GRENZENLOS - Interessantes aus dem Altkreis - GESCHICHTE - LEOAKTIV
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Interes s ant e s au s de m A l tkrei s GRENZENLOS GESCHICHTE FREIHEIT AUFBRUCH DDR-Museum Flucht in Parteichef erzählt Ihr Freizeit-Magazin in Pforzheim den Westen aus seiner Jugend November 2020
EDITORIAL Seite 4-5 Grenzenlose DDR mitten in Pforzheim Seite 6 Freiheit Aus Liebe zur Einfachheit Seite 9-10 Flucht in die Freiheit Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Wahlfreiheit – Grundrechte, die für uns heute selbstverständlich Seite 12 Häftlinge im »U-Boot« sind. Doch für einen Teil des deutschen Volkes war das nicht immer so. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand aus der Sowjetischen Besatzungszone in Seite 15-16 den östlichen Teilen des ehemaligen Deutschen Rei- Wilde Teenagerzeiten ches die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Der hier gelebte Sozialismus brachte viele Ein- Seite 19-20 schränkungen mit sich. Auf einen Trabi mussten die Von Gerlingen nach Dresden Bürger beispielsweise bis zu 12 Jahre lang warten. Und die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutsch- Seite 23-24 lands) kontrollierte alle Lebensbereiche. 50 Jahre Partnerstadt Die Flucht aus der Heimat war für viele die ein- Seite 28-30 zige Möglichkeit diesem System zu entfliehen. Freizeittipps Die Machthaber steuerten mit dem Eisernen Vorhang bestehend aus Gräben, Stacheldraht- verhauen, Wachtürmen und schließlich mit der 1961 erbauten Berliner Mauer samt Schieß- befehl dagegen. Die Folge: Ein geteiltes Land. Zumindest bis zum 9. November 1989 – der Impressum Öffnung der Mauer. Viele von uns kennen die HERAUSGEBER Bilder von damals nur noch aus dem Fernse- Freizeit Magazin LEOAKTIV hen: Grenzenlose Freude, glückliche Menschen Inhaber Joachim Degl aber auch Ratlosigkeit wie es weitergehen soll. Dieselstraße 11 Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Wie- 71277 Rutesheim dervereinigung wollten wir die Geschichten Telefon: 0 71 52 / 330 09-35 verlag@LEOAKTIV.de hinter den Bildern zum Leben erwecken. Des- www. LEOAKTIV.de halb haben wir uns auf die Suche nach den Spu- ren eines geteilten Landes gemacht. Gefunden LAYOUT & GESTALTUNG GROS / Studio für Gestaltung haben wir Geschichten voller Nostalgie, Angst www.gros-gestaltung.de und Hoffnung. REDAKTION Viel Spaß beim Lesen! Hendrik Krusch, Alfred Kauffmann, Julia Schenkenhofer, Redakteurin Matthias Haug, Wolf-Dieter Retzbach, Karin Rebstock, Stefanie Schindele, Lothar Dieterich, Nathalie Kauder, Julia Schenkenhofer, redaktion@LEOAKTIV.de FOTOGRAFIE Jede Jahreszeit hat ihren besonderen Reiz. Im Herbst leuchtet die Natur in den schöns- Karin Rebstock, Andreas Gorr ten Rot-, Braun- und Gelbtönen. Nie sind Spaziergänge schöner als im Herbst in fri- Titelfoto: u.a. Fotolia scher Luft und bei wärmenden Sonnenstrahlen. Wenn die Tage kürzer und windiger DRUCK werden und die Sonne immer mehr an Kraft verliert, wird das gemütliche Zuhause Auflage über 45.000 Exemplare wieder zum Rückzugsort für Körper, Geist und Seele. Stark Druck GmbH + CO. KG Auf die nächste Ausgabe vom Freizeit Magazin LEOAKTIV freuen wir uns ganz beson- Im Altgefäll 9 • 75181 Pforzheim ders. Es wird die 100. Ausgabe sein. Sie erscheint am Samstag, den 28. November 2020 VERTEILUNG und macht uns ein wenig stolz. Alle Ausgaben prägten Menschen aus dem Altkreis mit MMD Verteildienst GmbH & Co. KG ihren Hobbys, Erfolgen oder außergewöhnlichen Leistungen. Die Rückmeldungen un- Telefon: 0711 / 7205-5424 serer Leser motivieren uns, diesen Weg auf der ständigen Suche nach interessanten Be- Es gilt die Preisliste Nr.8 gültig ab Oktober 2020. richten, Erlebnissen und Informationen weiter zu gehen. Bis dahin wünschen wir Ihnen Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird eine schöne Herbstzeit und bleiben Sie gesund. Ihr LEOAKTIV-Team keine Gewähr übernommen. LEOAKTIV – Seite 3
FOTO Karin Rebstock DDR mitten in Pforzheim MUSEUM MACHT DEUTSCHE GESCHICHTE LEBENDIG H aftzellen für politisch Gefangene Hälfte der jährlich um die 3500 Besu- DDR und der Sozialistischen Einheitspar- und Selbstschussanlagen an der cher sind Schüler. In dem Haus geht es tei Deutschlands (SED) mit dem Ministe- Grenze, Warteschlangen vor Ge- auf drei Etagen um das politische und ge- rium für Staatssicherheit (Stasi), das sich schäften und Trabi-Pflege am Wochenen- sellschaftliche Leben in einem Regime, selbst als „Schild und Schwert der Partei“ de, ideologischer Schulunterricht und De- in dem Demokratie nicht gelebt werden verstand. In der Ausstellung geht es auch mos gegen die Partei: Das „DDR-Museum konnte und durfte. Im Untergeschoss des um den Volksaufstand am 17. Juni 1953, Pforzheim – Lernort Demokratie“ erklärt Museums etwa können Besucher eine ty- um Ost-West-Kontakte, um Enteignung die deutsche Teilung und das Leben in ei- pische, klaustrophobisch enge Untersu- und Verstaatlichung von landwirtschaft- ner Diktatur. chungshaft-Zelle der Stasi für politische lichem Besitz, um die Massenorganisatio- Gefangene betreten. Im nächsten Raum nen, die das gesellschaftliche Leben in der „Eine Kanone der NVA wird von 5 Solda- stehen sie vor Originaltüren aus DDR- DDR prägten. Große Themen der Pforz- ten bedient. Bei einem Übungsschießen Gefängnissen, etwa aus der berühmt-be- heimer Schau sind auch die „Friedliche sind 6 Kanonen eingesetzt. Wieviel Sol- rüchtigten Haftanstalt Bautzen. Zu se- Revolution“, das Einheitsjahr 1990, Zeit- daten nehmen an der Schießübung teil?