauchen.
  und Überlebensgründen, aber auch aus
  Gründen des guten und gerechten Lebens
  in der Stadt.

                                              C Regine Günther
                                              Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz

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StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin
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StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin
Inhalt

StadtNatur –                            Wilde Nachbarn
Berlin ökologisch                       im Hinterhof
denken                                  C Sophie Bengelsdorf            38
C Highlights der Saison   08
                                        Grüne Stadt im
Waldextrakt                             Klimawandel
C Antje Boetius           14            C Peter Fehrmann                42

Das Ende des                            Ko statt Kuh
Kapitalismus                            C Christian Blees               45
C Ulrike Herrmann         18
                                        Nutzungsdruck
Klimaschutz im                          contra
Alltag                                  Artenvielfalt
C Fritz Reusswig          23            C Thomas Borsch                 48

Cradle to Cradle                        Stadtökologie gibt
C Isabel Gomez            26            es nicht umsonst
                                        C Christiane Heiß               53
 Autolast statt
­Autolust                               Komm, wir
C Andreas Knie            30            retten Essen!
                                        C Wenke Heuts, Theresa Keller   56
Kreisläufe
schließen                               Besucher­
C Thomas Klöckner         34            information /
                                        Impressum                      62

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StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin
StadtNatur –
      Berlin
    ökologisch
     denken

 In der neuen Saison wird die Urania zur zentralen Anlauf­
 stelle für die Stadtnatur Berlins. Unter dem Motto „Stadt­
Natur – Berlin ökologisch denken“ laden wir Sie ein,
Fragen zu stellen und gemeinsam mit Expert*innen,
Künstler*innen und Kurator*innen Vorschläge und
­Lösungen zu entwickeln oder sich auch einfach nur eine
 eigene Meinung zu bilden.
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StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin
StadtNatur möchte Berliner*innen für das           C Saisoneröffnung 4.9.2020, 19:30 Uhr
vielseitige Thema der biolo­gischen Vielfalt    Junge Initiativen, Aktivist*innen und
  sensibilisieren und durch innovative Forma­     ­Politiker*innen auf der Suche nach der
te zeigen, dass auch Recycling und Themen,         ökologischen Kehrtwende
  die im Alltag eher „mitlaufen“ oder auch        Mit Hanna Legleitner, Geschäftsleitung
 ­gerne mal unter den Teppich gekehrt werden,     Restlos Glücklich e. V.; Marco C
                                                                                 ­ lausen,
interessant und unterhaltsam sein können.       ­Initiator von Kollektives Lernen;
Gemeinsam können wir unsere Stadt grüner,       Jan Körbes, Refunc; Ulrich Weigand,
umweltverträglicher und lebenswerter             ­Direktor der Urania.
­machen. Gefördert wird das Projekt durch        Moderation: Tarik Tesfu
  die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr
und Klimaschutz des Landes Berlin.
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StadtNatur - Berlin ökologisch denken Saison 2020/2021 - Urania Berlin
High-
lights
der
neuen                     Urania Goes Green

Saison
                Was ist eigentlich Biodiversität? -
                Eine Podcastreihe mit Tarik Tesfu
                Was können die Berliner*innen für mehr
                Artenvielfalt tun? Wie kommen wir zu

zu StadtNatur
                 einer autofreien Innenstadt? Diesen und
                anderen Fragen zum Thema Stadtöko-
                 logie geht Tarik Tesfu auf den Grund. Er
Artenvielfalt    ist das „Gesicht“ des fünfteiligen Online-­
                 Reportageprojekts „Urania Goes Green“.
Umwelt und       Pro Folge besucht Tarik Tesfu zwei Pro-
                tagonist*innen — von Bürger*innen über

Klimaschutz      Kulturschaffende bis hin zu Wissenschaft-
                 ler*innen. Durch den offenen Dialog wird
                 einmal mehr deutlich: Der Erhalt der
                 biologischen Vielfalt und eines gesun-
                 den Stadtklimas betrifft uns alle. Und die
                ­Urania Berlin mischt vorne mit.

                C Alle Podcasts finden Sie auf urania.de

                Das Projekt StadtNatur wird geleitet von
                High Art Bureau. Sie möchten sich ein-
                bringen, haben Ideen und Vorschläge?
                Dann wenden Sie sich bitte an Franziska
                Benger unter stadtnatur@urania-berlin.de

                                                         10
Musik und Mode

Auch für die kreative Szene ist es
                                                           Smart ReUse
höchste Zeit, ökologisch Verantwortung
zu ­übernehmen.
Und weil Berlin ein Hotspot für Musi-          Das Kollektiv Refunc schärft den
ker*innen und Modedesigner*innen aus           Blick auf unseren Umgang mit gebrauch­
der ganzen Welt ist, hat die Musik- und        ten Materialien aus dem Alltag.
Modeindustrie in unserer Stadt eine wich-     Wie lassen sich diese vielleicht völlig
tige Rolle. Egal, ob es um die Energieeffi-   ­anders nutzen, als wir es bislang gewohnt
zienz von Kulturstätten geht oder um den       sind – und das mit so geringer Umwelt-
Einsatz umweltbelastender Materialien:         belastung wie möglich? Beispiele zeigt
Radiohead, Coldplay, Peggy Gou und             eine „Smart ReUse“-Workshopreihe, die
zahlreiche Künstler*innen in Deutschland       Grundkenntnisse über Herkunft, Zusam-
gehen bereits mit gutem Beispiel voran.        mensetzung, Eigenschaften, Verarbeitung
                                               und Weiterverwendung von Ressourcen
C MI 30.9.2020, 17:30 Uhr                      und Restmaterialien vermittelt. So wird
Klimaneutrale Musiktourneen und                etwa beim Workshop „Mobilität, African
-events                                       Solutions und Reifenkunde“ erklärt, wie
Wie können internationale Musikveran-          man aus dem synthetischen Gummi alter
staltungen umweltbewusst umgesetzt             Reifen neue funktionelle Objekte herstel-
werden? Mit Fine Stammnitz (Green Tou-         len kann – vom Spielgerät bis zur Sitzge-
ring Network), Ines Bartl (TMom Merch),        legenheit.
Tine Theurich (Gründerin Superunknown,
Green Touring Network & Music Declares         C SA 5.9.2020, 14:00 – 18:00 Uhr
Emergeny GER), Moderation: Mia Heresch        Mobilität, African Solutions und
                                              ­Reifenkunde
C DI 21.10.2020, 19:30 Uhr                    Workshopleiter: Jan Körbes, Refunc
Musik im nachhaltigen Gewand
So beeinflusst Musik das Umweltbewusst-       C SA 24.10.2020, 14:00 – 18:00 Uhr
sein von Mode. Mit Pete Boateng (Green        Smart ReUse „House in a day“
Berlin), Hiwot Schulte (Nature Friend) und    Workshopleiter: Jan Körbes, Refunc
Nicolas Reitmeier (KINAM), Layla Mül-
ler (Layla De Mue & Kaleidoscope Berlin),
Moderation: Mia Heresch
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Filmfestival                             Der Urania Garten

