Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England
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4.2018 2 € ISSN 1433-349X www.museumsmagazin.com Neue Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 Made in England Fotografien von Peter Dench in der U-Bahn-Galerie
intro „Wir sind das Volk“, riefen friedliche Demonstranten im Herbst 1989 in Leipzig. Am 9. Oktober 1999, dem zehnten Jahrestag der Leipziger Großdemonstration, eröffnete die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dort das Zeit- geschichtliche Forum Leipzig: Im ehemaligen Zentralmessepa- last mitten in der Leipziger Innenstadt vermittelt das Museum seit knapp 20 Jahren Kenntnisse zur Geschichte von Teilung und Einheit, Diktatur und Widerstand in der DDR. Die Zukunft des Hauses ist auch langfristig gesichert, der Mietvertrag wurde um weitere 20 Jahre bis Ende 2038 verlängert. Sondermittel in Höhe von vier Millionen Euro von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Prof. Monika Grütters MdB, und die kontinuierliche Unterstützung der Gremien der Stiftung – Kuratorium, Wissenschaftlicher Bei- rat und Arbeitskreis gesellschaftlicher Gruppen – ermöglichten die Erneuerung der Dauerausstellung und des Eingangsbereichs des Hauses. Ein besonderer Dank gilt den „Paten“ der neuen Dauerausstellung „Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945“, die uns während der Konzeptionsphase beratend zur Seite gestanden haben, den Professoren Dr. Marie-Luise Recker, Dr. Werner Plumpe (beide Frankfurt am Main), Dr. Andreas Rödder (Mainz) und Dr. Martin Sabrow (Potsdam). An allen Standorten der Stiftung bieten wir Ihnen im Herbst und Winter ein abwechslungsreiches Programm: Seit dem 10. Oktober wirft die Ausstellung „Angst. Eine deutsche Gefühlslage?“ im Haus der Geschichte in Bonn einen Blick auf deutsche Sorgen und Ängste der vergangenen Jahrzehnte. Ab dem 7. Dezember ist in Bonn die neue große Wechselausstel- lung „Very British! Ein deutscher Blick“ zu sehen. Noch bis zum 20. Januar 2019 sehen Sie im Museum in der Kulturbrauerei in Berlin „Die 68er“ mit Fotos von Ludwig Binder und Jim Rakete. Wir freuen uns auf Ihren Besuch! Dr. Hans Walter Hütter Präsident und Professor Zur Eröffnung der Ausstellung „Angst. Eine deutsche Gefühlslage?“ am 9. Oktober 2018 Auch nach dem Bruch mit Josef Stalin im Haus der Geschichte in Bonn diskutieren der im Frühjahr 1956 blieb Wladimir Iljitsch Präsident der Stiftung Hans Walter Hütter (re.) Lenin das große ideologische Vorbild und Journalist Frank Plasberg (li.) über der SED. die Ängste der Deutschen.
inhalt inaussicht Öffnungszeiten Di – Fr 9 – 19 Uhr, Sa, So, Feiertage 10 – 18 Uhr Öffentliche Begleitungen unter www.hdg.de inbonn inleipzig Anmeldungen Besuchergruppen Telefon 030 / 4677779-11 Mo – Fr 9 – 16 Uhr inberlin besucherdienst-berlin@hdg.de Öffentlicher Nahverkehr Haltestelle S+U Friedrichstraße Bhf. Ausgang Reichstagufer Eintritt frei Dig,Dag,Digedag Tränenpalast S. 4 oben: © Gerhard Gäbler, unten: ullstein bild – ADN-Bildarchiv S. 5: Stiftung Haus der Geschichte/Stephan Klonk Entwurf: Claudia Grotefendt, Bielefeld 3/2018 S. 2: Stiftung Haus der Geschichte/Stephan Klonk S. 3: Stiftung Haus der Geschichte/Stephan Klonk Bildnachweis Titel: Stiftung Haus der Geschichte/Stephan Klonk S. 1 oben: Photonet.de Lehnartz Ort der deutschen Teilung 28 Reichstagufer 17 Tränenpalast 10117 Berlin Telefon 030 / 4677779-11 Am 9. November 1989 öffnete sich Telefax 030 / 4677779-17 auch am Bahnhof Friedrichstraße www.hdg.de/traenenpalast Ein englischer Blick die Grenze. Der im Ergebnis zu- nächst offene Wiedervereinigungs- prozess verlief rasant. Am 2. Juli facebook.com/ traenenpalastberlin Ort der deutschen Teilung 1990 feierten die Berliner die erste direkte Fahrt einer S-Bahn von Ost Angst Dig Dag Digedag Tränenpalast nach West über den Bahnhof Fried- richstraße. Mit dem Ende der deut- schen Teilung verlor der Tränenpa- Eine deutsche Gefühlslage? last seine ursprüngliche Funktion. DDR-Comic MOSAIK Ort der deutschen Teilung Haus der Geschichte, Bonn Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Tränenpalast, Berlin 10.10.2018 – 19.5.2019 Di – Fr 9 –18 Uhr, Sa/So 10 –18 Uhr Di – Fr 9 – 19 Uhr, Sa / So / Feiertag 10 – 18 Uhr 6 Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 32 Democracy Slam imfokus inbonn Made in England Unsere Geschichte. Die 68er Foto: Armin Wiech, Quelle: Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V., Entwurf: Claudia Grotefendt, Bielefeld Unsere Fotografien von Peter Dench Diktatur und Demokratie nach 1945 Fotografien von Ludwig Binder und Jim Rakete 6 24 Geschichte. Unsere Geschichte. Ein englischer Blick U-Bahn-Galerie, Bonn 5.11.2018, Eröffnung Diktatur der und neuen Demokratie Museum in der Kulturbrauerei, Berlin Diktatur und Demokratie nach 1945 Made in England. Fotografien von Peter Dench ab 6. Dezember 2018 Dauerausstellung nach 1945 27.4.2018 – 20.1.2019 Neue Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig Zeitgeschichtliches Forum Leipzig 26 Di – Fr 9 –18 Uhr Angst. Eine deutsche Gefühlslage? Gundermann Sa, So, Feiertage 10 –18 Uhr Di – Fr Bis dass der Staat Eintritt frei 9 –18 Uhr, Sa/So 10 –18 Uhr 12 Neues Konzept – neue Präsentation Eröffnung der neuen Ausstellung im Haus der Geschichte (D 2018) Filmvorführung und Gespräch Grimmaische Straße 6 04109 Leipzig Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Museumsfest Euch scheidet www.hdg.de Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Jürgen Reiche über die Neugestaltung mit Regisseur Andreas Dresen, Auftritt der des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig 28 „Demokratie muss verteidigt werden!“ Band um Hauptdarsteller Alexander Scheer Alfons Zitterbacke, Ottokar & Co., Ehe und Scheidung in der DDR Bundespräsident bei „Democracy Slam“ im Bundesrat In Kooperation mit der Bundeszentrale Spindlers Puppenshow, BACK AGAIN!, und in Ostdeutschland 16 Onlinetagebuch zur Wiedereröffnung für politische Bildung Steinlandpiraten Gespräch 31 Krisen als Motor der Geschichte Haus der Geschichte, Bonn Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Museum in der Kulturbrauerei, Berlin 18 Alltagsgrau, Abenteuerlust, Aufbegehren Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 27.11.2018, 18 Uhr 10.11.2018, 14 Uhr 5.12.2018, 19 Uhr Kleine Fluchten aus dem Kollektiv inberlin Die dunkelste Stunde Der Kracher von Moskau Fotografieworkshop 22 Sand im Getriebe (UK 2017) Filmvorführung (D 2015) Filmvorführung und Gespräch Schwarz-Weiß-Fotografie an den Intellektuelle und Oppositionelle ohne Druckgenehmigung 32 Museumsfest in Berlin mit Einführung von Prof. Dr. Harald Biermann In Kooperation mit der Bundeszentrale Beispielbildern von Jim Rakete Besucherrekord am Tag der Deutschen Einheit im Tränenpalast Haus der Geschichte, Bonn für politische Bildung und der DFB- Museum in der Kulturbrauerei, Berlin 31.1.2019, 19 Uhr Kulturstiftung 1. / 8.12.2018, 12 –15 Uhr imbesonderen Zeitgeschichtliches Forum Leipzig Ausstieg aus der Kohle 14.11.2018, 19 Uhr Wendejahre 35 Schwarz-Rot-Gold Aufbruch in eine neue Zeit Fotografien von Daniel Biskup Vor 70 Jahren bestimmte der Parlamentarische Rat die Bundesfarben Podiumsgespräch mit Armin Laschet, Als wir die Zukunft waren Ausstellung Michael Vassiliadis und Bernd Tönjes 7 Geschichten aus einem Museum in der Kulturbrauerei, Berlin verschwundenen Land ab 14.2.2019 Haus der Geschichte, Bonn (D 2015) Filmvorführung und Gespräch 5.2.2019, 19:30 Uhr Zeitgeschichtliches Forum Leipzig 15.11.2018, 19 Uhr Eintritt zu allen Veranstaltungen frei 37 inkürze Veranstaltungen in Bonn: Veranstaltungen in Leipzig: Veranstaltungen in Berlin: 42 inzukunft / impressum www.hdg.de/ www.hdg.de/ www.hdg.de / haus-der-geschichte/ zeitgeschichtliches-forum/ museum-in-der-kulturbrauerei / 43 imbilde veranstaltungen veranstaltungen veranstaltungen
imfokus Neue Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig Zehn Jahre nachdem sich mehr als 70.000 Menschen auf dem Leipziger Innenstadtring zur bis dahin größten Montagsdemonstration Unsere Geschichte. versammelt hatten, öffnete das Zeitgeschichtliche Forum seine Türen. Als Ort lebendiger Erinnerung an die Diktatur in der DDR, an die deutsche Teilung und ihre Überwindung zählte das Haus seit Oktober 1999 mehr als 3,6 Millionen Besuche in seinen Ausstellungen. Diktatur und Demokratie nach 1945 von Hans Walter Hütter Agrotechniker und Mechanisatoren, Neukirchen-Wyhra, 1990: Im Auftrag des Deutschen Historischen Museums porträtiert Stefan Moses Ostdeutsche nach dem Mauerfall. Seine Bilder spiegeln eine Gesellschaft im radikalen Umbruch.