“ hen ist der Teil eines Grenzzaunes ebenso zeugenberichte sowie Jugend und Alltag So lautet in einem DDR-Lehrbuch eine wie der Nachbau einer Selbstschussanla- in der DDR. Auf einem Foto aus den 70er Rechenaufgabe für Schüler der zweiten ge, wie sie das Regime an der innerdeut- Jahren ist zu sehen, wie ein Mann am Wo- Klasse. Sie ist illustriert mit Soldaten der schen Grenze einsetzte, um NVA (Nationale Volksarmee), die, mit Hel- eine Flucht in die Bundesre- IM UNTERGESCHOSS DES men auf dem Kopf, in Gefechtsstellung publik zu verhindern. Die Mu- hinter einer Kanone stehen. seumsbesucher erfahren, dass MUSEUMS IST EINE TYPISCHE, zwischen 1970 und 1983 auf ei- KLAUSTROPHOBISCH ENGE Im DDR-Regime gehörten militaristische ner Länge von 400 Kilometern UNTERSUCHUNGSHAFT-ZELLE Bezüge zum schulischen Alltag von Kin- mehr als 50 000 dieser Anlagen dern. Der Weitwurf mit Handgranaten installiert wurden. Jede einzel- DER STASI FÜR POLITISCHE etwa war eine Übungsdisziplin im Sport- ne von ihnen setzte eine tödli- GEFANGENE. unterricht. Das erfahren die Besucher ei- che Automatik in Gang: Belas- ner Pforzheimer Ausstellung, in der es um tete oder durchtrennte ein Flüchtender chenende seinen Trabant pflegt, auf ei- die Geschichte der deutschen Teilung im die Spanndrähte des Grenzzauns, feuerte nem anderen Bild, aufgenommen Anfang 20. Jahrhundert geht. Der Schwerpunkt die Anlage etwa 80 kantige Metallsplitter der 80er Jahre, warten Menschen in ei- liegt auf der DDR-Diktatur, die 1945 be- auf die Person. Die innerdeutsche Gren- ner langen Schlange vor einem Geschäft gann und 1990 mit der deutschen Wie- ze zwischen 1952 und 1989 (dem Jahr für Kfz-Ersatzteile. Versorgungsmangel dervereinigung endete. Das Museum des Mauerfalls) ist eines von vielen The- begleitete die Menschen in der DDR; hö- versteht sich als „Lernort Demokratie“ men in dem Pforzheimer Museum. Ein herwertige Genussmittel gab es zu über- (so lautet der Namenszusatz), knapp die anderes ist die Gründung und Aufbau der höhten Preisen in sogenannten Delikat- Seite 4 – LEOAKTIV
Der erste Vorsitzende Volker Römer und die Mitglieder vom Verein „Gegen das Ver- gessen“ Pforzheim engagieren sich ehren- amtlich, um den Besuchern zu zeigen, wie das System in der DDR funktionierte Läden, Kleidung im „Exquisit“. Begehrte Güter waren als „Bückware“ bekannt – sie waren nicht in der Auslage zu sehen, son- dern wurden von dem Verkäufer für aus- gewählte Kunden unter dem Ladentisch hervorgeholt. Kaffee war in der DDR über viele Jahre ein Luxusgut; in der Ausstellung ist eine Pa- roten Übungsgranaten, die im Sportun- Leuten deutsche Geschichte näherbrin- ckung der Mischsorte „Kaffee-Mix“ – mit terricht benutzt wurden. gen und das Bewusstsein für Demokratie einem hohen Getreide- und Rübenanteil fördern. zu sehen. Sie wurde laut Museumserklä- Initiator des DDR-Museums in Pforzheim rung auch als „Erichs Krönung“ verspottet war Klaus Knabe, ein gebürtiger Sach- „Über die Exponate nähern wir uns der (bezogen auf den obersten DDR-Funktio- se, der kurz vor dem Bau der Mauer 1961 DDR-Geschichte an“, sagt Volker Römer, när Erich Honecker). Die Museumsbesu- Dresden verlassen konnte und zusam- Nachfolger des 2012 verstorbenen Kna- cher erfahren auch, dass in der DDR für men mit seiner Frau nach Pforzheim kam. bes an der Spitze des Vereins. Der Elek- Brathähnchen das Wort „Broiler“ (vom Dort machte sich der Rundfunk-Fernseh- tronikingenieur kommt selbst nicht aus englischen to broil, übersetzt: braten) ver- mechaniker selbstständig. Nach dem Fall der DDR, erlebte deutsche Geschichte wendet wurde, dass in den 1970er Jahren der Mauer 1989 begann er damit, Doku- aber hautnah mit: Am 13. August 1961, sogenannte „Tempo Erbsen“ – vorbehan- mente und Objekte aus der DDR zu sam- dem Tag des Mauerbaus, war er zu Besuch delte Hülsenfrüchte – zur Verkürzung der meln. Als sein Speicher im eigenen Haus in Berlin. „Die Stimmung in der Stadt war Kochzeit entwickelt und verkauft wur- für all die Exponate zu klein wurde, konn- gedrückt“, erinnert sich der heute 76-Jäh- den und dass die „Sandmännchen“-Sen- te er in den ehemaligen Kindergarten der rige, „damals wurden über Nacht Lebens- dung seit 1959 im französischen Gar- adern abgeschnitten“. 30 Jahre nach der DDR-Fernsehen aus- nison ziehen – damit deutschen Wiedervereinigung habe man gestrahlt und nach »ES GIBT NOCH war 1998 das DDR- in der deutsch-deutschen Annäherung 1989 von den öffent- EINIGES ZU LÖSEN« Museum geschaffen. „mehr geschafft als gefühlt“, das belegten lich-rechtlichen Sen- Volker Römer, Vereinsvorsitzender Knabe war Vorstand Zahlen. Dennoch: „Es gibt noch einiges dern übernommen des 2000 gegründe- zu lösen“, sagt Römer. Nur gut ein Pro- wurde. Die Währung in der DDR wurde ten Vereins „Gegen das Vergessen“, der zent der Führungskräfte in Deutschland 1968 zum wiederholten Mal umbenannt, das Museum betreibt und heute etwa 80 etwa seien Bürger aus den ostdeutschen in „Mark der Deutschen Demokratischen Mitglieder hat. 2012 wurde die Stiftung Ländern, „das ist ein Missverhältnis, vie- Republik“, kurz „Mark“. Ein Fünf-Mark- „Lernort Demokratie – Das DDR-Museum le Ostdeutsche fühlen sich nicht auf Au- Schein ist in einer Museumsvitrine aus- Pforzheim“ gegründet, Vorsitzende ist die genhöhe“. gestellt, nahe der militaristischen Re- frühere SPD-Landtagsabgeordnete Birgit chenaufgabe in dem Schulbuch und den Kipfer. Das Museum soll vor allem jungen Wer das Pforzheimer DDR-Museum be- tritt, steht gleich vor einem großen Foto, das am 9. Oktober 1989 aufgenommen wurde. Zehntausende Menschen sind dar- auf zu sehen, sie demonstrieren in Leipzig gegen das DDR-Regime. Dessen Führung hatte zuvor ein hartes Durchgreifen an- gekündigt, in den Seitenstraßen standen Panzer bereit. Der Tag aber endete ohne Gewalt, das Volk siegte gegen die Par- tei. „Nach dieser Montagsdemonstration kippte die Stimmung“, sagt Römer: „Der eigentliche Mauerfall war am 9. Oktober 1989, nach diesem Tag hatte das DDR-Re- FOTOS Karin Rebstock gime verloren.“ Wolf-Dieter Retzbach www.pforzheim-ddr-museum.de Luxusgut in dieser Zeit – der Trabant LEOAKTIV – Seite 5
