Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England

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Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England
4.2018
                                      2 € ISSN 1433-349X

          www.museumsmagazin.com

               Neue Dauerausstellung
               im Zeitgeschichtlichen
               Forum Leipzig
Unsere
Geschichte.
Diktatur und
Demokratie
nach 1945

               Made in England
               Fotografien von Peter Dench
               in der U-Bahn-Galerie
Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England
intro
                                           „Wir sind das Volk“, riefen friedliche Demonstranten im Herbst
                                           1989 in Leipzig. Am 9. Oktober 1999, dem zehnten Jahrestag
                                           der Leipziger Großdemonstration, eröffnete die Stiftung Haus
                                           der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dort das Zeit-
                                           geschichtliche Forum Leipzig: Im ehemaligen Zentralmessepa-
                                           last mitten in der Leipziger Innenstadt vermittelt das Museum
                                           seit knapp 20 Jahren Kenntnisse zur Geschichte von Teilung und
                                           Einheit, Diktatur und Widerstand in der DDR.
                                                 Die Zukunft des Hauses ist auch langfristig gesichert,
                                           der Mietvertrag wurde um weitere 20 Jahre bis Ende 2038
                                           verlängert. Sondermittel in Höhe von vier Millionen Euro von
                                           der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien,
                                           Prof. Monika Grütters MdB, und die kontinuierliche Unterstützung
                                           der Gremien der Stiftung – Kuratorium, Wissenschaftlicher Bei-
                                           rat und Arbeitskreis gesellschaftlicher Gruppen – ermöglichten
                                           die Erneuerung der Dauerausstellung und des Eingangsbereichs
                                           des Hauses. Ein besonderer Dank gilt den „Paten“ der neuen
                                           Dauerausstellung „Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie
                                           nach 1945“, die uns während der Konzeptionsphase beratend
                                           zur Seite gestanden haben, den Professoren Dr. Marie-Luise
                                           Recker, Dr. Werner Plumpe (beide Frankfurt am Main),
                                           Dr. Andreas Rödder (Mainz) und Dr. Martin Sabrow (Potsdam).
                                                 An allen Standorten der Stiftung bieten wir Ihnen im
                                           Herbst und Winter ein abwechslungsreiches Programm: Seit
                                           dem 10. Oktober wirft die Ausstellung „Angst. Eine deutsche
                                           Gefühlslage?“ im Haus der Geschichte in Bonn einen Blick auf
                                           deutsche Sorgen und Ängste der vergangenen Jahrzehnte. Ab
                                           dem 7. Dezember ist in Bonn die neue große Wechselausstel-
                                           lung „Very British! Ein deutscher Blick“ zu sehen. Noch bis zum
                                           20. Januar 2019 sehen Sie im Museum in der Kulturbrauerei in
                                           Berlin „Die 68er“ mit Fotos von Ludwig Binder und Jim Rakete.
                                           Wir freuen uns auf Ihren Besuch!

                                                                                     Dr. Hans Walter Hütter
                                                                                    Präsident und Professor

                                           Zur Eröffnung der Ausstellung „Angst. Eine
                                           deutsche Gefühlslage?“ am 9. Oktober 2018
Auch nach dem Bruch mit Josef Stalin       im Haus der Geschichte in Bonn diskutieren der
im Frühjahr 1956 blieb Wladimir Iljitsch   Präsident der Stiftung Hans Walter Hütter (re.)
Lenin das große ideologische Vorbild       und Journalist Frank Plasberg (li.) über
der SED.                                   die Ängste der Deutschen.
Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England
inhalt                                                                                                                                     inaussicht                                                                                                                                                        Öffnungszeiten
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                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Öffentliche Begleitungen unter www.hdg.de

                                                                                                                                               inbonn                                         inleipzig                                                                                                          Anmeldungen
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                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Mo – Fr 9 – 16 Uhr
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  inberlin
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       besucherdienst-berlin@hdg.de
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Öffentlicher Nahverkehr
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Haltestelle S+U Friedrichstraße Bhf.
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Ausgang Reichstagufer

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Eintritt frei

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 Dig,Dag,Digedag
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Tränenpalast

                                                                                                                                                                                                                                                                                                               S. 4 oben: © Gerhard Gäbler, unten: ullstein bild – ADN-Bildarchiv
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                S. 5: Stiftung Haus der Geschichte/Stephan Klonk

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Entwurf: Claudia Grotefendt, Bielefeld
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   3/2018
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                S. 2: Stiftung Haus der Geschichte/Stephan Klonk
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                S. 3: Stiftung Haus der Geschichte/Stephan Klonk
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Bildnachweis
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                               Titel: Stiftung Haus der Geschichte/Stephan Klonk
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  S. 1 oben: Photonet.de Lehnartz
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Ort der deutschen Teilung

                                                                       28
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Reichstagufer 17

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Tränenpalast
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        10117 Berlin
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                        Telefon 030 / 4677779-11
                                                                                                                                                       Am 9. November 1989 öffnete sich                                                                                                                                                                                                                                                 Telefax 030 / 4677779-17
                                                                                                                                                       auch am Bahnhof Friedrichstraße                                                                                                                                                                                                                                                  www.hdg.de/traenenpalast

                                                                                        Ein englischer Blick
                                                                                                                                                       die Grenze. Der im Ergebnis zu-
                                                                                                                                                       nächst offene Wiedervereinigungs-
                                                                                                                                                       prozess verlief rasant. Am 2. Juli
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          facebook.com/
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                                                                                                                                                       1990 feierten die Berliner die erste
                                                                                                                                                       direkte Fahrt einer S-Bahn von Ost

                                                                                                                                               Angst                                          Dig Dag Digedag                                                                                                                                                                                                                                                                     Tränenpalast
                                                                                                                                                       nach West über den Bahnhof Fried-
                                                                                                                                                       richstraße. Mit dem Ende der deut-
                                                                                                                                                       schen Teilung verlor der Tränenpa-
                                                                                                                                               Eine deutsche Gefühlslage?
                                                                                                                                                       last seine ursprüngliche Funktion.     DDR-Comic MOSAIK                                                                                                                                                                                                                                                                    Ort der deutschen Teilung
                                                                                                                                               Haus der Geschichte, Bonn                      Zeitgeschichtliches Forum Leipzig                                                                                                                                                                                                                                                   Tränenpalast, Berlin
                                                                                                                                               10.10.2018 – 19.5.2019                         Di – Fr 9 –18 Uhr, Sa/So 10 –18 Uhr                                                                                                                                                                                                                                                 Di – Fr 9  – 19 Uhr, Sa / So / Feiertag 10 – 18 Uhr

6   Unsere Geschichte.
    Diktatur und Demokratie nach 1945                                  32               Democracy Slam

    imfokus                                                           inbonn                                                                   Made in England                                Unsere Geschichte.                                                                                                                                                                                                                                                                  Die 68er

                                                                                                                                                                                              Foto: Armin Wiech, Quelle: Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V., Entwurf: Claudia Grotefendt, Bielefeld
                                                                                                                                                                                                                            Unsere
                                                                                                                                               Fotografien von Peter Dench                    Diktatur und Demokratie                    nach 1945                                                                                                                                                                                                                                Fotografien von Ludwig Binder und Jim Rakete
     6                                                                24
                                                                                                                                                                                                                            Geschichte.
         Unsere Geschichte.                                                Ein englischer Blick                                                U-Bahn-Galerie, Bonn                           5.11.2018, Eröffnung          Diktatur der
                                                                                                                                                                                                                                     und neuen
                                                                                                                                                                                                                            Demokratie
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Museum in der Kulturbrauerei, Berlin
         Diktatur und Demokratie nach 1945                                 Made in England. Fotografien von Peter Dench                        ab 6. Dezember 2018                            Dauerausstellung              nach 1945                                                                                                                                                                                                                                             27.4.2018 – 20.1.2019
         Neue Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig                                                                                                                           Zeitgeschichtliches                  Forum Leipzig
                                                                      26
                                                                                                                                                                                               Di – Fr 9 –18 Uhr

                                                                           Angst. Eine deutsche Gefühlslage?                                   Gundermann
                                                                                                                                                                                               Sa, So, Feiertage 10 –18 Uhr

                                                                                                                                                                                              Di   – Fr
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Bis dass der Staat
                                                                                                                                                                                               Eintritt frei 9 –18 Uhr, Sa/So 10 –18 Uhr

    12   Neues Konzept – neue Präsentation                                 Eröffnung der neuen Ausstellung im Haus der Geschichte              (D 2018) Filmvorführung und Gespräch
                                                                                                                                                                                                                                                                                                       Grimmaische Straße 6
                                                                                                                                                                                                                                                                                                       04109 Leipzig
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              Stiftung Haus der Geschichte
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                              der Bundesrepublik Deutschland

                                                                                                                                                                                              Museumsfest                                                                                                                                                                                                                                                                         Euch scheidet
                                                                                                                                                                                                                                                                                                       www.hdg.de                                                                                                                             Zeitgeschichtliches Forum Leipzig