imfokus Nahezu drei Jahrzehnte sind inzwischen seit dem Mauer- fall vergangen – eine ereignisreiche Zeit, die in einer aktu- ellen zeitgeschichtlichen Ausstellung berücksichtigt werden muss. Mittlerweile ist eine Generation herangewachsen, die die Teilung Deutschlands und die friedliche Revolution nicht oder nicht bewusst erlebt hat. Von daher werden per- sönliche Erinnerungen immer seltener. Der wachsende zeitliche Abstand fördert aber auch Neues zutage: aktuelle Erkenntnisse der Forschung, eine erheb- lich verbesserte Objektlage und museumsdidaktische Ent- wicklungen, die veränderte Rezeptions- und Mediennut- zungsgewohnheiten der Besucher berücksichtigen. Von der Diktatur zur Demokratie Die neue Dauerausstellung in Leipzig „Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945“ gibt der Zeit seit der Wiedervereinigung mehr Raum und setzt neue thematische Schwerpunkte innerhalb der chronologischen Gesamt- erzählung von 1945 bis in die Gegenwart: Sie präsentiert die Bedingungen des Neuanfangs in Deutschland und Eu- ropa nach dem Zweiten Weltkrieg wie auch die Grundlagen des Herrschaftssystems der SED-Diktatur. Sie fragt nach den Widersprüchen zwischen ideologischem Anspruch und alltäglicher Lebenswirklichkeit, zeigt individuelle Hoff- nungen und Frustrationen sowie das Aufbegehren gegen die Machthaber in der friedlichen Revolution. Die sich überschlagenden Ereignisse des Epochenjahrs 1989/90 nehmen in der neuen Dauerausstellung in Leipzig – am Ort der Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 – einen besonderen Stellenwert ein. Die revolutionären Umwäl- zungen in Osteuropa und in der DDR sowie der nationale Einigungsprozess werden als Bestandteile einer gesamteuropäischen, internatio- nalen Entwicklung beleuchtet. Den Jahrzehnten seit der fried- lichen Revolution, dem Mauerfall und der Wiedervereinigung widmet die neue Dauerausstellung mehr Raum als bislang: Sie thematisiert Erfolge der wirtschaftlichen Trans- formation und des gesellschaft- lichen Zusammenwachsens ebenso wie Probleme im Vereinigungsprozess und individuelle Enttäuschungen. Die Be- sucher erwarten informative wie auch emotional ansprechende Zugänge zu den oft komplexen und abstrakten Transformations- Das Drehschränkchen mit Buchattrappen und Geheimfächern stammt aus dem Besitz Erich Honeckers aus der Waldsiedlung Wandlitz bei Berlin, in der von 1960 bis 1989 die führenden Mit- glieder des Politbüros mit ihren Familien wohnten. An vielen Orten in der DDR stehen Lenin-Denkmäler für die Ideen des russischen Revolutionsführers und zeugen von der engen Bindung an die Sowjetunion. Der Bildhauer Manfred Wagner schuf die Skulp- tur 1970 im Auftrag für eine sowjetische Kaserne. Unmittelbar nach dem Sturz der SED-Diktatur räumt Bischofswerda seinen Lenin zur Seite. museumsmagazin 4.2018 9
Die Verdichterstufe zum Triebwerk „Pirna 014“ entsteht um 1960 für die Flugzeugwerke Dresden. Die Produktion des „Flugzeugs 152“, des ersten Passagier-Düsenjets Deutschlands, ist ein Prestigeprojekt der SED-Führung. Arbeitsalltag in der DDR: Da das Flugzeug keine Abnehmer im Ausland findet, Brigade im VEB Kombinat Chemische muss die DDR die Fertigung 1961 einstellen. Werke „Walter Ulbricht“, Leuna 1979 und Globalisierungsprozessen, die Deutschland seit seiner als zentraler Ort der Auseinandersetzung mit historischen Wiedervereinigung prägen. Zeitzeugen erzählen von ihren und aktuellen gesellschaftlichen Fragen Diskussionen an- individuellen Erfahrungen und Erinnerungen während stoßen und zum Gespräch anregen. Rund 2.000 aussage- der Jahre des Zusammenwachsens. Ihre eindrücklichen kräftige dreidimensionale Objekte, Fotos, Dokumente und Berichte aus verschiedenen Lebensbereichen machen die audiovisuelle Medien veranschaulichen die Bedeutung po- Erzählungen besonders lebendig. Aus vielfältigen Blickwin- litischer Entscheidungen und historischer Zäsuren für die keln bringen sie den Ausstellungsbesuchern die Auswir- Deutschen in Diktatur und Demokratie nach 1945. kungen politischer Prozesse und Umbrüche auf das Leben des Einzelnen näher. Meinungsfreiheit Wachsende globale Verflechtungen und aktuelle He- rausforderungen der jüngsten Vergangenheit bilden den Einen besonderen Ort für den Austausch individueller Er- Übergang zur Gegenwart: In einer sich rasant verän- fahrungen und unterschiedlicher Auffassungen von Vergan- dernden Welt stellt uns die neue Bedrohung durch den in- genheit und Gegenwart bietet das Forum, das den Abschluss ternationalen Terrorismus im 21. Jahrhundert heute vor der neuen Dauerausstellung bildet und zugleich Aufforde- große Herausforderungen. Die Digitalisierung mit ihren rung zu Diskussion und Widerspruch ist. Die Auseinander- neuen Technologien, die unser alltägliches Leben zuneh- setzung über die geteilte wie auch gemeinsame Geschich- mend verändert, lässt neue Unsicherheiten aufkommen. te und über die Bewältigung aktueller Herausforderungen Die Flüchtlingskrise ist eines der wichtigsten Themen der verlangt kontroverse Debatten – Gelegenheit hierfür bietet jüngeren Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. das Forum mit seiner Bühne, auf der Zeitzeugen ebenso zu Wort kommen wie Gäste unterschiedlichster Veranstal- Ort der Reflexion tungen zu historischen und aktuellen Fragen. Die Demokra- tie und die offene Gesellschaft leben vom freien Gespräch, Indem sie nicht nur historische Kenntnisse vermittelt, son- vom Widerstreit der Positionen – das Zeitgeschichtliche Fo- dern die Besucher auch emotional anspricht, fordert die rum im Herzen der Leipziger Innenstadt freut sich auf viele Ausstellung zur individuellen Begegnung mit der Vergan- interessierte Besucher, auf anregende Veranstaltungen und genheit auf. Das Zeitgeschichtliche Forum will auch künftig lebhaften Meinungsaustausch. Am Ende öffnet sich die Dauerausstellung zu Demonstration gegen einer Bühne, an deren Seite die Wortskulptur deutsche Asylpolitik in Rostock, „FREIHEIT“ zu Diskussionen einlädt. 2015 10 museumsmagazin 4.2018 museumsmagazin 4.2018 11