Aus Liebe zur Einfachheit FASZINATION FÜR DAS KULTAUTO TRABANT IST UNGEBROCHEN Matthias Genthner fährt gerne mit seinem Zweitakter durch die Natur gemischt. Im Tank. „Dann wird das gan- ze Auto ein wenig geschüttelt, damit sich das vermischt“, erzählt er und lacht. Und beim Fahren sind mehr als 100 Kilometer in der Stunde kaum drin. Das Verdeck ist meist im Kofferraum verstaut und nur bei schönem Wetter wird der Trabant aus der Garage geholt. „Ich fahre meist alleine“, sagt er. Seine Frau fahre zwar gerne mit, aber seit Töchterchen Nora vor zwei Jah- ren auf die Welt kam, ist das eher selten. FOTOS Rebstock „Ich habe inzwischen aufgehört zu zäh- len, wie viele Kaufangebote ich an der Ampel bekommen habe“, freut er sich über die Begeisterung anderer. Während nach der Wende die Autos teilweise ver- A utonarren streben meist nach Su- namen „Rennpappe“ einbrachte. Gehhilfe, schenkt wurden, erzielen die Autos heute perlativen: bei Geschwindigkeit, überdachte Zündkerze, Plastebomber wa- erstaunliche Preise. Ein Lastwagenfahrer Drehmoment oder Leistung. Wer ren weitere. schenkte ihm und seiner Frau einmal im mit einem Gefährt der Marke Sachsenring Stau eine Rose, die seitdem als Talisman aus Zwickau unterwegs ist, muss ganz an- Daran stört sich Matthias Genthner im Auto mitfährt. Selbstredend muss- dere Qualitäten schätzen. Denn der Trabi nicht, im Gegenteil. Denn heute ist das te der Trabant auch beim Fotoshooting mit einem Zweitaktmotor und 26 PS wür- Auto eher eine Besonderheit auf der Stra- zur Hochzeit 2016 mit aufs Bild. Doch als de im Bolidenvergleich noch nicht einmal ße. Für ihn war es jedoch die Einfachheit Hochzeitskutsche war das Fahrzeug we- ein müdes Lächeln erwarten können. der Technik, die den Reiz ausmachte. Kurz gen der Unbequemlichkeit und des Platz- vor seinen Trabi-Erlebnissen hatte er sei- mangels fürs Brautkleid ungeeignet. Die „Das ist einfachste Technik“, sagt Mat- ne Ausbildung zum Triebfahrzeugfüh- häufigste Reaktion der Menschen auf und thias Genthner, der der Faszination des rer bei der Deutschen Bahn abgeschlos- an der Straße, wenn er vorüberfährt, sei DDR-Kultautos erlegen ist. „Eigentlich sen. Er suchte „mehr halbherzig“ nach „Daumen nach oben“. Und das trotz des ist der Trabi ein Mofa auf vier Rädern.“ einem Modell, doch eigentlich fand sei- DDR-Wappens an der Fahrzeugseite. hk Der 30-Jährige, der in Höfingen und Le- ne damalige Freundin und heutige Frau onberg aufwuchs, stieg vor knapp zehn Janina übers Internet in Göttingen das Jahren in Gera in den Zweitakter und als Passende. Sein Modell Trabant P 601 A, er zwei Jahre später Baujahr 1977, wur- in Berlin die Cabrio- »EIGENTLICH IST DER de für die Nationa- Variante ausprobier- le Volksarmee (NVA) te, war es um ihn ge- TRABI EIN MOFA AUF der DDR produziert. schehen. „Das Fahren VIER RÄDERN.« „Ich vermute, das ist ohne Dach im Kübel- Matthias Genthner noch die Originalla- trabi hat mich ange- ckierung“, mutmaßt fixt.“ Seine Begeisterung sei keine Form er. Wie bei Traktoren oder Kränen müss- der „Ostalgie“. Ausschlaggebend waren ten die Lager regelmäßig abgeschmiert das Rudimentäre der Technik – es gibt werden. Selbst das Tanken ist eine Reise keine Servolenkung oder Bremskraftver- in die Vergangenheit. Weil die benötig- stärker – und die metalllose Karosserie te Mischung nicht mehr an der Zapfsäu- aus Duroplast, die dem Auto den Spitz- le erhältlich ist, wird Superbenzin mit Öl Seite 6 – LEOAKTIV
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Flucht in die Freiheit MARKUS LAUTERBACH ERZÄHLT SEINE GESCHICHTE FOTO Rebstock FOTO privat Der geliebte Trabi fuhr Markus Lauterbach und seine Ines in Urlaube und zu Regatten N ach 25 Jahren in der Deutschen nie mit jemandem über unsere Gedanken einem Sommer wagten Markus Lauter- Demokratischen Republik (DDR) gesprochen, denn man konnte nie sicher bach und seine damalige Freundin den- war es für Markus Lauterbach sein, dass in der Wohnung keine Wanze noch den Urlaub ohne Genehmigung. Vom und seine Frau genug. Gemeinsam kehr- war und der Staat alles mithört“, berich- Onkel gewarnt flohen sie vor der Kontrol- ten sie der Heimat den Rücken – die Ge- tet Lauterbach rückblickend. Wichtige le an den Strand und warteten hier, bis die schichte eines Auswanderers, die gleich- Themen wurden deshalb nur im Trabi bei Luft wieder rein war. Auf einem Felsen zeitig die Geschichte eines geteilten laufendem Motor besprochen – eine An- sitzend, dem Wasser lauschend und vor Landes und einer ganzen Generation ist. gewohnheit die Lauterbach auch in West- der Kontrolle versteckend, beschlossen deutschland noch die beiden in die- Viele Vorstellungen, die wir hierzulande einige Zeit beibe- sem Moment zu von der ehemaligen DDR haben, sind ge- hielt. Und auch in »WICHTIGE THEMEN fliehen und ein nauso aus der Luft gegriffen wie die meis- den Urlaub zu fah- WURDEN NUR IM TRABI neues Leben in ten anderen Vorurteile. Wie es sich wirk- ren, war für Lau- BEI LAUFENDEM MOTOR Westdeutschland lich anfühlte in einem Regime zu leben, terbach und sei- zu beginnen. das die eigene Bevölkerung überwacht, ne Mitbürger kein BESPROCHEN.