         Jürgen Reiche über die Neugestaltung                                                                                                  mit Regisseur Andreas Dresen, Auftritt der
         des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig                       28   „Demokratie muss verteidigt werden!“                                Band um Hauptdarsteller Alexander Scheer       Alfons Zitterbacke, Ottokar & Co.,                                                                                                                                                                                                                                                  Ehe und Scheidung in der DDR
                                                                           Bundespräsident bei „Democracy Slam“ im Bundesrat                   In Kooperation mit der Bundeszentrale          Spindlers Puppenshow, BACK AGAIN!,                                                                                                                                                                                                                                                  und in Ostdeutschland
    16   Onlinetagebuch zur Wiedereröffnung                                                                                                    für politische Bildung                         Steinlandpiraten                                                                                                                                                                                                                                                                    Gespräch
                                                                      31   Krisen als Motor der Geschichte                                     Haus der Geschichte, Bonn                      Zeitgeschichtliches Forum Leipzig                                                                                                                                                                                                                                                   Museum in der Kulturbrauerei, Berlin
    18   Alltagsgrau, Abenteuerlust, Aufbegehren                           Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten                          27.11.2018, 18 Uhr                             10.11.2018, 14 Uhr                                                                                                                                                                                                                                                                  5.12.2018, 19 Uhr
         Kleine Fluchten aus dem Kollektiv
                                                                      inberlin                                                                 Die dunkelste Stunde                           Der Kracher von Moskau Fotografieworkshop
    22   Sand im Getriebe                                                                                                                      (UK 2017) Filmvorführung                       (D 2015) Filmvorführung und Gespräch                                                                                                                                                                                                                                                Schwarz-Weiß-Fotografie an den
         Intellektuelle und Oppositionelle ohne Druckgenehmigung      32   Museumsfest in Berlin                                               mit Einführung von Prof. Dr. Harald Biermann   In Kooperation mit der Bundeszentrale                                                                                                                                                                                                                                               Beispielbildern von Jim Rakete
                                                                           Besucherrekord am Tag der Deutschen Einheit im Tränenpalast         Haus der Geschichte, Bonn                      für politische Bildung und der DFB-                                                                                                                                                                                                                                                 Museum in der Kulturbrauerei, Berlin
                                                                                                                                               31.1.2019, 19 Uhr                              Kulturstiftung                                                                                                                                                                                                                                                                      1. / 8.12.2018, 12 –15 Uhr
                                                                      imbesonderen                                                                                                            Zeitgeschichtliches Forum Leipzig
                                                                                                                                               Ausstieg aus der Kohle                         14.11.2018, 19 Uhr                                                                                                                                                                                                                                                                  Wendejahre
                                                                      35   Schwarz-Rot-Gold                                                    Aufbruch in eine neue Zeit
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Fotografien von Daniel Biskup
                                                                           Vor 70 Jahren bestimmte der Parlamentarische Rat die Bundesfarben
                                                                                                                                               Podiumsgespräch mit Armin Laschet,
                                                                                                                                                                                              Als wir die Zukunft waren                                                                                                                                                                                                                                                           Ausstellung
                                                                                                                                               Michael Vassiliadis und Bernd Tönjes           7 Geschichten aus einem                                                                                                                                                                                                                                                             Museum in der Kulturbrauerei, Berlin
                                                                                                                                                                                              verschwundenen Land                                                                                                                                                                                                                                                                 ab 14.2.2019
                                                                                                                                               Haus der Geschichte, Bonn
                                                                                                                                                                                              (D 2015) Filmvorführung und Gespräch
                                                                                                                                               5.2.2019, 19:30 Uhr
                                                                                                                                                                                              Zeitgeschichtliches Forum Leipzig
                                                                                                                                                                                              15.11.2018, 19 Uhr                                                                                                                                                                                                                                                                  Eintritt zu allen Veranstaltungen frei

                                                                      37 inkürze
                                                                                                                                                                 Veranstaltungen in Bonn:                                                                                                                                                                                                                                    Veranstaltungen in Leipzig:                                          Veranstaltungen in Berlin:
                                                                      42 inzukunft / impressum                                                                   www.hdg.de/                                                                                                                                                                                                                                                 www.hdg.de/                                                          www.hdg.de /
                                                                                                                                                                 haus-der-geschichte/                                                                                                                                                                                                                                        zeitgeschichtliches-forum/                                           museum-in-der-kulturbrauerei /
                                                                      43 imbilde                                                                                 veranstaltungen                                                                                                                                                                                                                                             veranstaltungen                                                      veranstaltungen
Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England
imfokus

Neue Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig   Zehn Jahre nachdem sich mehr als 70.000 Menschen auf dem
                                                             Leipziger Innenstadtring zur bis dahin größten Montagsdemonstration

Unsere Geschichte.
                                                             versammelt hatten, öffnete das Zeitgeschichtliche Forum seine Türen.
                                                             Als Ort lebendiger Erinnerung an die Diktatur in der DDR, an die
                                                             deutsche Teilung und ihre Überwindung zählte das Haus seit Oktober
                                                             1999 mehr als 3,6 Millionen Besuche in seinen Ausstellungen.
Diktatur und Demokratie nach 1945
von Hans Walter Hütter

                                                                                                                                    Agrotechniker und Mechanisatoren,
                                                                                                                                    Neukirchen-Wyhra, 1990: Im Auftrag
                                                                                                                                    des Deutschen Historischen Museums
                                                                                                                                    porträtiert Stefan Moses Ostdeutsche
                                                                                                                                    nach dem Mauerfall. Seine Bilder
                                                                                                                                    spiegeln eine Gesellschaft im radikalen
                                                                                                                                    Umbruch.
Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England
imfokus

Nahezu drei Jahrzehnte sind inzwischen seit dem Mauer-
fall vergangen – eine ereignisreiche Zeit, die in einer aktu-
ellen zeitgeschichtlichen Ausstellung berücksichtigt werden
muss. Mittlerweile ist eine Generation herangewachsen,
die die Teilung Deutschlands und die friedliche Revolution
nicht oder nicht bewusst erlebt hat. Von daher werden per-
sönliche Erinnerungen immer seltener.
Der wachsende zeitliche Abstand fördert aber auch Neues
zutage: aktuelle Erkenntnisse der Forschung, eine erheb-
lich verbesserte Objektlage und museumsdidaktische Ent-
wicklungen, die veränderte Rezeptions- und Mediennut-
zungsgewohnheiten der Besucher berücksichtigen.

Von der Diktatur zur Demokratie
Die neue Dauerausstellung in Leipzig „Unsere Geschichte.
Diktatur und Demokratie nach 1945“ gibt der Zeit seit der
Wiedervereinigung mehr Raum und setzt neue thematische
Schwerpunkte innerhalb der chronologischen Gesamt-
erzählung von 1945 bis in die Gegenwart: Sie präsentiert
die Bedingungen des Neuanfangs in Deutschland und Eu-
ropa nach dem Zweiten Weltkrieg wie auch die Grundlagen
des Herrschaftssystems der SED-Diktatur. Sie fragt nach
den Widersprüchen zwischen ideologischem Anspruch
und alltäglicher Lebenswirklichkeit, zeigt individuelle Hoff-
nungen und Frustrationen sowie das Aufbegehren gegen
die Machthaber in der friedlichen Revolution. Die sich
überschlagenden Ereignisse des Epochenjahrs 1989/90
nehmen in der neuen Dauerausstellung in Leipzig – am
Ort der Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 – einen
besonderen Stellenwert ein. Die revolutionären Umwäl-
zungen in Osteuropa und in der DDR sowie der nationale
Einigungsprozess werden als Bestandteile
einer gesamteuropäischen, internatio-
nalen Entwicklung beleuchtet.
      Den Jahrzehnten seit der fried-
lichen Revolution, dem Mauerfall
und der Wiedervereinigung widmet
die neue Dauerausstellung mehr
Raum als bislang: Sie thematisiert
Erfolge der wirtschaftlichen Trans-
formation und des gesellschaft-
lichen Zusammenwachsens ebenso
wie Probleme im Vereinigungsprozess
und individuelle Enttäuschungen. Die Be-
sucher erwarten informative wie auch
emotional ansprechende Zugänge zu den
oft komplexen und abstrakten Transformations-

Das Drehschränkchen mit Buchattrappen und
Geheimfächern stammt aus dem Besitz Erich
Honeckers aus der Waldsiedlung Wandlitz bei
Berlin, in der von 1960 bis 1989 die führenden Mit-
glieder des Politbüros mit ihren Familien wohnten.

An vielen Orten in der DDR stehen Lenin-Denkmäler
für die Ideen des russischen Revolutionsführers und
zeugen von der engen Bindung an die Sowjetunion.
Der Bildhauer Manfred Wagner schuf die Skulp-
tur 1970 im Auftrag für eine sowjetische Kaserne.
Unmittelbar nach dem Sturz der SED-Diktatur räumt
Bischofswerda seinen Lenin zur Seite.

                                                        museumsmagazin 4.2018   9
Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England
Die Verdichterstufe zum Triebwerk „Pirna 014“ entsteht
                             um 1960 für die Flugzeugwerke Dresden. Die Produktion
                             des „Flugzeugs 152“, des ersten Passagier-Düsenjets
                             Deutschlands, ist ein Prestigeprojekt der SED-Führung.        Arbeitsalltag in der DDR:
                             Da das Flugzeug keine Abnehmer im Ausland findet,             Brigade im VEB Kombinat Chemische
                             muss die DDR die Fertigung 1961 einstellen.                   Werke „Walter Ulbricht“, Leuna 1979

                             und Globalisierungsprozessen, die Deutschland seit seiner     als zentraler Ort der Auseinandersetzung mit historischen
                             Wiedervereinigung prägen. Zeitzeugen erzählen von ihren       und aktuellen gesellschaftlichen Fragen Diskussionen an-
                             individuellen Erfahrungen und Erinnerungen während            stoßen und zum Gespräch anregen. Rund 2.000 aussage-
                             der Jahre des Zusammenwachsens. Ihre eindrücklichen           kräftige dreidimensionale Objekte, Fotos, Dokumente und
                             Berichte aus verschiedenen Lebensbereichen machen die         audiovisuelle Medien veranschaulichen die Bedeutung po-
                             Erzählungen besonders lebendig. Aus vielfältigen Blickwin-    litischer Entscheidungen und historischer Zäsuren für die
                             keln bringen sie den Ausstellungsbesuchern die Auswir-        Deutschen in Diktatur und Demokratie nach 1945.
                             kungen politischer Prozesse und Umbrüche auf das Leben
                             des Einzelnen näher.                                          Meinungsfreiheit
                                   Wachsende globale Verflechtungen und aktuelle He-
                             rausforderungen der jüngsten Vergangenheit bilden den         Einen besonderen Ort für den Austausch individueller Er-
                             Übergang zur Gegenwart: In einer sich rasant verän-           fahrungen und unterschiedlicher Auffassungen von Vergan-
                             dernden Welt stellt uns die neue Bedrohung durch den in-      genheit und Gegenwart bietet das Forum, das den Abschluss
                             ternationalen Terrorismus im 21. Jahrhundert heute vor        der neuen Dauerausstellung bildet und zugleich Aufforde-
                             große Herausforderungen. Die Digitalisierung mit ihren        rung zu Diskussion und Widerspruch ist. Die Auseinander-
                             neuen Technologien, die unser alltägliches Leben zuneh-       setzung über die geteilte wie auch gemeinsame Geschich-
                             mend verändert, lässt neue Unsicherheiten aufkommen.          te und über die Bewältigung aktueller Herausforderungen
                             Die Flüchtlingskrise ist eines der wichtigsten Themen der     verlangt kontroverse Debatten – Gelegenheit hierfür bietet
                             jüngeren Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.        das Forum mit seiner Bühne, auf der Zeitzeugen ebenso
                                                                                           zu Wort kommen wie Gäste unterschiedlichster Veranstal-
                             Ort der Reflexion                                             tungen zu historischen und aktuellen Fragen. Die Demokra-
                                                                                           tie und die offene Gesellschaft leben vom freien Gespräch,
                             Indem sie nicht nur historische Kenntnisse vermittelt, son-   vom Widerstreit der Positionen – das Zeitgeschichtliche Fo-
                             dern die Besucher auch emotional anspricht, fordert die       rum im Herzen der Leipziger Innenstadt freut sich auf viele
                             Ausstellung zur individuellen Begegnung mit der Vergan-       interessierte Besucher, auf anregende Veranstaltungen und
                             genheit auf. Das Zeitgeschichtliche Forum will auch künftig   lebhaften Meinungsaustausch.