imfokus Das Berliner Reichstagsmodell stammt aus der Umbauphase in den 1990er Jahren. Blickfang ist die gläserne Kuppel, entworfen von Stararchitekt Sir Norman Foster. Jürgen Reiche über die Neugestaltung mm Das Plakat zur neuen Daueraus- stellung im Zeitgeschichtlichen Fo- des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig rum Leipzig verspricht „mehr Raum und mehr Geschichte“. Was bedeutet Neues Konzept – das konkret? Reiche Wir haben uns viel vorgenom- men. Das ganze Haus ins Auge zu fas- sen, war der Anspruch. Dadurch ha- neue Präsentation ben wir eine völlig neue Konzeption in Angriff genommen – von der Fassade über das Foyer, vom Treppenhaus bis in die Ausstellungsräume hinein. Inhaltlich hatten wir in der al- ten Dauerausstellung eine Präsentati- Interview: Ulrike Zander on gezeigt, die bis Anfang der 1990er Mitte der Ausstellung thematisieren deutschland stärker zu Wort kommen Jahre reichte. Sie endete mit der wir die friedliche Revolution, die Um- zu lassen. Wichtig war uns, die Le- friedlichen Revolution und der Ein- brüche in Osteuropa und in der DDR. bensleistungen der Menschen in Ost- heit Deutschlands. Jetzt erzählen wir Am Ende der Ausstellung korrespon- deutschland zu berücksichtigen und Zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung in Leipzig sprach eine Geschichte vom Ende des Zwei- diert eine Bühne mit einer Apsis, in dass diese nicht aus zu großem Ab- ten Weltkriegs bis in die Gegenwart. der in einer Rundumprojektion Men- stand betrachtet werden. Daraus sind das museumsmagazin mit Direktor Dr. Jürgen Reiche Wir haben die Zeit nach 1989/90 – den schen zu Wort kommen, die wir in Zeitzeugeninterviews entstanden, die über die neue Präsentation im Zeitgeschichtlichen Forum, wirtschaftlichen und gesellschaftli- Deutschland interviewt haben zu den in der neuen Dauerausstellung in das sich als Ort lebendiger Erinnerung sowie als Forum Eine Bühne für Gespräche chen Transformationsprozess sowie Themen „Wenn ich das Sagen hätte, verschiedenen Zusammenhängen an und Diskussionen: die juristische Aufarbeitung – stärker was würde ich in Deutschland anders Medienstationen abgerufen werden unterschiedlicher Perspektiven auf Vergangenheit und Direktor Jürgen Reiche und in den Blick genommen und fragen machen?“, „Was finde ich gut?“, „Was können. Den Besuchern wird so be- Gegenwart begreift. Redakteurin Ulrike Zander nach den Erfolgen und Problemen des finde ich schlecht?“, „Was bedeutet wusst, dass bei den Erzählungen der wiedervereinigten Deutschland, nach für mich Freiheit heute?“. Auf diese Zeitzeugen der Rahmen eine Rolle individuellen Hoffnungen und Ent- Weise stellen wir den Menschen und spielt, in dem sie innerhalb der SED- täuschungen. Dabei richten wir uns seinen Gegenwartsbezug in den Mit- Diktatur gelebt haben. Die unter- insgesamt an eine breite Zielgruppe, telpunkt. schiedlichen Perspektiven, die heute auch verstärkt an die junge Genera- noch wahrzunehmen sind, spielen in tion, die die Zeit der Mauer und des mm Insgesamt ist in der neuen Dau- der Geschichte eine große Rolle – vor geteilten Deutschland nicht miterlebt erausstellung ein verstärkter Me- und nach der Wiedervereinigung. Da hat. dieneinsatz mit vielen Zeitzeugenin- Vor diesem Hintergrund ist die terviews zu finden. Welche Wirkung Von Barkas zu Porsche: 2002 bringt der Ausstellung kommunikativer gewor- versprechen Sie sich davon? Sportwagenhersteller Porsche mit dem den und stellt den gegenwärtigen Reiche Wir haben sehr viel Wert „Cayenne“ erstmals eine Geländelimousine Lebensbezug voran, um von dort aus darauf gelegt, die unterschiedlichen auf den Markt. Das für dessen Montage auf die Geschichte zu sehen. In der Erfahrungen der Menschen in Ost- gebaute Werk in Leipzig startet mit 300 Mitarbeitern, heute sind es 4.000. 12 museumsmagazin 4.2018 museumsmagazin 4.2018 13
Personenkult in der DDR: Sowjetische Panzerabwehrkanone Lenin-Plastik aus den zur Niederschlagung des Volksaufstands 1950er Jahren in Ost-Berlin am 17. Juni 1953 Der umgebaute Barkas „B 1000“ von 1979 bringt als Gefangenentransporter Rundgänge an, die ineinander verwo- „Staatsfeinde“ der DDR unbemerkt ben sind. Die eine Präsentation führt zu Haftanstalten. an ikonischen Schlüsselobjekten ent- lang, die die Zeit charakterisieren und von Begriffen begleitet werden, Missstände gibt, in dem ich aber viele die dem Grundgesetz entlehnt sind: Möglichkeiten habe, mitzumischen Freiheit, Einheit, Menschenrechte, und zu verändern. Würde. Die dazu parallel laufende Ausstellung ist chronologisch aufge- mm Welche Objekte erzählen beson- baut mit thematischen Schwerpunk- ders spannende Geschichten? ten von 1945 – mit einem Rückblick in Reiche Es gibt starke, attraktive Ob- die nationalsozialistische Diktatur – jekte: aus der Frühzeit ein Buch auf bis in die Gegenwart hinein. Birkenrinde, das in einem sowje- In den neuen Bereichen für den tischen Speziallager geschrieben Zeitraum nach 1989/90 zeigt die Aus- wurde; innovative Technik wie das gab es Menschen, die festhielten am bemüht, deutlicher zu zeigen, worin stellung, dass im deutsch-deutschen Triebwerk eines Düsenflugzeugs, das wart hineinreicht und Fragen zum Harald Metzkes, Manfred Böttcher sogenannten real existierenden So- die Unterschiede zwischen Diktatur Miteinander bis heute immer wieder in Ostdeutschland gebaut wurde; der Thema „Freiheit“ aufwirft: ein Chip, und Horst Zickelbein in der Art der zialismus, wie die SED ihn prägte, und Demokratie liegen. Die DDR trug unterschiedliche kulturelle Prägun- Tisch aus dem Politbüro, der uns er- den man sich unter die Haut pflanzen klassischen Moderne gemalt worden oder andere, die von einem dritten zwar das Wort „Demokratie“ im Na- gen eine Rolle spielen – das macht klären hilft, wie Entscheidungen auf lassen kann, der aufgeladen ist mit und standen damit im Gegensatz zum Weg träumten, oder diejenigen, die men, war aber dennoch eine Diktatur. sich nicht zuletzt bei der Sicht auf die höchster Ebene getroffen wurden – in Informationen, um Geld abzuheben, sozialistischen Realismus. loszogen und das Gefühl von Frei- Die nicht vorhandene Gewaltentei- Vergangenheit bemerkbar. Wie wir der Frühzeit der DDR von Brotprei- Türen zu öffnen, sich in Computersys- Auf der Einladung zur Ausstel- heit gelebt haben. Viele hatten große lung, die Überwachung, keine freien uns an Ereignisse und Bilder erin- sen bis hin zu Todesurteilen; die Ver- teme einzuloggen. Das größte Objekt lungseröffnung ist ein Bild zu sehen, Probleme, sich im wiedervereinigten Wahlen, keine freie Presse, keine un- nern, hängt stark von der Herkunft herrlichung Stalins durch Tragebilder ist eine sowjetische Panzerabwehrka- das junge Menschen zeigt, die das Deutschland zurechtzufinden. abhängige Gerichtsbarkeit, das alles aus Ost oder West ab – selbst bei der oder das Propagieren des „Antifa- none aus dem Jahr 1953 beim „Volks- Transparent „Für ein offenes Land sind Themen, die wir differenziert, jüngeren Generation. schismus“ durch die Aufstellung von aufstand 17. Juni“. mit freien Menschen“ hochhalten. mm Welche gestalterischen Neuerun- inhaltlich vor allem auch klarer her- Neu ist auch der Ansatz, die Denkmälern. Das schwerste Objekt Ein Objekt, das viel aus sich Dieses Motto zieht sich durch die ge- gen erwarten die Besucher in Leipzig? ausstellen. Schließlich verfolgen wir Ausstellung am Ende zu einer Bühne ist ein Lenin-Denkmal: Es lag bereits selbst heraus erzählt, ist eine Wand- samte Ausstellung. Zudem freut es Reiche Das Haus ist vollständig neu einen partizipativen Ansatz – unsere zu öffnen. Dadurch bekommt das „Fo- aussortiert auf einem Bauhof. Es hat bemalung, die sich unterhalb des Pa- mich besonders, dass wir die Aus- konzipiert und mit neuen Präsentatio- Präsentation dient auch dazu, den rum“ eine neue Bedeutung: Auf dieser früher einmal vor einer sowjetischen riser Platzes in Ost-Berlin in einem stellung in einer Zeit eröffnen, in der nen gestaltet