« ist im Jahr 2020 in Leonberg kaum vor- e i n f a c h e s Un- Markus Lauterbach Im Jahr 1989 stellbar. „Es war wie im Gefängnis“, fasst terfangen: „Man schließlich, als Markus Lauterbach zusammen. musste einen Antrag für einen Zeltplatz die damalige Freundin bereits zur Ehe- stellen, und die Wahrscheinlichkeit, dass frau geworden war, sollte es dann über Für den Diplom-Ingenieur, der heute man den bewilligt bekam war nicht sehr die Grenze gehen. Für einen Urlaub in glücklich in Leonberg verankert ist, ist groß“, erzählt er. Dass nur Menschen Ungarn verließen die beiden ihre inzwi- der Rückblick auf die ersten 25 Jahre sei- mit Erlaubnis ihren Urlaub auf dem Zelt- schen ausgeräumte Wohnung – ohne je nes Lebens in der DDR der Rückblick auf platz verbrachten wurde streng kontrol- zurückkommen zu wollen. Der erste Ver- ein Leben in Gefangenschaft. Dinge, die liert. Montags ab sechs Uhr stand dafür such, bei dem der Cousin die beiden vor für uns heute selbstverständlich sind, ein Volks-Polizist zur Kontrolle im Zelt. der Grenze absetzen sollte, scheiterte. waren für den heute 56-Jährigen da- Und zwar wortwörtlich: „Die kamen nicht Also machten sie sich auf den Weg in die mals undenkbar. Freie Meinungsäuße- nur ins Vorzelt, sondern tatsächlich ins Botschaft in Budapest. Ein Weg bei dem rung beispielsweise: „Wir haben damals Schlafzelt herein“, erzählt Lauterbach. In LEOAKTIV – Seite 9
Markus Lauterbachs beiden Jugendlieben: Marie und Ines. Letztere musste erst das Surfen lernen, bevor sie als Partnerin in Frage kam Tagen machen sich laut Bundeszentrale für politische Bildung rund 15.000 Men- schen auf den Weg in den Westen. FOTO privat Markus Lauterbach und seine Frau be- kommen im Lager schließlich ein Zug- ticket zu Lauterbachs Familie in Celle überreicht. Mit einem Zwischenstopp in es schon zu diesem Zeitpunkt kein Zu- gerufen: „Wir standen Schulter an Schul- München geht es dann mit dem Zug nach rück mehr gab: „Man sagte, dass im Ge- ter, so eng war es. Auf einmal jubelten Niedersachsen – vorbei an der Grenze zur bäude gegenüber jemand von der Sta- alle, man verstand gar nicht so richtig alten Heimat. „Das war ein komisches Ge- si wäre, der Bilder von allen mache. Wer was gesagt wurde“, erinnert sich Lauter- fühl, und das ist es auch heute noch, wenn also einmal in der Botschaft war, konnte bach. Und dann ging alles plötzlich ganz ich daran vorbeifahre“, sagt Lauterbach. nicht mehr zurück“, so Lauterbach. schnell. Nur zwei Nach der Flucht Tage später roll- »IN MEINER ERINNERUNG folgte dann der Zu diesem Zeitpunkt, im Spätsommer ten 60 Reisebus- Alltag: Formalitä- STANDEN AM KOMPLETTEN 1989, hatte der bisher so stabile eiserne se in das ehema- ten und Arbeits- Vorhang bereits beachtliche Risse. Am 19. lige Jugendcamp WEGESRAND LEUTE UND suche prägten in August flohen 600 DDR-Bürger über die am Plat tensee KLATSCHTEN.« der ersten Zeit Grenze. Lauterbach war zu diesem Zeit- und sammelten Markus Lauterbach die Tage des Ehe- punkt bereits in Ungarn, sah die Bilder wie am Fließ- paars. Am Ende im Fernsehen und erkannte auf dem Bild- band die Geflohenen ein. „Zwei Frauen, verschlug es die beiden auf Grund der be- schirm einige Leidgenossen, die er tags die gerade am Balaton Urlaub machten, stehenden Kontakte zum Nürtinger Po- zuvor in der Botschaft gesehen hatte. „Die hörten, dass wir losfahren, sie stiegen saunenchor nach Süddeutschland, wo sind jetzt schon drüben“, dachte er sich, einfach zu uns in den Bus. Nur mit Bikini Lauterbach, wie er heute sagt, „nie wieder nicht wissend, dass auch er bald zu den und Top, ohne ihr Hab und Gut. Sie rauch- weg möchte“. Julia Schenkenhofer ersten gehören würde, die Westdeutsch- ten die ganze Fahrt über“, erzählt Lauter- land als neue Heimat begrüßen würden. bach von der Abfahrt als sei sie gestern gewesen. Mit dem Bus ging es dann 140 Nach und nach wurde die Botschaft Kilometer weit durch Ungarn bis zur ös- schließlich immer voller und so kam das terreichischen Grenze in Ödenburg: „In Paar in ein Lager in Zanka am Plattensee, meiner Erinnerung standen am komplet- einem beliebten Urlaubsziel der damali- ten Wegesrand Leute und klatschten“, er- gen Zeit. Hier verbrachten sie eine Woche: zählt er. Es folgt die Fahrt durch Öster- „Das klingt jetzt nicht viel, wenn man das reich. Und dann, um 2 Uhr in der Nacht, heute so sagt. Aber zu dem Zeitpunkt betreten Markus Lauterbach und seine wussten wir ja nicht, wie lange unser Auf- Frau im Auffanglager in Freilassing nach enthalt dauern wird“. Trotz der Nähe zum 25 Jahren in der DDR als freie Menschen Plattensee hatte der Aufenthalt wenig westdeutschen Boden. Zusammen mit mit Urlaub zu tun. Das Zimmer teilte man ihm und seiner Frau Ines fliehen an die- sich mit zehn anderen Menschen. Insge- sem Tag auch tausende andere Menschen samt 7.000 DDR-Bürger waren teilweise aus ihrer Heimat. Denn in der Nacht des für Wochen in dem Lager, das eigentlich 10. September 1989, dem ersten Hoch- für 3.000 Menschen gebaut wurde. zeitstag von Ines und Markus Lauterbach, öffnet Ungarn auf Anweisungen des In- Nach einer Woche wurden die Menschen nenministers seine Grenzen. Es folgt eine des Lagers schließlich in die Sporthalle Massenflucht. Innerhalb von nur drei FOTO Rebstock Markus Lauterbach lebt heute glücklich in Leonberg Seite 10 – LEOAKTIV