                             Am Ende öffnet sich die Dauerausstellung zu                   Demonstration gegen
                             einer Bühne, an deren Seite die Wortskulptur                  deutsche Asylpolitik in Rostock,
                             „FREIHEIT“ zu Diskussionen einlädt.                           2015

10   museumsmagazin 4.2018                                                                                                                               museumsmagazin 4.2018   11
Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England
imfokus
                                                                                                                Das Berliner Reichstagsmodell stammt aus
                                                                                                                der Umbauphase in den 1990er Jahren.
                                                                                                                Blickfang ist die gläserne Kuppel, entworfen
                                                                                                                von Stararchitekt Sir Norman Foster.

                      Jürgen Reiche über die Neugestaltung                                                      mm Das Plakat zur neuen Daueraus-
                                                                                                                stellung im Zeitgeschichtlichen Fo-
                      des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig                                                    rum Leipzig verspricht „mehr Raum
                                                                                                                und mehr Geschichte“. Was bedeutet

                     Neues Konzept –
                                                                                                                das konkret?
                                                                                                                Reiche Wir haben uns viel vorgenom-
                                                                                                                men. Das ganze Haus ins Auge zu fas-
                                                                                                                sen, war der Anspruch. Dadurch ha-

                     neue Präsentation
                                                                                                                ben wir eine völlig neue Konzeption in
                                                                                                                Angriff genommen – von der Fassade
                                                                                                                über das Foyer, vom Treppenhaus bis
                                                                                                                in die Ausstellungsräume hinein.
                                                                                                                      Inhaltlich hatten wir in der al-
                                                                                                                ten Dauerausstellung eine Präsentati-
                      Interview: Ulrike Zander                                                                  on gezeigt, die bis Anfang der 1990er          Mitte der Ausstellung thematisieren      deutschland stärker zu Wort kommen
                                                                                                                Jahre reichte. Sie endete mit der              wir die friedliche Revolution, die Um-   zu lassen. Wichtig war uns, die Le-
                                                                                                                friedlichen Revolution und der Ein-            brüche in Osteuropa und in der DDR.      bensleistungen der Menschen in Ost-
                                                                                                                heit Deutschlands. Jetzt erzählen wir          Am Ende der Ausstellung korrespon-       deutschland zu berücksichtigen und
                      Zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung in Leipzig sprach                                eine Geschichte vom Ende des Zwei-             diert eine Bühne mit einer Apsis, in     dass diese nicht aus zu großem Ab-
                                                                                                                ten Weltkriegs bis in die Gegenwart.           der in einer Rundumprojektion Men-       stand betrachtet werden. Daraus sind
                      das museumsmagazin mit Direktor Dr. Jürgen Reiche                                         Wir haben die Zeit nach 1989/90 – den          schen zu Wort kommen, die wir in         Zeitzeugeninterviews entstanden, die
                      über die neue Präsentation im Zeitgeschichtlichen Forum,                                  wirtschaftlichen und gesellschaftli-           Deutschland interviewt haben zu den      in der neuen Dauerausstellung in
                      das sich als Ort lebendiger Erinnerung sowie als Forum       Eine Bühne für Gespräche     chen Transformationsprozess sowie              Themen „Wenn ich das Sagen hätte,        verschiedenen Zusammenhängen an
                                                                                   und Diskussionen:            die juristische Aufarbeitung – stärker         was würde ich in Deutschland anders      Medienstationen abgerufen werden
                      unterschiedlicher Perspektiven auf Vergangenheit und         Direktor Jürgen Reiche und   in den Blick genommen und fragen               machen?“, „Was finde ich gut?“, „Was     können. Den Besuchern wird so be-
                      Gegenwart begreift.                                          Redakteurin Ulrike Zander    nach den Erfolgen und Problemen des            finde ich schlecht?“, „Was bedeutet      wusst, dass bei den Erzählungen der
                                                                                                                wiedervereinigten Deutschland, nach            für mich Freiheit heute?“. Auf diese     Zeitzeugen der Rahmen eine Rolle
                                                                                                                individuellen Hoffnungen und Ent-              Weise stellen wir den Menschen und       spielt, in dem sie innerhalb der SED-
                                                                                                                täuschungen. Dabei richten wir uns             seinen Gegenwartsbezug in den Mit-       Diktatur gelebt haben. Die unter-
                                                                                                                insgesamt an eine breite Zielgruppe,           telpunkt.                                schiedlichen Perspektiven, die heute
                                                                                                                auch verstärkt an die junge Genera-                                                     noch wahrzunehmen sind, spielen in
                                                                                                                tion, die die Zeit der Mauer und des           mm Insgesamt ist in der neuen Dau-       der Geschichte eine große Rolle – vor
                                                                                                                geteilten Deutschland nicht miterlebt          erausstellung ein verstärkter Me-        und nach der Wiedervereinigung. Da
                                                                                                                hat.                                           dieneinsatz mit vielen Zeitzeugenin-
                                                                                                                      Vor diesem Hintergrund ist die           terviews zu finden. Welche Wirkung
                                                                                                                                                                                                        Von Barkas zu Porsche: 2002 bringt der
                                                                                                                Ausstellung kommunikativer gewor-              versprechen Sie sich davon?
                                                                                                                                                                                                        Sportwagenhersteller Porsche mit dem
                                                                                                                den und stellt den gegenwärtigen               Reiche Wir haben sehr viel Wert          „Cayenne“ erstmals eine Geländelimousine
                                                                                                                Lebensbezug voran, um von dort aus             darauf gelegt, die unterschiedlichen     auf den Markt. Das für dessen Montage
                                                                                                                auf die Geschichte zu sehen. In der            Erfahrungen der Menschen in Ost-         gebaute Werk in Leipzig startet mit 300
                                                                                                                                                                                                        Mitarbeitern, heute sind es 4.000.

12   museumsmagazin 4.2018                                                                                                                                                                                           museumsmagazin 4.2018         13
Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England
Personenkult in der DDR:                   Sowjetische Panzerabwehrkanone
                                                                                            Lenin-Plastik aus den                      zur Niederschlagung des Volksaufstands
                                                                                            1950er Jahren                              in Ost-Berlin am 17. Juni 1953