worden. In beiden Aus- Themen mehr Raum und dem Publi- Bühne können wir Veranstaltungen Kaserne an einem Ort gestanden, an Kohlenkeller befand, der zur Akade- klare Statements zur Demokratie so- stellungsetagen ist vieles heller, lich- kum mehr Anregungen zu geben, sich mitten in der Ausstellung durchfüh- dem auch Atomraketen stationiert mie der Künste gehörte. In diesem wie zum Grundgesetz gefordert sind. ter und einladender geworden. Beim mit dieser Zeit auseinanderzusetzen – ren. Alle Besucher sind herzlich zu waren. Dieser Lenin dokumentiert Gewölbe haben die jungen Künstler Das Zeitgeschichtliche Forum bezieht Thema „Diktatur“ haben wir uns immer mit Bezug zur Gegenwart, in Diskussionen eingeladen – eine Ge- mit vielen anderen Objekten aus der Feste gefeiert. Einige dieser Fresken mit dieser neuen Ausstellung klar der wir mit Pegida, Flüchtlingsbewe- legenheit, sich auszutauschen, aber Zeit der 1990er Jahre, wie man sich haben wir schon frühzeitig in den Stellung. Unser Haus ist daher für gungen, Rechts- und Linksextremis- auch die Debatten über das Haus auch der Ideologie entledigt hat und 1990er Jahren in Berlin abgenom- mich das Forum für Demokratie in Mehr Raum und mehr Geschichte: mus, Globalisierung, Digitalisierung hinaus weiterzuführen. Darin steckt nicht nur von materiellen Dingen der men. Eine der Arbeiten wird jetzt Deutschland. Durch die Nutzung der Kuppel über den erweiterten Ausstellungsräumen und und internationalem Terror konfron- die Aufforderung, Demokratie im- DDR Abschied nahm. hier zum ersten Mal der Öffentlichkeit zahlreiche neue Gestaltungselemente erhält tiert werden. Schließlich bieten wir in mer wieder neu zu befeuern in ei- Das kleinste Objekt der Ausstel- präsentiert. Sie sind aus einer Laune Jürgen Reiche an der Wortskulptur die bis in die Gegenwart hineinreichende der Dauerausstellung sozusagen zwei nem Land, in dem es zwar durchaus lung ist eines, das stark in die Gegen- heraus von bekannten Künstlern wie „FREIHEIT“ in der Dauerausstellung Präsentation mehr Licht und Klarheit. des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig 14 museumsmagazin 4.2018 museumsmagazin 4.2018 15
Online-Tagebuch zur Wieder eröffnung Um die Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig vollständig erneuern zu können, war die Präsentation ab dem 29. Januar 2018 geschlossen. Die meisten Objekte hatten die Dauerausstellung verlassen und die Bauarbeiten waren in vollem Gang. Ein Online-Tagebuch dokumentierte für die Besucher, was bis zur Wiedereröffnung passierte. August 23. Der Barkas darf bleiben 2350 Kilogramm wiegt der 30. Ein Flugzeug auf der Wand Illustrator Swen Papenbrock lässt eine weiße Wand in unserer neuen Dauerausstellung mit seiner farbigen Kreation erstrahlen. Gefangenentransportwagen Barkas Wir haben seine Arbeit von der leeren Wand bis zum fertigen Bild im Video festgehalten. „B 1000“. Das ist viel zu schwer, um ihn aus unserer Dauerausstellung zu räumen. Der in der DDR gefertigte Eintonner darf also während der Umbauarbeiten in der Ausstellung bleiben. Wir haben einen gut geschützten Platz für ihn gefunden. September 10. Ein Strahltriebwerk auf Reisen In der DDR entstehen ab 1955 in Dresden Flugzeuge. Hier 20. Ein Reichsadler aus Sandstein Dieser Reichsadler aus Stein stammt aus einer 24. Arbeit im Wandel der Zeit Iris Benner ist wissen- schaftliche Mitarbeiterin im Zeitgeschichtlichen sehen Sie das Strahltriebwerk „Pirna 014“. Es kommt Kaserne in Euskirchen. Belgische Soldaten Forum. In unserer neuen Dauerausstellung widmet sie in einem Prototyp des Passagierflugzeugs „152“ zum schlagen im Jahr 1945 das zugehörige Hakenkreuz sich der Zeit nach 1989. Im Video erläutert sie die tief Einsatz. Die Flugzeugproduktion in der DDR wird 1961 heraus. Die über eine Tonne schwere Steinmetzarbeit greifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ver- eingestellt. Das Verkehrsmuseum in Dresden stellt es uns wird mit einem Skulpturenheber an ihren Platz im änderungen nach der Wiedervereinigung am Beispiel der für unsere neue Dauerausstellung zur Verfügung. Ausstellungsbereich zum Jahr 1945 gebracht. Firma Präwema aus dem sächsischen Vogtland. Oktober 1. DDR-Alltag an der Wand Aus dem Depot an die Wand: 1,5 Meter hoch und über vier Meter breit ist das Gemälde 8. Mit Leidenschaft am Werk Einen alten Wartburg für die neue Ausstellung herrichten? 10. Objekte im Rampenlicht Während des Umbaus werden unsere Objekte nicht nur restauriert und transportiert, sondern auch professionell fotografiert. von Schülern aus Chemnitz. Nachdem unsere Restauratorin das Kein Problem für unseren Automobilrestaurator Philip Unser Fotograf lichtet diese Büste von Karl Marx sowie ein Drehschränkchen mit Gemälde entstaubt und mit Farbe ausgebessert hat, befestigen Mandrys! Wir haben ihm bei seinen Arbeiten in der Buchattrappen und Geheimfächern von Erich Honecker ab. Dann kommen sie wir es im Museum an der Wand. Bonner Restaurierungswerkstatt über die Schulter an ihren neuen Platz in der Dauerausstellung. geschaut. museumsmagazin 4.2018 17
imfokus Kleine Fluchten aus dem Kollektiv Ob Freizeit, Hobbys oder Urlaub – wenn es nach dem SED-Regime ging, waren für die „allseits gebildete sozialistische Persönlichkeit“ Alltagsgrau, Abenteuerlust, jederzeit und an jedem Ort politische und gesellschaftliche Aktivitäten im Kollektiv vorgesehen. Aber aller politischen Agitation zum Trotz hieß es spätestens ab den 1970er Jahren in der DDR: „Freitag nach Aufbegehren eins macht jeder seins.“ Die zunehmende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Alltag der von Henrike Girmond DDR aufzuzeigen, stellt einen Schwerpunkt der neuen Dauerausstellung im Zeit- geschichtlichen Forum Leipzig dar. Sie präsentiert anhand ausgewählter Bei- spiele die Bandbreite von Anpassung über Ausloten individueller Freiräume bis hin zum Aufbegehren gegen Gängelei und Gruppenzwang. Dabei erzählt sie von „kleinen Fluchten“, Sehnsüchten, Eigensinn und Abenteuerlust innerhalb eng gesteckter Grenzen. Urlaub nach Plan Vom „Kap Arkona bis zum Fichtelberg“, also vom äußersten Norden bis zum äu- ßersten Süden der DDR, boten vor allem der Staat, die Betriebe und die Massen- organisationen Freie Deutsche Jugend (FDJ) sowie Freier Deutscher Gewerk- schaftsbund (FDGB) Urlaubsreisen und -plätze an. Reisen waren vornehmlich innerhalb der Landes- grenzen und in die sozia- [ Die Feriengestaltung ist ver- listischen Bruderstaaten erlaubt – der Westen war stärkt für die Erziehung zum tabu. Die staatlich subven- sozialistischen Patriotismus tionierten und damit für und proletarischen Internatio- nalismus zu nutzen. ] jeden erschwinglichen Fe- rienplätze waren beliebt – und rar. Die Nachfrage Ferien, Urlaub und Tourismus der Jugend in der DDR. übertraf stets das Angebot. Rechtsvorschriften und Beschlüsse, Ost-Berlin 1988 Viele Familien empfanden es beinahe als Lottogewinn, wenn sie – oft nach jahrelanger Wartezeit – einen FDGB-Ferienscheck erhielten. Auch Campingurlaube standen hoch im Kurs, die Zeltplätze an der Ostsee waren schnell vergeben. Bürokratische Hürden er- schwerten Individualreisen, private Reiseanbieter gab es nicht. „Traumschiff für Arbeiter und Bauern“ Irgendwann einmal eine Weltreise unternehmen – davon träumte die Frau eines bekannten DDR-Wissenschaftlers aus dem thü- ringischen Gräfenthal. Der passionierte Hobbymodellbauer konnte seiner Frau zwar den Wunsch nicht erfüllen, bas- telte ihr aber als Ersatz Ende der 1970er Jahre das Ab- bild des FDGB-Urlauberschiffs „Fritz Heckert“. Als Vorlage dienten vermutlich Schwarz-Weiß-Fotos, denn die Farben des Modellschiffes waren nicht originalgetreu: Statt grün leuchtet der Schiffsrumpf rot. Eine Weltreise wäre mit der „Fritz Heckert“ ohnehin nicht möglich gewesen. Das 1960 erste neu gebaute Urlau- berschiff der DDR und zweite Schiff im Wunschtraum: Selbst gebasteltes Modell Besteigung des Tetnuld im des Passagierschiffs Kaukasus-Gebirge, 1988 „Fritz Heckert“, 1970er Jahre, Foto: Jens Mangelsdorf Teilrekonstruktion 2018
