Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR
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# 299 2,20 EUR April 2021 davon 1,10 EUR für die Ver- käufer/innen Das Straßenmagazin für Schleswig-Holstein Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft
Liebe Leserinnen, liebe Leser, für obdachlose Menschen ist und bleibt der Alltag in der augenblicklichen Coro- na-Zeit besonders hart. Auch wenn das Wetter jetzt wieder etwas wärmer wird – die Einschränkungen des öffentlichen Lebens treffen sie weiterhin. Wir haben mit einem Betroffenen darüber gesprochen, wie die Situation in den vergangenen Wochen war. Ab Seite 24. Viel zu erzählen zum Alltag Obdachloser hat auch der Lübecker Liedermacher Florian Künstler. Fast hätte er mal selbst seine Wohnung verloren, inzwischen macht er gleich in zweifacher Hinsicht auf die große Not Betroffener aufmerksam: Im vergange- nen Winter ist der 35-Jährige regelmäßig im Kältebus der Obdachlosenhilfe mitgefah- ren und hat Kleidung und Essen verteilt. Und er hat jetzt bei einem großen Musiklabel ein musikalisches Plädoyer für einen menschlichen und empathischen Umgang mit Obdachlosen veröffentlicht. Ein Spaziergang mit dem Sänger ab Seite 10. Und schließlich: Am 26. September wird die nächste Bundestagswahl stattfinden. Welche Antworten zu wichtigen sozialen Fragen bieten da die demokratischen Partei- en? In einer großen Interview-Reihe wollen das 20 deutsche Straßenmagazine, unter ihnen wir von HEMPELS, von Berliner Politikspitzen wissen. Den Beginn macht diesen Monat Grünen-Chef Robert Habeck. Lesen Sie ab Seite 18. Ihre HEMPELS -Redaktion gewinnspiel sofarätsel Gewinne Auf welcher Seite dieser HEMPELS-Ausgabe versteckt 3 x je ein Buch der Ullstein Verlagsgruppe. Im März war das kleine Sofa sich das kleine Sofa? Wenn Sie die Lösung wissen, dann auf Seite 14 versteckt. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden im Mai schicken Sie die Seitenzahl an: raetsel@hempels-sh.de veröffentlicht. oder: HEMPELS, Schaßstraße 4, 24103 Kiel. Teilnehmende erklären sich einverstanden, dass im Falle eines Gewinns Im Februar haben gewonnen: ihr Name in HEMPELS veröffentlicht wird. Ulrich Griess (Dänischenhagen), Liliam Grzesiak (Flensburg) und Ingrid Howe (Wittmoldt) je ein Buch des Ullstein Verlags. Allen Gewinnerinnen Einsendeschluss ist der 30.4.2021. und Gewinnern herzlichen Glückwunsch! Der Rechtsweg ist wie immer ausgeschlossen. 2 | inh a lt Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Titel GUTE SEELEN Früher wäre Florian Künstler fast selbst mal obdachlos ge- Titelfoto: Holger Förster worden. Inzwischen hat der Lübecker Liedermacher einen Plattenvertrag bei einem großen Label. Und hat dort jetzt ein musikalisches Plädoyer veröffentlicht für einen mensch- lichen Umgang mit denen, die auf der Straße leben. Ein Spa- ziergang durch die Altstadt. se i t e 10 das Leben in zahlen IN EIGENER SACHE 4 Ein etwas anderer Blick 28 Zum Tod unseres auf den Alltag Fotografen Peter Werner bild des monats auf dem Sofa 6 Boah, ey! 34 Verkäuferin Crstina aus Lübeck Schleswig-Holstein Sozial Inhalt 2 Editorial 8 Meldungen 9 Wie ich es sehe: 31 rezept Kolumne von Hans-Uwe Rehse 32 MUSIKTIPP; BUCHTIPP; FILMTIPP 17 Die Meinungsfreiheit ist 33 Service: Mietrecht; Sozialrecht nicht bedroht 36 Leserbriefe, Meldung; Impressum 18 Neue Interview-Reihe: 37 VERKÄUFER IN ANDEREN LÄNDERN, MELDUNG Grünen-Chef Habeck zu sozialen Fragen 38 Sudoku; K arik atur 21 Wahlverwandte: Wie ein Lübecker 39 Satire: Scheibners Spot Verein Jung und Alt hilft 24 Wie die Situation Obdachloser im Winter war Bitte kaufen Sie HEMPELS nur bei Verkaufenden, die diesen Ausweis sichtbar tragen He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 inh a lt | 3