Kurzfilmabend 2020                          StadtNatur auf dem Vorplatz der Urania
C SA 19.12.2020, 20:00 Uhr                  Die Aktiven von „Prinzessinnengartenbau/
Kurzfilmabend zum Thema „Biodiversität      nomadisch grün“ stellen auf dem Urania
und Naturschutz in der urbanen Gesell-      Vorplatz eine zweiteilige Installation zum
schaft“                                     Thema Stadtnatur auf. Um zwei mit Was-
                                            ser gefüllte Container herum gruppieren
Naturfilmtage 2021                          sich Beete und Aufenthaltsflächen. Alle
Im Oktober 2021 präsentiert das viertä-     können sich an der Bepflanzung beteili-
 gige Film- und Medienfestival zu „Bio-     gen.
 diversität und Naturschutz in der urba-
 nen Gesellschaft“ ein buntes Programm      Daneben gestaltet die Skulptur von Jan
aus Spiel-, Dokumentar-, Animations-        Körbes den Vorplatz und bietet Raum für
 und ­Experimentalfilmen. Herausragende,    Ankündigungen und Botschaften. Nachts
 preisgekrönte Produktionen verschiede-     leuchtet das Objekt in alle Richtungen
 ner Genres werden gezeigt, eingeführt      und schickt die Nachrichten von Stadt-
 oder von den Filmemacher*innen selbst      Natur in die Stadt. Es ist ein Ort für alle,
vorgestellt. Im Anschluss daran ist das     um sich zu informieren, auszutauschen,
 Publikum eingeladen, mit den Filmma-       zu sitzen, miteinander zu sein.
 cher*innen zu diskutieren. Ein zusätzli-
 ches Rahmenprogramm für Jugendliche        Und gemeinsam mit dem Team von „Prin-
 mit Workshops und Infoveranstaltungen      zessinnengartenbau/nomadisch grün“
 lädt zum Mitmachen ein. Viel Wert wird     wird im Urania Garten natürlich auch ge-
 dabei auf die Auswahl der Gäste und        gärtnert und geerntet.
­Expert*innen gelegt.
                                            C Jeden zweiten Donnerstag im Monat
                                            17:00 – 19:00 Uhr Gartensprechstunde im
                                            Urania Garten bis Oktober 2020 und ab
                                            der neuen Gartensaison 2021

                                                                                      12
Klimastreitgespräch                        Online-Fotowettbewerb

Die bekannte Fernseh- und Hörfunkjour-        „Natur in Berlin entdecken“ – dazu lädt
 nalistin Natalie Amiri moderiert die Reihe     der Fotowettbewerb ein im Rahmen von
„Urania kontrovers“, bei der die Podiums-      Urania Goes Green. Ist Ihnen in Ihrem
 gäste mit unterschiedlichen Haltungen         Kiez schon mal ein Fuchs begegnet? Wie
 offen miteinander und dem Publikum dis-      viele Vögel der Roten Liste haben Sie am
 kutieren. Im Rahmen von StadtNatur wird       Berliner Himmel beobachtet? An welchen
Natalie Amiri den kontroversen Dialog          Berliner Gewässern sind Flusskrebse
fortsetzen.                                    ­heimisch? Und standen Sie schon mal vor
                                                dem ältesten Baum unserer Stadt? Wenn
   C FR, 18. 9. 2020, 19:30 Uhr                Sie Freude daran haben, schöne Natur-
Die Auflagen des Green Deal der EU             bilder zu machen und diese auch mit
Sind sie der Corona-Pandemie g   ­ eopfert    ­anderen zu teilen, dann machen Sie mit!
worden? Oder hat der Kampf um den
­Klimaschutz in Europa gerade erst            Vom 1.9. bis zum 30.11.2020 können Sie
  ­begonnen? Wie sollten die Subventio-       sich am Wettbewerb beteiligen und uns
 nen verteilt werden, um den Klimaschutz      zu Bewusstsein bringen, wie vielfältig die
 ­bestmöglich zu fördern?                     Natur von Berlin ist.

C FR, 19. 10. 2020, 19:30 Uhr                 Auf der Website er Urania, auf Facebook
Die Zukunft der Mobilität in der Stadt        und Instagram werden alle zwei Wochen
Die deutsche Automobilindustrie hinkt im      neue Aufgaben zum Mitmachen veröf-
Vergleich zur internationalen Konkurrenz      fentlicht.
um mehrere Jahre hinterher. Nach wie vor
setzen einheimische Fahrzeughersteller        Als Begleitprogramm werden vier Natur-
auf komplexe Architekturen mit umfang-        bzw. Fotoführungen rund um die Urania
reichen Lieferketten, die Innovationszy-      organisiert.
klen sind zu langsam. Sind Kaufprämien
für Elektroautos sinnvoll? Oder halten wir     C DO, 10.9., 24.9, 8.10. und 22.10.2020,
uns nicht ohnehin zu lange mit batterie-      ­jeweils 18:00 Uhr
getriebenen Fahrzeugen auf?

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Wald-
      extrakt
                     Antje Boetius