imfokus imfokus Jan Oelker, Wolfgang Hensel, Jens Mangelsdorf, Peter Ulm und Uwe Wirthwein (v. li. n. re.) im Kaukasus-Gebirge, 1988 Foto: Peter Ulm Selbstgefertigte Schnee- schuhe von Jan Oelker, 1987 An den Wochenenden bestritten sie erfolgreich Regatten. Im Schlepptau hatten sie ihre ebenfalls surfbegeisterten Kinder und die transportable Veritas-Nähmaschine, falls doch mal eines der aus „Schlüpferstoff“ genähten Segel reißen sollte. Der Neoprenanzug, den sie für Sohn Falk aus heimlich im- portierten Stoffresten einer West-Berliner Firma anfertigten, Surfbrett und Neoprenanzug Marke Eigenbau: Um die Brett- gehört nun zusammen mit einem selbst gebauten Surfbrett zu oberfläche trittsicherer zu gestalten, den vielen neuen Highlights der Leipziger Dauerausstellung. bestrich sie Peter Wagner mit einem Gemisch aus Kleber und Zucker. Verbotene Pfade Wer dem DDR-Alltag entfliehen, zudem noch fremde Kulturen entdecken wollte, dem stand die Welt nur in Richtung sozialistische Bruderländer offen: Polen, Dienst des FDGB – neben dem Schiff „Völkerfreundschaft“ – durfte bereits kurz Č SSR, Ungarn, Rumänien, Bulgarien. Die Sowjetunion durften die Ostdeutschen nach dem Mauerbau 1961 nur noch Ostsee-Häfen in sozialistischen Ländern nur mit von den DDR-Reisebüros organisierten Gruppenreisen besuchen – so ansteuern: Einige Passagiere hatten zuvor beim Landgang im Mittelmeer die die Theorie. Für Jan Oelker, Student der Kraftwerkstechnik aus Radebeul, kam Chance zur Flucht genutzt – obwohl grundsätzlich nur besonders „verdiente das nicht infrage. Mit Abenteuerlust, Wagemut, Geschick und Kreativität aus- Aktivisten“ die Möglichkeit einer Reise mit dem Schiff erhalten hatten. Bereits gestattet, durchquerte Oelker zusammen mit Freunden Ende der 1980er Jahre 1971 wurde die „Fritz Heckert“ als Urlauberschiff überwiegend aus wirtschaft- mehrfach illegal die Sowjetunion. Die Einreise gelang mit einem für drei Tage lichen Gründen ausgemustert: Es gab Probleme mit dem Antrieb und Ersatzteile gültigen Transitvisum. Doch statt – wie angegeben – nach Bulgarien weiterzu- waren nur mit Mühe erhältlich. Letztlich verschlangen Kreuzfahrten Subventi- fahren, verließen die Abenteurer unerlaubt die vorgegebene Route, bestiegen onen in Millionenhöhe. das Kaukasus-Gebirge oder segelten mit einem selbst gebauten Katamaran durch Sibirien. Geeignete Ausrüstung gab es – wie in der DDR üblich – kaum zu Frei wie der Wind? kaufen. Ob Seifenschale oder Fahrradschlauch – für selbst gefertigtes Werkzeug und Kleidung verwendeten sie ganz alltägliche Gegenstände. Kontrollen über- Von salziger Ostsee-Luft um die Nase spürte auch Familie Wagner aus Dresden wanden die jungen Bergsteiger mit gefälschten, offiziell aussehenden Pseudo- wenig, obwohl sie sich als Hobby dem Wassersport verschrieben hatte: dem Dokumenten. Ärger gab es oftmals nur bei der Rückkehr in die DDR. „Brettsegeln“. Die US-amerikanische Sportart Windsurfen, von der SED als Weltreisende wie Jan Oelker und seine Freunde waren sicherlich nicht die „Playboy-Sport“ zunächst argwöhnisch beäugt, gewann ab den 1970er Jahren Regel in der DDR. Aber die Auflehnung gegen die Bevormundung des SED-Re- in der DDR immer mehr An- gimes nahm in den 1980er Jahren deutlich zu. Der Ruf nach [ Ja, die DDR war wirklich hänger. Aufgrund der erhöhten Reisefreiheit war eine der Hauptforderungen der friedlichen grau – aber wir haben uns Fluchtgefahr war „Brettsegeln“ lediglich auf Binnengewässern Revolution 1989. „Für mich waren diese Reisen Schlüssel- erlebnisse für ein selbstbestimmtes Leben, die mir in der das Leben bunt gemacht. ] zugelassen. Umbruchzeit nach 1989 viel persönliche Sicherheit gaben“, Manuela Hoffmann, 2016 Ingrid und Peter Wagner so Jan Oelker im Rückblick. „infizierten“ sich 1977 mit die- sem Segelsport-Virus und schlossen sich 1980 mit Gleichgesinnten der Betriebs- „Unerkannt durch Freundesland“: sportgruppe (BSG) des VEB Chemieanlagenbau Dresden an. Der Betrieb erwies Ein Transitvisum durch die Sowjet- sich zwecks Materialbeschaffung als äußerst vorteilhaft, denn die Wagners – er union erlaubte eine zwei- oder Diplomingenieur, sie OP-Schwester – tüftelten, sägten, klebten und nähten, was dreitägige Durchreise nach zum Windsurfen dazugehörte: Brett, Segel, Anzüge – alles Marke Eigenbau. Rumänien oder Bulgarien. Improvisationstalent gefragt: Während der Durchreise ver- Der selbst gefertigte Eispickel aus Aluminium- ließen Jan Oelker und seine Fotos der Familie Wagner rohr ist mit einem Fahrradschlauch um- Freunde schnellstmöglich die zeugen von ihrer Leidenschaft, wickelt, die aus der Č SSR mitgebrachte vorgeschriebene Route und dem „Brettsegeln“. Höhensonnenbrille als Gletscher- reisten wochenlang illegal schutzbrille umfunktioniert. durchs Land. Foto: Peter Ulm 20 museumsmagazin 4.2018 museumsmagazin 4.2018 21
imfokus Die Leipziger Galerie „Eigen+Art“ nimmt in der DDR Vorbildfunktion für viele weitere Galerien ein, die Werke aus der alternativen Kunstszene zeigen. Der SED gelang es trotz ihrer restriktiven Haltung nicht, Die beiden Gummiwalzen und die dazugehörigen Federn kritische Künstler und ihre Werke auf Dauer mundtot zu üben ausreichenden Druck für das manuelle Ormig-Verfah- Intellektuelle und Oppositionelle ohne Druckgenehmigung machen. Dabei waren die Möglichkeiten der Kommunika- ren aus – Grundlage sind mit einer Schreibmaschine be- tion in der DDR stark eingeschränkt. Nach dem „Druckge- schriebene Matrizen, Spiritus und Papier. Jedes Blatt muss Sand im Getriebe nehmigungsverfahren“ unterlag die Herstellung von Druck- einzeln gedruckt werden – eine Matrize ergibt rund 30 Ab- gut grundsätzlich der staatlichen Kontrolle. So versuchte züge. Unbemerkt von der Staatssicherheit stellte die Grup- das SED-Regime, die Verbreitung unliebsamer Schriften zu pe in einer Privatwohnung etwa 300 Flugblätter her. Um von Sara Sponholz zensieren. Wer sich den Vorgaben widersetzte, musste mit Material zu