                                                                                                                                       Der umgebaute Barkas „B 1000“ von 1979
                                                                                                                                       bringt als Gefangenentransporter
                                                                                            Rundgänge an, die ineinander verwo-        „Staatsfeinde“ der DDR unbemerkt
                                                                                            ben sind. Die eine Präsentation führt      zu Haftanstalten.
                                                                                            an ikonischen Schlüsselobjekten ent-
                                                                                            lang, die die Zeit charakterisieren
                                                                                            und von Begriffen begleitet werden,        Missstände gibt, in dem ich aber viele
                                                                                            die dem Grundgesetz entlehnt sind:         Möglichkeiten habe, mitzumischen
                                                                                            Freiheit, Einheit, Menschenrechte,         und zu verändern.
                                                                                            Würde. Die dazu parallel laufende
                                                                                            Ausstellung ist chronologisch aufge-       mm Welche Objekte erzählen beson-
                                                                                            baut mit thematischen Schwerpunk-          ders spannende Geschichten?
                                                                                            ten von 1945 – mit einem Rückblick in      Reiche Es gibt starke, attraktive Ob-
                                                                                            die nationalsozialistische Diktatur –      jekte: aus der Frühzeit ein Buch auf
                                                                                            bis in die Gegenwart hinein.               Birkenrinde, das in einem sowje-
                                                                                                  In den neuen Bereichen für den       tischen Speziallager geschrieben
                                                                                            Zeitraum nach 1989/90 zeigt die Aus-       wurde; innovative Technik wie das
     gab es Menschen, die festhielten am          bemüht, deutlicher zu zeigen, worin       stellung, dass im deutsch-deutschen        Triebwerk eines Düsenflugzeugs, das       wart hineinreicht und Fragen zum         Harald Metzkes, Manfred Böttcher
     sogenannten real existierenden So-           die Unterschiede zwischen Diktatur        Miteinander bis heute immer wieder         in Ostdeutschland gebaut wurde; der       Thema „Freiheit“ aufwirft: ein Chip,     und Horst Zickelbein in der Art der
     zialismus, wie die SED ihn prägte,           und Demokratie liegen. Die DDR trug       unterschiedliche kulturelle Prägun-        Tisch aus dem Politbüro, der uns er-      den man sich unter die Haut pflanzen     klassischen Moderne gemalt worden
     oder andere, die von einem dritten           zwar das Wort „Demokratie“ im Na-         gen eine Rolle spielen – das macht         klären hilft, wie Entscheidungen auf      lassen kann, der aufgeladen ist mit      und standen damit im Gegensatz zum
     Weg träumten, oder diejenigen, die           men, war aber dennoch eine Diktatur.      sich nicht zuletzt bei der Sicht auf die   höchster Ebene getroffen wurden – in      Informationen, um Geld abzuheben,        sozialistischen Realismus.
     loszogen und das Gefühl von Frei-            Die nicht vorhandene Gewaltentei-         Vergangenheit bemerkbar. Wie wir           der Frühzeit der DDR von Brotprei-        Türen zu öffnen, sich in Computersys-          Auf der Einladung zur Ausstel-
     heit gelebt haben. Viele hatten große        lung, die Überwachung, keine freien       uns an Ereignisse und Bilder erin-         sen bis hin zu Todesurteilen; die Ver-    teme einzuloggen. Das größte Objekt      lungseröffnung ist ein Bild zu sehen,
     Probleme, sich im wiedervereinigten          Wahlen, keine freie Presse, keine un-     nern, hängt stark von der Herkunft         herrlichung Stalins durch Tragebilder     ist eine sowjetische Panzerabwehrka-     das junge Menschen zeigt, die das
     Deutschland zurechtzufinden.                 abhängige Gerichtsbarkeit, das alles      aus Ost oder West ab – selbst bei der      oder das Propagieren des „Antifa-         none aus dem Jahr 1953 beim „Volks-      Transparent „Für ein offenes Land
                                                  sind Themen, die wir differenziert,       jüngeren Generation.                       schismus“ durch die Aufstellung von       aufstand 17. Juni“.                      mit freien Menschen“ hochhalten.
     mm Welche gestalterischen Neuerun-           inhaltlich vor allem auch klarer her-           Neu ist auch der Ansatz, die         Denkmälern. Das schwerste Objekt                Ein Objekt, das viel aus sich      Dieses Motto zieht sich durch die ge-
     gen erwarten die Besucher in Leipzig?        ausstellen. Schließlich verfolgen wir     Ausstellung am Ende zu einer Bühne         ist ein Lenin-Denkmal: Es lag bereits     selbst heraus erzählt, ist eine Wand-    samte Ausstellung. Zudem freut es
     Reiche Das Haus ist vollständig neu          einen partizipativen Ansatz – unsere      zu öffnen. Dadurch bekommt das „Fo-        aussortiert auf einem Bauhof. Es hat      bemalung, die sich unterhalb des Pa-     mich besonders, dass wir die Aus-
     konzipiert und mit neuen Präsentatio-        Präsentation dient auch dazu, den         rum“ eine neue Bedeutung: Auf dieser       früher einmal vor einer sowjetischen      riser Platzes in Ost-Berlin in einem     stellung in einer Zeit eröffnen, in der
     nen gestaltet worden. In beiden Aus-         Themen mehr Raum und dem Publi-           Bühne können wir Veranstaltungen           Kaserne an einem Ort gestanden, an        Kohlenkeller befand, der zur Akade-      klare Statements zur Demokratie so-
     stellungsetagen ist vieles heller, lich-     kum mehr Anregungen zu geben, sich        mitten in der Ausstellung durchfüh-        dem auch Atomraketen stationiert          mie der Künste gehörte. In diesem        wie zum Grundgesetz gefordert sind.
     ter und einladender geworden. Beim           mit dieser Zeit auseinanderzusetzen –     ren. Alle Besucher sind herzlich zu        waren. Dieser Lenin dokumentiert          Gewölbe haben die jungen Künstler        Das Zeitgeschichtliche Forum bezieht
     Thema „Diktatur“ haben wir uns               immer mit Bezug zur Gegenwart, in         Diskussionen eingeladen – eine Ge-         mit vielen anderen Objekten aus der       Feste gefeiert. Einige dieser Fresken    mit dieser neuen Ausstellung klar
                                                  der wir mit Pegida, Flüchtlingsbewe-      legenheit, sich auszutauschen, aber        Zeit der 1990er Jahre, wie man sich       haben wir schon frühzeitig in den        Stellung. Unser Haus ist daher für
                                                  gungen, Rechts- und Linksextremis-        auch die Debatten über das Haus            auch der Ideologie entledigt hat und      1990er Jahren in Berlin abgenom-         mich das Forum für Demokratie in
     Mehr Raum und mehr Geschichte:
                                                  mus, Globalisierung, Digitalisierung      hinaus weiterzuführen. Darin steckt        nicht nur von materiellen Dingen der      men. Eine der Arbeiten wird jetzt        Deutschland.
     Durch die Nutzung der Kuppel über den
     erweiterten Ausstellungsräumen und           und internationalem Terror konfron-       die Aufforderung, Demokratie im-           DDR Abschied nahm.                        hier zum ersten Mal der Öffentlichkeit
     zahlreiche neue Gestaltungselemente erhält   tiert werden. Schließlich bieten wir in   mer wieder neu zu befeuern in ei-                Das kleinste Objekt der Ausstel-    präsentiert. Sie sind aus einer Laune    Jürgen Reiche an der Wortskulptur
     die bis in die Gegenwart hineinreichende     der Dauerausstellung sozusagen zwei       nem Land, in dem es zwar durchaus          lung ist eines, das stark in die Gegen-   heraus von bekannten Künstlern wie       „FREIHEIT“ in der Dauerausstellung
     Präsentation mehr Licht und Klarheit.                                                                                                                                                                                des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig

14   museumsmagazin 4.2018                                                                                                                                                                                                              museumsmagazin 4.2018       15
Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England
Online-Tagebuch zur Wieder eröffnung
        Um die Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig
        vollständig erneuern zu können, war die Präsentation ab dem
        29. Januar 2018 geschlossen. Die meisten Objekte hatten
        die Dauerausstellung verlassen und die Bauarbeiten waren
        in vollem Gang. Ein Online-Tagebuch dokumentierte für die
        Besucher, was bis zur Wiedereröffnung passierte.

August
                                                                                                  23.      Der Barkas darf bleiben
                                                                                                           2350 Kilogramm wiegt der
                                                                                                                                                                                                                     30.    Ein Flugzeug auf der Wand Illustrator Swen Papenbrock lässt eine weiße Wand
                                                                                                                                                                                                                            in unserer neuen Dauerausstellung mit seiner farbigen Kreation erstrahlen.
                                                                                                  Gefangenentransportwagen Barkas                                                                                   Wir haben seine Arbeit von der leeren Wand bis zum fertigen Bild im Video festgehalten.
                                                                                                  „B 1000“. Das ist viel zu schwer, um ihn
                                                                                                  aus unserer Dauerausstellung zu räumen.
                                                                                                  Der in der DDR gefertigte Eintonner darf
                                                                                                  also während der Umbauarbeiten in der
                                                                                                  Ausstellung bleiben. Wir haben einen gut
                                                                                                  geschützten Platz für ihn gefunden.

September
                                       10.     Ein Strahltriebwerk auf Reisen In der DDR
                                               entstehen ab 1955 in Dresden Flugzeuge. Hier
                                                                                                                                                          20.        Ein Reichsadler aus Sandstein Dieser
                                                                                                                                                                     Reichsadler aus Stein stammt aus einer
                                                                                                                                                                                                                                   24.     Arbeit im Wandel der Zeit Iris Benner ist wissen-
                                                                                                                                                                                                                                           schaftliche Mitarbeiterin im Zeitgeschichtlichen
                                       sehen Sie das Strahltriebwerk „Pirna 014“. Es kommt                                                                           Kaserne in Euskirchen. Belgische Soldaten                     Forum. In unserer neuen Dauerausstellung widmet sie
                                       in einem Prototyp des Passagierflugzeugs „152“ zum                                                                 schlagen im Jahr 1945 das zugehörige Hakenkreuz                          sich der Zeit nach 1989. Im Video erläutert sie die tief
                                       Einsatz. Die Flugzeugproduktion in der DDR wird 1961                                                               heraus. Die über eine Tonne schwere Steinmetzarbeit                      greifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ver-
                                       eingestellt. Das Verkehrsmuseum in Dresden stellt es uns                                                           wird mit einem Skulpturenheber an ihren Platz im                         änderungen nach der Wiedervereinigung am Beispiel der
                                       für unsere neue Dauerausstellung zur Verfügung.                                                                    Ausstellungsbereich zum Jahr 1945 gebracht.                              Firma Präwema aus dem sächsischen Vogtland.

Oktober
   1. DDR-Alltag an der Wand Aus dem Depot an die Wand:
      1,5 Meter hoch und über vier Meter breit ist das Gemälde
                                                                                                   8.     Mit Leidenschaft am Werk Einen alten
                                                                                                          Wartburg für die neue Ausstellung herrichten?
                                                                                                                                                               10.     Objekte im Rampenlicht Während des Umbaus werden unsere Objekte
                                                                                                                                                                       nicht nur restauriert und transportiert, sondern auch professionell fotografiert.
    von Schülern aus Chemnitz. Nachdem unsere Restauratorin das                                   Kein Problem für unseren Automobilrestaurator Philip         Unser Fotograf lichtet diese Büste von Karl Marx sowie ein Drehschränkchen mit
    Gemälde entstaubt und mit Farbe ausgebessert hat, befestigen                                  Mandrys! Wir haben ihm bei seinen Arbeiten in der            Buchattrappen und Geheimfächern von Erich Honecker ab. Dann kommen sie
    wir es im Museum an der Wand.                                                                 Bonner Restaurierungswerkstatt über die Schulter             an ihren neuen Platz in der Dauerausstellung.
                                                                                                  geschaut.                                                                                                                                                                        museumsmagazin 4.2018      17
Unsere Geschichte. Diktatur und Demokratie nach 1945 - Made in England
imfokus

Kleine Fluchten aus dem Kollektiv                         Ob Freizeit, Hobbys oder Urlaub – wenn es nach dem SED-Regime
                                                          ging, waren für die „allseits gebildete sozialistische Persönlichkeit“

Alltagsgrau, Abenteuerlust,
                                                          jederzeit und an jedem Ort politische und gesellschaftliche Aktivitäten
                                                          im Kollektiv vorgesehen. Aber aller politischen Agitation zum Trotz
                                                          hieß es spätestens ab den 1970er Jahren in der DDR: „Freitag nach

Aufbegehren
                                                          eins macht jeder seins.“
                                                          Die zunehmende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Alltag der
                                    von Henrike Girmond   DDR aufzuzeigen, stellt einen Schwerpunkt der neuen Dauerausstellung im Zeit-
                                                          geschichtlichen Forum Leipzig dar. Sie präsentiert anhand ausgewählter Bei-
                                                          spiele die Bandbreite von Anpassung über Ausloten individueller Freiräume bis
                                                          hin zum Aufbegehren gegen Gängelei und Gruppenzwang. Dabei erzählt sie von
                                                          „kleinen Fluchten“, Sehnsüchten, Eigensinn und Abenteuerlust innerhalb eng
                                                          gesteckter Grenzen.