das leben in zahlen Deutschland: Frauen verdienen weniger Frauen verdienen in Deutschland weiterhin weniger Geld als Männer. Im Jahr 2020 lag der durchschnittliche Einkommensunterschied – der sogenannte Gender-Pay-Gap – laut Statistischem Bundesamt bei 18 Prozent (SH: 13 %). Gegenüber dem Vorjahr ist das nur ein leichter Rückgang um 1 Prozent. In Geld bedeutet das eine durchschnittliche Lohnlücke von 4,16 Euro. Erklärt wird sie damit, dass Frauen häufig schlechter bezahlte Berufe ergreifen oder in Teilzeit arbeiten. Doch selbst bei gleicher Tätigkeit und vergleichbarer Qualifikation verdienen Frauen 6 Prozent weniger. PB 19 % 18 % weniger weniger 2019 2020 4 | das l ebe n in z a hl en Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Spanien: Frauen verdienen das Gleiche In Spanien ist die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern für eine gleichwertige Arbeit seit dem vergangenen Jahr verboten. Unternehmen, die gegen ein von der spanischen Regierung erlassenes Dekret verstoßen, drohen künftig Geldstrafen in Höhe von bis zu 187.000 Euro. Bislang betrug dort der sogenannte Gender-Pay-Gap – der Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen – 21 Prozent und lag damit ähnlich hoch wie in Deutschland mit 19 Prozent. Künftig müssen Unternehmen ihre Gehaltstabellen offenlegen und nach Geschlecht aufschlüsseln. PB Foto: Pixabay He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 das l ebe n in z a hl e n | 5
An alle trauernden Herzen da drau- ßen, die sich in diesen immer noch halb- finsteren Zeiten fragen, wie sie endlich den aufgestauten Stress der vergangenen Monate abbauen könnten: Ruhig Blut! »Lebbe geht weider«, hat schon mal ein im Hessischen sozialisierter Fußball- trainer nach einer Pleitenserie gesagt, die Älteren unter uns werden sich viel- leicht erinnern. Und tatsächlich, irgend- wann durften interessierte Beobachter staunen, dass seine Mannschaft ab und zu auch mal gewinnen konnte. Apropos Staunen: Staunen ist eine positive menschliche Emotion. Wer staunt, erkennt, dass die Welt nicht nur aus einem selbst besteht, dass es um ei- nen herum auch noch andere Menschen und Dinge gibt, die die eigene Perspek- tive zurechtrücken. Das Staunen über Kunst und Musik beispielsweise, oder über diese filigran anmutenden Was- serballetttänzerinnen. Wie die das bloß alles hinkriegen, man selbst würde sich beim Versuch wohl eher Knoten in die Beine binden, vielleicht … aber lassen wir das. Staunen wir lieber, um so po- sitiver in die Welt schauen zu können und weniger eigenen Stress spüren zu müssen. Amerikanische Wissenschaft- ler haben kürzlich darauf hingewiesen, dass schon aufmerksames Spazierenge- hen insbesondere einsamen Menschen dabei hilft, Sorgen und Grübeleien zu besiegen. Im Wald den Vogelstimmen zuhören entspannt und stärkt Gemüt und Körper. Echt jetzt? Yep! Foto: REUTERS / Stoyan Nenov Also raus aus der Wohnung, auf zum Spaziergang durch den Park, wenn nicht gerade ein Lockdown daran hindert. Und natürlich immer darauf achten, dass einem dabei nicht erst eine nette Spaziergängerin in die Quere kommt und später am Abend ein paar gemein- same Gläschen Wein. Andererseits: Komm, lass stecken – warum eigentlich nicht? PB He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 bil d de s mon at s | 7