sparen, wurden immer zwei Texte auf ein Blatt Ordnungsgeldern und Haftstrafen wegen nicht autorisierter gedruckt, denn Papier war, wie auch die Matrizen, in der Vervielfältigung und „staatsfeindlicher Hetze“ rechnen. Die DDR Mangelware und meist nur über Kontakte zu erhalten. Genehmigung einer unzensierten Verbreitung von Büchern Mit der Druckschrift riefen die Umweltaktivisten unter an- Weltoffenheit nach außen, Zensur nach innen – die Widersprüche zwischen in Auflagen bis zu 100 Stück – wenn sie originale Grafiken derem zum ersten Pleiße-Gedenkumzug 1988 auf, in dem enthielten – führte dazu, dass sich Grafiker und Dichter aus sie auf den von regionalen Chemie-Industrieanlagen stark Schein und Sein in der Politik des SED-Regimes nahmen in der DDR immer mehr der Szene zusammenschlossen und in kleinen Auflagen Bü- verschmutzten Fluss Pleiße aufmerksam machten und für Menschen als bedrückend und unerträglich wahr. Die SED verhinderte offene cher und Zeitschriftenreihen herausgaben: Anschlag, Ari- die Säuberung des Gewässers eintraten. Der Gedenkumzug Diskussionen – vor allem kritische Künstler und Intellektuelle erlebten Zensur, adnefabrik, Entweder/Oder, Schaden oder Glasnost provo- diente als Informationsveranstaltung und fand am 5. Juni zierten mit ihren Titeln und waren zugleich Programm. 1988 mit mehr als 200 Teilnehmern nahezu ungestört statt. Auftritts- und Berufsverbote. Auf ihrem 11. Plenum im Dezember 1965 hatte Um die Bevölkerung über Aktionen und Missstände die SED ihre Kultur- und Jugendpolitik verschärft und damit eine kulturelle Eiszeit Durch die Mangel gedreht im Land zu informieren, druckten Oppositionelle ihre Flug- eingeläutet. Dieser harte Kurs der SED schränkte die Arbeitsmöglichkeiten all blätter auch mit anderen zweckentfremdeten Geräten wie Da Not häufig die Fantasie anregt, fanden Oppositionelle beispielsweise Spielzeug-Stempelkästen. Trotz der ständi- jener Künstler ein, die sich nicht anpassen wollten: keine Veröffentlichungen, keine bald andere Lösungen, ihre Meinung frei zu äußern und gen Überwachung durch die Staatssicherheit und der Ge- Ausstellungen, keine Auftritte, Spiel- und Inszenierungsverbote. Aktionen anzukündigen. Um nicht jedes Blatt einzeln ab- fahr von Verhaftungen fand vor allem in den 1980er Jah- tippen zu müssen, kam eine Leipziger Umweltgruppe auf ren, häufig unter dem schützenden Dach der Kirche und die Idee, Matrizen durch eine Wäschemangel zu pressen. mit westlicher Hilfe, ein reger Informationsaustausch statt. Festival „Intermedia I“, 1985: Die Kunstszene der DDR sucht seit Anfang der 1980er Jahre verstärkt nach neuen Freiräumen zur öffent- lichen Präsentation, dazu gehörten Galerien, Zeitschriften und Künstlerbuchprojekte. Einer der Höhepunkte dieser Entwicklung ist das Festival „Intermedia I“ in Coswig bei Dresden. 22 museumsmagazin 4.2018 museumsmagazin 4.2018 23
Traditionelles englisches Frühstück Eine Fahne mit dem Porträt des Die Freundinnen Lorraine und Ein Skinhead in einem Pub Bei einem Champagner-Picknick mit Speck, Eiern, Toast, gebratenen Brautpaars, befestigt an dem Trish aus Warrington verkleidet in Bacup in der Grafschaft während des „Royal Ascot“ auf Tomaten und Bohnen in einem Café Gewürzregal eines Fastfood- als Bräute am Hochzeitstag Lancashire, April 2001 (o.) dem legendären „Car Park One“ in Blackpool, Juli 2008 wagens am Hochzeitstag von von Prinz Harry und Meghan vor dem Eingang zur Rennbahn, Made in England. Fotografien von Peter Dench Prinz Harry und Meghan Markle Markle in Windsor, Mai 2018 Juni 2017 (u.) in Windsor, Mai 2018 (o.) (u.) Ein englischer Blick von Anne-Sophie Rüther Unverfälscht zu den Menschen, die dort leben. Er selbst beschreibt das Land als seine Leidenschaft und sein Zuhause. 2002 wur- de er für die Serie „Drinking of England“ mit einem World Mit der Ausstellung „Made in England. Fotografien von Press Photo Award ausgezeichnet. Peter Dench“ präsentiert das Haus der Geschichte in der Peter Denchs Fotos gehen über eine Dokumentation 19. Mai 2018 – die englische Kleinstadt Windsor Wie bereits bei der Hochzeit von Prinz Harrys älterem U-Bahn-Galerie den Blick eines Engländers auf sein Land. von mehr oder weniger alltäglichem Leben in England hi- steht Kopf. Auf den Straßen und in den öffent- Bruder William mit Catherine Middleton ist Dench vor Wie seine Fotos, so ist auch Peter Dench selbst „Made in naus. Er fotografiert mit Champagner anstoßende Gäste Ort und dokumentiert seine Eindrücke des Tages mit England“: 1972 wurde er in Weymouth an der Küste des der VIP-Logen während des Pferderennens in Ascot ge- lichen Grünanlagen haben sich seit den frühen der Kamera. Ihn interessieren dabei nicht das Kleid der Ärmelkanals in eine Arbeiterfamilie geboren. Seine Fas- nauso wie picknickende Autofahrer an einer Raststätte Morgenstunden Menschenmassen aus dem Braut oder etwaige Tränen des Bräutigams. Peter Dench zination für seine Heimat begründet er selbstironisch mit oder einen Skinhead im Pub. Weder beschönigt noch in- ganzen Land versammelt und warten. Kostümiert schaut auf das bunte Drumherum: Die Fastfood-Bude, der Tatsache, dass sein Geburtstag auf den Tag des Hei- szeniert er, sodass bei dem Betrachter das Gefühl entsteht, die von ihrem Betreiber mit dem offiziellen Verlobungs- ligen Georgs, des Schutzpatrons Englands, und den ver- hier ein ehrliches oder – wie Dench es selbst beschreibt – mit Union-Jack-Fahnen, Kronen und sogar foto des Brautpaars geschmückt wird; zwei Frauen in mutlichen Geburtstag des wahrscheinlich bekanntesten „unzensiertes Bild“ von England zu sehen. Als Künstler Hochzeitskleidern fiebern sie der Traumhochzeit des Brautkleidern, die den Bräutigam, vielleicht kurz bevor Engländers aller Zeiten, William Shakespeare, fällt. 1995 blickt er mit der Kamera nicht auf seine Landsleute herab, Jahres entgegen: His Royal Highness, Prinz Harry, es ernst wird, umstimmen wollen und nun im Schatten schloss er sein Studium der Fotografie an der Universität sondern wird Teil der Szenerie. Auf diese Weise entste- bei einer Zigarette auf sein Vorbeifahren warten – augen- von Derby ab und arbeitete seitdem als Fotojournalist für hen Aufnahmen, die den Kontrast zwischen Schein und heiratet die bürgerliche Meghan Markle und wird zwinkernd hält er das skurrile Treiben in Bildern fest, zahlreiche nationale und internationale Medien, darunter Wirklichkeit, der „feinen englischen Art“ und dem wahren dadurch zum Duke of Sussex. Mitten im Getümmel die wie Schnappschüsse anmuten und doch eine hohe auch das Magazin Stern. Immer wieder kehrte er an den menschlichen Alltag offenbaren sowie geprägt sind von ei- ist auch der britische Fotograf Peter Dench. ästhetische Qualität entfalten. Ausgangspunkt seiner Arbeit zurück, nach England, und ner großen Prise des berühmten englischen Humors. 24 museumsmagazin 4.2018 museumsmagazin 4.2018 25
