Seiten 3-9 Der verkannte Skandal - Mieterverband

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Seiten 3-9 Der verkannte Skandal - Mieterverband
Mieten + Wohnen   Nr. 5, Oktober 2018   www.mieterverband.ch

   Der verkannte
   Skandal
   Seiten 3-9
Seiten 3-9 Der verkannte Skandal - Mieterverband
Editorial                                                 Inhaltsverzeichnis

Liebe Leserinnen                                           Politik Ältere brauchen mehr
und Leser                                                   Schutz                                                                 3
                                                           Zürich A-Porta muss über
                                                            die Bücher                                                             5
                                                           Reportage Mieter-Drama
                                                            in Regensdorf                                                         6
                                                           Basel Kampf um die
Auf unserem Titel sehen Sie eine 84-jährige Mie-            Wohnwende                                                             10
terin aus Regensdorf. Sie hat vor kurzem die
Kündigung erhalten. Jahrzehntelang war die be-             Geschichte Wohnfrust und
scheidene Wohnung ihr Heim. Und nun soll
sie es Knall auf Fall verlassen, weil die Siedlung
                                                            Landesstreik                                                          12
abgerissen wird. Sie und zahlreiche Nachbarn               SMV Dachverband wird
sind verzweifelt. Was sollen sie tun? Ihre Mög-
lichkeiten sind begrenzt, weil es in der Schweiz            schlagkräftiger                                                       14
keinen wirksamen Kündigungsschutz für ältere
Menschen gibt. Obwohl gerade sie einen
                                                           Hotline Kann ich die Miete
solchen bitter nötig hätten. Das ist ein Skandal,           noch anfechten?                                                       17
der kaum je thematisiert wird. Lesen Sie dazu
unsere Berichte auf den folgenden Seiten.                  Miettipp Pilzsaison in den
    Wechsel im Bundesrat: Johann Schneider-
Ammann (FDP) und Doris Leuthard (CVP)
                                                            Wohnungen                                                             18
treten zurück. Aus Mietersicht waren beide ei-             Letzte Was sonst noch läuft                                            24
ne Enttäuschung. Schneider-Ammann küm-
merte sich kaum um das Wohndossier. Ausser
Lobliedern auf den angeblich freien Markt
hörten wir von ihm nichts. Er organisierte eine
Wohndialog, aber der Output war gleich Null.
Dafür sorgten er und seine marktverrückten
Chefbeamten. Diese wussten nichts Besse-
res, als auch noch das Bundesamt für Woh-
nungswesen zu demontieren. Auch Doris Leut-
hard zeigte sich gegenüber dem Wohnthema
wenig sensibel. Die Kritik an den Renditbauten
                                                           Herausgeber                            Titelbild
der SBB – Stichwort Europaallee in Zürich –                Mieterinnen- und Mieterverband         Reto Schlatter
prallte wirkungslos an ihr ab. Dabei hätte sie             Deutschschweiz                         Druck
genug Einfluss gehabt, um dafür zu sorgen,                                                        Stämpfli AG, Bern
                                                           Redaktion                              Beglaubigte Auflage
dass die SBB – Kritiker nennen sie schon einen             Ralph Hug, Pressebüro St.Gallen        126 466 Exemplare
«Immobilienkonzern mit Gleisanschluss» –                   T 071 222 54 11                        Erscheinen
                                                           Administration und ­Adressverwaltung   6 mal pro Jahr
ihrer sozialen Verpflichtung im Städtebau mehr             MieterInnenverband Deutschschweiz      Abonnementspreis
nachkommt. Die beiden Rücktritte heissen für               Bäckerstrasse 52, 8004 Zürich          Fr. 40.–/Jahr
die Mieterbewegung: Wir dürfen auf Besseres                T 043 243 40 40                        Inserate und Beilagen
                                                           info@mieterverband.ch                  Judith Joss,
hoffen. Im Dezember werden wir mehr wissen.                www.mieterverband.ch                   judith.joss@mieterverband.ch
                                                           Ständige Mitarbeiter/innen             T 043 243 40 40
   Herzlich                                                Fabian Gloor, Zürich
                                                           Natalie Imboden, Bern
                                                           Balthasar Glättli, Zürich
                                                           Beat Leuthardt, Basel
                                                           Urs Thrier, Basel
   hug@pressebuero-sg.ch                                   Walter Angst, Zürich
                                                           Niklaus Scherr, Zürich
                                                           Carlo Sommaruga, Bern                  www.facebook.com/Mieterverband
                                                           Gestaltungskonzept
                                                           Hubertus Design GmbH, Zürich
                                                           Layout
                                                           Hannah Traber, St.Gallen               Gedruckt in der Schweiz

Mieten + Wohnen                   Oktober 2018 Nr. 5                                                                                2
Seiten 3-9 Der verkannte Skandal - Mieterverband
Politik                          Text von Ralph Hug

                                                                                 Bild Reto Schlatter
Wenn Ältere die Kündigung erhalten, bricht für sie oft eine Welt zusammen.

Mehr Schutz ist überfällig
Bei Leerkündigungen geraten ältere
Menschen meist in grosse Not.
Trotzdem lehnt der Nationalrat einen
besseren Schutz für sie ab.

Mieten + Wohnen                  Oktober 2018 Nr. 5                          3
Seiten 3-9 Der verkannte Skandal - Mieterverband
Fred Lauper ist tot. Er starb mit 84 Jahren. Als er die Kündigung          Ein Blick nach Deutschland zeigt, dass brutale Rauswürfe
erhielt, brach für ihn eine Welt zusammen. Nach vierzig Jahren         bei besonders verletzlichen Menschen nicht so einfach möglich
in der gleichen Wohnung in Bern sollte er plötzlich ausziehen.         sind wie bei uns. Das deutsche Mietrecht kennt eine Sozial-
Die Aufregung, das Mieterstreckungsverfahren und die Schika-           klausel. Bei Vorliegen einer unzumutbaren Härte kann das Ge-
nen des Vermieters ertrug der gesundheitlich geschwächte               richt eine Kündigung aufheben. Dabei fallen hohes Alter,
Senior nicht. Seine Familie schrieb in der Todesanzeige: «Einen        Behinderung oder Krankheit und Gebrechen als wichtige Momen-
alten Baum zu versetzen bedeutet, ihn zu entwurzeln.»                  te ins Gewicht. Die Gerichte müssen dann abwägen, was vor-
    Albert Kiechler war 94, als er den blauen Brief erhielt. 47 Jah-   geht: das Interesse des Mieters oder des Vermieters. Diese
re hatte er in seiner Basler Wohnung gewohnt. Sie war sein             «Kündigungsbremse» wirkt präventiv und hat schon manches
«Paradiesli», wie er sagte. Innert drei Monaten sollte er sie ver-     grosse Leid verhindert. Auch die Schweiz braucht eine sol-
lassen. Da ging es ihm so schlecht, dass er vorübergehend in           che Bremse. Sonst kann der Wohnungsmarkt weiterhin unter
die Psychiatrische Klinik musste. Jetzt wohnt er zwangsweise in        Umständen sogar tödlich sein, wie das Beispiel von Fred
einem Altersheim. Obwohl er noch zwäg ist, eigenständig                Lauper zeigt.
leben und für sich sorgen kann.
    Zwei Beispiele, über die M+W berichtete. Zwei Beispiele,
welche die grosse Not von älteren und betagten Menschen
zeigen, wenn sie aus ihrer heimischen Umgebung vertrieben
werden. Denn für Senioren zählen nicht nur die vertrauten vier
Wände. Besonders wichtig ist auch das soziale Umfeld, das sie