meldungen +++ auch um andere Dinge zu kümmern. Das sei deutlich kosten- günstiger als die bisherigen Hilfekonzepte. In Finnland muss Schleswig-Holstein stärkt Resozialisierung Straffälliger der Staat mit »Housing first« pro Jahr 15.000 Euro weniger für Die Resozialisierung von straffällig gewordenen Menschen soll einen obdachlosen Menschen ausgeben. pb in Schleswig-Holstein weiter gestärkt werden. Das Landeskabi- nett hat deshalb jetzt den Entwurf eines Gesetzes zur ambu- +++ lanten Resozialisierung und zum Opferschutz beschlossen und dem Landtag zugeleitet. Schleswig-Holstein will so seine Sozialverbände: Zugang zu medizinischer Versorgung Vorreiterstellung bei der Umsetzung einer effektiven Sozialen Soziale Hilfsorganisationen fordern eine bessere Gesundheits- Strafrechtspflege weiter ausbauen. Bereits das Bundesverfas- versorgung für Menschen ohne oder mit eingeschränktem sungsgericht hat den Anspruch auf Resozialisierung in einen Versicherungsschutz. Die Verbände machten jetzt in einer Verfassungsrang erhoben. Es sind die äußeren Bedingungen Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestages über dafür zu schaffen, dass Straffällige sich nach ihrer Entlassung Anträge von Linken und Grünen deutlich, dass etwa Woh- in die Gesellschaft eingliedern können. »Diesem Anspruch nungs- und Obdachlose, Geflüchtete und Beitragsschuldner kommen wir mit dem vorgelegten Entwurf des Landesresozia- oft keinen adäquaten Zugang zur medizinischen Versorgung lisierungs- und Opferschutzgesetzes in vollem Umfang nach«, hätten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe so Justizminister Claus Christian Claussen. Zudem bilde der (BAGW) fordert eine Anbindung an das Regelsystem. Für viele Gesetzentwurf, nach dem Entwurf des Justizvollzugsmoderni- Wohnungslose sei gerade in der Pandemie die medizinische sierungsgesetzes und dem noch im Laufe der Legislaturperiode Versorgung fragil. Diese Menschen litten oft unter Mehrfa- abzuschließenden ressortübergreifenden Projekt Übergangs- cherkrankungen. pb management, den dritten Eckpfeiler für einen an Resozialisie- rung und Sicherheit orientierten Vollzug, mit einem effektiven +++ Übergangsmanagement aus der Haft in die Freiheit und gut aufgestellten Ambulanten Sozialen Diensten. PB Covid: Mehrsprachige Videos informieren Obdachlose Eine Projektgruppe der Charité Berlin hat ein Covid-19- +++ Projekt speziell für und mit obdachlosen Menschen erarbeitet. Kurze Videoclips sollen ihnen Zugang zu adäquaten Infor- Berlin: Obdachlosigkeit soll bis 2030 abgeschafft werden mationen über Covid-19, Schnelltestungen und aktuell über Die Stadt Berlin will bis 2030 Obdachlosigkeit abschaffen Impfungen vermitteln, die auf ihre besondere Lage in der und damit eine Resolution des EU-Parlaments umsetzen. Das Pandemie zugeschnitten sind. Die Videos stehen im Internet hat Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Linken ange- in den Sprachen Deutsch, Rumänisch, Polnisch, Russisch und kündigt. Im vergangenen Jahr waren bei einer Zählung 2000 Englisch zur Verfügung. Eines klärt über Covid-19 auf, das Obdachlose festgestellt worden. Insgesamt geht der Senat von andere über Antigen-Schnelltestungen. Zugleich wolle man 50.000 Menschen aus, die keine eigene Wohnung haben und mit dem Projekt für die prekäre Lage obdach- und wohnungs- notdürftig untergebracht sind. Berlin will sich an Finnland loser Menschen in der Pandemie sensibilisieren und darüber orientieren, wo binnen zehn Jahren den meisten Obdachlosen aufklären. Die Filme sind im Internet schnell zu finden nach zu einer Wohnung verholfen wurde. Man wolle deren Konzept Eingabe der Suchbegriffe »charité obdachlose«. Unterstützung »Housing first« umsetzen, so die Senatorin. In einer Wohnung erfahren Obdachlose auch bei den verschiedenen Hilfeeinrich- können Obdachlose zur Ruhe kommen und haben Zeit, sich tungen im Land. pb HEMPELS IM RADIO Jeden ersten Montag im Monat ist im Offenen Kanal Lübeck das HEMPELS-Radio zu hören. Nächster Sendetermin ist am 5. April ab 17.05 bis 18 Uhr. Wiederholt wird die Sendung am darauf folgenden Dienstag ab 10 Uhr. Das HEMPELS-Radio bietet einen Überblick über einige wichtige Themen des aktuellen Heftes und will zugleich Einblicke in weitere soziale Themen aus der Hansestadt ermöglichen. Zu empfangen ist der Offene Kanal im Großraum Lübeck über UKW Frequenz 98,8. Oder online über den Link »Livestream« auf www.okluebeck.de 8 | me l dungen Hempel s # 2 99 4/2 02 1