Stadtwälder können wir in sehr heißen Sommern, von
denen wir künftig immer mehr erleben werden, gar nicht
genug wertschätzen. Sie spenden Schatten, schaffen ein
kühleres Mikroklima, erhöhen die Luftfeuchtigkeit,
bieten Singvögeln ein Heim und vieles mehr. Zudem gibt
es unglaublich alte Bäume, die einiges an Stadtgeschichte
miterlebt haben.
                                                        14
Ich bin Meeresforscherin und daher sind für          Vor 300 Millionen Jahren wuchsen
 mich Bäume eine ganz besondere, eher            ­d amals an Land unter warm-feuchten
 neue Naturerfindung. Denn die Meere ent­       ­Bedingungen riesige Wälder aus Farn-, Bär­
 standen schon kurz nach der Geburt der          lapp- und Schachtelhalmbäumen in einem
 Erde, vor ca. 4.5 Milliarden Jahren. Sie be­    günstigen tropischen Klima. Die wesentli­
 decken 70 Prozent der Erde und vermutlich       che Erfindung der landbesiedelnden Pflan­
 ist auch das erste Leben in ihnen entstan­      zen bestand darin, emporzuwachsen, der
 den. Das erste Leben, das mit Hilfe von Son­    Sonne entgegen. Durch die Veränderung der
 nenlicht Photosynthese betreiben und da­        klimatischen Bedingungen, die Formung
 bei Sauerstoff produzieren konnte, waren       von Landschaften, das Auffalten von Gebir­
 sogenannte Blaualgen – Cyanobakterien.          gen, aber auch den Krieg der Pflanzen un­
 Ihre Nachfahren leben heute als Symbion­        tereinander um Platz, Licht und Wasser
 ten in allen Pflanzenzellen und vollziehen      entstanden neue Gewächse, die Holzpflan­
 diesen eigenartigen Prozess, der die Erd­       zen.
 atmosphäre lebensfreundlich macht: Sie
 nutzen Sonnenlicht als Energiequelle für             VERHOLZUNG ERMÖGLICHT
 die Fixierung von Kohlenstoffdioxid in Bio­            STABILE STRUKTUREN
 masse, sie spalten dabei Wasser und produ­     Das war erst vor ca. 200 Millionen Jahren.
 zieren Sauerstoff als Abfallprodukt – wofür    Holzbildung bedeutet, dass die Zellwände
wir allen Pflanzen so dankbar sein müssen.        der Pflanzen aus Zellulose verholzen, bis
      Im Meer gibt es keine Bäume, dort sind      die Zellen absterben. Dazu lagert sich
 bis heute (wie zum größten Teil der Erd­       ­Lignin ein, schwer abbaubares Material. Die
 geschichte) Einzeller für die Produktion       Verholzung ermöglicht es der Pflanze, sehr
von Biomasse aus Sonnenlicht und Wasser           stabile Strukturen zu bilden. Im Meer
 zuständig. Sie produzieren ungefähr die          braucht es kein Holz, denn es reichen ein
 Hälfte des Sauerstoffs, den wir atmen. Die       paar Gasblasen in Blättern und Stengeln
 andere Hälfte kommt von den Bäumen und         von Algen, dann erledigt der Auftrieb das
 Gräsern an Land. Aber das ist erdgeschicht­     Emporwachsen in Richtung Sonnenlicht.
 lich eben erst seit kurzer Zeit so. Im Meer           Die Sümpfe speicherten damals un­
 entstanden die ältesten Algenwälder schon        glaubliche Mengen an Waldbiomasse. Das
vor 2,5 Milliarden Jahren. Erst vor rund 400      abgestorbene Pflanzenmaterial bleibt im
Millionen Jahren entwickelten sich aus den        sauerstofffreien Sumpf liegen, wird dann
Wasserpflanzen die ersten einfachen Land­         immer wieder von Flusssedimenten und
 pflanzen. Baumartiges Leben entstand             Geröll bedeckt, von neuen Wäldern besie­
 dann vor 300 Millionen Jahren, im Karbon         delt. Was darauf wächst und abgelagert
– der sogenannten Steinkohlezeit. Damals        wird, verdichtet durch sein Gewicht das be­
waren alle Kontinente noch in einem               grabene Material und presst den Pflanzen­
­Urkontinent vereint – diesen nennen wir          saft aus. Unter hohem Druck und Tempe­
 Pangaea. Deutschland lag damals ungefähr         ratur entsteht über Millionen von Jahren
 am Äquator, es entstand aus sich auffalten­      erst Braun- und dann Steinkohle.
 dem Meeresboden. Das beweisen heute                   Nadelbäume und Laubbäume, die
 noch die Kalksteine aus Ablagerungen ma­        ­unsere heutigen Wälder formen, entstan­
 riner Lebewesen auf der Zugspitze, unse­         den recht spät. Europa kühlte weiter ab und
 rem höchsten Berg.                               die Eiszeiten kamen. Die europäische Land­
15
schaft wurde seit ungefähr drei Millionen               RODUNGEN WAREN
Jahren von Eiszeiten geprägt. Erst seit dem            ANFANGS SCHWIERIG
Rückzug der letzten großen Inlandverei­       Nach ein paar Jahrhunderten hatte der
sungen vor 20.000 Jahren und der ­Zunahme     Wald den Lebensraum der Menschen und
der Temperatur auf recht stabile, für die      ihrer Jagdbeute in Mitteleuropa stark
Entwicklung der Menschheit zuträgliche         ­eingeschränkt. Aus archäologischen Gra­
Klimaverhältnisse vor 8.000 Jahren blieb       bungen wissen wir, dass Menschen seit
zerfurchter, nasser, aber sehr fruchtbarer    ­B eginn der Landwirtschaft den Wald zu­
Boden zurück. Die Bäume mussten den Bo­        rückzudrängen versuchten. Mit Steinwerk­
den dann neu besiedeln. Zunächst war das       zeug waren Rodungen schwierig, zum
Land eher tundra- und steppenartig, die        Brand­roden war es oft zu feucht – Siedlun­
Menschen waren Jäger, zum Beispiel von         gen entstanden also an den Sonnenseiten
Rentieren, denen sie hinterher zogen. Der     von Tälern, um Lichtungen oder an Fluss­
Meeresspiegel war noch wesentlich tiefer –     ufern oder in der Nähe von Hochmooren –
gute 15 Meter – und England war noch mit       überall dort, wo Wald aus natürlichen
dem Kontinent verbunden. Es wanderten          Gründen licht blieb. Der Übergang in die
dann zunächst sogenannte Pionierbaumar­        Bronzezeit vor ca. 4.000 Jahren erlaubte
ten wie zum Beispiel Birken, Fichten und       den Menschen, immer mehr Fläche vom
Kiefern ein – die sich gegen Kräuter und      Wald abzugewinnen, durch Beschneiden
Gräser und die jungen Triebe abgrasenden       und Roden mit zunehmend besserem,
Tiere durchsetzen mussten. Die Besiedlung      schärferem Werkzeug. Seit damals sind im­
Europas durch Mischwälder erfolgte vor al­     mer größere Teile der Wälder durch Acker­
lem durch widerstandsfähige Bäume, die         bau, Tierhaltung und Besiedlung beein­
aus der Landschaft des Tertiärs nach der       flusst. Die Einführung von Eisen als
Eiszeit ins Holozän zurückfanden – wie        Werkstoff, Technologien wie Pflug, Winden,
Tanne, Haselnuss und Eiche.                    Sägemühlen ließ den Menschen den Krieg

                                                                                      16
Urania-Medaille 2020
     Am 3. 12. 2020 wird Prof. Dr. ­Antje
     Boetius die Urania-­Medaille
     ­verliehen. Diese geht an Persönlich­
      keiten, die sich über ihre inter­­na­
      tional heraus­ragende f­achliche
      ­Leistung hinaus um die V    ­ ermittlung
       von ­Bildung und Auf­klärung an eine
       ­breite Öffentlichkeit b
                              ­ esonders
        ­verdient gemacht haben. Frau Prof.
         Dr. Antje Boetius erhält die Aus­
         zeich­nung für ihre Arbeiten zur
         Erforschung der ­Tiefsee und der
         Polarregionen, ihr außerordent­liches
         Engagement für den K  ­ lima- und
         ­Umweltschutz und ihre inter­diszi­
          plinär ange­legte und so anschau­
          liche Vermittlung von W
                                ­ issen.

gegen den Wald gewinnen. Holz war das             Waldes killt den Wald der Gegenwart. Wir
wichtigste Material zum Bauen und Heizen          haben auch noch so viel Kohle im Erdboden
– die Wälder fielen. Im 18. Jahrhundert           weltweit, dass wir durch ihre Verbrennung
brach ein solcher Holznotstand aus, dass          die Erde um über 6° C Durchschnittstem­
der Begriff „Nachhaltiges Wirtschaften“ er­       peratur aufheizen könnten und damit voll­
funden wurde. Größere Waldflächen blie­           ständig und eventuell für immer das Holo­
ben in Europa vor allem dort bestehen, wo         zän – also den Klimabereich, der für uns
Adelige ihre Jagdgebiete schützten. Welt­         Menschen förderlich ist – verlassen würden.
weit waren von ehemals zwei Dritteln Wald­        Das geht uns alle an. Denn durch unseren
besiedlung der Erde nach der Industriellen        hohen Energieverbrauch in Europa bräuch­
Revolution nur noch ein Drittel der Land­         te jeder von uns ungefähr 1.000 erwachsene
fläche der Erde bewaldet, heute ist es nur        Eschen, damit unserer jährlicher Ausstoß
noch ein Viertel. So gehen auch die großen        neutralisiert wird. Was wäre das für ein
Leistungen des Waldes verloren. Wälder            Stadtwald …­
stabilisieren Klima und Wasserhaushalt,
bieten einer riesigen Lebensvielfalt von Tie­     C Prof. Dr. Antje Boetius ist Polar- und Tiefseeforscherin
ren und Pflanzen Schutz, spenden Schatten,        und leitet seit 2017 das Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-
                                                  Zentrum für Polar- und Meeresforschung. Seit 2009 ist sie
speichern CO2 und produzieren Sauerstoff.         Professorin für Geomikrobiologie an der Universität
     Neben Brandrodungen und nicht                Bremen. Ihr besonderes Interesse gilt der Tiefsee und den
                                                  Aus­wirkungen des Klimawandels in den polaren Regionen.
nachhaltiger Forstwirtschaft ist zuneh­           Ihre Arbeit führte sie auf fast 50 Schiffsexpeditionen, von
                                                  denen sie viele geleitet hat. Als Wissenschaftskommuni­
mend der Klimawandel der Feind des Wal­           katorin wurde sie mit dem Communicator-Preis der DFG
                                                  ausgezeichnet. Unter der Schirmherrschaft der Humboldt-
des. Es sind genauer gesagt die riesigen          Universität zu Berlin hat sie mit dem Dramaturgen Frank
Mengen Kohle, die wir weltweit verfeuern.         Raddatz das Projekt „Theater des Anthropozän“ gegrün-
                                                  det. Die Aufführung „Requiem für den Wald“ beschäftigt
Irgendwie grausig – das Konzentrat des Ur-        sich mit der Beziehung zwischen Mensch und Wald.

17
Das
Ende

         des

 Kapitalis-
      mus
Ulrike Herrmann

                                           Essay

Klimaschutz kann nur gelingen, wenn das Wachstum
aufhört. Was sich aus der Corona-Krise lernen lässt –
und von der britischen Kriegswirtschaft ab 1940.