   Unser Wohnungsmarkt kann tödlich sein.
trägt: Nachbarn, die aushelfen, Bekannte, die zu Besuch kom-
men, Freunde, die man um Rat fragen kann. Die leichtfer-
tige Vertreibung von Seniorinnen und Senioren aus ihrem an-
gestammten Lebensumfeld, meist aus reinen Renditegründen,
ist einer der grossen Skandale der Schweiz. Weil so alltäglich,
wird er gar nicht mehr wahrgenommen. Die Opfer wissen sich       «Vielen Dank für das Verständnis»: Kündigungen sind Hiobs-
oft kaum zu wehren.                                              botschaften, manchmal verpackt in schöne Worte.
    Carlo Sommaruga wollte das ändern. Der SMV-Präsident
und Nationalrat aus Genf verlangt mehr Schutz für ältere Men-
schen auf dem Wohnungsmarkt. Seine Idee: «Wenn ein Miet-
vertrag mit einem älteren Menschen gekündigt wird, muss die
Kündigung auf einem wichtigen Grund basieren, und der
Vermieter muss eine Lösung für eine neue Wohngelegenheit in
unmittelbarer Nähe und zu ähnlichen Mietbedingungen vor-
schlagen.» Doch der Nationalrat lehnte Sommarugas parlamenta-
rische Initiative Ende September mit 123 gegen 52 Stimmen
ab. Nur Rot-Grün stimmte dafür. Die Diskussion war kurz, es
gab keine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Problem.
Ja, es schien, als würde es nicht einmal als Problem anerkannt.
Man könnte auch sagen, der Vorstoss wurde abserviert.
    Der Haupteinwand der Gegner war, dass ein besserer Kün-
digungsschutz für Ältere faktisch zu einem «Kündigungsverbot»
und zu einem «ewigen Mietanspruch» führe. Das sei «gravie-
rend» für die Vermieter, tönte zum Beispiel Hauseigentümer-
Präsident Hans Egloff (SVP). Wie gravierend eine Kündigung für
Betroffene im vorgerückten Alter sein kann – siehe Beispiele
oben –, war kein Thema. Das ist bezeichnend. Die derzeitige Par-
lamentsmehrheit (SVP, FDP und grossteils CVP) pflegt einsei-
tig die Vermieteroptik. HEV-Chef Egloff behauptete sogar: «Der
Mieterschutz bei Kündigungen ist heute bereits gut ausgebaut.»
Er meinte damit die Möglichkeit, dass Mietende einen blauen
Brief anfechten und eine Erstreckung beantragen können. Das
stimmt. In den allermeisten Fällen müssen die Betroffenen aber
                                                                                                                                       Bild Reto Schlatter

trotzdem raus. Sogar 100-Jährige. Das gibt es sonst nirgends
in Europa. Also ist das Gegenteil wahr: Der Schutz vor Kündigun-
gen ist hierzulande sehr schlecht ausgebaut.

Mieten + Wohnen                    Oktober 2018 Nr. 5                                                                              4
Seiten 3-9 Der verkannte Skandal - Mieterverband
Zürich                             Text von Walter Angst

A-Porta muss über die Bücher
Fast 300 Wohnungskündigungen hat die Stadt-
zürcher A-Porta-Stiftung im Februar und
März 2018 verschickt. Jetzt muss der Stiftungs-
rat über die Bücher.

                                      Als der Beschluss gefasst worden sei, zwei             Die Stiftung scheint gelähmt zu sein von der
                                      Siedlungen der A-Porta-Stiftung abzureissen,       Kritik, die nach dem Versand der Kündigungen
                                      habe er die Mieter zu wenig im Fokus gehabt,       über sie hereingebrochen ist. Besonders bitter
                                      sagt Grossmünster-Pfarrer und A-Porta-             ist das für jene, die auf den guten Willen der Stif-
                                      Stiftungsrat Christoph Sigrist (M+W 4/18).         tung gesetzt und im Frühling auf eine Anfech-
                                      Wie dramatisch die mit den Kündigungen aus-        tung der Kündigung verzichtet haben. Die Frist
                                      gelöste Unsicherheit und wie gross die             für die Wohnungssuche wird immer kürzer.
                                      Empörung ist, war Anfang Oktober im Zürcher        Und eine Etappierung der Neubauvorhaben, mit
                                      Volkshaus mit Händen zu greifen. Der MV            der die Zeit für die Suche nach guten Lösungen
                                      Zürich hatte die betroffenen Mietenden der         verlängert werden könnte, ist nicht in Sicht.
                                      Stiftung zu einer Informationsveranstal-
                                      tung eingeladen. Über 80 sind gekommen.               Ruf steht auf dem Spiel
                                          Nach der Kündigungswelle hat der MV inten-       Die einzig gute Nachricht kommt von der
                                      sive Gespräche mit der Geschäftsleitung und      Schlichtungsbehörde. Diese hat am 4. Oktober
                                      dem Stiftungsrat geführt. Das Ergebnis ist nicht diverse Einsprachen gegen die Kündigungen
                                      zufriedenstellend. Am 1. September ist zwar      an der Egli-/Hohlstrasse behandelt. A-Porta war
                                      das Mieterbüro eröffnet worden. Hilfreich ist    bereit, den Auszugstermin für die Mieter vom
                                      dieses Büro aber nur für ausgewiesene Härtefäl-  30. September 2019 auf den 30. September 2020
   Was A-Porta bauen will             le. Alle anderen Mietenden können nur noch       zu verschieben. Ob die Stiftung allen 200 Mie-
   Die A-Porta-Stiftung hat seit 2007 hoffen, dass ihnen die Verwaltung eine der       tenden der Siedlung eine Verlängerung anbietet,
ein Leitbild für die Entwicklung
ihres Immobilienportfolios bis 2040.
                                      wenigen Wohnungen anbietet, die in den nächs-    war bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe aber
Die Sanierung von drei grossen        ten Monaten in anderen A-Porta-Siedlungen        immer noch unklar.
Siedlungen mit mehr als 800 Woh-      frei werden. Realistischer ist, dass sie auf dem     Fazit: Wenn der gute Ruf von A-Porta nicht
nungen ist 2017 abgeschlossen         privaten Markt eine Wohnung mieten, mit          dauerhaft beschädigt werden soll, muss der Stif-
worden. Aktuell in Planung oder vor einer Verdreifachung ihrer Miete rechnen oder      tungsrat über die Bücher. Seine Mitglieder
der Realisierung sind Ersatzneu-      aus Zürich wegziehen müssen. Das Verspre-        haben sich bisher vor allem um die Verteilung der
bauten der Siedlungen Egli-/Hohl-
strasse (200 Wohnungen, Kündi-
                                      chen von Pfarrer Sigrist, für alle Betroffenen   Gewinne aus der Vermietung gekümmert. Mit
gungen im Februar 2018 auf Septem- eine gute Lösung zu finden, ist kaum einlösbar.     je zwei Vertretern der Kirche und der Stadt
ber 2019) und an der Rötel-/Korn-                                                      Zürich haben die Hauptbegünstigten der jährli-
hausstrasse (rund 80 Wohnungen,             Intransparent                              chen Vergabungen (1,4 Mio. Franken) im Stif-
Kündigung im Mai 2018 auf März              Wenig wert ist auch das Angebot der Stif-  tungsrat die klare Mehrheit. Vor allem die Vertre-
2020) sowie die Sanierung der Sied- tung, dass die Mietenden ein Vormietrecht          ter der Stadt Zürich, welche die A-Porta-Stif-
lung beim ehemaligen Hardturm-
                                        in den geplanten Ersatzneubauten hätten. Die tung zum erweiterten Kreis der gemeinnützigen
stadion (rund 100 Wohnungen, ob
und wann Kündigungen ausge-             A-Porta-Stiftung hat bis heute keine Angaben   Wohnbauträger zählt, sind in der Pflicht. Der
sprochen werden, ist unklar). Kon-      zu den neuen Wohnungen, den Preisen und        Stadtrat hat ein Vorschlagsrecht für die Wahl des
krete Pläne liegen erst für die Sied-   dem Zeitpunkt des Bezugs gemacht. Das ist ty- Geschäftsleiters. Damit hätte er schon früher
lung Egli-/Hohlstrasse vor. Anstelle pisch für die Informationspolitik der Stiftung:   direkten Einfluss auf die Bewirtschaftung der
der 200 sehr preisgünstigen Klein-      Offenheit und Transparenz scheinen ein         knapp 1400 Wohnungen nehmen können. Und
wohnungen will die Stiftung 150 Woh- Fremdwort zu sein. So wurden den Mietern die er kann dies selbstverständlich auch heute noch.
nungen mit Mieten bis 2400 Fran-
ken und ein privates Pflegeheim erstel-
                                        Pläne für das am 3. Oktober 2018 öffentlich
len. Würde auf das Pflegeheim ver-      aufgelegte Bauprojekt an der Egli-/Hohlstrasse
zichtet, könnten im Neubau 50 Woh- nicht von der Bauherrin, sondern vom Mieter-
nungen mehr gebaut werden.              verband vorgelegt.

Mieten + Wohnen                    Oktober 2018 Nr. 5                                                                                      5
Seiten 3-9 Der verkannte Skandal - Mieterverband
Reportage         Text von Esther Banz
Bild Reto Schlatter

                      Mieten + Wohnen   Oktober 2018 Nr. 5                                                                                    6
                                                     Margrit Steindorfer (84) stellte viele Fragen, erhielt aber nur abschlägige Antworten.
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Einfach in die Ecke gestellt
                            Swiss Life reisst in Regensdorf eine ganze
                                 Wohnsiedlung ab. Zahlreichen
                             älteren Menschen droht der Rauswurf.
                                 Nun erzählen die Betroffenen.