WIE ICH ES SEHE Wir sind eingesponnen in ein Netzwerk aus Beziehungen von hans-uwe rehse »Alles ist mit allem verbunden!« Es klingt so naheliegend, Ich will nicht das Streben nach Eigenständigkeit schlecht was ich gerade in einem Buch gelesen habe. Darin geht es um machen. Aber mir ist wichtig, auch die Grenzen eines unab- das Ökosystem Erde. Es wird beschrieben, wie die unter- hängigen Lebens wahrzunehmen. Die Verbindungen, in de- schiedlichen Lebewesen »in ein riesiges Netzwerk eingewo- nen wir stehen und von denen wir leben, sind viel zu wichtig ben sind«. Da kann »das eine Leben (nicht) ohne das andere für uns. Mein Vorschlag: Überlegen Sie einmal für sich selbst, wachsen und gedeihen«. Auf verschiedenen Ebenen lässt sich in welchen Zusammenhängen Sie eingebunden sind. Welche das beobachten. Zum Beispiel beim sogenannten »Kohlen- Rolle spielen die Abhängigkeiten von der Natur? Und wo sind stoffkreislauf«: Die Pflanzen nehmen im Rahmen der Photo- Sie angewiesen auf andere Menschen? Ich glaube, das Nach- synthese Kohlendioxid aus der Atmosphäre auf und spalten denken darüber kann dazu beitragen, die Beziehungen wieder es in Kohlenstoff und Sauerstoff auf. Der Kohlenstoff wird ernster zu nehmen, in denen wir leben. Sodass wir sie nutzen für den Gewebeaufbau gebraucht, der Sauerstoff entweicht und pflegen. Um das Leben leichter und Belastungen erträg- in die Luft. Das pflanzliche Gewebe wiederum ist Nahrung licher zu machen. Für uns Menschen und für unsere Mitge- für Tiere und Menschen, die einen Teil davon für den Aufbau schöpfe. organischer Strukturen brauchen und den anderen Teil über die Atmung wieder als Kohlendioxid an die Luft abgeben. Das nehmen die Pflanzen wieder auf. Das Buch betont, dass »alle Lebensformen auf der Erde ein- gesponnen sind in ein gigantisches Netz aus Beziehungen«. Das sichert das Überleben und den Fortbestand der unter- schiedlichen Lebensformen auf der Erde. Beziehungen för- Hans -Uwe Rehse is t Pas tor im dern das Leben! Ruhe s tand und war Ge schäf t s - Merkwürdig, dass diese Feststellung mich überrascht hat. führer der Vorwerk er Diakonie Eigentlich werden wir doch ständig darauf gestoßen, wie eng in Lübeck . SEINE KOLUMNE alles in der Natur miteinander zusammenhängt. Aktuell zeigt ER SCHEINT JEDEN MONAT uns das ein kleines Virus. Allerdings wirkt es so, als ob für vie- le Menschen etwas anderes im Vordergrund steht: Unabhän- gigkeit, Eigenständigkeit, Selbstbestimmung. Keine Abhän- gigkeiten! Diese Prioritätensetzung hat das Individuum im Blick: »Sorge für Dich selbst! Mach was aus Deinem Leben!« Sie hat auch eine Kehrseite: »Ich möchte niemandem zur Last fallen«, sagen viele. Meine Last ist etwas, womit ich allei- ne fertig werden muss. Wie belastbar und tragfähig sind Be- ziehungen dann noch? Hempel s # 2 99 4/2 02 1 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 9
Rubrik titel »Potenzial, um große Hallen zu füllen«: Der Lübecker Liedermacher Florian Künstler. 10 | t i t el Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Gute Seelen Früher wäre Florian Künstler fast selbst mal obdachlos geworden. Jetzt hat der Lübecker Liedermacher einen Plattenvertrag – und ein musikalisches Plädoyer veröffentlicht für einen menschlichen Umgang mit jenen, die auf der Straße leben. Ein Spaziergang durch die Altstadt TEXT: PETER BRANDHORST FOTOS: HOLGER FÖRSTER Eigentlich ist man mit ihm verab- Platte hockende Obdachlose sagt zu redet, um spazieren gehend über sei- Florian Künstler: »Stimmt, ich erinner ne Künste zu sprechen. Sänger und mich, du warst erst neulich mit dem Musiker ist Florian Künstler ja, seit Bus hier.