Die Corona-Pandemie machte das Undenk­          Staat Kredite aufnimmt. Im wahrsten Sinne
bare denkbar: Plötzlich flogen keine Flug­       des Wortes wird die Corona-Krise mit Geld
zeuge mehr, der Ausstoß an Treibhausga­         zugeschüttet. Die EU mobilisiert mehr als
sen sank rapide, Öl wurde zur Ramschware,        eine Billion Euro; Deutschland ist bei denk­
und viele Länder führten eine Art bedin­         baren Hilfen von etwa 1,4 Billionen Euro
gungsloses Grundeinkommen ein. Der               angekommen. Es ist unmöglich, diese gi­
Staat hatte allerorts das Sagen, und sogar       gantischen Schulden zu tilgen und zurück­
die Neoliberalen forderten plötzlich milliar­   zuzahlen. Stattdessen setzt man auf Wachs­
denschwere Konjunkturprogramme. Die             tum. Sobald die Wirtschaftsleistung steigt,
Globalisierung schien genauso beendet wie       verlieren die Schulden an Relevanz – bis sie
der ungebremste Kapitalismus. Es wirkte,        irgendwann vergessen sind.
als wäre ein Weg gefunden, der zu mehr                 Bleibt nur ein Problem: Die Klima­
Nachhaltigkeit führt.                            schützer*innen haben ja Recht, dass man
      Doch dieser Schein trügt. Die Corona-     in einer endlichen Welt nicht unendlich
Krise zeigt gerade nicht, wie man den Kapi­     wachsen kann. Die Europäer*innen, inklu­
talismus verlassen kann – sondern beweist        sive Deutschland, hinterlassen einen öko­
im Gegenteil, dass unser Wirtschaftssystem      logischen Fußabdruck, als könnten sie drei
zum Wachstum verdammt ist. Der Lock­            Planeten verbrauchen, aber bekanntlich
down dauerte in den meisten Ländern nur          gibt es nur die eine Erde.
wenige Wochen, und dennoch belaufen sich               Bisher hoffen die Regierungen, dass
die Corona-Schäden nun auf Billionen Dol­        sie Wirtschaft und Umwelt langfristig
lar. Längst wären viele Unternehmen pleite      ­i rgendwie versöhnen könnten. Die Stich­
und fast alle Beschäftigten arbeitslos, wenn    worte heißen „Green New Deal“ oder „Ent­
die Staaten nicht permanent neue Hilfspro­      kopplung“ von Wachstum und Energie.
gramme auflegen würden, um die Wirt­            Auch in den jetzigen Pandemiezeiten wird
schaft zu stabilisieren.                        intensiv diskutiert, wie sich der Wiederauf­
      Momentan besteht der Trick darin,          bau nach der Corona-Krise ökologisch
einfach neues Geld zu „drucken“, indem der      ­gestalten ließe.
19
Angeblich wäre es sogar billig, die Welt       gestaltet werden. So wird bei der deutschen
zu retten. Die meisten Studien gehen davon          CO2-Abgabe diskutiert, dass der Staat auf
aus, dass ein vernünftiger Klimaschutz nur          die Einnahmen verzichtet und ein „Energie­
maximal ein bis zwei Prozent des Bruttoin­          geld“ an die Haushalte auszahlt. Arme Fa­
landsprodukts kosten würde. Fragt sich bloß,        milien würden profitieren, weil sie eher we­
warum sich in der Umweltpolitik so wenig            nig Energie verbrauchen, während die
tut, wenn sie doch fast umsonst wäre? Ir­           Reichen belastet würden. So gerecht diese
gendwo muss sich ein Denkfehler verbergen.          Umverteilung wäre: In der Summe hätten
                                                    die Haushalte genauso viel Geld wie vorher,
              KLIMASTEUERN                          um zu fliegen, Auto zu fahren und im Inter­
Um diesem Fehler auf die Spur zu kommen,            net zu surfen.
lohnt sich ein Blick auf die CO2-Steuer, die             Die Politik verwechselt Betriebs- mit
 demnächst in Deutschland eingeführt wird           Volkswirtschaft: Ein höherer CO2-Preis hat
und das „Herzstück“ der hiesigen Klima­             zwar eine Lenkungswirkung – aber nur
politik sein soll. Ab 2021 wird die Abgabe          beim einzelnen Produkt. Die Gesamtwirt­
 bei 25 Euro pro Tonne CO2 liegen, dann bis         schaft wird weiter in die Klimakatastrophe
2025 auf 55 Euro steigen und anschließend           gesteuert. Die Deutschen tappen in eine alt­
55 bis 65 Euro betragen.                            bekannte Falle, die Bumerangeffekt heißt.
      Kritiker bemängeln vor allem, dass die
Steuer viel zu niedrig sei. So fordert das Um­
weltbundesamt, dass der CO2-Preis bei 180
                                                    „In der Umweltpolitik hat es
Euro die Tonne liegen sollte. Um diese              daher wenig Sinn, nur auf
­abstrakten Zahlen in die konkrete Welt zu
übersetzen: Ein Liter Diesel würde dann
                                                    Preise und Marktmechanis­
 etwa 50 Cent mehr kosten.                          men zu setzen. Das weiß
      Das ist viel Geld. Doch leider gilt auch
hier, dass der Satz „viel hilft viel“ falsch ist.
                                                    auch die Politik.“
Dem Klima würden die „Klimasteuern“
nichts nützen. Denn egal, wie hoch die               Dieses Paradox wurde bereits 1865 vom
Energiesteuern sind: Dieses Geld ver­                ­b ritischen Ökonomen William Stanley
 schwindet nicht. Es wird nicht in einen tie­       ­Jevons beschrieben und ist eine der wenigen
fen Brunnen geworfen, um dort zu ver­               Voraussagen über den Kapitalismus, die sich
 schimmeln, sondern bleibt im System. Die            als richtig herausgestellt haben: Wer Energie
Bürger*innen müssten zwar tiefer ins Porte­           oder Rohstoffe spart und mit weniger Mate­
monnaie greifen, wenn sie Energie verbrau­           rialeinsatz die gleiche Gütermenge herstellt,
 chen – aber ihr Geld landet dann beim Staat,         der steigert in Wahrheit die Produktivität
 der es wieder ausgeben kann und damit für           und ermöglicht damit neues Wachstum.
neue Nachfrage und neue CO2-Emissionen                      In der Umweltpolitik hat es daher we­
 sorgt. Die OECD musste bereits feststellen,         nig Sinn, nur auf Preise und Marktmecha­
 dass es „keinen klaren Zusammenhang gibt            nismen zu setzen. Das weiß auch die Politik.
zwischen den Emissionen eines Landes und             Die große Hoffnung ist daher, dass man die
 der Energiebesteuerung“.                             gesamte Wirtschaft komplett auf Ökostrom
      An diesem Befund ändert sich auch              umstellen könnte – ob Verkehr, Industrie
nichts, wenn die Energiesteuern sozial aus­           oder Heizung.
                                                                                              20
Diese Idee klingt jedoch nur so lange    Hälfte der Nettoenergie liefern kann, die
gut, wie man die offensichtlichen Probleme     sich mit fossilen Varianten erzeugen lässt.
 dahinter verschweigt. Ein E-Auto ist, auch    Das ist bitter. Denn damit ist klar, dass Öko­
wenn es mit Ökostrom fährt, keineswegs         strom teuer ist und sich die Effizienz hal­
umweltfreundlich, sobald auch die rohstoff­    bieren würde. Sobald aber die Produktivität
intensive Herstellung berücksichtigt wird.     sinkt, kann es kein Wachstum mehr geben.
Zudem entsteht Ökostrom nicht aus dem          Die Wirtschaft muss schrumpfen, wenn