                                                          Urlaub nach Plan
                                                          Vom „Kap Arkona bis zum Fichtelberg“, also vom äußersten Norden bis zum äu-
                                                          ßersten Süden der DDR, boten vor allem der Staat, die Betriebe und die Massen-
                                                          organisationen Freie Deutsche Jugend (FDJ) sowie Freier Deutscher Gewerk-
                                                          schaftsbund (FDGB) Urlaubsreisen und -plätze an. Reisen waren vornehmlich
                                                          innerhalb der Landes-
                                                          grenzen und in die sozia-        [ Die Feriengestaltung ist ver-
                                                          listischen   Bruderstaaten
                                                          erlaubt – der Westen war
                                                                                           stärkt für die Erziehung zum
                                                          tabu. Die staatlich subven-      sozialistischen Patriotismus
                                                          tionierten und damit für         und proletarischen Internatio-
                                                                                           nalismus zu nutzen. ]
                                                          jeden erschwinglichen Fe-
                                                          rienplätze waren beliebt –
                                                          und rar. Die Nachfrage        Ferien, Urlaub und Tourismus der Jugend in der DDR.
                                                          übertraf stets das Angebot.   Rechtsvorschriften und Beschlüsse, Ost-Berlin 1988
                                                          Viele Familien empfanden
                                                          es beinahe als Lottogewinn, wenn sie – oft nach jahrelanger Wartezeit – einen
                                                          FDGB-Ferienscheck erhielten. Auch Campingurlaube standen hoch im Kurs,
                                                          die Zeltplätze an der Ostsee waren schnell vergeben. Bürokratische Hürden er-
                                                          schwerten Individualreisen, private Reiseanbieter gab es nicht.

                                                          „Traumschiff für Arbeiter und Bauern“
                                                                       Irgendwann einmal eine Weltreise unternehmen – davon träumte
                                                                          die Frau eines bekannten DDR-Wissenschaftlers aus dem thü-
                                                                             ringischen Gräfenthal. Der passionierte Hobbymodellbauer
                                                                                konnte seiner Frau zwar den Wunsch nicht erfüllen, bas-
                                                                                   telte ihr aber als Ersatz Ende der 1970er Jahre das Ab-
                                                                                       bild des FDGB-Urlauberschiffs „Fritz Heckert“. Als
                                                                                          Vorlage dienten vermutlich Schwarz-Weiß-Fotos,
                                                                                              denn die Farben des Modellschiffes waren
                                                                                                nicht originalgetreu: Statt grün leuchtet der
                                                                                                    Schiffsrumpf rot.
                                                                                                             Eine Weltreise wäre mit der
                                                                                                            „Fritz Heckert“ ohnehin nicht
                                                                                                                möglich gewesen. Das 1960
                                                                                                                   erste neu gebaute Urlau-
                                                                                                                      berschiff der DDR und
                                                                                                                         zweite Schiff im

                                                          Wunschtraum:
                                                          Selbst gebasteltes Modell
Besteigung des Tetnuld im                                 des Passagierschiffs
Kaukasus-Gebirge, 1988                                    „Fritz Heckert“, 1970er Jahre,
Foto: Jens Mangelsdorf                                    Teilrekonstruktion 2018
imfokus                                                                                                                                                                                                              imfokus

                                                                                                                                                                                                  Jan Oelker, Wolfgang Hensel,
                                                                                                                                                                                                  Jens Mangelsdorf, Peter Ulm
                                                                                                                                                                                                  und Uwe Wirthwein (v. li. n. re.)
                                                                                                                                                                                                  im Kaukasus-Gebirge, 1988
                                                                                                                                                                                                  Foto: Peter Ulm

                                                                                                                                                                                                  Selbstgefertigte Schnee-
                                                                                                                                                                                                  schuhe von Jan Oelker,
                                                                                                                                                                                                  1987

                                                                                                                        An den Wochenenden bestritten sie erfolgreich Regatten. Im
                                                                                                                         Schlepptau hatten sie ihre ebenfalls surfbegeisterten Kinder
                                                                                                                           und die transportable Veritas-Nähmaschine, falls doch mal
                                                                                                                            eines der aus „Schlüpferstoff“ genähten Segel reißen sollte.
                                                                                                                             Der Neoprenanzug, den sie für Sohn Falk aus heimlich im-
                                                                                                                             portierten Stoffresten einer West-Berliner Firma anfertigten,
                                                                               Surfbrett und Neoprenanzug
                                                                            Marke Eigenbau: Um die Brett-
                                                                                                                             gehört nun zusammen mit einem selbst gebauten Surfbrett zu
                                                                        oberfläche trittsicherer zu gestalten,              den vielen neuen Highlights der Leipziger Dauerausstellung.
                                                                      bestrich sie Peter Wagner mit einem
                                                                      Gemisch aus Kleber und Zucker.             Verbotene Pfade
                                                                                                                 Wer dem DDR-Alltag entfliehen, zudem noch fremde Kulturen entdecken wollte,
                                                                                                                 dem stand die Welt nur in Richtung sozialistische Bruderländer offen: Polen,
                             Dienst des FDGB – neben dem Schiff „Völkerfreundschaft“ – durfte bereits kurz       Č SSR, Ungarn, Rumänien, Bulgarien. Die Sowjetunion durften die Ostdeutschen
                             nach dem Mauerbau 1961 nur noch Ostsee-Häfen in sozialistischen Ländern             nur mit von den DDR-Reisebüros organisierten Gruppenreisen besuchen – so
                             ansteuern: Einige Passagiere hatten zuvor beim Landgang im Mittelmeer die           die Theorie. Für Jan Oelker, Student der Kraftwerkstechnik aus Radebeul, kam
                             Chance zur Flucht genutzt – obwohl grundsätzlich nur besonders „verdiente           das nicht infrage. Mit Abenteuerlust, Wagemut, Geschick und Kreativität aus-
                             Aktivisten“ die Möglichkeit einer Reise mit dem Schiff erhalten hatten. Bereits     gestattet, durchquerte Oelker zusammen mit Freunden Ende der 1980er Jahre
                             1971 wurde die „Fritz Heckert“ als Urlauberschiff überwiegend aus wirtschaft-       mehrfach illegal die Sowjetunion. Die Einreise gelang mit einem für drei Tage
                             lichen Gründen ausgemustert: Es gab Probleme mit dem Antrieb und Ersatzteile        gültigen Transitvisum. Doch statt – wie angegeben – nach Bulgarien weiterzu-
                             waren nur mit Mühe erhältlich. Letztlich verschlangen Kreuzfahrten Subventi-        fahren, verließen die Abenteurer unerlaubt die vorgegebene Route, bestiegen
                             onen in Millionenhöhe.                                                              das Kaukasus-Gebirge oder segelten mit einem selbst gebauten Katamaran
                                                                                                                 durch Sibirien. Geeignete Ausrüstung gab es – wie in der DDR üblich – kaum zu
                             Frei wie der Wind?                                                                  kaufen. Ob Seifenschale oder Fahrradschlauch – für selbst gefertigtes Werkzeug
                                                                                                                 und Kleidung verwendeten sie ganz alltägliche Gegenstände. Kontrollen über-
                             Von salziger Ostsee-Luft um die Nase spürte auch Familie Wagner aus Dresden         wanden die jungen Bergsteiger mit gefälschten, offiziell aussehenden Pseudo-
                             wenig, obwohl sie sich als Hobby dem Wassersport verschrieben hatte: dem            Dokumenten. Ärger gab es oftmals nur bei der Rückkehr in die DDR.
                             „Brettsegeln“. Die US-amerikanische Sportart Windsurfen, von der SED als                  Weltreisende wie Jan Oelker und seine Freunde waren sicherlich nicht die
                             „Playboy-Sport“ zunächst argwöhnisch beäugt, gewann ab den 1970er Jahren            Regel in der DDR. Aber die Auflehnung gegen die Bevormundung des SED-Re-
                                                                             in der DDR immer mehr An-           gimes nahm in den 1980er Jahren deutlich zu. Der Ruf nach
                             [ Ja, die DDR war wirklich                      hänger. Aufgrund der erhöhten       Reisefreiheit war eine der Hauptforderungen der friedlichen
                             grau – aber wir haben uns                       Fluchtgefahr war „Brettsegeln“
                                                                             lediglich auf Binnengewässern
                                                                                                                 Revolution 1989. „Für mich waren diese Reisen Schlüssel-
                                                                                                                 erlebnisse für ein selbstbestimmtes Leben, die mir in der
                             das Leben bunt gemacht. ]                       zugelassen.                         Umbruchzeit nach 1989 viel persönliche Sicherheit gaben“,
                             Manuela Hoffmann, 2016
                                                                                   Ingrid und Peter Wagner       so Jan Oelker im Rückblick.
                                                                             „infizierten“ sich 1977 mit die-
                             sem Segelsport-Virus und schlossen sich 1980 mit Gleichgesinnten der Betriebs-
                                                                                                                                                                                                                   „Unerkannt durch Freundesland“:
                             sportgruppe (BSG) des VEB Chemieanlagenbau Dresden an. Der Betrieb erwies                                                                                                             Ein Transitvisum durch die Sowjet-
                             sich zwecks Materialbeschaffung als äußerst vorteilhaft, denn die Wagners – er                                                                                                        union erlaubte eine zwei- oder
                             Diplomingenieur, sie OP-Schwester – tüftelten, sägten, klebten und nähten, was                                                                                                        dreitägige Durchreise nach
                             zum Windsurfen dazugehörte: Brett, Segel, Anzüge – alles Marke Eigenbau.                                                                                                               Rumänien oder Bulgarien.
                                                                                                                 Improvisationstalent gefragt:                                                                       Während der Durchreise ver-
                                                                                                                 Der selbst gefertigte Eispickel aus Aluminium-                                                      ließen Jan Oelker und seine
                             Fotos der Familie Wagner
                                                                                                                 rohr ist mit einem Fahrradschlauch um-                                                              Freunde schnellstmöglich die
                             zeugen von ihrer Leidenschaft,
                                                                                                                 wickelt, die aus der Č SSR mitgebrachte                                                           vorgeschriebene Route und
                             dem „Brettsegeln“.
                                                                                                                 Höhensonnenbrille als Gletscher-                                                                reisten wochenlang illegal
                                                                                                                 schutzbrille umfunktioniert.                                                                    durchs Land. Foto: Peter Ulm

20   museumsmagazin 4.2018                                                                                                                                                                                     museumsmagazin 4.2018          21
imfokus
                                                                                                                                                                                            Die Leipziger Galerie „Eigen+Art“
                                                                                                                                                                                            nimmt in der DDR Vorbildfunktion
                                                                                                                                                                                            für viele weitere Galerien ein, die Werke
                                                                                                                                                                                            aus der alternativen Kunstszene zeigen.