Es ist noch früh am Morgen, als die neun-vermieter. Seit September fällt er mit         heute mehrheitlich online ausgeschrie-
                                         seiner omnipräsenten Markenkampagne
zigjährige Elvira Rolli das Haus verlässt,                                              ben. Doch viele ältere Menschen
                                         auf: «Retos Life», «Evas Life», «Lauras
in dem sie seit 62 Jahren lebt. Sie stützt                                              haben zuhause keinen Computer. Meist
sich auf einen Stock, geht zügig voran.  Life» usw. Mit den 350 beliebtesten Vor-       muss man sich schnell bewerben und
Und so wird sie in der nächsten Stunde   namen wirbt er für ein gutes Leben             entscheiden – auch da scheitern sie. Mit
auch sprechen: klar und kraftvoll. Ihre  im Alter. Die Botschaft lautet: «Wir un-       ihrem Bedürfnis nach einer günstigen
Bewegungen und ihre Worte zur Begrüs-    terstützen unsere Kunden, damit sie            Wohnung stehen sie in Konkurrenz zu un-
sung lassen aber auch erahnen, dass etwasein längeres Leben selbstbestimmt und          zähligen anderen Wohnungssuchenden.
                                         mit Zuversicht führen können.»
sie tief verletzt hat. Sie wirkt aufgewühlt.                                            Die Nachfrage übersteigt das Angebot bei
Und sie ist nicht die einzige in dieser Sied-In Regensdorf ist Swiss Life aber ge-      weitem. Auch in Regensdorf, das mit
lung an der Riedthofstrasse 54 bis 92    rade dabei, älteren Menschen jede Zuver-       dem öffentlichen Verkehr gut angebunden
in Regensdorf ZH, der es so ergeht. Neun sicht für eine selbstbestimmte Zukunft zu      ist und wo es noch Platz zum Bauen und
Menschen zwischen 80 und 90 und zwei     nehmen. Insgesamt sind 84 Wohnungen            Verdichten gibt.
um die 60 Jahre kommen an diesem         mit weit über hundert Personen vom Ab-
Morgen im Trocknungsraum zusammen        riss betroffen. Spätestens in neun Mo-            Europaallee für Regensdorf
und setzen sich auf ihre mitgebrachten   naten sollen die Wohnungen geräumt                 Hier ist alles im Umbruch. Man sieht
Campingstühle und Küchenhocker.          sein. Das Kündigungsschreiben ging             es von blossem Auge, auch rund um
                                         bei Elvira Rolli, wie auch bei allen andern,   die Siedlung an der Riedthofstrasse, von
    Ein gutes Leben im Alter             am 27. Juni ein. «Der Pöstler wusste, was      wo aus der Bahnhof Regensdorf-Watt
    Das Mehrfamilienhaus und alle weite- los war», erzählt sie. Dann erhebt sie         in wenigen Gehminuten zu erreichen ist.
ren der Siedlung gehören Swiss Life. Der sich langsam von ihrem Campingstuhl            Nördlich des Bahnhofs entsteht auf
Versicherer ist vielen noch unter dem    und verabschiedet sich: «Es tut mir            einem ehemaligen, 21,5 Hektaren grossen
Namen Rentenanstalt bekannt. Heute ist leid, ich habe einen Arzttermin. Ich will        Industriegebiet in Anlehnung an die
er keine Genossenschaft mehr, sondern    nur noch sagen: Es tut mir weh, hier           Europaallee in Zürich die «Regensdorf-
ein international operierender, rendite- ausziehen zu müssen.»                          Allee». Sie soll dereinst gemischt genutzt
getriebener Finanzkonzern und der gröss-     Wie schwierig es für ältere Menschen       werden. Die Planung ist in vollem Gang.
te Player im schweizerischen Vorsorge-   im städtischen Umfeld ist, eine bezahl-        Erste Visualisierungen dieser Regensdorf-
geschäft. Ausserdem ist er mit mehreren  bare Wohnung zu finden, thematisierte          Allee und der geplanten Neuüberbauung
zehntausend Wohnungen auch ein Gross- M+W schon oft. Wohnungen werden                   an der Riedthofstrasse lassen erahnen,

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Bilder Reto Schlatter

                        Was sollen sie jetzt tun? Vom Rauswurf bedrohte ältere Menschen in Regensdorf beraten gemeinsam ihr Vorgehen.

                        dass hier Wohnungen stehen werden, die          nehmen können. Tatsächlich seien dann         behandelt, wenn eine Wohnung frei wird?
                        viel teurer sind als die bisherigen.            nur wenige Jüngere gekommen, berich-          Wieder: Nein. Es hiess, wir könnten ja
                            Die jetzige, noch gut erhaltene Sied-       tet die 65-jährige Anna Groshans: «Sie        allenfalls woanders hinziehen und wieder
                        lung ist eine jener Überbauungen mit ein-       dachten wohl, dass sie nicht gross mit un-    zurückkommen. Auf die Frage, wie
                        fachen, kleinen Wohnungen, wo noch              bequemen Fragen konfrontiert werden,          teuer die neuen Wohnungen sein würden,
                        drei Zimmer für unter 1500 Franken zu fin-      wenn nur wir Älteren kommen. Aber             sagten sie: keine Ahnung.» Als ob das
                        den sind. Sie verschwinden derzeit ra-          da täuschten sie sich.» Margrit Steindor-     alles nicht schon entmutigend und ent-
                        sant. Und ersatzlos. Das ist gerade in einer    fer (84) nickt und erzählt: «Ich fragte:      würdigend genug wäre, setzte ein Swiss-
                        Gemeinde wie Regensdorf verhängnis-             Was passiert, wenn wir nach Ablauf der        Life-Mitarbeiter gegen Ende der Veran-
                        voll. Dort gibt es keinen kommunalen Woh-       zwölfmonatigen Kündigungsfrist nichts         staltung dem Ganzen noch die Krone auf.
                        nungsbau und auch kaum aktive Wohn-             gefunden haben? Der Vertreter von Swiss       Nach übereinstimmenden Aussagen soll
                        baugenossenschaften. Nicht einmal Alters-       Life antwortete nicht. Er sprach dann         er auf die Frage, was Swiss Life tun werde,
                        wohnungen besitzt die Gemeinde. Ein             einfach über etwas anderes.»                  wenn die Gekündigten am Tag X immer
                        Altersheim zwar schon, sagt Gemeindeprä-                                                      noch keine Lösung hätten, drohend geant-
                        sident Max Walter (SVP). Aber dieses be-               Dreimal Nein                           wortet haben: «Dann haben wir das Recht
                        trachte man als Auslaufmodell: «Wir sind            Alle, die an diesem Morgen im             auf eine Zwangsausweisung.»
                        dafür, dass die Leute möglichst lange           Trocknungsraum sitzen, schütteln vehe-            Die Kommunikationsabteilung von
                        in ihren Wohnungen bleiben.» Wenn sie           ment den Kopf, als M+W sie fragt, ob          Swiss Life dementiert dies gegenüber
                        denn können.                                    sie sich von Swiss Life ernst genommen        M+W und bedauert allfällige Missver-
                            Swiss Life veranstaltete wenige Tage,       fühlen. Anna Groshans: «Wie auch? Als         ständnisse. Bezüglich der für ältere Men-
                        nachdem sie allen Mieterinnen und               wir wissen wollten, ob sie uns bei der        schen knappen Kündigungsfrist schreibt
                        Mietern das Kündigungsschreiben ge-             Wohnungssuche unterstützen werden,            Mediensprecherin Tatjana Stamm:
                        schickt hatte, eine Informationsveranstal-      kam ein kategorisches Nein. Auch auf          «Wir gehen davon aus, dass in den meis-
                        tung «mit anschliessendem Apéro».               die Frage, ob uns Swiss Life oder ihre Ver-   ten Fällen innert diesem Jahr eine pas-
                        Der Anlass wurde an einem normalen              waltung Livit informieren werde, wenn         sende Wohnung gefunden werden kann.»
                        Wochentag auf 16 Uhr anberaumt – eine           eine Wohnung frei werde, hiess es: Nein.      Ein Mieterbüro habe man deshalb
                        Zeit, zu der Erwerbstätige kaum teil-           Ich fragte ferner: Werden wir bevorzugt       nicht eingerichtet, weil man davon ausge-