Nichts, sondern produziert ebenfalls Folge­    man sie allein mit Ökostrom antreiben will.
kosten. Windräder sind zwar längst nicht so    Es ist also ein Denkfehler zu glauben, es
umweltschädlich wie Kohlekraftwerke, aber      wäre mit Kosten von einem bis zwei Prozent
auch sie greifen in die Landschaft ein und     der Wirtschaftsleistung getan, wenn man
werden bald zu einem Müllproblem. Denn         vernünftigen Klimaschutz betreiben will.
Windräder laufen nur maximal 30 Jahre               Aber wie soll man sich dieses Schrump­
und sind anschließend eine Industrieruine      fen der Wirtschaft vorstellen? Es hilft, vom
aus neunzig Metern Schrott. Bisher ist noch    Ende her zu denken. Wenn Ökostrom
völlig unklar, wie man die verschlissenen      knapp bleibt, dann ist eine klimaneutrale
Rotorenblätter ­eigentlich recyclen soll.      Wirtschaft nur denkbar, wenn man auf
      Vor allem aber: Ökostrom wird immer      sämtliche Flug­reisen und das private Auto
knapp bleiben. Diese Aussage mag ­zunächst     verzichtet. Auch Banken und Versicherun­
 seltsam wirken, denn die Sonne schickt        gen sind weitgehend überflüssig, wenn eine
10.000 Mal mehr Energie zur Erde, als die      Wirtschaft schrumpft. Gleiches gilt für PR-
 sieben Milliarden Menschen benötigen          Berater*innen, Reisebüros, Messelogisti­
würden, wenn sie alle den Lebensstandard       ker*innen oder Grafik­­designer*innen.
 der Europäer*innen genießen könnten. An            In einer klimaneutralen Wirtschaft
physikalischer Energie fehlt es also nicht,    würde niemand hungern – aber Millionen
und dennoch wäre es eine Milchmädchen­         von Arbeitnehmer*innen müssten sich um­
rechnung zu glauben, dass Ökoenergie im        orientieren. Zum Beispiel würden sehr viel
Überfluss zur Verfügung stehen kann.           mehr Menschen in der Landwirtschaft und
      Denn Sonnenenergie allein nutzt gar      auch in den Wäldern benötigt, um die Fol­
nichts; sie muss erst eingefangen werden.      gen des Klimawandels zu lindern.
Solarpanele und Windräder sind jedoch
technisch aufwändig – jedenfalls deutlich                  ALTERNATIVLOS
aufwändiger, als Kohle, Öl oder Gas zu för­    Diese Sicht auf die Zukunft mag radikal
 dern und zu verbrennen. Momentan wirkt        ­erscheinen, aber sie ist im wahrsten Sinne
 der Ökostrom konkurrenzfähig, weil damit       des Wortes „alternativlos“. Wenn wir unse­
„nur“ fossiler Strom ersetzt wird – und zwar   ren CO2-Ausstoß nicht auf netto null redu­
im laufenden Betrieb. Die Bilanz wird sofort   zieren, geraten wir in eine „Heißzeit“, die
 schlechter, wenn der Ökostrom gespeichert     von selbst dafür sorgt, dass die Wirtschaft
und in der gesamten Wirtschaft eingesetzt      schrumpft. In diesem ungeplanten Chaos
werden soll. Erhellend ist der „Erntefaktor“   käme es wahrscheinlich zu einem Kampf
EROI, der misst, wie viele Energieeinheiten    aller gegen alle, den die Demokratie nicht
investiert werden müssen, um neue Ener­        überleben würde.
gieeinheiten zu gewinnen. Dabei stellt sich          Der Rückbau des Kapitalismus muss
 dann heraus, dass Ökostrom maximal die        geordnet vonstattengehen. Zum Glück gibt
21
es bereits ein historisches Schrumpfungs­           gel, aber es wurde rationiert. Die Briten er­
 modell, an dem man sich orientieren könn­           fanden also eine private und demokratische
te: die britische Kriegswirtschaft ab 1940.          Planwirtschaft, die mit dem dysfunktiona­
Damals standen die Briten vor einer mons­            len Sozialismus in der Sowjetunion nichts
trösen Herausforderung. Sie hatten den               zu tun hatte.
Zweiten Weltkrieg nicht kommen sehen                       Die staatliche Lenkung war ungemein
und mussten nun in kürzester Zeit ihre               populär. Wie die britische Regierung bereits
Friedenswirtschaft auf den Krieg umstellen,          1941 feststellen konnte, war das „Rationie­
 ohne dass die Bevölkerung hungerte.                 rungsprogramm“ einer der größten Erfolge
      Das erste Ergebnis war eine statisti­          an der „Heimatfront“. Denn die verordnete
 sche Revolution: Damals entstand die volks­         Gleichmacherei erwies sich als ein Segen:
wirtschaftliche Gesamtrechnung, die bis              Ausgerechnet im Krieg waren die unteren
 he u te e i n St a nd a rd we rk z e u g a l le r   Schichten besser versorgt als je zuvor. Zu
­Ö konom*innen ist. Mit diesem neuen                 Friedenszeiten hatte ein Drittel der Briten
                                                     nicht genug Kalorien erhalten, weitere
                                                     zwanzig Prozent waren zumindest teilwei­
„In einer klimaneutralen                             se mangelernährt. Nun, mitten im Krieg,
Wirtschaft würde niemand                             war die Bevölkerung so gesund wie nie.
                                                           Heute herrscht zum Glück Frieden,
hungern – aber Millionen                             aber die gesamtgesellschaftliche Aufgabe
von Arbeitnehmer*innen                               ist beim Klimawandel ähnlich groß. Wieder
                                                     geht es ums Überleben der Menschheit. Aus
müssten sich umorientieren.                          der Corona-Krise lässt sich zwar nicht viel
Zum Beispiel würden sehr                             für die Zukunft lernen, aber eine Lektion
                                                     hält sie doch parat: Der Staat hat erneut ge­
viel mehr Menschen in                                zeigt, dass er schnell und wirkmächtig han­
der Landwirtschaft und                               deln kann. Diese Kompetenz muss er als
                                                     Nächstes nutzen, um geordnet aus dem
auch in den Wäldern benö­                            Wachstum auszusteigen.
tigt, um die Folgen des
Klimawandels zu lindern.“                            C Ulrike Herrmann wird im ­kommenden
                                                     Jahr im Rahmen des Projekts „StadtNatur“
                                                     in der U
                                                            ­ rania auftreten.
I­ ­nstrument ließ sich ausrechnen, wie viele
 Fabriken man nutzen konnte, um Militär­
 ausrüstung herzustellen, ohne die zivile
Versorgung zu gefährden.
        Es entstand ein Kapitalismus ohne
Markt, der bemerkenswert gut funktionier­
 te. Die Fabriken blieben in privater Hand,
 aber die Produktionsziele von Waffen und
                                                     C Ulrike Herrmann ist ausgebildete Bankkauffrau und hat
 Konsumgütern wurden staatlich vorgege­              Geschichte und Philosophie an der FU Berlin studiert.
 ben – und die Verteilung der Lebensmittel           Neben ihrer aktuellen Tätigkeit als Wirtschaftskorrespon-
                                                     dentin der „tageszeitung“ (taz) ist sie Buchautorin und
 öffentlich organisiert. Es gab keinen Man­          regelmäßiger Gast in Radio und Fernsehen.