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Häftlinge im »U-Boot« ZEITZEUGEN HALTEN DAS DUNKLE KAPITEL LEBENDIG Gefangenentransporter „Barkas 1000“ in der Eingangsschleuse im neuen Gefängnisbau. Dafür wurde er inhaftiert. Er wusste nicht wo, da der Transport in geschlossenen Transportern erfolgte und in das Gefängnisgebäude drang nur durch Glasbausteine Licht. Die Isolationshaft sollte die Gefangenen psy- chisch zermürben. Über die vielen Überputzleitungen, er- klärte Hildebrand, wurden Ampeln im Innern des Gebäudes gesteuert. Sie ver- hinderten erfolgreich, dass sich Gefange- I m Jahr 2009 besuchte eine Reise- von den Häftlingen „U-Boot“ genannte ne begegnen konnten. So war es möglich, gruppe im Rahmen einer politischen Kellergefängnis diente bis zum Neubau dass in den vielen Verhörzimmern meh- Bildungsreise das „politische Berlin“.des neuen Gefängnisses gleich daneben rere Verdächtige, die an gemeinsamen Mit dabei waren auch Mitglieder des LEO als berüchtigtes Untersuchungsgefäng- Aktionen wie etwa Republikflucht betei- AKTIV-Teams. Einen Blick in die Abgründe nis. Viele Zeitzeugen, die selbst im „U- ligt waren, verhört werden konnten, ohne des ehemaligen DDR-Unrechtsstaates er- Boot“ und im Gefängnis erleben mussten, dass ein Gefangener von der Anwesenheit hielten die Besucher beim Besuch der Ge- welche Allmacht der Staat gegen Unge- eines anderen wusste oder gar mit ihm in denkstätte Berlin-Hohenschönhausen. horsame oder Andersdenkende ausübt, Kontakt treten konnte. An die Stelle von führen noch durch die Räume. Einer von direkten körperlichen Folterungen wie Die wechselvolle Geschichte des Gebäu- ihnen ist Lutz Hildebrand. Er wurde mit noch im „U-Boot“ traten ab der sechziger dekomplexes begann 1939 als Großkü- 19 Jahren eingekerkert weil er SED Pla- Jahre psychologische Zermürbung durch che der Nationalsozialisten. Nach dem kate abgerissen hatte. Als authentischer Isolationshaft, Ungewissheit, Erniedri- Ende des Zweiten Weltkrieges übernahm Zeitzeuge führte er die Besucher hinab in gung und Desorientierung, ausgeführt der Sowjetische Geheimdienst die Ge- den Gang des bunkerartigen Kellers mit von speziell geschulten Verhörexperten. bäude und im „Speziallager Nr. 3“ wur- den fensterlosen, feuchtkalten Zellen. Es Erst im Oktober 1990 wurde das Gefäng- den zeitweise bis zu 4200 „Feinde des macht sich eine bedrückende Stimmung nis geschlossen. Alfred Kauffmann Sowjetstaates“ eingekerkert. Nach viel- bei den Besuchern breit. Die Möblierung in den vergitterten Zellen Mehr Infos unter www.stiftung-hsh.de ist teilweise noch erhal- AB DER SECHZIGER JAHRE FAND ten: eine Holzpritsche und PSYCHOLOGISCHE ZERMÜRBUNG FOTOS kf ein Kübel für die Notdurft. DURCH ISOLATIONSHAFT, UNGE- Die altertümlich anmu- tenden Glühbirnen leuch- WISSHEIT, ERNIEDRIGUNG UND ten. Die Gefangenen wur- DESORIENTIERUNG STATT. den mit ständigem Licht ebenso schikaniert wie bei fach unter Folter erpressten Geständnis- einer Alternative durch ständiges We- sen wurden sie zu Zwangsarbeit in Sibi- cken in der Nacht. Hildebrand selbst war rien verurteilt. Viele starben angesichts nicht im „U-Boot“ eingekerkert sondern der kaum aushaltbaren Haftbedingungen vor Ort, andere wurden gar ermordet. Das düstere Kapitel deutscher Geschichte in Hohenschönhausen beginnt 1951 als das Lutz Hildebrandt führt seit 2009 Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Besuchergruppen durch die Gedenkstätte der Deutschen Demokratischen Republik Berlin-Hohenschönhausen und leistet da- (DDR) den Komplex als Untersuchungsge- mit einen wichtigen Beitrag für die Nach- fängnis im Sperrgebiet übernimmt. Das folgegenerationen gegen das Vergessen Seite 12 – LEOAKTIV
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Wilde Teenagerzeiten BERND RIEXINGER HAT SEINE WURZELN IM ALTKREIS LEONBERG »WIR WOLLTEN ANDERS LEBEN, SOLIDARISCHE FORMEN VON ZUSAMMENLEBEN AUSPRO- BIEREN UND OHNE KOMMERZ KULTURELL AKTIV SEIN.« Bernd Riexinger, Parteivorsitzender FOTO privat B ernd Riexinger wuchs in Hausen zum Zug: Er, der ein talentierter Tor- tei SED. Heute, seit ihrer Gründung vor und Münklingen heran, mischte wart gewesen sei, musste in einer ande- 13 Jahren, vereinigt die Linke laut eige- zusammen mit Mitstreitern das ren Altersklasse spielen, weil in der C-Ju- nen Angaben „unterschiedliche politische Leben im konservativen Weil der Stadt gend der Sohn des Vereinsvorsitzenden Kräfte aus Ost- und Westdeutschland, auf und legte sich als Azubi mit seinem im Kasten zu stehen hatte. In Münklin- Menschen mit DDR-Biografien und Men- Arbeitgeber, der Leonberger Bauspar- gen fehlte Riexinger das, was er im Nach- schen mit BRD-Biografien“. kasse an. Heute ist der Schwabe ein ge- bardorf hatte: „Ich glaube, ich bin fast je- wichtiger Akteur der deutschen Politik – den Tag zu Fuß nach Hausen zu meinen Die 1961 gebaute Mauer, die West- von als einer von zwei Noch-Chefs der Partei Freunden gelaufen.