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Sie erzählten M+W, wie sie eine Versammlung erlebten, in der ihnen der Finanzkonzern Swiss Life den baldigen Abriss ihrer
Wohnungen ankündigte: (v.l.n.r.) Elvira Rolli, Bruno Steindorfer, Berta Steger, Anna Groshans, Adele Tobler und Fritz Itschner.

gangen sei, dass ein Grossteil der Mieter       dort nachfragen, was gerade frei sei,        geplanten, neuen Überbauung an der
innert nützlicher Frist eine geeignete Woh-     heisst es.                                   Riedthofstrasse. Oder sie zogen hierher
nung finde. «Falls vor Ablauf der Kün-             Swiss Life verweist ferner auf Unter-     und liessen sich von den Vertretern
digungsfrist einzelne Mieter noch keine         stützungsleistungen, die in solchen Fällen   überzeugen, bei ihnen auch gleich eine
Wohnung gefunden haben, unterstüt-              jedoch selbstverständlich sein sollten.      Versicherung abzuschliessen. So oder so
zen wir diese im Rahmen unserer Mög-            Etwa, dass der Vermieter ein positives Em-   finanzierten sie mit ihrer Miete während
lichkeiten.» Das hören die Gekündig-            pfehlungsschreiben ausstellt. Oder dass      Jahrzehnten die eigene Rente mit –
ten so zum ersten Mal. Mit Hilfe des MV         die Kündigungsfrist von drei Monaten         und natürlich auch die üppigen Gewinne
Zürich hat ein Teil von ihnen die Kün-          auf ein Jahr verlängert wird. Im Nachgang    der Konzerns. Swiss Life erzielte letztes
digung angefochten. Es kommt somit zu           widerspricht die Sprecherin von Swiss        Jahr einen Reingewinn von über eine Mil-
einem Verfahren.                                Life den Aussagen, die ihr Mitarbeiter bei   liarde Franken. Am Schluss zerstört
    Swiss Life wirbt in ihrer aktuellen Kam-    der Informationsveranstaltung gemacht        der Versicherer genau das, was er seinen
pagne damit, Menschen darin zu unter-           hatte: Die gekündigten Mieter würden, so     Kunden vollmundig verspricht: Zu-
stützen, ein selbstbestimmtes Leben mit         versichert sie nun, bei frei werdenden       versicht und ein selbstbestimmtes Leben.
Zuversicht führen zu können. In Regens-         Wohnungen im Besitz der Swiss Life «sehr
dorf passiert genau das Gegenteil. Ob-          wohl bevorzugt» behandelt.
wohl der Konzern 600 Wohnungen im
Grossraum Glattal/Furttal besitzt, macht               Betroffene sind auch Kunden
er sich nicht die Mühe abzuklären, wie              Was die Immobilienleute von Swiss
weit dort Menschen untergebracht wer-           Life vielleicht nicht wissen: Viele der
den können, die aus Regensdorf weg-             Betroffenen sind auch ihre Kunden. Diese
ziehen müssen. Swiss Life erwartet, dass        fühlen sich jetzt, wie es Margrit Stein-
sich die Betroffenen selber melden. Aber        dorfer ausdrückt, «wie ein altes Paar Schu-
wie sollen 85-Jährige zeitnah erfahren,         he in die Ecke gestellt». Manche haben
dass eine Wohnung frei wird, wenn diese         in jungen Jahren bei der früheren Renten-
nur online ausgeschrieben sind? Man             anstalt eine Lebensversicherung abge-       Zynisch: So wirbt Swiss Life für ein gutes
könne sich direkt an Livit wenden und           schlossen und erfuhren so von der damals Leben im Alter.

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Basel                           Text von Ralph Hug

                      Nach dem spektakulären Erfolg an der
                      Urne soll in Basel bald Schluss sein
                      mit Abbrüchen und Rendite-Kündigun-
                      gen. Der MV macht Druck.

                      Jetzt muss die
                      Wohnwende kommen!

                      Der Moment des Sieges: Am 10. Juni sagten die Basler Stimmberechtigen Ja zu einer grundlegenden Wohnwende.
Bild Dominik Spirgi

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Seit dem 10. Juni steht in der Basler Verfassung folgender Satz:     10. Juni ebenfalls angenommen wurde. Voraussichtlich ab No-
«Der Kanton sorgt dafür, dass die Bevölkerung vor Verdrän-           vember werden die Basler Vermieter bei Neuvermietungen
gung durch Kündigung und Mietzinserhöhungen wirksam ge-              auf einem Formular die Vormiete angeben müssen. Das bringt
schützt wird.» Kein anderer Kanton in der Deutschschweiz             mehr Transparenz. Und die Gerichte dürfen künftig keine
kennt eine solche Pflicht. Was die Basler Stimmberechtigten gut-     hohen Prozessgebühren mehr erheben. Auch dies hiess das
geheissen haben, ist ein Novum. Jetzt soll diese neue Schutz-        Stimmvolk gut. Die Honorarrisiken durch Gegenanwälte
norm auch umgesetzt werden. Detaillierte Vorschläge dazu lie-        fallen weg. Zwei wichtige Reformen, die das Los der Basler Mie-
fert der MV Basel gleich selbst. «Wir wollen ein neues Wohn-         terschaft klar verbessern.
schutzgesetz», sagt Co-Leiter Beat Leuthardt, «und wir wollen            Der Mieterschutz speziell für Ältere braucht hingegen mehr
es sofort!» Der MV hatte drei der vier erfolgreichen Volksini-       Zeit. Es gibt in der Schweiz keine gesetzliche Sozialpflicht
tiativen lanciert.                                                   bei Kündigungen (ebenso wenig wie bei Entlassungen). Eine
                                                                     solche müsste nun beispielsweise im Bewilligungsverfahren bei
    Die Wohnwende                                                    Sanierungen verankert werden. Oder anders gesagt: Wer rück-
    Das Ja der Stimmberechtigten bedeutet eine kopernikanische sichtslos auf dem Buckel der Mietenden und nur wegen der Rendi-
Wende in der Basler Wohnpolitik. Die Stadt muss umdenken.            te saniert, erhält keine Bewilligung für den Umbau oder den
Künftig soll Schluss sein mit der Schleifung von Altbauten und       Abbruch. Der MV wendet sich auch gegen maximale Verdichtun-
mit dem Rausschmiss von Mieterinnen und Mietern nur we-              gen: «Solche dürfen nicht länger die oberste Direktive der
gen überrissenen, renditegetriebenen Sanierungen. Leuthardt          Stadtentwicklung sein», mahnt Beat Leuthardt an. Denn sie füh-
fordert, dass künftig der Erhalt von günstigen Wohnungen,            ren regelmässig zu Verdrängungen. Leuthardt fordert eine so-
sanfte und schonende Renovationen sowie der Bau von bezahl- ziale Neuausrichtung des ganzen Basler Wohnungsmarktes. Die
baren Wohnungen durch gemeinnützige Genossenschaften                 Stadt ist sozusagen über Nacht ein spannender Pionierfall
im Vordergrund stehen müssen. Er weiss auch, welche Mittel da- geworden – wegweisend auch für andere Regionen, wo der Un-
zu nötig sind: «Wie brauchen eine Bewilligungspflicht bei Ab-        mut über den fehlenden Mieterschutz ebenfalls wächst.
brüchen und Umbauten sowie eine Mietzinskontrolle.» Impulse
dafür bezog Leuthardt aus der Westschweiz. Die Kantone Genf
und Waadt kennen solche Schutzinstrumente seit langem, sie
sind keineswegs neu. Nicht einmal für Basel selbst: Bis vor weni-
gen Jahren gab es ein Abbruchschutzgesetz, das allerdings            Basel reisst ab, aber wie lange noch? Auch die Warteck-Liegen-
kaum vollzogen wurde. Und Mietzinskontrollen existierten in          schaft muss weichen.
früheren Jahrzehnten während Krisenzeiten sogar landesweit.
Nur kann sich niemand mehr daran erinnern.
    Jetzt blickt die ganze Schweiz nach Basel. Was sich dort
abspielt, ist von allgemeinem Interesse. Nach dem Überra-
schungssieg an der Urne steht die Umsetzung des Volkswillens
an. Noch hat sich die Hauseigentümer- und Immobilien-
lobby vom Schock vom 10. Juni nicht erholt. Sie glaubt, weiter-
machen zu können wie bisher. Doch das wäre gegen das klare
Volksverdikt. Auch die Basler Pensionskasse muss ihre Strategie
ändern. Gerade ihr unzimperliches Vorgehen gegen ältere
Mietende an der Mühlhauserstrasse, die sie wegen einer Erneue-
rung auf die Strasse setzen wollte, rief viel Empörung hervor.
Auch das verhalf den Initiativen mit zum Sieg. Beim MV ist man
auf viel Widerstand gefasst: «Die Immobilienlobby wird ver-
suchen, ihre Interessen zu retten und die Umsetzung der neuen
Bestimmungen abzuschwächen», sagt MV-Leiterin Patrizia
Bernasconi. Daher verlangte sie schon mal, dass in der kantona-
len Arbeitsgruppe, die für die Regierung Vorschläge für die
Wohnwende ausarbeiten muss, keine «befangenen» Leute sitzen
– also solche, die für die alte, bisher praktizierte Politik zustän-
dig waren.