                                                                                                            22
Klima-
           schutz im
             Alltag

                      Fritz Reusswig

365 Tage, 100 Haushalte, ein Ziel: CO2-neutral leben in
­Berlin! Was Klimaschutz ganz praktisch im Alltag bedeu­
 tet, haben Familien mit Kindern, Lebenspartnerschaften,
Wohngemeinschaften und Singles im Rahmen des
Projekts „Klimaneutral leben in Berlin“ (KliB) getestet.
Wir geben Einblicke in die E­ rgebnisse eines faszinieren­
 den Klimaschutz-Reallabors.
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Wie groß ist mein persönlicher CO2-Fuß­          weniger als zu Beginn und damit rund 35
  abdruck? Wie kann ich ihn reduzieren?          Prozent besser als der deutsche Durch­
 ­Fragen dieser Art hat sich jeder von uns        schnitt.
  schon einmal gestellt. Und sie dann schnell           Unterstützt wurden die Teilneh­
wieder vergessen. Zu kompliziert. Ich als         mer*innen von unserem eigens entwickel­
  Einzelperson kann sowieso nichts ändern         ten „Carbon Tracker“, einem Klimarechner
– diese Antworten und Ausflüchte hört man         für PCs und mobile Endgeräte. Er baut auf
  immer wieder im Klimadiskurs. Doch dass          dem CO2-Rechner des Umweltbundesamtes
  auch kleine Veränderungen viel bewirken         auf und wurde für das wöchentliche
  können, hat unser durch das Bundesminis­      ­Tracking weiterentwickelt. Der Tracker
  terium für Umwelt finanziertes Mitmach-         ­dokumentiert den persönlichen CO2-Fuß­
Projekt KliB gezeigt, ein gemeinsames             abdruck, zeigt auf, wie sich die eigene
­Pilotprojekt des Potsdam-Instituts für Kli­     ­Klimabilanz aufsummiert und erklärt, wo
  mafolgenforschung (PIK), verschiedener          Emissionen eingespart werden können.
  klimafreundlicher Berliner Unternehmen                Besonders erfolgreich waren Haushal­
  und Nichtregierungsorganisationen.              te, die im Rahmen des Reallabors Energie­
       In einem einjährigen Feldversuch ha­       beratungen beanspruchten – sie konnten
  ben die 100 teilnehmenden Haushalte aus         ihren CO2-Fußabdruck um bis zu 40 Pro­
  Berlin einen klimafreundlichen Lebensstil       zent senken. Insgesamt haben wir im Rah­
  geführt. Dabei ging es insbesondere darum,      men von KliB beobachtet, dass schon relativ
  Handlungsfelder aufzuzeigen, in denen gro­      kleine Veränderungen im Alltag einen gro­
  ßes Potenzial steckt, CO2-Emissionen ein­       ßen Beitrag zur Klimastabilisierung leisten
  zusparen – sei es beim alten Kühlschrank        können: sei es eine Ernährung mit mehr
  mit zu hohem Verbrauch, beim Fleischkon­        Gemüse und wenig Fleisch, öfter auf Rad
  sum zu jeder Mahlzeit oder beim Auto als        oder öffentliche Verkehrsmittel umzustei­
  bevorzugten Fortbewegungsmittel.                gen oder zu Hause auf Grünstrom umzu­
                                                  stellen.
              DIE BILANZ:
      VON 11,6 AUF 7,8 TONNEN CO2                        NOCH WEIT ENTFERNT
Derzeit kommen auf die Bundesbürger*in­                     VOM PARISER
nen pro Kopf im Schnitt 11,6 Tonnen CO2                   KLIMAABKOMMEN
pro Jahr. Dieser Wert umfasst alle Emissio­     Andere Haushalte waren weniger erfolg­
nen entlang des Lebenszyklus der Produk­          reich dabei, Emissionen einzusparen – etwa
te und Dienstleistungen, auch wenn sie im       wenn in Familien mit Kindern ein Schüler­
Ausland anfallen. Die KliB-Pionier*innen          austausch nach Neuseeland zwar den
waren von Anfang an schon deutlich klima­       ­Horizont, aber auch die Klimabilanz um
sensibler; sie starteten zum Projektbeginn        ­einige Emissionen erweiterte. Insgesamt
mit gut 8,7 Tonnen (also 25 Prozent unter         müsste ein persönlicher CO2-Fußabdruck,
dem Bundesdurchschnitt). Obwohl ihr CO2-           der mit den globalen Klimaschutzzielen von
Fußabdruck schon deutlich besser war als         Paris, den Klimaschutzzielen des Bundes
der Durchschnitt, haben sie es dank der           und dem Klimaneutralitätsziel des Berliner
KliB-Interventionen geschafft, noch mehr         ­Senats für 2050 übereinstimmt, nochmals
CO2 einzusparen: Am Ende des Projekts              erheblich schrumpfen: auf maximal eine
waren es mit 7,8 Tonnen pro Kopf 11 Prozent     Tonne pro Kopf und Jahr.
                                                                                         24
OHNE DIE POLITIK                      miert werden. Und wie die Landwirtschaft
              GEHT ES NICHT                        oder die deutsche Industrie produzieren,
Eine der wichtigsten Erkenntnisse unseres          lässt sich durch Einzelne auch schlecht be­
Klimaschutz-Reallabors nach einem Jahr:            einflussen.
Den Bürger*innen liegt unsere Zukunft am                 Hier sollte sich die Politik dafür ein­
Herzen; sie wollen und können ihren CO2-           setzen, für Rahmenbedingungen zu sorgen,
Fußabdruck signifikant reduzieren, wenn            die einem klimafreundlicheren Alltag ent­
sie gut informiert und motiviert werden.           gegenkommen. Gerade bei der Ernährung
Den persönlichen CO2-Austoß auf 7,8 Ton­           oder dem öffentlichen Verkehr braucht es
nen zu reduzieren, könnte für jeden Haus­          weitergehende Anstrengungen. Dort müs­
halt relativ leicht und ohne große Komfort­        sen Politik und Wirtschaft ansetzen und
einbußen möglich sein – und das wäre               nachhaltigere, bessere Rahmenbedingun­
bundesweit schon eine ganze Menge.                 gen und Infrastrukturen für einen klima­
     Unser Reallabor hat jedoch auch sehr          freundlichen Alltag schaffen. Das wün­
klar die Grenzen des/der Einzelnen aufge­          schen sich auch unsere Haushalte.
zeigt: Selbst ambitionierte Haushalte kön­
nen ihre Klimabilanz maximal halbieren, C Zu diesem Thema plan das PIK 2021
doch dann ist irgendwann Schluss. Ab ei­ eine Veranstaltung in der Urania.
nem bestimmten Punkt hilft nur eine ande­
                                            C Dr. Fritz Reusswig ist Soziologe und leitender Forscher
re Politik. Denn sogenannte öffentliche beim Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).
Emissionen – etwa durch Straßenbeleuch­ 2005       war er Gastwissenschaftler am Caribbean Communi-
                                            ty Climate Change Center und der Kennedy School of
tung, Krankenwagen oder auch die Bundes­ Government in Harvard. Seine Forschungsschwerpunkte
                                            sind Lebensstil und Konsumentwicklung sowie soziologi-
wehr – können nicht von Einzelnen mini­ sche Fragen globaler Umweltveränderungen.
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Cradle
                  to
                Cradle
                     Isabel Gomez

Begrünte Wände, die schick aussehen und die Luft reini­
gen. Teppiche, die Wohnlichkeit verbreiten und Feinstaub
binden. Und Büromöbel, die auch für die Umwelt gut
sind: Das C2C LAB der Cradle to Cradle NGO an
der Landsberger Allee ist die weltweit erste Sanierung
einer bestehenden Gewerbeeinheit, die konsequent nach
eigenen Kriterien durchgeführt wurde.
                                                       26
Rohstoffe gehen hier nicht verloren, son­
dern können nach ihrem Einsatz wieder­
verwendet werden. Das Leuchtturmprojekt
ist ein begeh- und erlebbares Beispiel für
ressourcenschonendes Bauen und zeigt,
dass aus dem Berliner Bestand heraus ge­
sunde und kreislauffähige Räume zum
Wohnen und Arbeiten entstehen können.
Ohne zusätzlichen Flächenverbrauch und
ohne Bauschutt.
      2018 fand die Cradle to Cradle NGO auf
der Suche nach einem Büro für das wach­
sende Team in ganz Berlin schlicht kein Ge­
bäude, das C2C-Ansprüchen entsprach: ma­
terialgesund, reversibel, kreislauffähig. Es
gab aber diese ehemalige Apotheke in einem
klassischen Ost-Berliner Plattenbau, deren
Finanzierung die NGO gerade so stemmen
konnte. Also packte das Team die Sanierung
der 400 Quadratmeter großen Gewerbeein­          Großer C2C-Congress 2020 mit Bundesumweltministerin
heit an – mit Unterstützung zahlreicher          Svenja Schulze in der Urania.