inbonn Eröffnung der neuen Ausstellung im Haus der Geschichte Angst. Eine deutsche Gefühlslage? von Ulrike Zander 2 „Die Welt, in der wir leben, ist – zumindest Auch im Ausland seien wir Deutschen für unsere Ängste sphäre. „Der historische Rückblick soll dazu beitragen, mit bekannt, so sei der Begriff „German Angst“ in den 1980er einem neuen, bewussteren Blick auf Ängste in der Gesell- statistisch betrachtet – die sicherste aller Jahren in den USA geprägt worden, erklärte Hütter weiter. schaft zu schauen“, so Projektleiterin Judith Kruse. Zeiten. Niemals war das Risiko geringer, durch Die neue Ausstellung geht dieser vermeintlich typisch deut- Verbrechen, Unfälle oder Naturkatastrophen umzu- schen Eigenschaft nach und wirft einen Blick darauf, was Weltuntergangsstimmung? kommen. Dennoch: Viele Deutsche sind besorgt, die Deutschen in Vergangenheit und Gegenwart bewegt. Für diese kollektiven Ängste hat das Team um Pro- Der Raum „Angst vor Atomkrieg“ 1 empfängt den Besucher sie haben Angst“, so der Präsident der Stiftung jektleiterin Dr. Judith Kruse und Ausstellungsdirektor mit einem Klang, der zusammen mit der projizierten Atom- Haus der Geschichte Prof. Dr. Hans Walter Hütter, Dr. Thorsten Smidt Räume geschaffen, in denen mit großen bombenexplosion unter die Haut geht. Ein riesiges Holz- bevor er am 9. Oktober 2018 in Bonn zusammen Bildprojektionen und eigenen Raumklängen Angst- und kreuz erinnert an die Protestaktionen in den 1980er Jahren, 3 Unsicherheitsgefühle ihren Platz finden 4: Angst vor dem als Mitglieder der Friedensbewegung 96 Kreuze gegen den mit Ehrengast Frank Plasberg die Ausstellung Atomkrieg, der Umweltzerstörung, einer totalen Überwa- NATO-Doppelbeschluss aufstellten. Aufrütteln wollten zu „Angst. Eine deutsche Gefühlslage?“ eröffnete 2. chung oder Zuwanderung. „Der Raumklang und die Vi- dieser Zeit auch viele Popsongs, die Bedrohungsszenarien deobilder verstärken ein unterschwelliges Angstgefühl, thematisierten. So kann der Besucher in der Ausstellung an das durch die Informationen in der Ausstellung gebrochen einer Medienstation bekannte Lieder wie „99 Luftballons“ 1 wird“, so ein beeindruckter Premierengast der Ausstel- von Nena oder „Vamos a la playa“ von Righera anhören lungseröffnung. Denn die Präsentation verdeutlicht, dass und erhält durch eine Übersetzung des spanischen Textes es die aktuellen Ängste – ob berechtigt oder unberech- die erstaunliche Information, dass 1983 zu einem Lied ge- tigt – schon häufiger in der Geschichte gegeben hat. Hohe tanzt wurde, das eindeutig die Auswirkungen einer Atom- Flüchtlings- und Zuwanderungszahlen in Deutschland lös- bombenexplosion besingt. Entsprechend eingestimmt steht ten in der Vergangenheit mehrmals Angst und Unsicher- es danach jedem frei, die eigene „Weltuntergangsuhr“ zu heitsgefühle aus: Bereits Anfang der 1990er Jahre erlebte stempeln: Ist es „4 vor 12“, „17 vor 12“ oder bereits „2 vor Deutschland schon einmal einen Zustrom von Flüchtlingen 12“? Auch am Ende der Präsentation fragt die Ausstellung: wegen des Bürgerkriegs in Jugoslawien. Die „Flüchtlings- „Was glauben Sie: Wovor werden wir 2030 Angst haben?“ welle“ 3 von 2015 löste so gesehen eine bereits bekannte Jeder Besucher kann abstimmen, ob es die Digitalisierung, kollektive Angst aus. Auch die Sorge vor der „totalen Über- Krieg, Terrorismus, Klimawandel, politischer Extremismus, wachung“ aufgrund der geplanten Volkszählung 1983 wie- Migration oder künstliche Intelligenz sein wird. 4 derholte sich 2009, als Autos mit 360-Grad-Kameras auf dem Dach Straßenzüge für den Kartendienst „Street View“ „Sind wir Deutschen Angsthasen?“ der Firma Google fotografierten. Jeder kann die Bilder im Internet sehen – viele befürchteten den Verlust ihrer Privat- … fragte letztlich der Stiftungspräsident den Fernsehmo- derator Frank Plasberg 5, der dem vollkommen zustimm- te. „Wir leben in einer alternden Gesellschaft und diese ist immer ängstlicher als eine junge.“ Zudem sei die deutsche Bevölkerung sehr wohlhabend – es gäbe viel zu verlieren, vor allem auch die Demokratie, fügte der Journalist hin- zu. Inwieweit seien die Medien daran beteiligt, Angstwel- len hochzuspielen und zu befeuern, fragte Hütter nach. „Diese Bedeutung haben die Medien nicht mehr“, meinte Plasberg. Er sehe seine Aufgabe als Journalist darin, die Debatten durch Fakten zu versachlichen und Menschen zu Wort kommen zu lassen: „Angst muss man auch zulassen“, führte Plasberg aus. 5 museumsmagazin 4.2018 27
inbonn Bundespräsident bei „Democracy Slam“ im Bundesrat „Demokratie muss Durch die Ausstellung „Unser Grundgesetz“ im Bundesrat in Bonn begleiten Bundespräsident Lernen am authentischen Ort: Schüler im Bundesrat in Bonn verteidigt werden!“ Frank-Walter Steinmeier (Mi.) und seine Frau Elke Büdenbender (2. v. re.) der Oberbürgermeister von Bonn Ashok-Alexander Sridharan (li.), der Präsident „Guten Morgen – hallo!“, grüßte der Bundespräsident ganz des Hauses der Geschichte Hans Walter Hütter unkonventionell und sorgte auf diese Weise dafür, dass sich (2. v. li.) und der Sammlungsdirektor des Hauses der alle entspannten. Geschichte Dietmar Preißler (re.). von Ulrike Zander Poesie und Grundgesetz? Kurz bevor der Bundespräsident den Saal des alten Bun- Zur Entspannung trugen auch die beiden Moderatoren desrates in Bonn betrat, wurde den geladenen Schülern, Malte Rosskopf und Dominik Erhard bei, die den anschlie- Lehrern und Organisatoren die Tragweite des Ortes, an ßenden „Democracy Slam“ humorvoll und zugleich mit viel „Hinter den zivilisatorischen Fortschritt des Grundgesetzes dürfen wir nie wieder dem das Grundgesetz entstand und unterschrieben wur- Tiefe vermittelten: „Respekt ist generell ein sehr wertvoller de, erst richtig bewusst: Holger Pützstück, langjähriger Wert – nicht nur innerhalb eines Poetry Slams. Also tragen zurückfallen“, so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seinem Besuch Besucherbegleiter des Hauses der Geschichte, machte die Sie den Respekt, den Sie hier den Poetry-Kandidaten entge- im historischen Saal des Bundesrates in Bonn am 31. August 2018 – einen Tag Schüler darauf aufmerksam, dass sie auf den Stühlen der genbringen, in die Welt hinaus und benutzen Sie ihn täglich. vor dem 70. Jahrestag der konstituierenden Sitzung des Parlamentarischen Ländervertreter säßen, die von 1949 bis zum 14. Juli 2000 Das macht das Zusammenleben in der Demokratie sehr viel einmal im Monat in Bonn zusammenkamen, um neue Ge- einfacher“, meinten die Moderatoren. Zuvor hatten sie kurz Rates, der in den Räumen der damaligen Pädagogischen Akademie ab dem setze oder Gesetzesänderungen zu erarbeiten oder zu ver- zusammengefasst, welchen Regeln ein Poetry Slam folgt: 1. September 1948 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erarbeitete. abschieden. Im Saal wurde es still und alle erhoben sich, Der Bundespräsident diskutierte mit Schülern aus Bonn und Umgebung über als Frank-Walter Steinmeier zusammen mit seiner Frau Elke Büdenbender sowie dem Präsidenten des Hauses der ihr persönliches Verhältnis zum Grundgesetz, nachdem Jugendliche in einem Geschichte Prof. Dr. Hans Walter Hütter, Dr. Ute Rettler, „Democracy Slam“ anspruchsvoll und reflektiert ihren Blick auf das Grundgesetz Direktorin des Bundesrates, und Thomas Krüger, Präsi- und aktuelle gesellschaftliche Fragen zum Ausdruck gebracht hatten. dent der Bundeszentrale für politische Bildung, erschien. 28 museumsmagazin 4.2018
Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten Poetry Slam im Bundesrat zum Grund- gesetz: Schüler engagieren sich poetisch Die anspruchsvollen Gedichte der Schüler sorgen für viel Zustimmung beim Bundes- Krisen als Motor der Geschichte für ihre Grundrechte. präsidenten und seiner Frau (Mi.). Erstens sind die Texte selbst geschrieben, zweitens erfolgt worteten die einen, eindeutig Orientierung an Social-Me- von Ulrike Zander und Gundula Dicke die Präsentation ohne Requisiten und drittens gibt es ein dia-Informationen – so die anderen. Dabei äußerten sie ein- Zeitlimit von fünf Minuten für die Darstellung. Dann folg- stimmig Kritik am Schulsystem: „Politikunterricht haben te der „Democracy Slam“ verschiedener Schülergruppen, wir schon lange nicht mehr“, so Paul Steinhauer. Bis zur die auf poetische Weise vortrugen, wie sie sich durch das 9. Klasse seien sie in Politik unterrichtet worden, aber da- „,So geht´s nicht weiter.‘ Krisenstimmung nun auch beim Geschichtswettbewerb?“, fragte Grundgesetz repräsentiert fühlen: „Meine Meinung ist frei nach sei das Fach zugunsten der vielen Sprachen zurückge- Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rhetorisch zum Auftakt des Geschichtswettbewerbs, bei […]. Uns Jugendlichen ist es wichtig, dass man uns hört“, nommen worden. Während Büdenbender den Grund auch so die einen. Andere betonten die Werte der Freizügigkeit, in der verkürzten gymnasialen Schulzeit von acht Jahren dem Jugendliche vor Ort forschen. „Zum Glück nicht. Aber die Krise ist nicht nur in der aktuellen Pressefreiheit, Religionsfreiheit und der Familie, während sah und mehr Raum für Politikunterricht forderte, bedauer- Nachrichtenlage scheinbar allgegenwärtig. Krisen haben stets auch Geschichte geprägt“, führte er fort. Joscha Röder hervorhob, dass niemand wegen seiner Be- te Bundespräsident Steinmeier, dass das „moderne Angebot Vor diesem Hintergrund lautet das aktuelle Thema des 1973 von Bundespräsident Gustav Heinemann hinderungen benachteiligt werden dürfe: „Wir sind viele – der Bundeszentrale für politische Bildung“ nicht stärker in viele besondere Menschen und sind unverschämterweise den Unterricht einbezogen würde. Letztlich waren sich alle und dem Hamburger Unternehmer Kurt A. Körber gegründeten Geschichtswettbewerbs „So geht´s auch untereinander recht unterschiedlich.“ Beteiligten einig, wie wichtig die Arbeit am Grundgesetz nicht weiter. Krise, Umbruch, Aufbruch“. vor 70 Jahren war und wie grundlegend Weichen für eine Bildungsreferentin Simone Mergen (li.) „Lest ihr Zeitung?“ demokratische Gesellschaft gestellt wurden. Auf die Frage, Ob Krisen Zeiten des Auf- oder des Zusammenbruchs sind, hängt nicht zuletzt von und Carmen Ludwig, Programmleiterin der was ihnen im Grundgesetz heute fehlen würde, antworteten der Perspektive der Beteiligten ab. Beim Geschichtswettbewerb geht es nicht im- Körber-Stiftung (re.), leiten am 6. September Moderiert von Thomas Krüger folgte nun ein Gespräch zwi- die Schüler eindeutig mit dem Umweltschutz. „Die Würde mer nur um die große Politik, sondern vor allem um Menschen, die auf krisen- 2018 die Auftaktveranstaltung in Bonn. schen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, seiner der Natur ist unantastbar“ sollte aufgenommen werden, hafte Entwicklungen konkret vor Ort reagiert haben. Das vermittelten Dr. Simone Frau Elke Büdenbender und Schülern der Klasse 11 des meinte Paul Brems. „Das Grundgesetz kann nicht schon Mergen, Bildungsreferentin der Stiftung Haus der Geschichte, und Carmen Ludwig, Friedrich-Ebert-Gymnasiums in Bonn. Elke Büdenbender alles geregelt haben“, gab darauf der Bundespräsident zu Programmleiterin Geschichtswettbewerb der Körber-Stiftung, am 6. September sprach direkt einen wunden Punkt der Schüler an – die bedenken, „aber es gibt uns den Rahmen für neue Entwick- 2018 zur Auftaktveranstaltung im Haus der Geschichte in Bonn. Vor zahlreichen Meinungsbildung: „Mein Mann hat eben gesagt, Demokra- lungen.“ „Ich glaube, wenn wir an diesen Tag vor 70 Jahren Lehrern, die während des Wettbewerbs als Tutoren agieren, und interessierten tie sei Arbeit, ein Prozess, der immer belebt werden müsse zurückdenken, dann müssen wir nicht lange diskutieren, Schülern erklärten sie die Projektarbeit, den Ablauf und die Teilnahmebedingungen durch die Menschen, die in einer Demokratie leben. Wie dass diese Verfassung sicher die beste Verfassung ist, die je des Geschichtswettbewerbs. „In einem Auftakt steckt auch immer ein Stück Auf- macht ihr das? Wie kommt ihr zu Meinungen?“ „Redet ihr, auf deutschem Boden Geltung erlangt hat“, so Steinmeier. bruchstimmung“, so Mergen und verwies auf die Workshops zum Thema im Haus, verbringt ihr – wie unsere Generation – Zeit miteinander? Letztlich lebe Demokratie jedoch davon, dass jeder Bürger die neben dem Erfahrungsaustausch mit Tutoren und Preisträgern auch Recher- Lest ihr Zeitung?“, fragte der Bundespräsident nach. Zei- dieses Landes seine eigene Verantwortung erkenne und chearbeit, Zeitzeugeninterviews und Darstellungsformen sowie Bewertungskriteri- tunglesen eher nicht, ab und zu Nachrichten schauen im dass friedliches Zusammenleben sowie Solidarität frühzei- en thematisierten. Fernsehen, Diskussionen in der Schule und Familie – ant- tig erlernt würden. Gegenwart im Spiegel der Geschichte Für die Schüler eine große Ehre: Gruppenbild mit dem Carmen Ludwig erläuterte die drei wichtigsten Prinzipien des Geschichtswettbe- Bundespräsidenten werbs: forschendes und entdeckendes Lernen, historische Spurensuche vor Ort und lebensweltlicher Bezug. Auf diese Weise könnten Schüler am besten lernen, ge- schichtliche Vorgänge zu reflektieren und eine eigene Meinung zu entwickeln. Tuto- ren können dabei Schwellenängste abbauen und den Arbeitsprozess unterstützen. Perspektivenwechsel Auch in Berlin fand ein Tutorenworkshop zum Geschichtswettbewerb des Bundes- präsidenten statt. 30 Lehrer aus ganz Deutschland kamen Ende Juni in das Mu- seum in der Kulturbrauerei, um sich auf den Geschichtswettbewerb vorzuberei- ten. Die Teilnehmer haben ein halbes Jahr Zeit, um intensiv zu recherchieren und Beiträge für den Wettbewerb zu erarbeiten. In der Dauerausstellung „Alltag in der DDR“ fanden die Lehrer vorab bereits viele Anregungen zum Wettbewerbsthema. Anhand biografischer Beispiele, historischer Filme und vieler Alltagsobjekte ent- wickelten sie erste Ideen, wie sie ihre Schüler bei der Themenfindung und lokalen Spurensuche unterstützen können. Viele Tutoren und Schüler interessieren sich für die historische Spurensuche vor Ort. museumsmagazin 4.2018 31
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