   «Maximalforderungen»?
     Bereits wird der MV von bürgerlicher Seite gescholten, er sei
ungeduldig und stelle «Maximalforderungen». Dabei macht
er nur Druck gegen die zu erwartende Verschleppung und Tröde-
                                                                                                                                       Bild Franziska Stier

lei. Die Verfassung gilt schliesslich ab sofort und nicht erst
in zehn Jahren. Am Schnellsten, weil administrativ einfach, geht
die Einführung der Transparenzpflicht bei den Mieten, die am

Mieten + Wohnen                   Oktober 2018 Nr. 5                                                                              11
Geschichte                       Text von Ralph Hug

Vor hundert Jahren kam es zum bisher einzigen Landesstreik
in der Schweiz. Zu seinen Ursachen zählte auch die akute Wohnkrise.

            Vier Matratzen pro Zimmer

Diese drei Tage veränderten die Schweiz:       Geld für die Miete knapp oder fehlte ganz.   übliche Miete. In Olten lebte eine 4köp-
Vom 11. bis 14. November 1918 legten           Es kam zu Kündigungen, ganzen Fami-          fige Arbeiterfamilie zusammenge-
250'000 Werktätige aus Protest gegen die       lien drohte Obdachlosigkeit. Wegen der       pfercht in einem einzigen, kleinen Raum,
allgemeine Misere die Arbeit nieder.           kriegsbedingten Inflation explodier-         im verstopften Abort fehlte die Spü-
Das Militär beendete den Streik, der in        ten die Mieten. Profiteure strichen hohe     lung. Städte wie Zürich oder Basel muss-
einen Bürgerkrieg auszuarten drohte.           Gewinne ein, selbst für Bruchbuden           ten notleidende Familien jahrelang in
Die vermeintliche Niederlage entpuppte         und feuchte Zimmer ohne Licht. In den        Schulhäusern oder Hotels einquartieren.
sich für die Protestierenden im Nach-                                                       Auch stellten sie schnell Notbaracken
hinein jedoch als Sieg. Reformen wie der              Dreiviertel des Einkommens            auf. Berechnungen in Winterthur zeigten,
Achtstunden-Tag oder das Proporzwahl-                 ging für Miete und Essen drauf.       dass eine Frau, deren Mann Militär-
recht, das die bürgerliche Dominanz im                                                      dienst leistete, 36% des Einkommens für
Parlament beendete, brachten klare             Städten herrschte Wohnungsmangel,            Miete, Kochgas und Petrol aufwenden
Fortschritte. Andere Sozialreformen wie        weil man es versäumt hatte, rechtzeitig      musste. Dreiviertel der Einkünfte gingen
die AHV oder das Frauenstimmrecht              günstige Wohnungen zu bauen. Der             allein für Miete und Nahrung drauf.
liessen länger auf sich warten. Die Histo-     Bundesrat wollte nicht eingreifen. Er ver-   Auch die Lebensmittel waren knapp. Vie-
rikerinnen und Historiker sind sich            traute blind dem Markt, obwohl dieser        le Mietende waren Dauergast in den
einig: Dieser Streik war ein Schlüssel-        offenkundig nicht mehr funktionierte.        Suppenküchen, wo sie sich billig verpfle-
ereignis der modernen Schweiz.                 Ein staatlicher Wohnbau existierte nicht.    gen konnten. 1917 rationierte der Bun-
    Bisher wenig beachtet wurde, dass die          Teils waren die Verhältnisse krass.      desrat die Kohle. In den Brennstoff-Zen-
Wohnkrise in den Städten eine wichtige         In Zürich-Aussersihl teilten Vermieter       tralen gab es für Notstandsberechtigte
Ursache der damaligen Unrast war. Viele        Vierzimmerwohnungen auf, legten in die       verbilligtes Heizmaterial – wenn es denn
Mietende gerieten nach Kriegsausbruch          Räume drei bis vier Matratzen mit            überhaupt welches hatte. Oft war zu-
1914 in Not. Die Männer, die Militär-          Wolldecken und vermieteten die Woh-          hause Frieren angesagt.
dienst leisteten, erhielten damals noch        nung an bis zu 20 «Schlafgänger» gleich-         So wie skrupellose Unternehmer
keinen Erwerbsersatz. So wurde das             zeitig. Dies brachten mehr ein als eine      durch Exporte in die kriegführenden

Mieten + Wohnen                  Oktober 2018 Nr. 5                                                                                12
Bild Sozialarchiv
Feucht, eng, dunkel: Die schlechten Wohnverhältnisse für die einfachen Leute in den Städten waren in der Zeit des Ersten Weltkriegs
mit ein Grund für den Ausbruch des Landesstreiks.

Länder über Nacht reich wurden und             Gemeinnützigen in den 1930er-Jahren als
Aktionäre Superdividenden einkassierten,       wichtige Player etablierten. Die Immo-
so strichen manche Grundbesitzer Ex-           bilienlobby sorgte dafür, dass der kommu-
traprofite ein. Der Bundesrat geriet unter     nale Wohnungsbau meist nur als Not-
Druck. Um die ärgsten Missstände zu            standsmassnahme überlebte. Das Oltener
bekämpfen, machte er den Weg für Mie-          Aktionskomitee unter Robert Grimm
terschutzkommissionen frei. Diese konn-        hatte es verpasst, das bezahlbare Wohnen
ten überhöhte Mieten kassieren und             in seinen berühmten Forderungskatalog
herabsetzen. Erstmals war ein staatliches      aufzunehmen. Ohne diesen Fehler
System von Mietzinskontrollen reali-           wäre die schweizerische Geschichte im
siert. Was heute unvorstellbar klingt, war     20. Jahrhundert womöglich anders
zu jener Zeit Realität. Diese Gremien          verlaufen.
hatten alle Hände voll zu tun. Die Kom-                       Quelle: Roman Rossfeld, Chris-
mission in Winterthur hatte von 1917                          tian Koller, Brigitte Studer (Hg.):
                                                              Der Landesstreik. Die Schweiz im
bis 1920 insgesamt 857 Fälle zu beurtei-                      November 1918. Verlag Hier und
len. Für Bedürftige musste die Stadt                          Jetzt, Baden 2018, CHF 49.–
bei genehmigten Mietzinserhöhungen
teils auch den Mehrzins übernehmen.
    In Zürich und Basel dämmerte in den
Jahren um den Generalstreik die Ein-
sicht, dass der genossenschaftliche Woh-
nungsbau einen Ausweg aus der aku-
ten Krise bietet. Nur in Zürich jedoch ge-
lang es dank der Förderpolitik der
«roten» Stadtregierung, dass sich die

Mieten + Wohnen                  Oktober 2018 Nr. 5                                                                               13
SMV                 Text von Carlo Sommaruga, Präsident SMV

Vorwärts!                         Vor kurzem wurden alle Sektionen des
                                  SMV zur ersten Sektionskonferenz
                                  eingeladen. Eine grosse Neuerung in
                                                                              stärken, sondern sie erleichtern auch die
                                                                              Arbeit des Sekretariats während der
                                                                              Kampagnen. Verschiedene Sektionen ha-
                                  unserem Verbandsleben. Und ein weiterer     ben entschieden, dem Dachverband
Der Schweizerische Mieter-        Schritt auf dem Weg zur Stärkung            zusätzliche finanzielle Mittel zukommen
innen- und Mieterverband          unserer nationalen Strukturen. Der Weg      zu lassen, dies gemäss den Entschei-
                                  dahin war weit. Bis 2010 war unsere         dungen unserer Delegiertenversammlung
SMV stärkt seine Organi-          Bewegung durch starke regionale Ver-        vor drei Jahren. Das ist ein bemerkens-
sation.                           bände geprägt. Die Generalversammlung       werter Schritt, der das grosse Vertrauen
                                  des Dachverbands zählte 16 Personen.        innerhalb der Mieterbewegung dokumen-
                                  Eine solche Struktur konnte keine wirkli-   tiert und der vor wenigen Jahren noch
                                  chen Impulse für die Weiterentwick-         kaum denkbar gewesen wäre. Wir können
                                  lung geben. Ihr mangelte es auch an einer   nun kräftig, aber wohlüberlegt aus un-
                                  gewissen Legitimität. Nach starken          serer Kriegskasse schöpfen, falls dies Ent-
                                  inneren Spannungen, die durch eine Miet-    scheidungen des Parlaments nötig
                                  rechtsrevision noch unter dem Regime        machen.
                                  von Bundesrätin Doris Leuthard ausgelöst        Ein weiteres Zeichen der Reife unserer
                                  wurden, hat unsere Bewegung ent-            Bewegung ist der Vorschlag, einen Soli-
                                  schieden, die eigenen Strukturen und        daritätsfonds zu schaffen, mit dem die
                                  Funktionen zu überdenken.                   stärkeren Sektionen die schwächeren un-
                                     Seit 2011 kann der Dachverband auf       terstützen können. Wir werden diese
                                  ein Führungsgremium von 15 Personen         grosszügige Idee an unserer nächsten De-
                                  zählen, die alle Sprachregionen und auch    legiertenversammlung diskutieren.
                                  die grossen Sektionen mit ihren unter-
                                  schiedlichen Profilen abdecken. Die