Partnerunternehmen und der städtischen
Wohnungsbaugesellschaft G    ­ ewobag, Eigen­    werden, entsteht Müll. In den meisten Fällen
tümerin des Gebäudekomplexes.                    ist das Sondermüll, weil M­ aterialien verbaut
      Die Bauwirtschaft ist nicht nur eine der   wurden, die nicht vollständig und ohne Qua­
ressourcenintensivsten Branchen über­            litätsverlust recycelt werden können. Sei es,
haupt. In Deutschland ist sie auch für rund      weil sie aus Verbund­stoffen bestehen, die
60 Prozent des gesamten Müllaufkommens           nicht rückstandslos trennbar sind. Oder weil
verantwortlich. Gleichzeitig erfordern Ur­       Materialien Schadstoffe enthalten. Obwohl
banisierung und Bevölkerungswachstum             in der Nutzungsphase oft klimaneutral, tra­
weltweit neue Wohn- und Bürogebäude in           gen diese Gebäude damit langfristig nicht
Städten.                                         dazu bei, Umweltprobleme zu lösen. Sie ver­
                                                 lagern sie zeitlich nur nach hinten.
       KLIMANEUTRAL ALLEINE                            Sogenanntes nachhaltiges Bauen geht
          IST NICHT GENUG                        zudem oft mit Abriss und Neubau oder der
Um diesen Anforderungen zu begegnen,             Erschließung neuer Bauflächen einher.
wurden Nachhaltigkeitskriterien für Bau­         Speziell in Berlin, wo Tausende von Be­
vorhaben entwickelt. Es reicht allerdings        standsgebäuden vorhanden sind, ist das
nicht aus, Gebäude zu dämmen, um CO2 ein­        Verschwendung auf Kosten der Natur. Pro­
zusparen oder Regenwasserkonzepte und            jekte wie das C2C LAB zeigen, dass selbst
Dachbegrünungen umzusetzen. Sie helfen           in älteren Bestandsgebäuden gesunde, res­
nicht dabei, die drohende Ressourcen- und        sourcenschonende und moderne Räume
Müllkrise aufzuhalten. Wenn diese Gebäude        entstehen können. Wo bestehende Struktu­
in einigen Jahrzehnten wieder abgerissen         ren abgerissen werden, entsteht unweiger­
27
lich Müll. Und wo neue Bauflächen er­
schlossen werden, werden dadurch Flächen
versiegelt.
     Cradle to Cradle geht als ganzheitlicher
Ansatz, und damit auch im Baukontext, da­
her weit über das Konzept der Nachhaltig­
keit hinaus. Statt klimaneutral zu sein, ist
klimapositiv das Ziel. Bei der Sanierung des
C2C LAB wurden daher überwiegend nach
Cradle to Cradle zertifizierte oder davon in­
spirierte Materialien verbaut. Die Zertifizie­
rung beinhaltet unter anderem die Kriterien
Materialgesundheit, Verwendung erneuer­
barer Energien und ressourcenschonender
Umgang mit Wasser bei der Herstellung.
Zudem sind C2C-Produkte so entwickelt,
dass ihre Bestandteile entweder kompos­
tierbar sind oder ohne Qualitätsverlust im­
mer wieder recycelt und wiederverwendet
werden können. So wird der Abbau weiterer
                                                   euer Kern in alter Schale: Die gesamte Einrichtung des LAB ist
                                                 UN
Ressourcen perspektivisch überflüssig. Und         komplett kreislauffähig.
                                                   ine Besuchergruppe der Deutschen Gesellschaft für Internationale
                                                 DE
alle Materialien sind so verbaut, dass sie         Zusammenarbeit (GIZ) nimmt mit Vertretern aus der Mongolei die

rückstandslos entnommen und weiterver­             C2C-Einrichtung im LAB gründlich in Augenschein.

arbeitet werden können.
                                                 entweder biologisch abbaubar sind oder im­
            VOM HAUS ZUR                         mer wieder weiterverwendet werden kön­
         MATERIALDATENBANK                       nen.
Bevor die Sanierung losgehen konnte,                  Deutlich wird das Prinzip am Beispiel
musste die ehemalige Apotheke zunächst           der Fenstersysteme im LAB. Die Alu-Fens­
von schadstoffhaltigen Materialien befreit       terrahmen sind nicht verschäumt, sondern
werden. Die größte Schwierigkeit bestand         mit Blenden verschraubt. Das Fensterglas
darin, diese zu identifizieren, denn entspre­    besteht aus recycelten Glasscherben. Soll ein
chende Daten waren für das 1986 erbaute          Fenster vergrößert werden, kann das Alumi­
Gebäude schlicht nicht vorhanden. Neben          nium der Rahmen herausgeschraubt, einge­
den genannten Schwerpunkten war bei der          schmolzen und zu neuen, passenden Rah­
Sanierung daher ein Ziel, eine digitale Da­      men gefertigt werden. Die Fensterscheiben
tenbank aller verbauten Materialien und          werden entnommen, eingeschmolzen und
Stoffe zu erstellen. Auch in 50 Jahren, wenn     wiederverwendet. Es entsteht kein Müll und
aus dem C2C LAB vielleicht wieder eine           die wichtige Ressource Aluminium geht
Apotheke oder eine Wohnung werden soll,          nicht verloren. Wird dieses Prinzip konse­
ist dann nachweisbar, welcher Baustoff an        quent zu Ende gedacht, entstehen für Bau­
welcher Stelle in welcher Form verwendet         unternehmen oder Materiallieferanten gänz­
worden ist. Der Wert des Gebäudes besteht        lich neue Geschäftsmodelle. Sie verbauen
in den darin verwendeten Ressourcen, die         einen Rohstoff, behalten den Wert des Roh­
                                                                                                                     28
Cradle to Cradle – so geht morgen              zahlt wird. Er hat dadurch einen Anreiz, die
     Im menschlichen Denken und Handeln             Maschine so herzustellen, dass sie einfach
     von ­morgen ist Cradle to Cradle (wört-        reparierbar, rückstandslos in ihre Einzeltei­
     lich: „von Wiege zu Wiege“, sinngemäß:         le zerlegbar und möglichst lange nutzbar ist,
     „vom Ursprung zum Ursprung“) selbst-           um so lange wie möglich so viele Waschgän­
     verständlich. Nach dem Vorbild der ­Natur      ge wie möglich zu verkaufen. Gepaart mit
     ist jeglicher ­Abfall Nährstoff für etwas      einer Grauwasseraufbereitung entsteht ein
     Neues. Das destruktive ­Konzept „Müll“         Wasserkreislauf, der der Verschwendung
     kennt kein Mensch mehr. Alles besteht          sämtlicher involvierter Ressourcen vor­
     aus gesunden und geeigneten Materia-           beugt. Diese Innovationen und die Partner­
     lien. Nutzungsszenarien sind konsequent        schaft mit ihren Herstellenden geben dem
     durchdacht. Alles zirkuliert in kontinuier-    LAB den Charakter eines Reallabors. Es ist
     lichen Kreisläufen. ­Technologische, bio-      Anreizgeber und Ideenpool. Zu den nächs­
     logische und kulturelle Vielfalt ist überall   ten geplanten Projekten gehören unter an­
     fest verankert. Energie wird ausschließ-       derem eine Zinkfassade mit eingebautem
     lich regenerativ gewonnen. Arbeitsbe­          Fahrradständer, die perspektivisch begrünt
     dingungen sind fair, soziale ­Strukturen       und mit einem Grauwasseraufbereitungs­
     intakt. Mit der Denkschule und dem             system versehen werden soll. Mehr als 40
     ­Designkonzept von Cradle to Cradle hin-       Partnerunternehmen haben die Sanierung
      terlassen wir Menschen einen positiven        und Ausstattung des LABS unterstützt.
      ökologischen Fußabdruck. Das ist die
      ­Vision von Cradle to Cradle.                          EINGEBETTET IN EIN
                                                          KOMMUNALES C2C-KONZEPT
                                                    Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit aus
stoffes aber in ihren Büchern. Nach der Nut­        dem LAB heraus ist die Begleitung von
zungsphase eines Gebäudes für einen be­             Städten und Kommunen, die C2C in ihrer
stimmten Zweck entnehmen sie den Rohstoff           Region verankern wollen. Durch ihre Ver­
wieder, recyceln und verarbeiten ihn weiter.        waltungsbehörden und angeschlossenen
Der Wert des Rohstoffs geht ebenso wenig            staatlichen Institutionen wie städtische
verloren wie der Rohstoff selbst. Vielmehr          Baugesellschaften sind Städte und Kommu­
kann die Nutzung ein und desselben Roh­             nen die größten Beschaffer des Landes. Sie
stoffs mehrfach verkauft werden.                    sind einer der größten Hebel, Cradle to
                                                    Cradle in der Fläche einzuführen und somit
             VERWENDEN STATT                        zu einem schonenden Umgang mit Res­
                 BESITZEN                           sourcen beizutragen und das von Menschen
Dieser Ansatz findet sich im LAB bereits an         gemachte Prinzip Müll abzuschaffen. Beide
anderen Stellen. Die PVC-freien Böden im            Probleme sind letztlich eine der Ursachen
LAB bestehen unter anderem aus recycel­             für die Klima- und Umweltprobleme, die
ten Windschutzscheibenfolien. Der Her­              unsere Gesellschaft dringend bewältigen
steller recycelt die Bodenfliesen und stellt        muss, um eine lebenswerte Zukunft für
daraus neue her. Sie werden nicht verklebt,         Mensch und Umwelt zu sichern.
sondern schwimmend verlegt.                         C Isabel Gomez ist Kommunikationsreferentin bei Cradle to
      Die Spülmaschine im LAB ist vom Her­          Cradle NGO und für die Pressearbeit zuständig. Sie hat
                                                    Volkswirtschaftslehre studiert und war anschließend zehn
steller geliehen, der für die Waschgänge be­        Jahre als Wirtschafts- und Finanzjournalistin tätig.