                                                                                                                             Der SED gelang es trotz ihrer restriktiven Haltung nicht,      Die beiden Gummiwalzen und die dazugehörigen Federn
                                                                                                                             kritische Künstler und ihre Werke auf Dauer mundtot zu         üben ausreichenden Druck für das manuelle Ormig-Verfah-
     Intellektuelle und Oppositionelle ohne Druckgenehmigung                                                                 machen. Dabei waren die Möglichkeiten der Kommunika-           ren aus – Grundlage sind mit einer Schreibmaschine be-
                                                                                                                             tion in der DDR stark eingeschränkt. Nach dem „Druckge-        schriebene Matrizen, Spiritus und Papier. Jedes Blatt muss

     Sand im Getriebe
                                                                                                                             nehmigungsverfahren“ unterlag die Herstellung von Druck-       einzeln gedruckt werden – eine Matrize ergibt rund 30 Ab-
                                                                                                                             gut grundsätzlich der staatlichen Kontrolle. So versuchte      züge. Unbemerkt von der Staatssicherheit stellte die Grup-
                                                                                                                             das SED-Regime, die Verbreitung unliebsamer Schriften zu       pe in einer Privatwohnung etwa 300 Flugblätter her. Um
                                                                                 von Sara Sponholz                           zensieren. Wer sich den Vorgaben widersetzte, musste mit       Material zu sparen, wurden immer zwei Texte auf ein Blatt
                                                                                                                             Ordnungsgeldern und Haftstrafen wegen nicht autorisierter      gedruckt, denn Papier war, wie auch die Matrizen, in der
                                                                                                                             Vervielfältigung und „staatsfeindlicher Hetze“ rechnen. Die    DDR Mangelware und meist nur über Kontakte zu erhalten.
                                                                                                                             Genehmigung einer unzensierten Verbreitung von Büchern         Mit der Druckschrift riefen die Umweltaktivisten unter an-
     Weltoffenheit nach außen, Zensur nach innen – die Widersprüche zwischen                                                 in Auflagen bis zu 100 Stück – wenn sie originale Grafiken     derem zum ersten Pleiße-Gedenkumzug 1988 auf, in dem
                                                                                                                             enthielten – führte dazu, dass sich Grafiker und Dichter aus   sie auf den von regionalen Chemie-Industrieanlagen stark
     Schein und Sein in der Politik des SED-Regimes nahmen in der DDR immer mehr                                             der Szene zusammenschlossen und in kleinen Auflagen Bü-        verschmutzten Fluss Pleiße aufmerksam machten und für
     Menschen als bedrückend und unerträglich wahr. Die SED verhinderte offene                                               cher und Zeitschriftenreihen herausgaben: Anschlag, Ari-       die Säuberung des Gewässers eintraten. Der Gedenkumzug
     Diskussionen – vor allem kritische Künstler und Intellektuelle erlebten Zensur,                                         adnefabrik, Entweder/Oder, Schaden oder Glasnost provo-        diente als Informationsveranstaltung und fand am 5. Juni
                                                                                                                             zierten mit ihren Titeln und waren zugleich Programm.          1988 mit mehr als 200 Teilnehmern nahezu ungestört statt.
     Auftritts- und Berufsverbote. Auf ihrem 11. Plenum im Dezember 1965 hatte                                                                                                                    Um die Bevölkerung über Aktionen und Missstände
     die SED ihre Kultur- und Jugendpolitik verschärft und damit eine kulturelle Eiszeit                                     Durch die Mangel gedreht                                       im Land zu informieren, druckten Oppositionelle ihre Flug-
     eingeläutet. Dieser harte Kurs der SED schränkte die Arbeitsmöglichkeiten all                                                                                                          blätter auch mit anderen zweckentfremdeten Geräten wie
                                                                                                                             Da Not häufig die Fantasie anregt, fanden Oppositionelle       beispielsweise Spielzeug-Stempelkästen. Trotz der ständi-
     jener Künstler ein, die sich nicht anpassen wollten: keine Veröffentlichungen, keine                                    bald andere Lösungen, ihre Meinung frei zu äußern und          gen Überwachung durch die Staatssicherheit und der Ge-
     Ausstellungen, keine Auftritte, Spiel- und Inszenierungsverbote.                                                        Aktionen anzukündigen. Um nicht jedes Blatt einzeln ab-        fahr von Verhaftungen fand vor allem in den 1980er Jah-
                                                                                                                             tippen zu müssen, kam eine Leipziger Umweltgruppe auf          ren, häufig unter dem schützenden Dach der Kirche und
                                                                                                                             die Idee, Matrizen durch eine Wäschemangel zu pressen.         mit westlicher Hilfe, ein reger Informationsaustausch statt.
                                                                            Festival „Intermedia I“, 1985: Die Kunstszene
                                                                            der DDR sucht seit Anfang der 1980er Jahre
                                                                            verstärkt nach neuen Freiräumen zur öffent-
                                                                            lichen Präsentation, dazu gehörten Galerien,
                                                                            Zeitschriften und Künstlerbuchprojekte. Einer
                                                                            der Höhepunkte dieser Entwicklung ist das
                                                                            Festival „Intermedia I“ in Coswig bei Dresden.

22   museumsmagazin 4.2018                                                                                                                                                                                                         museumsmagazin 4.2018   23
Traditionelles englisches Frühstück   Eine Fahne mit dem Porträt des   Die Freundinnen Lorraine und      Ein Skinhead in einem Pub     Bei einem Champagner-Picknick
                                                                                             mit Speck, Eiern, Toast, gebratenen   Brautpaars, befestigt an dem     Trish aus Warrington verkleidet   in Bacup in der Grafschaft    während des „Royal Ascot“ auf
                                                                                             Tomaten und Bohnen in einem Café      Gewürzregal eines Fastfood-      als Bräute am Hochzeitstag        Lancashire, April 2001 (o.)   dem legendären „Car Park One“
                                                                                             in Blackpool, Juli 2008               wagens am Hochzeitstag von       von Prinz Harry und Meghan                                      vor dem Eingang zur Rennbahn,
     Made in England. Fotografien von Peter Dench                                                                                  Prinz Harry und Meghan Markle    Markle in Windsor, Mai 2018                                     Juni 2017 (u.)
                                                                                                                                   in Windsor, Mai 2018 (o.)        (u.)

     Ein englischer Blick                                                                  von Anne-Sophie Rüther

                                                                                                                                   Unverfälscht
                                                                                                                                                                                                      zu den Menschen, die dort leben. Er selbst beschreibt das
                                                                                                                                                                                                      Land als seine Leidenschaft und sein Zuhause. 2002 wur-
                                                                                                                                                                                                      de er für die Serie „Drinking of England“ mit einem World
                                                                                                                                   Mit der Ausstellung „Made in England. Fotografien von              Press Photo Award ausgezeichnet.
                                                                                                                                   Peter Dench“ präsentiert das Haus der Geschichte in der                  Peter Denchs Fotos gehen über eine Dokumentation
     19. Mai 2018 – die englische Kleinstadt Windsor       Wie bereits bei der Hochzeit von Prinz Harrys älterem                   U-Bahn-Galerie den Blick eines Engländers auf sein Land.           von mehr oder weniger alltäglichem Leben in England hi-
     steht Kopf. Auf den Straßen und in den öffent-        Bruder William mit Catherine Middleton ist Dench vor                    Wie seine Fotos, so ist auch Peter Dench selbst „Made in           naus. Er fotografiert mit Champagner anstoßende Gäste
                                                           Ort und dokumentiert seine Eindrücke des Tages mit                      England“: 1972 wurde er in Weymouth an der Küste des               der VIP-Logen während des Pferderennens in Ascot ge-
     lichen Grünanlagen haben sich seit den frühen
                                                           der Kamera. Ihn interessieren dabei nicht das Kleid der                 Ärmelkanals in eine Arbeiterfamilie geboren. Seine Fas-            nauso wie picknickende Autofahrer an einer Raststätte
     Morgenstunden Menschenmassen aus dem                  Braut oder etwaige Tränen des Bräutigams. Peter Dench                   zination für seine Heimat begründet er selbstironisch mit          oder einen Skinhead im Pub. Weder beschönigt noch in-
     ganzen Land versammelt und warten. Kostümiert         schaut auf das bunte Drumherum: Die Fastfood-Bude,                      der Tatsache, dass sein Geburtstag auf den Tag des Hei-            szeniert er, sodass bei dem Betrachter das Gefühl entsteht,
                                                           die von ihrem Betreiber mit dem offiziellen Verlobungs-                 ligen Georgs, des Schutzpatrons Englands, und den ver-             hier ein ehrliches oder – wie Dench es selbst beschreibt –
     mit Union-Jack-Fahnen, Kronen und sogar
                                                           foto des Brautpaars geschmückt wird; zwei Frauen in                     mutlichen Geburtstag des wahrscheinlich bekanntesten               „unzensiertes Bild“ von England zu sehen. Als Künstler
     Hochzeitskleidern fiebern sie der Traumhochzeit des   Brautkleidern, die den Bräutigam, vielleicht kurz bevor                 Engländers aller Zeiten, William Shakespeare, fällt. 1995          blickt er mit der Kamera nicht auf seine Landsleute herab,
     Jahres entgegen: His Royal Highness, Prinz Harry,     es ernst wird, umstimmen wollen und nun im Schatten                     schloss er sein Studium der Fotografie an der Universität          sondern wird Teil der Szenerie. Auf diese Weise entste-
                                                           bei einer Zigarette auf sein Vorbeifahren warten – augen-               von Derby ab und arbeitete seitdem als Fotojournalist für          hen Aufnahmen, die den Kontrast zwischen Schein und
     heiratet die bürgerliche Meghan Markle und wird
                                                           zwinkernd hält er das skurrile Treiben in Bildern fest,                 zahlreiche nationale und internationale Medien, darunter           Wirklichkeit, der „feinen englischen Art“ und dem wahren
     dadurch zum Duke of Sussex. Mitten im Getümmel        die wie Schnappschüsse anmuten und doch eine hohe                       auch das Magazin Stern. Immer wieder kehrte er an den              menschlichen Alltag offenbaren sowie geprägt sind von ei-
     ist auch der britische Fotograf Peter Dench.          ästhetische Qualität entfalten.                                         Ausgangspunkt seiner Arbeit zurück, nach England, und              ner großen Prise des berühmten englischen Humors.