                                         Die Mieterbewegung hat einen
                                         weiten Weg zurückgelegt.
                                  Delegiertenversammlung zählt an die 150
                                  Mitglieder. Dies verleiht den Entschei-
                                  den wie etwa zur Volksinitiative «Mehr be-
                                  zahlbare Wohnungen» eine breite de-
                                  mokratische Basis. Eine repräsentativ zu-
                                  sammengesetzte Führung gibt den            Die Mieterbewegung macht sich organi-
                                  nationalen Entscheiden auch einen kräfti- satorisch fit für den politischen Kampf um
                                  gen Schub in den Sektionen selber.         bezahlbare Wohnungen.
                                  Und jetzt wird unsere Bewegung auch
                                  durch ein professionelles Sekretariat
                                  geführt.
                                      Die Sektionskonferenz befasst sich
                                  mit organisatorischen Fragen und nimmt
                                  dabei die Erfahrungen auf, die in den
                                  Sektionen gemacht werden. Als Instru-
                                  ment trägt sie dazu bei, unser Funktionie-
                                  ren auf der nationalen Ebene zu har-
                                  monisieren und zu verbessern. Sie ist aber
                                  auch ein Ort des Austauschs, wo Sen-
                                  sibilisierungskampagnen oder politische
                                  Kampagnen rund ums Wohnen und
                                  das Mietrecht besprochen werden. Hier
                                  werden künftig die Strategien für die
                                  Abstimmungskampagne zu unserer
                                  Wohninitiative oder auch zu allfälligen
                                  Referenden gegen mieterfeindliche
                                  Beschlüsse des Parlaments debattiert.
                                      Diese organisatorischen Neuerungen
                                                                                                                            Bild SMV

                                  werden nicht nur den Dachverband

Mieten + Wohnen     Oktober 2018 Nr. 5                                                                                 14
MV Bern                           Text von Ralph Hug

Seit gut hundert Jahren gibt                    1899 taten sich erstmals Engagierte in
                                                Bern zusammen, um einen «Mieter-Ring»
es den Mieterinnen- und                         zu gründen. Er sollte gegen Wohnungs-
Mieterverband Bern. Er hat                      not, überrissene Mieten und schlechte
eine bewegte Geschichte.                        Wohnverhältnisse ankämpfen. Bern litt
                                                wie andere Städte in jener Zeit unter einer
                                                akuten Wohnkrise. Die Aktion war er-

100 Jahre                                       folgreich. Bald hatte der im Café Merz ge-
                                                gründete Verein hundert Mitglieder.
                                                Sogleich mischte er sich auch mit einer

Kampf                                           Volksinitiative in die Politik ein: Man
                                                forderte den Bau einer Siedlung mit Woh-
                                                nungen mit «mässigen Preisen» auf
                                                dem stadteigenen Spitalacker-Areal. Lei-
                                                der ging der Abstimmungskampf im Jahr
                                                1900 verloren. Die Gegner, darunter
                                                die Stadt, Hausbesitzer und die Gewerbe-
                                                verbände, sagten, das sei zu teuer.         Kampf war immer: Die neue, 30-seitige Fest-
                                                    Darauf schlief der Mieterverein ein.    schrift des MV Bern klärt über die Geschichte
                                                                                            des Verbands auf. Sie kann kostenlos auf
                                                Erst 1918, nach dem Ersten Weltkrieg,       der Geschäftsstelle des MV Bern und Umge-
                                                als die Wohnungsnot noch drücken-           bung bezogen werden: mv@mvbern.ch,
                                                der war, auferstand er im Café Des Alpes. Tel. 031 378 21 21.
                                                Diesmal als «Mieterschutzverband der
                                                Stadt Bern und Umgebung». Er konnte so-
                                                gar ein Sekretariat im Nordquartier ein-
                                                richten. Präsident Roth warnte: «Immer      Behörde. Bald zählte der Mieterinnen-
                                                sicherer treiben wir der Wohnungs-          und Mieterverband zu den festen Einrich-
                                                                                            tungen in der Bundesstadt. 1978 konnte
                                                    «Wir treiben der Wohnungs-              er ein eigenes Mitteilungsblatt heraus-
                                                    katastrophe entgegen.»                  geben. Als graue Eminenz und Herz des
                                                                                            Verbands amtete zu jener Zeit Guido
                                                katastrophe entgegen.» Denn ein grosses Rieder. Zur Professionalisierung gehörte
                                                Problem war damals die Obdachlosigkeit. schliesslich der Umzug in eigene Räume
                                                Wie andere Städte auch musste Bern          an der Monbijoustrasse. Und im Kanton
                                                Baracken aufstellen und Familien vor-       entstanden weitere Sektionen. Noch ist
                                                übergehend in Schulhäusern einquar-         die Geschichte des MV Bern nicht zur
                                                tieren. Der Druck des MV trug dazu bei,     Gänze aufgearbeitet. Aber ein erster wich-
                                                dass die Stadt handelte. So forderte        tiger Schritt ist getan, mit der nun vor-
                                                der MV ein Umwandlungsverbot von            liegenden Jubiläumsschrift mit dem Titel
                                                Wohnungen in Geschäftsräume sowie           «Hier kann nur noch ein Zusammen-
                                                eine Festsetzung der Mieten durch die       schluss der Mieter helfen».

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                                                                          tatkräftige Arbeitshilfen
                  Für Nichtmitglieder und Mietende, die es eilig
                  haben.                                                  beim Wohnungswechsel,
                  Auf der Hotline beantworten FachjuristInnen Ihre        beim Putzen, bei Räumungen,
                  mietrechtlichen Fragen.                                 im Garten etc.
                  Werktags 9 bis 12.30 h, montags bis 15 h
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                  Legen Sie vor dem Anruf allfällige Unterlagen           Dietikon   044 774 54 86     Thalwil   044 721 01 22
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Mieten + Wohnen                   Oktober 2018 Nr. 5                                                                                   15
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Mieten + Wohnen                                    Oktober 2018 Nr. 5                                                                         16
Hotline