“ Ost-Berlin trennte, stand zwei Jahre, als Die Linke, in der auch viele Menschen mit der acht Jahre alte Riexinger mit seiner DDR-Biografien Mitglied sind. Der schwäbische Junge, geboren 1955 Familie von Hausen nach Münklingen in Leonberg und aufgewachsen in Hau- zog. Nach den schwierigen Anfangsjah- Für Bernd Riexinger begann eine schwie- sen und Münklingen (heutige Teilor- ren hatte Riexinger auch dort Mitstreiter. rige Zeit, als er acht Jahre alt war. Mit te Weil der Stadts), hat als Erwachsener In dem Dorf habe es, als er Jugendlicher seiner Familie zog er von Hausen an der eine Karriere gemacht, die ihn bis in ein war, keine Angebote für Heranwachsen- Würm – dem Ort, in dem er aufgewach- politisches Spitzenamt führte: Riexinger de gegeben. Also gründete er zusammen sen war – nach Münklingen. „Beide Dör- und Katja Kipping sind Chefs der Partei mit einem Freund eine Kindergruppe, in fer hatten ein eher feindseliges Verhält- Die Linke, beide geben ihre Ämter nun, der viele Mädchen und Jungs aus dem Ort nis zueinander“, erinnert sich Riexinger, nach gut acht Jahren, ab. Die Linke ent- zusammenkamen: Sie spielten, sangen „die Zeit in Münklingen war deshalb nicht stand 2007 aus der Fusion der WASG mit und redeten, widmeten sich dem Thea- einfach für mich. Ich gehörte die ersten der PDS (seit 2005: Linkspartei.PDS), in ter, machten zusammen Ausflüge. Als Jahre einfach nicht dazu, wurde eher aus- der sich laut Partei vor allem Bürger aus Jugendliche Räume für andere Jugendli- gegrenzt“. Auch im Fußballverein seines Ostdeutschland organisierten. Die PDS che aufbauen – das war das Ziel von Rie- neuen Wohnorts kam Riexinger nicht war die Nachfolgerin der DDR-Staatspar- LEOAKTIV – Seite 15
Der Teenager Bernd Riexinger (im Bild rechts) wuchs in den Weil der Städter Stadtteilen Hausen und Münklingen auf xinger und seinen Kumpels: „Wir wollten anders leben, solidarische Formen von Zusammenleben ausprobieren und ohne Kommerz kulturell aktiv sein.“ Untypisch für die damalige Zeit in Weil der Stadt war dann auch eine Initiative junger Leute - unter ihnen Riexinger, der 1971 seine Ausbildung zum Bankkauf- mann bei der Leonberger Bausparkas- FOTO privat se begonnen hatte: Lehrlinge und Gym- nasiasten machten sich gemeinsam für ein Jugendhaus stark. „Das haben wir in einer sehr langen Auseinandersetzung mit dem Gemeinderat erkämpft“, erzählt sante Zeit.“ Der WG-Start war aber nicht nach der Ausbildung nicht übernommen Riexinger. Das Jugendhaus (das es noch leicht, erinnert sich Riexinger: „Es war werden. Daraus wurde schnell eine öf- heute gibt, im alten Kapuzinerkloster) sei schlichtweg unmöglich, im konserva- fentliche Auseinandersetzung. Ich war mit wenig Geld in Eigenarbeit renoviert, tiven Weil der Stadt eine Wohnung für kein Einzelfall, deshalb gab es eine brei- 1974 eröffnet und in Selbstverwaltung eine WG zu mieten. Kurz entschlossen te Initiative unter dem Motto ,Von den ohne hauptamtliche Mitarbeiter betrie- kauften wir uns ein altes Haus in der Be- Kollegen gewählt, von den Bossen gefeu- ben worden. „Von Anfang an begriffen sengasse 1 und richteten es her.“ Zu eini- ert‘.“ Riexinger weiter: „Die damalige so- wir uns als politisch linke Gruppe. Auf gen früheren Mitbewohnern habe er noch zialliberale Koalition unter Willy Brandt dem Höhepunkt waren bestimmt 60 bis heute regelmäßig Kontakt, sagt der Poli- schloss die Gesetzeslücke; Jugendver- 70 junge Menschen aktiv, es gab etwa tiker: „Wir treffen uns immer mal wieder treter mussten übernommen werden, eine Schülergruppe, eine Lehrlingsgrup- in Weil der Stadt oder in Stuttgart, ko- wenn sie das beantragten. Die Betriebs- pe, eine Theater- und Songgruppe und chen, essen und plaudern über die alten leitung konnte jedoch vor dem Arbeitsge- vieles mehr. Die Zeit im Weil der Städter Zeiten und über das Heute.“ richt dagegen klagen, was sie in meinem Jugendhaus war für mich sehr prägend“, Fall dann auch tat. Ich war so ziemlich sagt Riexinger. „Wir beschäftigten uns Zu Riexingers „alter Zeit“ gehören auch der erste Fall, der vor Gericht verhandelt mit Antifaschismus, mit dem Apartheid- seine beruflichen Jahre bei der Leonber- wurde.“ Für ihn sei das nicht einfach ge- System in Südafrika, wir waren Teil der ger Bausparkasse. Als jugendlicher Lehr- wesen, „auch meine Eltern waren davon Anti-Atomkraft-Bewegung, engagierten ling trat er dort ein, er wurde schnell in nicht begeistert. Deshalb war ich sehr er- uns in der Gewerkschaft und in der Schu- die Jugendvertretung gewählt und enga- leichtert, als ich vor Gericht gewonnen le.“ Schon gierte sich hatte und die Leonberger Bausparkas- das war in der Ge- se mich als Sachbearbeiter beschäftigen außerge- »TROTZ GUTER NOTEN UND werkschaft. musste.“ Etwas später wurde Riexinger wöhnlich BEURTEILUNGEN SOLLTE ICH Er und an- in den Betriebsrat, dann zu dessen stell- im katho- NACH DER AUSBILDUNG NICHT dere Lehr- vertretendem Vorsitzenden gewählt. Die- lisch-kon- linge seien se Funktion übte er hauptberuflich zehn servativen ÜBERNOMMEN WERDEN.« „rebellisch Jahre lang aus, ehe er zur Gewerkschaft Wei l der Bernd Riexinger und aktiv“ Verdi wechselte. Immer noch treffe er ei- Stadt der gewesen, nige frühere Bausparkasse-Kollegen, sagt 1970 und 80er Jahre; noch befremdlicher „wir kämpften für bessere Ausbildungs- Riexinger, besonders eng sei der Kontakt mag für viele Bewohner damals die De- bedingungen“. Was der damalige Ausbil- mit der damaligen Betriebsratsvorsitzen- monstration in der Stadt gewesen sein, dungsleiter, der laut Riexinger „in einer den Renate Stäbler, „mit der ich bis heute mit der sich die Jugendhäusler für Frie- anderen Zeit aufgewachsen war“, nicht ein freundschaftliches Verhältnis habe“. den stark machten. gewohnt war: Die neuen jungen Mitar- beiter hatten fast alle lange Haare und Riexinger wohnt in Stuttgart, besucht In dieser Zeit habe er die Fähigkeit er- waren von der Lehrlingsbewegung an- immer mal wieder seine alte Heimat in lernt, in Gruppen zu arbeiten, sagt Rie- gesteckt, die bundesweit gegen die Aus- und um Weil der Stadt. Der 64-Jährige xinger. Er lebte auch in einer größeren bildungspraxis und -bedingungen in hat auch familiäre Kontakte in der Regi- Weil der Städter Gruppe – mit sechs Betrieben protestierte. Er sei dem Aus- on: Seine Stiefmutter (Riexingers leibliche Gleichgesinnten in einer Wohngemein- bildungsleiter „sehr schnell ein Dorn im Mutter starb bei einem Autounfall, als er schaft, zwölf Jahre lang. „Auch das war Auge gewesen“, erzählt Riexinger: „Trotz 20 Jahre alt war) und seine Schwester für mich eine spannende und interes- guter Noten und Beurteilungen sollte ich wohnen in Münchingen. W.-D. Retzbach Seite 16 – LEOAKTIV