24   museumsmagazin 4.2018                                                                                                                                                                                                             museumsmagazin 4.2018        25
inbonn

    Eröffnung der neuen Ausstellung im Haus der Geschichte

    Angst. Eine deutsche
    Gefühlslage?                                        von Ulrike Zander                                                                                                                                      2
    „Die Welt, in der wir leben, ist – zumindest        Auch im Ausland seien wir Deutschen für unsere Ängste           sphäre. „Der historische Rückblick soll dazu beitragen, mit
                                                        bekannt, so sei der Begriff „German Angst“ in den 1980er        einem neuen, bewussteren Blick auf Ängste in der Gesell-
    statistisch betrachtet – die sicherste aller
                                                        Jahren in den USA geprägt worden, erklärte Hütter weiter.       schaft zu schauen“, so Projektleiterin Judith Kruse.
    Zeiten. Niemals war das Risiko geringer, durch      Die neue Ausstellung geht dieser vermeintlich typisch deut-
    Verbrechen, Unfälle oder Naturkatastrophen umzu-    schen Eigenschaft nach und wirft einen Blick darauf, was        Weltuntergangsstimmung?
    kommen. Dennoch: Viele Deutsche sind besorgt,       die Deutschen in Vergangenheit und Gegenwart bewegt.
                                                              Für diese kollektiven Ängste hat das Team um Pro-         Der Raum „Angst vor Atomkrieg“ 1 empfängt den Besucher
    sie haben Angst“, so der Präsident der Stiftung     jektleiterin Dr. Judith Kruse und Ausstellungsdirektor          mit einem Klang, der zusammen mit der projizierten Atom-
    Haus der Geschichte Prof. Dr. Hans Walter Hütter,   Dr. Thorsten Smidt Räume geschaffen, in denen mit großen        bombenexplosion unter die Haut geht. Ein riesiges Holz-
    bevor er am 9. Oktober 2018 in Bonn zusammen        Bildprojektionen und eigenen Raumklängen Angst- und             kreuz erinnert an die Protestaktionen in den 1980er Jahren,

                                                                                                                                                                                                               3
                                                        Unsicherheitsgefühle ihren Platz finden 4: Angst vor dem        als Mitglieder der Friedensbewegung 96 Kreuze gegen den
    mit Ehrengast Frank Plasberg die Ausstellung        Atomkrieg, der Umweltzerstörung, einer totalen Überwa-          NATO-Doppelbeschluss aufstellten. Aufrütteln wollten zu
    „Angst. Eine deutsche Gefühlslage?“ eröffnete 2.    chung oder Zuwanderung. „Der Raumklang und die Vi-              dieser Zeit auch viele Popsongs, die Bedrohungsszenarien
                                                        deobilder verstärken ein unterschwelliges Angstgefühl,          thematisierten. So kann der Besucher in der Ausstellung an
                                                        das durch die Informationen in der Ausstellung gebrochen        einer Medienstation bekannte Lieder wie „99 Luftballons“

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                                                        wird“, so ein beeindruckter Premierengast der Ausstel-          von Nena oder „Vamos a la playa“ von Righera anhören
                                                        lungseröffnung. Denn die Präsentation verdeutlicht, dass        und erhält durch eine Übersetzung des spanischen Textes
                                                        es die aktuellen Ängste – ob berechtigt oder unberech-          die erstaunliche Information, dass 1983 zu einem Lied ge-
                                                        tigt – schon häufiger in der Geschichte gegeben hat. Hohe       tanzt wurde, das eindeutig die Auswirkungen einer Atom-
                                                        Flüchtlings- und Zuwanderungszahlen in Deutschland lös-         bombenexplosion besingt. Entsprechend eingestimmt steht
                                                        ten in der Vergangenheit mehrmals Angst und Unsicher-           es danach jedem frei, die eigene „Weltuntergangsuhr“ zu
                                                        heitsgefühle aus: Bereits Anfang der 1990er Jahre erlebte       stempeln: Ist es „4 vor 12“, „17 vor 12“ oder bereits „2 vor
                                                        Deutschland schon einmal einen Zustrom von Flüchtlingen         12“? Auch am Ende der Präsentation fragt die Ausstellung:
                                                        wegen des Bürgerkriegs in Jugoslawien. Die „Flüchtlings-        „Was glauben Sie: Wovor werden wir 2030 Angst haben?“
                                                        welle“ 3 von 2015 löste so gesehen eine bereits bekannte        Jeder Besucher kann abstimmen, ob es die Digitalisierung,
                                                        kollektive Angst aus. Auch die Sorge vor der „totalen Über-     Krieg, Terrorismus, Klimawandel, politischer Extremismus,
                                                        wachung“ aufgrund der geplanten Volkszählung 1983 wie-          Migration oder künstliche Intelligenz sein wird.

                                                                                                                                                                                                               4
                                                        derholte sich 2009, als Autos mit 360-Grad-Kameras auf
                                                        dem Dach Straßenzüge für den Kartendienst „Street View“         „Sind wir Deutschen Angsthasen?“
                                                        der Firma Google fotografierten. Jeder kann die Bilder im
                                                        Internet sehen – viele befürchteten den Verlust ihrer Privat-   … fragte letztlich der Stiftungspräsident den Fernsehmo-
                                                                                                                        derator Frank Plasberg 5, der dem vollkommen zustimm-
                                                                                                                        te. „Wir leben in einer alternden Gesellschaft und diese ist
                                                                                                                        immer ängstlicher als eine junge.“ Zudem sei die deutsche
                                                                                                                        Bevölkerung sehr wohlhabend – es gäbe viel zu verlieren,
                                                                                                                        vor allem auch die Demokratie, fügte der Journalist hin-
                                                                                                                        zu. Inwieweit seien die Medien daran beteiligt, Angstwel-
                                                                                                                        len hochzuspielen und zu befeuern, fragte Hütter nach.
                                                                                                                        „Diese Bedeutung haben die Medien nicht mehr“, meinte
                                                                                                                        Plasberg. Er sehe seine Aufgabe als Journalist darin, die
                                                                                                                        Debatten durch Fakten zu versachlichen und Menschen zu
                                                                                                                        Wort kommen zu lassen: „Angst muss man auch zulassen“,
                                                                                                                        führte Plasberg aus.

                                                                                                                                                                                                               5
                                                                                                                                                                                       museumsmagazin 4.2018   27
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                     Bundespräsident bei „Democracy Slam“ im Bundesrat

               „Demokratie muss                                                                           Durch die Ausstellung „Unser Grundgesetz“ im
                                                                                                          Bundesrat in Bonn begleiten Bundespräsident
                                                                                                                                                                      Lernen am authentischen Ort:
                                                                                                                                                                      Schüler im Bundesrat in Bonn

                verteidigt werden!“
                                                                                                          Frank-Walter Steinmeier (Mi.) und seine Frau Elke
                                                                                                          Büdenbender (2. v. re.) der Oberbürgermeister von
                                                                                                          Bonn Ashok-Alexander Sridharan (li.), der Präsident         „Guten Morgen – hallo!“, grüßte der Bundespräsident ganz
                                                                                                          des Hauses der Geschichte Hans Walter Hütter                unkonventionell und sorgte auf diese Weise dafür, dass sich
                                                                                                          (2. v. li.) und der Sammlungsdirektor des Hauses der        alle entspannten.
                                                                                                          Geschichte Dietmar Preißler (re.).
                      von Ulrike Zander                                                                                                                               Poesie und Grundgesetz?
                                                                                                          Kurz bevor der Bundespräsident den Saal des alten Bun-      Zur Entspannung trugen auch die beiden Moderatoren
                                                                                                          desrates in Bonn betrat, wurde den geladenen Schülern,      Malte Rosskopf und Dominik Erhard bei, die den anschlie-
                                                                                                          Lehrern und Organisatoren die Tragweite des Ortes, an       ßenden „Democracy Slam“ humorvoll und zugleich mit viel
                      „Hinter den zivilisatorischen Fortschritt des Grundgesetzes dürfen wir nie wieder   dem das Grundgesetz entstand und unterschrieben wur-        Tiefe vermittelten: „Respekt ist generell ein sehr wertvoller
                                                                                                          de, erst richtig bewusst: Holger Pützstück, langjähriger    Wert – nicht nur innerhalb eines Poetry Slams. Also tragen
                      zurückfallen“, so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seinem Besuch
                                                                                                          Besucherbegleiter des Hauses der Geschichte, machte die     Sie den Respekt, den Sie hier den Poetry-Kandidaten entge-
                      im historischen Saal des Bundesrates in Bonn am 31. August 2018 – einen Tag         Schüler darauf aufmerksam, dass sie auf den Stühlen der     genbringen, in die Welt hinaus und benutzen Sie ihn täglich.
                      vor dem 70. Jahrestag der konstituierenden Sitzung des Parlamentarischen            Ländervertreter säßen, die von 1949 bis zum 14. Juli 2000   Das macht das Zusammenleben in der Demokratie sehr viel
                                                                                                          einmal im Monat in Bonn zusammenkamen, um neue Ge-          einfacher“, meinten die Moderatoren. Zuvor hatten sie kurz
                      Rates, der in den Räumen der damaligen Pädagogischen Akademie ab dem
                                                                                                          setze oder Gesetzesänderungen zu erarbeiten oder zu ver-    zusammengefasst, welchen Regeln ein Poetry Slam folgt:
                      1. September 1948 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland erarbeitete.       abschieden. Im Saal wurde es still und alle erhoben sich,
                      Der Bundespräsident diskutierte mit Schülern aus Bonn und Umgebung über             als Frank-Walter Steinmeier zusammen mit seiner Frau
                                                                                                          Elke Büdenbender sowie dem Präsidenten des Hauses der
                      ihr persönliches Verhältnis zum Grundgesetz, nachdem Jugendliche in einem
                                                                                                          Geschichte Prof. Dr. Hans Walter Hütter, Dr. Ute Rettler,
                      „Democracy Slam“ anspruchsvoll und reflektiert ihren Blick auf das Grundgesetz      Direktorin des Bundesrates, und Thomas Krüger, Präsi-
                      und aktuelle gesellschaftliche Fragen zum Ausdruck gebracht hatten.                 dent der Bundeszentrale für politische Bildung, erschien.