                       Muss ich auf die Kann ich die Miete
                       Abgabe warten? anfechten?
                            Frage                                  Frage                             Mietzins mit einem amtlichen
                            Mitte November beginnt mein            Ich bin Mieterin und habe vor     Formular mitteilen. Die Formu-
                        einjähriges Sozialpraktikum            zwei Monaten in Zürich eine           larpflicht wurde eingeführt,
                        in Ecuador. Ich kündigte deshalb       neue Wohnung bezogen. Meine           weil im Kanton Zürich Woh-
Fabian Gloor
beantwortet Ihre Fragen
                        ordentlich und fristgerecht meine      Nachbarin hat mir kürzlich gesagt,    nungsknappheit herrscht. Sie
                        Wohnung auf Ende November              dass mir der Vermieter beim Ab-       müssen deshalb keine per-
                        und teilte meinem Vermieter gleich-    schluss des Mietvertrags das amtli-   sönliche Notlage oder eine er-
                        zeitig mit, dass ich meine Wohnung     che Formular hätte aushändigen        hebliche Erhöhung des vor-
                        bereits Mitte November abgeben         sollen, auf dem der Mietzins des      herigen Mietzinses nachweisen.
                        möchte. Mein Vermieter wollte aber     Vormieters vermerkt ist. Die Miete        Ihr Vermieter hat Ihnen das
                        davon nichts wissen. Er sei im No-     erscheint mir sehr hoch. Kann         amtliche Formular nicht abge-
                        vember in den Ferien, und ich          ich noch etwas unternehmen und        geben. Der Mietzins gilt deshalb
                        könne die Wohnung deshalb nicht        den Mietzins anfechten?               als nicht gültig vereinbart, und
                        schon vorher zurückgeben. Kann er          Hotline                           Sie sind nicht an die 30tägige
                        einfach mit der Rücknahme der              Ja. Als Neumieterin können Sie    Anfechtungsfrist gebunden. Sie
                        Wohnung zuwarten, bis er erholt        den Anfangsmietzins innert 30         können folglich auch noch
                        aus den Ferien zurückkommt?            Tagen seit der Übernahme              nach zwei Monaten nach der
                            Hotline                            der Wohnung als missbräuchlich        Schlüsselübergabe beantragen,
                            Das könnte Ihrem Vermieter         anfechten. Dies allerdings nur,       dass die Schlichtungsbehörde
                        so passen! Als Vermieter ist er        wenn Sie wegen Wohnungsknapp-         oder das Gericht den Mietzins
                        grundsätzlich verpflichtet, die Woh-   heit oder einer persönlichen          im Zuge der richterlichen
                        nung zu dem Zeitpunkt zurückzu-        Notlage zum Abschluss des Miet-       Lückenfüllung festlegt. Warten
                        nehmen, zu dem Sie sie zurück-         vertrags gezwungen waren oder         Sie jedoch nicht zu lange. Denn
                        geben wollen. Das gilt auch dann,      wenn der Vermieter den Mietzins       sonst kann die Schlichtungs-
                        wenn Sie die Wohnung vorzei-           gegenüber dem Vormieter «er-          behörde oder das Gericht dies
                        tig, also vor Ablauf der ordentli-     heblich» erhöht hat. Im Kanton        unter Umständen als rechts-
                        chen Mietdauer, zurückgeben wol-       Zürich muss der Vermieter             missbräuchlich beurteilen und
                        len. In ganz seltenen Fällen, et-      dem Mieter den zuletzt bezahlten      Ihr Begehren ablehnen.
                        wa wenn die Mieterschaft die Woh-
                        nung zu Unzeiten, z.B. an einem
                        Sonntag oder Feiertag, zurück-
                        geben will oder wenn der Vermie-
                        ter beispielsweise im Ausland
                        wohnt und die Rückgabe für ihn
                        deshalb mit schwerwiegenden
                        Nachteilen verbunden ist, könnte
                        er die Rücknahme ausnahms-
                        weise verweigern.
                            Wegen Ferien kann der Vermie-      Macht der Vermieter Ferien, muss er die Wohnungsabgabe delegieren.
                        ter die Rücknahme sicher nicht
                        verweigern. Sie haben ihm die vor-
                        zeitige Rückgabe der Wohnung
                        weit im voraus angekündigt. Er hät-
                        te folglich genügend Zeit gehabt,
                        um allenfalls einen Stellvertreter
                        zu organisieren, der die Wohnungs-
                        rücknahme für ihn erledigt. Soll-
                        te der Vermieter nicht zur Rück-
                        gabe erscheinen, dann schicken Sie
                        ihm die Schlüssel mit eingeschrie-
                        benem Brief zurück. Ab diesem
                        Zeitpunkt gilt die Wohnung als ab-
                                                                                                                                         Bild fotlia

                        gegeben, und die Sache ist für Sie
                        erledigt.

Mieten + Wohnen                   Oktober 2018 Nr. 5                                                                                17
Miettipp          Text von Fabian Gloor
Bild Patric Sandri

                     Mieten + Wohnen   Oktober 2018 Nr. 5      18
Jetzt ist wieder «Pilzsaison»
Im Camembert ist er eine Delikatesse, in
der Wohnung nicht: der Schimmelpilz.
Bei kühlen Temperaturen nistet er sich gerne
in so manchen Wohnungen ein. Was tun?

Geräuschlos und unsichtbar wirbeln sie           Wald benötigt auch der Schimmelpilz       eine defekte Wasserleitung, die das Mauer-
als mikroskopisch kleine Pilzsporen              zum Gedeihen ein feuchtes Klima. Zug-     werk durchfeuchtet, sind weitere Bau-
durch die Luft. Treffen sie dann auf eine        luft mag er hingegen gar nicht. Eine      mängel, die zu Schimmelpilz führen und
feuchte Oberfläche, so bleiben sie               häufige Ursache für Schimmelpilze sind    vom Vermieter zu verantworten sind.
kleben und entwickeln sich zu modrig             sogenannte Wärmebrücken, beispiels-           Wer ungenügend oder falsch lüftet,
riechenden, zerstörerischen Pilzbelägen.         weise schlecht isolierte Aussenwände.     sein Schlafzimmer mit Zimmerpflan-
Diese sind nicht nur eklig, sondern              Kühlt die Raumluft an kalten Wand-        zen in einen Regenwald verwandelt oder
können auch die Gesundheit schädigen.            oberflächen ab, bildet sich darauf Kon-   den Luftbefeuchter im Dauermodus ar-
Schimmel kann Bronchitis, Asthma,                denswasser. Die feuchte Fläche bildet     beiten lässt, trägt unweigerlich zur Schim-
Lungenentzündungen und weitere Atem-             dann einen idealen Nährboden für          melbildung bei. Wenn Sie beim Kochen
wegerkrankungen verursachen. Schim-                                                        ordentlich «Dampf ablassen» oder Ihr
melpilz sollten Sie deshalb nicht unterschät-        Schimmel kann Ihre Gesund-            Wohnzimmer zum Waschsalon umfunk-
zen. Oft graut der ungebetene Gast                   heit beeinträchtigen.                 tionieren, dürfen Sie sich ebenfalls nicht
still und leise – zum Beispiel hinter einem                                                über Schimmelbefall wundern. Die
Möbelstück – vor sich hin und breitet            Schimmel. Platziert man beispielsweise    Heizung im Winter ganz zuzudrehen ist
sich dort weiter aus. Wer als Mieter oder        ein Sofa an einer Aussenwand, so wird     auch keine gute Idee. Kalte Raumluft
Mieterin in seiner Wohnung Schimmel              die Luftzirkulation hinter dem Möbel-     kann weniger Feuchtigkeit aufnehmen,
feststellt, sollte dies sofort der Verwaltung    stück behindert. Dadurch trocknet allfäl- wodurch sich mehr Kondenswasser
mit eingeschriebenem Brief melden.               liges Kondenswasser auf der Wand          bildet. Alle diese Verhaltensweisen allein
Schiessen Sie am besten mit dem Handy            nicht ab. Dass dies die Schimmelbildung führen in der Regel jedoch noch nicht
gleich noch ein paar Fotos, die das              fördert, liegt auf der Hand. Die Haupt-   zu einem Schimmelbefall. Die Feuchtig-
Ausmass des Übels dokumentieren. Ihr             ursache für das Auskühlen der Wände und keit in Innenräumen ist meistens auf
Vermieter wird wahrscheinlich versuchen,         damit auch für den Schimmel liegt meis- ein subtiles Wechselspiel vieler Ursachen
Ihnen die Schuld am Schimmelbefall               tens an der schlechten Isolation. Für     zurückzuführen. Damit der Vermieter
in die Schuhe zu schieben, indem er Ihnen        solche Baumängel ist grundsätzlich der    Sie als Mieterin oder Mieter für den
vorwirft, nicht genügend gelüftet zu             Vermieter verantwortlich. Eindringendes Schimmelbefall belangen kann, muss er
haben. Doch lassen Sie sich davon nicht          Regenwasser, durchsickernde Feuch-        zweifelsfrei nachweisen, dass Sie alleine
abschrecken. Wie der Pfifferling, die            tigkeit in Kellerräumen, ungenügend aus- oder mehrheitlich für den Schimmel-
Morchel und andere Verwandte aus dem             getrockneter Beton in Neubauten oder      befall verantwortlich sind. Dieser Nach-

Mieten + Wohnen                    Oktober 2018 Nr. 5                                                                               19
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               Schimmelpilz erfordert ein entschiedenes Eingreifen. Bei Baumängeln haftet der Vermieter für die Beseitigung.