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FOTO Rebstock Von Gerlingen nach Dresden FRANZ-JÜRGEN SCHULZE ERLEBTE BEIDE TEILE DEUTSCHLANDS G eboren im Deutschen Reich, ge- den letzten Wehrmachtsbericht auf der Im Laufe der Zeit hat sich dann die Si- flüchtet aus der Deutschen De- Tenne gehört. Wir flüchteten noch in tuation durch immer mehr systemtreue mokratischen Republik (DDR), das nächste Dorf. Dann kamen die Rus- Behörden und Polizisten allerdings ver- dann Gerlingen in der Bundesrepublik sen. Sie plünderten aber wir bekamen schärft. Bei der Jugendweihe musste ich und jetzt wieder Dresden: Franz-Jürgen von ihnen sogar einen Schulze hat durch die Wechsel seiner Le- Brotlaib.“ In der Nach- bensmittelpunkte auch die politischen kriegszeit erlebte Schul- »IN JEDEM KOLLEGIUM GAB ES Wechselspiele und ihre Wirkungen auf ze als Schüler in der rus- STASISPITZEL. WIR MUSSTEN die Menschen in Deutschland miterlebt. sischen Besatzungszone PLÖTZLICH RUSSISCH LERNEN Als er in Gerlingen wohnte, schrieb er wilde Zeiten. „Ehemali- über 20 Jahre für den Gerlinger Anzei- ge Lehrer wurden ent- UND MAN MUSSTE SICH GENAU ger. Einige Jahre bis Anfang 2000 paral- lassen. Quereinsteiger ÜBERLEGEN, WAS MAN SAGTE.« lel auch für den Stadtanzeiger Leonberg. waren meist völlig unge- Franz-Jürgen Schulze eignet. Also wurden die Am 13. November 1932 wurde Franz- entlassenen Lehrer wieder geholt. In je- mich zum Staat bekennen und überall Jürgen Schulze in Geising im Erzgebir- dem Kollegium gab es Stasispitzel. Wir waren Spitzel. Zur Überwachung und ge geboren. Die Kriegszeit, so erinnert mussten plötzlich russisch lernen und Einschüchterung gab es Hausbücher und er sich, sei zunächst im Erzgebirge kaum man musste sich genau überlegen, was Hausobmänner und jeder Besuch wurde spürbar gewesen. „In diesem geografisch man sagte. Ein Widersetzen gegen an- vermerkt. Der Abschnittsbevollmächtig- toten Winkel auf dem Lande kannte je- geordnete Maßnahmen war nicht mög- te wusste über jeden Bescheid und er hat der jeden“. Erst mit den Bombenangrif- lich. So wurde die ganze Klasse in die gezielt Misstrauen gesät. Geld hatten wir fen hätte sie das Kriegsgeschehen dann FDJ-Organisation aufgenommen. Ob wir keins. Aber es gab auch nichts zu kaufen. erreicht. „Am 7. Mai 1945 haben wir das wollten? – Wir wurden nicht gefragt. LEOAKTIV – Seite 19
Ehemaliger Gerlinger Bürger Franz- Jürgen Schulze besucht gerne regelmä- ßig seine alte Heimat Gerlingen und das Redaktionsteam von LEOAKTIV in Rutesheim leben heute noch alle in Süddeutschland. Im Jahr 1995 erreichte Schulze das Pen- sionsalter. Nach dem Tod seiner Frau wechselte er noch einmal den Lebensmittelpunkt – diesmal wieder gen Osten. Er lebt seit 2007 mit seiner zweiten Frau Irene in Dresden. „Ich bin wieder in eine hei- matliche Umgebung gezogen, nicht in die Fremde und ich bin hier und war in Gerlingen zu Hause.“ Auch in seinem ho- hen Alter wirkt er körperlich und geistig FOTO Rebstock noch sehr vital und engagiert sich eh- renamtlich bei der Interessengemein- schaft Weißeritztal-Bahn. Dies ist die älteste noch im öffentlichen Betrieb be- findliche Schmalspurbahn, die täglich im Dampflokbetrieb verkehrt. Außer- Bis 1958 gab es Lebensmittelmarken.“ sich nach Westen abgesetzt hatten. Der dem arbeitet er noch im Arbeitskreis für Nach dem Abitur wollte Schulze studie- Entschluss, dies auch zu tun, war mein Sächsische Militärgeschichte mit. „Aber ren und bewarb sich bei diversen Hoch- eigener. Allerdings im Einvernehmen wir beschäftigen uns nicht nur mit der schulen. „Aber ich hatte schlechte Kar- mit der Familie. Gerade noch rechtzeitig Geschichte des Militärs“, fügt er schnell ten, denn mein Vater war Reichbeamter und noch regulär erreichte ich im Januar hinzu um sein Interesse an der Historie gewesen und so verhinderte eine unaus- 1954 mit der Eisenbahn Köln“. generell zu unterstreichen. Nach dem gesprochene Sippenhaft ein Studium. Wiedersehen mit Gerlingen antwor- Während der schlimmen Zeit des Kom- Im Westen kam Schulze zuerst in ein Not- tet Schulze auf die Frage „Wie sehen Sie munismus wurde der Altbaubestand aufnahmelager, forstete am Nürburgring Gerlingen heute?“: „Da hat sich baulich heruntergewirtschaftet. Die Löhne wa- auf und war Wachsoldat für die amerika- schon einiges verändert. Etliche Gebäu- ren niedriger. Die Arbeitszeit dafür län- nischen Streitkräfte. Nach der positiven de wurden weggerissen. Auffallend vor ger. Bei den Menschen erzeugte die Si- Eignungsfeststellung für den gehobe- allem das Träuble-Areal. Ich habe inzwi- tuation Sehnsüchte nach freiem Reisen, nen Postdienst und einer Ergänzungs- schen auch Mühe, dass ich noch jeman- nach Kaffee und Apfelsinen. Gleichzeitig prüfung zum den ken ne. herrschte aber überall eine beklemmen- Ostabitur be- Als ich noch de Stimmung. Der Übergang zur Angst gann Schul- »DER ÜBERGANG ZUR ANGST in Gerlingen war fließend. Mein innigster Wunsch zes ber uf li- WAR FLIESSEND. MEIN INNIGS- wohnte und war, einmal die Alpen zu sehen. Und er che Laufbahn TER WUNSCH WAR, EINMAL DIE für den Ger- wurde nach einer 24-stündigen strapa- als Postins- linger Anzei- ziösen Busfahrt wahr. Wir fuhren ins p e k t or-A n- ALPEN ZU SEHEN.