28   museumsmagazin 4.2018
Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten

Poetry Slam im Bundesrat zum Grund-
gesetz: Schüler engagieren sich poetisch
                                                              Die anspruchsvollen Gedichte der Schüler
                                                              sorgen für viel Zustimmung beim Bundes-
                                                                                                                              Krisen als Motor
                                                                                                                              der Geschichte
für ihre Grundrechte.                                         präsidenten und seiner Frau (Mi.).

Erstens sind die Texte selbst geschrieben, zweitens erfolgt   worteten die einen, eindeutig Orientierung an Social-Me-                                                                                      von Ulrike Zander und Gundula Dicke
die Präsentation ohne Requisiten und drittens gibt es ein     dia-Informationen – so die anderen. Dabei äußerten sie ein-
Zeitlimit von fünf Minuten für die Darstellung. Dann folg-    stimmig Kritik am Schulsystem: „Politikunterricht haben
te der „Democracy Slam“ verschiedener Schülergruppen,         wir schon lange nicht mehr“, so Paul Steinhauer. Bis zur
die auf poetische Weise vortrugen, wie sie sich durch das     9. Klasse seien sie in Politik unterrichtet worden, aber da-    „,So geht´s nicht weiter.‘ Krisenstimmung nun auch beim Geschichtswettbewerb?“, fragte
Grundgesetz repräsentiert fühlen: „Meine Meinung ist frei     nach sei das Fach zugunsten der vielen Sprachen zurückge-       Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rhetorisch zum Auftakt des Geschichtswettbewerbs, bei
[…]. Uns Jugendlichen ist es wichtig, dass man uns hört“,     nommen worden. Während Büdenbender den Grund auch
so die einen. Andere betonten die Werte der Freizügigkeit,    in der verkürzten gymnasialen Schulzeit von acht Jahren         dem Jugendliche vor Ort forschen. „Zum Glück nicht. Aber die Krise ist nicht nur in der aktuellen
Pressefreiheit, Religionsfreiheit und der Familie, während    sah und mehr Raum für Politikunterricht forderte, bedauer-      Nachrichtenlage scheinbar allgegenwärtig. Krisen haben stets auch Geschichte geprägt“, führte er fort.
Joscha Röder hervorhob, dass niemand wegen seiner Be-         te Bundespräsident Steinmeier, dass das „moderne Angebot        Vor diesem Hintergrund lautet das aktuelle Thema des 1973 von Bundespräsident Gustav Heinemann
hinderungen benachteiligt werden dürfe: „Wir sind viele –     der Bundeszentrale für politische Bildung“ nicht stärker in
viele besondere Menschen und sind unverschämterweise          den Unterricht einbezogen würde. Letztlich waren sich alle      und dem Hamburger Unternehmer Kurt A. Körber gegründeten Geschichtswettbewerbs „So geht´s
auch untereinander recht unterschiedlich.“                    Beteiligten einig, wie wichtig die Arbeit am Grundgesetz        nicht weiter. Krise, Umbruch, Aufbruch“.
                                                              vor 70 Jahren war und wie grundlegend Weichen für eine                                                                                               Bildungsreferentin Simone Mergen (li.)
„Lest ihr Zeitung?“                                           demokratische Gesellschaft gestellt wurden. Auf die Frage,      Ob Krisen Zeiten des Auf- oder des Zusammenbruchs sind, hängt nicht zuletzt von      und Carmen Ludwig, Programmleiterin der
                                                              was ihnen im Grundgesetz heute fehlen würde, antworteten        der Perspektive der Beteiligten ab. Beim Geschichtswettbewerb geht es nicht im-      Körber-Stiftung (re.), leiten am 6. September
Moderiert von Thomas Krüger folgte nun ein Gespräch zwi-      die Schüler eindeutig mit dem Umweltschutz. „Die Würde          mer nur um die große Politik, sondern vor allem um Menschen, die auf krisen-         2018 die Auftaktveranstaltung in Bonn.
schen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, seiner         der Natur ist unantastbar“ sollte aufgenommen werden,           hafte Entwicklungen konkret vor Ort reagiert haben. Das vermittelten Dr. Simone
Frau Elke Büdenbender und Schülern der Klasse 11 des          meinte Paul Brems. „Das Grundgesetz kann nicht schon            Mergen, Bildungsreferentin der Stiftung Haus der Geschichte, und Carmen Ludwig,
Friedrich-Ebert-Gymnasiums in Bonn. Elke Büdenbender          alles geregelt haben“, gab darauf der Bundespräsident zu        Programmleiterin Geschichtswettbewerb der Körber-Stiftung, am 6. September
sprach direkt einen wunden Punkt der Schüler an – die         bedenken, „aber es gibt uns den Rahmen für neue Entwick-        2018 zur Auftaktveranstaltung im Haus der Geschichte in Bonn. Vor zahlreichen
Meinungsbildung: „Mein Mann hat eben gesagt, Demokra-         lungen.“ „Ich glaube, wenn wir an diesen Tag vor 70 Jahren      Lehrern, die während des Wettbewerbs als Tutoren agieren, und interessierten
tie sei Arbeit, ein Prozess, der immer belebt werden müsse    zurückdenken, dann müssen wir nicht lange diskutieren,          Schülern erklärten sie die Projektarbeit, den Ablauf und die Teilnahmebedingungen
durch die Menschen, die in einer Demokratie leben. Wie        dass diese Verfassung sicher die beste Verfassung ist, die je   des Geschichtswettbewerbs. „In einem Auftakt steckt auch immer ein Stück Auf-
macht ihr das? Wie kommt ihr zu Meinungen?“ „Redet ihr,       auf deutschem Boden Geltung erlangt hat“, so Steinmeier.        bruchstimmung“, so Mergen und verwies auf die Workshops zum Thema im Haus,
verbringt ihr – wie unsere Generation – Zeit miteinander?     Letztlich lebe Demokratie jedoch davon, dass jeder Bürger       die neben dem Erfahrungsaustausch mit Tutoren und Preisträgern auch Recher-
Lest ihr Zeitung?“, fragte der Bundespräsident nach. Zei-     dieses Landes seine eigene Verantwortung erkenne und            chearbeit, Zeitzeugeninterviews und Darstellungsformen sowie Bewertungskriteri-
tunglesen eher nicht, ab und zu Nachrichten schauen im        dass friedliches Zusammenleben sowie Solidarität frühzei-       en thematisierten.
Fernsehen, Diskussionen in der Schule und Familie – ant-      tig erlernt würden.
                                                                                                                              Gegenwart im Spiegel der Geschichte
Für die Schüler eine große Ehre:
Gruppenbild mit dem
                                                                                                                              Carmen Ludwig erläuterte die drei wichtigsten Prinzipien des Geschichtswettbe-
Bundespräsidenten                                                                                                             werbs: forschendes und entdeckendes Lernen, historische Spurensuche vor Ort
                                                                                                                              und lebensweltlicher Bezug. Auf diese Weise könnten Schüler am besten lernen, ge-
                                                                                                                              schichtliche Vorgänge zu reflektieren und eine eigene Meinung zu entwickeln. Tuto-
                                                                                                                              ren können dabei Schwellenängste abbauen und den Arbeitsprozess unterstützen.

                                                                                                                              Perspektivenwechsel
                                                                                                                              Auch in Berlin fand ein Tutorenworkshop zum Geschichtswettbewerb des Bundes-
                                                                                                                              präsidenten statt. 30 Lehrer aus ganz Deutschland kamen Ende Juni in das Mu-
                                                                                                                              seum in der Kulturbrauerei, um sich auf den Geschichtswettbewerb vorzuberei-
                                                                                                                              ten. Die Teilnehmer haben ein halbes Jahr Zeit, um intensiv zu recherchieren und
                                                                                                                              Beiträge für den Wettbewerb zu erarbeiten. In der Dauerausstellung „Alltag in der
                                                                                                                              DDR“ fanden die Lehrer vorab bereits viele Anregungen zum Wettbewerbsthema.
                                                                                                                              Anhand biografischer Beispiele, historischer Filme und vieler Alltagsobjekte ent-
                                                                                                                              wickelten sie erste Ideen, wie sie ihre Schüler bei der Themenfindung und lokalen
                                                                                                                              Spurensuche unterstützen können.
                                                                                                                                                                                                                   Viele Tutoren und Schüler interessieren sich
                                                                                                                                                                                                                   für die historische Spurensuche vor Ort.

                                                                                                                                                                                                                                  museumsmagazin 4.2018            31
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