               weis ist im Einzelfall äusserst schwierig zu    zuständigen Schlichtungsbehörde hinter-    gekostet hat. Zudem schuldet Ihnen
               erbringen. Auch Experten kommen oft             legen. Doch Vorsicht! Für eine korrekte    der Vermieter nicht den Neuwert, son-
               zu unterschiedlichen Ergebnissen.               Hinterlegung müssen Sie einigen formel-    dern es ist die Altersentwertung zu
                   Gelingt dem Vermieter dieser Nach-          len Stolpersteinen aus dem Weg gehen.      berücksichtigen. Und diese ist schwer zu
               weis nicht, muss er den Schimmel auf            Lassen Sie sich deshalb am besten vorher   beziffern.
               seine Kosten beseitigen. Die Beseitigung        durch den Mieterinnen- und Mieterver-          Bei starkem oder wiederholtem Schim-
               sollte fachmännisch vorgenommen                 band beraten.                              melbefall reisst bei vielen Mietenden
               werden. Javelwasser und andere Haushalt-            Für die verminderte Wohnqualität       der Geduldsfaden. Sie kündigen deshalb
               mittelchen wirken meist nur oberfläch-          durch den Schimmelbefall sowie die Um-     fristlos und verlassen die Wohnung
               lich, und der unliebsame Mitbewoh-              triebe bei dessen Beseitigung haben        fluchtartig. Doch ist eine fristlose Kündi-
               ner zieht im Nu wieder bei Ihnen ein.           betroffene Mietende Anspruch auf eine      gung in einem solchen Fall zulässig?
               Rechtlich handelt es sich beim Schimmel                                                    Bei schweren Mängeln, welche die Benut-
               um einen Mangel am Mietobjekt. Denn                 Für Baumängel ist der                  zung der Wohnung unzumutbar machen
               der Vermieter ist verpflichtet, den Mieten-         Vermieter verantwortlich.              oder erheblich beeinträchtigen, dürfen
               den eine mängelfreie Wohnung zur Ver-                                                      die Mieterinnen und Mieter fristlos
               fügung zu stellen, die mit normalen             Mietzinsreduktion. Die Höhe der Reduk- kündigen. Doch so einfach lässt Sie Ihr
               Lebensgewohnheiten nutzbar ist. Kann            tion steht nirgends im Gesetz, sondern     Vermieter womöglich nicht springen.
               man den Schimmelbefall nur durch stun-          ist eine Ermessenssache. Mit einer Reduk- Denn über die Frage, ob der Schimmel in
               denlanges Lüften verhindern, so ist die         tion von 10 bis 20% bei einem mittle-      Ihrem Schlafzimmer schwerwiegend
               Wohnung nicht normal nutzbar. Ständi-           ren Schimmelbefall sind Sie aber gut be-   genug ist, lässt sich trefflich streiten. Es
               ges Lüften ist unzumutbar. Dasselbe gilt,       dient. Und was ist nun mit Ihrer geliebten ist eine Ermessenssache. Ist eine Schlich-
               wenn an den Aussenwänden keine Mö-              Ledercouch, die völlig verschimmelt        tungsbehörde oder ein Richter nach
               bel aufgestellt werden dürfen. Darauf müss-     ist und nun im Sperrmüll ihre letzte Ruhe Ihrem Auszug der Meinung, der Schim-
               te der Vermieter vor Abschluss des Miet-        finden muss? Grundsätzlich muss Ihnen      melbefall sei nicht schwerwiegend genug,
               vertrages hinweisen. Zögert Ihr Vermieter       der Vermieter diesen Schaden ersetzen.     um fristlos zu kündigen, müssen Sie
               die Beseitigung des Schimmels unnötig           Leider ist es nicht so einfach, diesen     noch Mietzins nachzahlen. Bevor Sie
               hinaus, können Sie ihn unter Druck              Anspruch durchzusetzen. Sie müssen be- fristlos kündigen, sollten Sie sich deshalb
               setzen, indem Sie den Mietzins bei der          weisen, wie viel die beschädigte Couch     ebenfalls beim lokalen MV informieren.

               Mieten + Wohnen                   Oktober 2018 Nr. 5                                                                                 20
Urteile

Überhitzte Wohnung
Die Normaltemperatur für eine Wohnung liegt
bei 20-21 Grad bzw. 19-20 Grad bei Minergie-
Standard. Bei einer Abweichung von 3-5 Grad
liegt ein Mangel vor, der eine Mietzinsreduktion
rechtfertigt.
   Art. 259a OR

                                         Die Mieter einer 4-Zimmerwohnung in              Das kantonale Gericht stellte fest, dass
                                         Genf mit Parkplatz in der Tiefgarage         die Normaltemperatur einer Wohnung
                                         beklagten sich über diverse Mängel. Ihre     bei 20-21 Grad bzw. 19-20 Grad bei Miner-
                                         Wohnung sei trotz gedrosselter Heizung       giehäusern liege und ein Mangel vorlie-
                                         überhitzt, da Storen oder Balkonvor-         ge, wenn die tatsächliche Temperatur 3 bis
                                         hänge fehlten. Zudem sei ihr Bodenbelag      5 Grad davon abweiche. Diese Praxis
                                         verfärbt und müsse ersetzt werden.           wurde vom Bundesgericht geschützt und
                                         Die gemeinschaftlichen Räume seien ver-      dürfte bei künftigen Klagen wegen über-
                                         schmutzt. Weiter dringe wegen eines          hitzter oder zu kalter Wohnung eine will-
                                         defekten Garagentors bei starkem Regen       kommene Richtschnur sein. Aus dem
                                         Wasser in die Tiefgarage ein und über-       Entscheid ergibt sich zudem, dass der
                                         schwemme auch den gemieteten Park-           Mangel nach einem beigezogenen Experten-
                                         platz. Das kantonale Gericht gewährte für    bericht mit Storen bzw. einem Balkon-
                                         die überhitzte Wohnung eine Mietzins-        vorhang auf der Südseite behoben werden
                                         reduktion von 7.5% und verpflichtete die     kann. Die Vermieterin machte dazu aber
                                         Vermieterin, auf der Seite des Südbal-       geltend, es handle sich um günstigen
                                         kons entweder Storen oder einen Balkon-      Wohnraum, und der Mieter habe bereits
                                         vorhang aus Zeltstoff anzubringen.           bei der Besichtigung der Wohnung
                                         Für den verfärbten Bodenbelag, die ver-      erkennen können, dass ein Sonnenschutz
                                         schmutzten Gemeinschaftsräume,               fehle. Dem entgegnet das Bundesgericht,
                                         den überschwemmten Parkplatz und das         dass der Mangel die Überhitzung sei,
                                         defekte Garagentor wurden je 5% Miet-        Storen oder Balkonvorhang dagegen nur
                                         zinsreduktion mit unterschiedlicher          die geeignete Behebung dieses Mangels.
                                         Dauer zugesprochen. Die Vermieterin          Es liege kein Beweis vor, dass dieser
                                         wurde verpflichtet, auch diese Mängel zu     Mangel bereits bei Vertragsabschluss mit
                                         beheben, soweit dies nicht bis dahin         einer Mietzinsreduktion abgegolten
                                         geschehen war. Die Vermieterin gelangte      worden sei. Das Bundesgericht tritt damit
                                         ans Bundesgericht.                           der Auffassung entgegen, dass Mangel-
                                             Ob ein Mangel vorliegt, ergibt sich      qualität von vornherein nur haben könne,
                                         aus dem Vergleich zwischen dem zum vo-       was vom besichtigten Zustand und da-
                                         rausgesetzten Gebrauch tauglichen (Art.      mit von der vertraglichen Vereinbarung ab-
                                         256 Abs. 1 OR) und dem tatsächlichen         weiche. Es gibt nach Bundesgericht Grund-
                                         Zustand. Nach dieser Differenztheorie        eigenschaften eines Mietobjekts, die sich
                                         wird auch die geschuldete Mietzinsherab-     bereits aus seinem Verwendungszweck
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                                         setzung bemessen. Das Bundesgericht          ergeben. Dazu gehört bei einer Wohnung
                                         geht grundsätzlich vom Sachverhalt aus,      eine normale Raumtemperatur.
                                         auf den sich die Vorinstanz stützt. Da-          Die gewährte Reduktion von 7.5% liegt
                                         her sind im Mängelrecht höchstrichter-       nach Bundesgericht noch innerhalb des
                                         liche Entscheide oft nicht sehr erhellend.   richterlichen Ermessensspielraums, auch
                                         In zwei Punkten allerdings ist der Ent-      wenn sie eher hoch sei, weil die Wohnung
                                         scheid von allgemeinem Interesse. Sie be-    nur an sonnigen Tagen überhitzt ist.
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                                         treffen die normale Raumtemperatur               BGer_4A581/2016 vom 25. April 2017 (Original
                                         und den Begriff des Mangels.                 französisch)

Mieten + Wohnen            Oktober 2018 Nr. 5                                                                                            21
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