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Andreas Knie
                            Interview
                          Christian Blees

      Autolast
   statt Autolust
 Mit dem im Juni 2018 vom Abgeordnetenhaus verab­
  schiedeten Mobilitätsgesetz schreibt der Berliner Senat
 Maßnahmen vor, durch welche die Leistungsfähigkeit
  des Verkehrssystems in seiner Gesamtheit verbessert
­werden soll. Mit dieser Frage beschäftigt sich der Leiter
  der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesell­
  schaft­liche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum
  Berlin für Sozialforschung (WZB) schon seit mehreren
Jahren. Im ­Interview mit der Urania verrät Andreas Knie
  unter an­derem, ­warum er die Hauptstadt gerne in die
 1960er Jahre zurück­versetzen möchte, Stadtrand­-
  bewohner*innen zunehmend von Armut bedroht sind –
  und was ­Berlins Autoverkehr aus seiner Sicht mit dem
 ­Rauchverbot in Restaurants zu tun hat.
                                                             30
Inwiefern gehören          hat der Verkehr derart       viel Reformeifer gebaut
­„digi­tale Mobilität“ und   zugenommen, dass bei         wurden, wie etwa in Berlin
 „gesellschaftliche Diffe-   vielen Menschen die          die Gropiusstadt oder das
  renzierung“ zusammen –     Autolust inzwischen zur      Märkische Viertel. Sie alle
 und woran forschen          Autolast mutiert ist. Aber   dienten ursprünglich dazu,
 Sie genau?                  es ändern sich Dinge. Weil   die Menschen aus den
 Wir analysieren zunächst    heutzutage praktisch alles, dunklen und schmutzigen
  einmal, wie sich unsere    was wir tun, ohne Smart­     Innenstädten herauszuho­
 Gesellschaft bewegt – und   phone kaum noch denkbar len und weiter draußen mit
  dies gleich in doppelter   erscheint, sprechen wir in   reichlich Licht, Luft und
 Hinsicht. Bei der soge­     diesem Kontext gerne von     Sonne zu versorgen.
 nannten sozialen Mobilität  digitaler Mobilität. Wir     Leisten konnten sich das
  geht es um die Frage, wie  fragen: Wie wirkt sich       seinerzeit eigentlich nur
  sich der Einzelne innerhalbdiese „digitale Mächtigkeit“ solche Bürger*innen, die
  der Gesellschaft entwi­    auf gesellschaftliche        über ein eigenes Auto –
  ckelt: Welche Aufstiegs­   Strukturen aus? Lassen       und somit über einen
 möglichkeiten hat er und    sich dadurch soziale         gewissen Wohlstand – ver­
 was können wir tun, um      Ungerechtigkeiten abbau­     fügten. Das hat sich im
 hier Chancengleichheit zu   en? Oder werden diese        Laufe der Jahrzehnte
  erreichen? Was in diesem   vielleicht sogar eher noch   verschoben: In den vergan­
 Zusammenhang oft verges­    größer und damit die         genen Jahren sind die
  sen wird, ist die Rolle derMöglichkeiten des Einzel­    Leute zunehmend an den
 verkehrlichen Mobilität:    nen, in unserer Gesell­      Stadtrand gezogen, weil
 Wie bewegen sich Men­       schaft voranzukommen,        das Leben im Zentrum für
  schen im wahrsten Sinne    geringer?                    sie zu teuer wurde. Zwar
  des Wortes, um gesell­                                  besitzen viele Bewohner in
  schaftliche Chancen        Können Sie diese Frage       den Großsiedlungen am
 überhaupt wahrnehmen zu     schon beantworten?           Stadtrand nach wie vor ein
 können?                     Wir glauben, dass diese      eigenes Auto. Doch ist das
                             Hypothese in vielerlei       inzwischen kein Ausdruck
Früher hieß es:              Hinsicht durchaus noch       persönlichen Wohlstands
Nur wer sich bewegt,         zutrifft – dass aber ausge­  mehr, sondern reine
kommt ­voran …               rechnet in solchen Gebie­    Notwendigkeit: Die Betref­
… und zwar am besten mit     ten, in denen sich früher    fenden arbeiten nicht
dem eigenen Pkw. Das galt sozialer Wohlstand entwi­       selten in systemrelevanten
in den 1960er Jahren         ckelte und viele Autos als   Berufen – wie etwa als
zunächst im Westen           Wohlstandsindikator          Krankenschwester oder als
Deutschlands, nach dem       galten, mittlerweile ein     Servicetechniker –, in
Fall der Mauer auch im       verstärktes Armutsrisiko     denen sie wegen einer
Osten. Heute ist das anders. erkennbar ist.               schlechten ÖPNV-Anbin­
Die wachsende Zahl der                                    dung oder aus Mangel an
Fahrzeuge hat das Voran­     Welche Gebiete sind das? anderen verkehrlichen
kommen immer beschwer­ Vor allem Großsiedlungen           Alternativen schlicht auf
licher gemacht. Insgesamt    am Stadtrand, die einst mit einen eigenen Pkw ange­
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