« ger schrieb, österreichische Lechtal und ich sah die wär ter. „Die Franz-Jürgen Schulze war ich mit Berge der Alpen. Sache war ge- den A ltger- ritzt“, stellt er im Rückblick erleichtert linger Vereinen und deren Mitglieder Zu dieser Zeit arbeitete ich in einem fest. Über die Station Bahnpostamt kam eng verflochten.“ In seiner persönlichen Bergwerk über Tage und bei mir reifte er durch Verheiratung 1959 nach West- Rückschau ist Schulze froh darüber, dass der Entschluss zur Ausreise gen Wes- berlin und zwei Jahre später durch ein Deutschland nicht mehr gespalten ist. Er ten. Wir hatten eine Hochantenne und Tauschgesuch zur OPD nach Stuttgart. wünscht seinen Enkeln eine Zukunft in hörten wie viele Westradio. Außerdem Hier arbeitete er in verschiedenen Berei- Frieden mit Selbstbestimmung in priva- gab es unter den Vertrauten einen florie- chen. Zuletzt als Bezirkskatastrophen- ter und beruflicher Hinsicht. „Alles an- renden Buschfunk. Schon während der schutzleiter. Die Familie mit drei Söhnen dere als Frieden bringt nur Hunger und Schulzeit waren nach den Ferien immer wurde in Stuttgart-Giebel und anschlie- Tod. So wie damals im ausgebombten wieder Schulkameraden weg, weil sie ßend in Gerlingen heimisch. Die Söhne Chemnitz.“ Alfred Kauffmann Seite 20 – LEOAKTIV
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50 Jahre Partnerstadt LEONBERG FEIERT MITEINANDER ZWISCHEN OST UND WEST Jubiläumswagen der „Freunde Neuköllns“ anlässlich des Leonberger Pferdemarktes im Februar 2020 mit dem Berliner Bär rand sollen ab dem nächsten Jahr 900 Wohnungen zu meist erschwinglichen Mieten errichtet werden. Ein Negativum des Stadtteils ist eine rechtsradikale An- schlagsserie, die von der Polizei aktuell noch nicht aufgeklärt werden konnte, er- zählt authentisch und zeitaktuell Man- fred Herrmann, Berlin Neukölln. In der Folge des Zweiten Weltkrieges sollten Städtepartnerschaften als „Völ- FOTO Maria Alexaki kerverständigung von unten“ mithelfen, dass schon auf der Ebene der einfachen Menschen das gegenseitige Verstehen die Grundlage für ein friedliches Miteinan- der der Staaten bilden. Der Berliner Be- zirk Neukölln begründete bereits 1955 D er heutige Berliner Bezirk Neu- Das „Estrel“ ist mit 1125 Zimmern das Partnerschaften mit Anderlecht, Boulo- kölln ist seit 1920 ein Verwal- größte Hotel Deutschlands und „Biotro- gne-Billancourt, Hammersmith & Ful- tungsbezirk der Stadt Berlin. Es nik“ einer der weltweit führenden Her- ham sowie Zaanstadt. Wegen der Insel- entstand aus vier Dörfern von denen Rix- steller von Herzschrittmachern. lage Berlins nach der Blockade und des dorf das bedeutendste war. Es erhält mit Mauerbaus wurden auch Beziehungen zu rund 80 000 Einwohnern bereits 1899 die Über die zahlreichen Probleme Neuköllns westdeutschen Städten aufgebaut. Stadtrechte. Im Jahr 1912 wird Rixdorf in wie Armut, Vermüllung und Krimina- Neukölln umbenannt und kommt 1920 lität wird in den Medien berichtet. We- Curt und Ruth Belling lebten im Jahr des mit rund 253 000 Einwohnern als 14. Ver- niger darüber, dass Politik, Verwaltung Mauerbaus 1961 in Leonberg. Sie war waltungsbezirk zu Groß-Berlin. Die alten Unternehmen und Ehrenamtliche auch Mannheimerin, er stammte aus Ber- Ortskerne erinnern noch an die bäuerli- viele Proble- lin. Vor al- chen Ursprünge. me anpacken »MEINE MUTTER WAR EINE lem Ruth und zu lösen Belling war Neukölln zählt heute rund 330.000 versuchen. So IDEALISTIN, EINE KÄMPFER- vom Bau der Einwohner/innen aus 150 Nationen in gelang es die IN VOR DEM HERRN MIT EINEM Mauer und Mietskasernen und Einfamilienhäusern. f r ü her ver- GROSSEN HERZEN UND DER der Is ol ie - Bunt und quirlig aber auch anstrengend. r ufene Rüt- rung Berlins Da gibt es die Fast-Idylle des „Böhmi- li-Schule mit UNVERRÜCKBAREN MEINUNG, g e s c h o c k t . schen Dorfes“, das vor rund 300 Jahren viel Engage- DASS BERLIN ZU UNS GEHÖRT.« „Meine Mut- von protestantischen Glaubensflüchtlin- ment von Pä- Harald Belling ter war eine gen gegründet wurde. Neben dem stillge- dagogen und Idealistin, legten Flughafen Tempelhof liegt der äl- viel Geld zu einem Vorzeige-Campus zu eine Kämpferin vor dem Herrn mit einem teste muslimische Friedhof Deutschlands entwickeln. Die „Stadtteilmütter“ sowie großen Herzen und der unverrückbaren aus dem 19. Jahrhundert. In der Nähe von Mentoren der „Bürgerstiftung Neukölln“ Meinung, dass Berlin zu uns gehört“, er- türkischen Brautkleidergeschäften re- fördern individuell Kinder und Jugend- innert sich Sohn Harald Belling. Um ihre sidiert das „SchwuZ“ – der wichtigste liche mit Migrationshintergrund. Durch Idee, eine Brücke nach Berlin zu schla- queere Club Berlins. Die fortschrittliche den Mietendeckel konnten die explodie- gen realisieren zu können, investierte „Hufeisensiedlung“ aus den zwanziger renden Wohnungsmieten gedämpft wer- sie viel Arbeit. Ihr Wunsch: Schüler, Se- Jahren wurde UNESCO-Weltkulturerbe. den. Auf den Buckower Feldern am Stadt- LEOAKTIV – Seite 23
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