« kurzem beim sehr großen Label Sony unter Vertrag, und dass er – nebenbei bemerkt – tatsächlich diesen Nachna- men trägt, ist reiner Zufall und kein Florian Künstlers Marketingspielchen irgendwelcher Plattenfritzen. Seine Songs als Lieder- Texte spiegeln seine macher also, darum soll es gehen, vor allem um seine erste Single natürlich, eigene Biographie »Diese Straßen«, ein Plädoyer für ei- nen menschlichen und empathischen Umgang mit Obdachlosen. Und jetzt stoppt man da in der Lübe- Manchmal lassen sich Geschichten cker Altstadt auf einer dieser Straßen über verschiedene Ebenen erzählen, für einen Moment, stoppt vor einem vieles hängt im Leben ja mit vielem zu- leeren Kaufhaus, neben einer alten Ma- sammen. Und dass man die Geschichte tratze und allerhand Tüten, Dosen und von Florian Künstler nicht nur als die Decken. Und der dort auf der eiskalten eines aufstrebenden Sängers erzählen He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 t i t e l | 11
Rubrik titel sollte, wird an diesem Nachmittag spä- und Kleidung zu versorgen. »Und, ganz nem Alltag, der früher manchmal auf testens vor dem schon länger stillgeleg- wichtig: mit Gesprächen«, fügt er hin- der Kippe stand. »Ich war ja quasi auch ten früherem Sportkaufhaus deutlich. zu, »jeder Mensch wird krank, wenn schon mal fast obdachlos«, sagt er, »das Florian Künstler ist Musiker, klar, er ihm niemand zuhört.« wenige Geld reichte gerade noch für die ist aber auch Mensch. Etwa drei Mal im Auch ihm geht es ja um das Zuhören, Miete, aber nicht mehr für Essen und Monat fährt der 35-Jährige für jeweils als Sänger sowieso. Aber auch dann, Strom.« vier oder fünf Stunden im Kältebus der wenn er von seiner persönlichen Ge- Viele Umwege ist er im zurücklie- Obdachlosenhilfe Lübeck mit, um auf schichte erzählt, von seinen Zweifeln, genden Leben gegangen, Künstlers Tex- der Straße lebende Menschen mit Essen von seinem Suchen und Hoffen in ei- te spiegeln seine eigene Biographie, po- Die Platte eines Obdachlosen beim Lübecker Hauptbahnhof. 12 | t i t e l Hempel s # 2 99 4/2 02 1
etisch und melancholisch und mit einer wir gerade schon bei fremden Federn auch der Junge Florian wird mit dem Musik, die nicht schwermütig klingt, sind: Ein kleines NDR-Fernsehporträt Virus infiziert, lernt Gitarre und die in ihrer ganzen Pracht vermeintlich beschreibt ihn als jemand mit »Poten- schreibt bereits früh eigene Songtexte. schwerelos dahin schwebt. (Um Co- zial, um große Hallen zu füllen«.) Als Teenager holt ihn dann seine Ver- pyrightstreitigkeiten von vornherein Florian Künstler ist in Berlin gebo- gangenheit ein: Er rebelliert und ver- auszuschließen: Der letzte Halbsatz ren, und es wäre eine Untertreibung, weigert, stellt sich und anderen all die stammt aus einem Pressetext der Plat- seine ersten Kindheitsjahre als schwie- Fragen nach seiner Herkunft, findet tenfirma, auch dort an den Schreibti- rig zu bezeichnen. Den schon früh an aber keine Antworten. Verlustängste schen arbeiten gute Schreiber. Und wo einer Überdosis Heroin gestorbenen kommen auf, »mit Problemen konnte Künstler vor den Schließfächern im Lübecker Hauptbahnhof. Für Obdachlose oft der Ort, wo sie ihre Habseligkeiten verstauen. Vater lernt er nie kennen; ein altes Foto ich damals überhaupt nicht umgehen.« von ihm hielt er erstmals vor ein paar Verknappt gesagt: Als er 18 ist, schmei- Wochen in den Händen. Die allein er- ßen ihn die Pflegeeltern raus. ziehende Mutter war ebenfalls abhän- gig, »sie kämpfte mit ihrer Sucht und ihrer Verantwortung für das Kind«, so der Sohn rückblickend. Schon als Baby Mit 25 gewinnt er war er immer unterwegs, mal wurde er eine Zeit lang von Freunden der Mut- einen Gesangswettbewerb ter betreut, mal in einem Kinderheim, dann wieder noch woanders. Mit Sie- des NDR ben vermittelte ihn das Jugendamt in eine Pflegefamilie nach Ratekau bei Lübeck. Die folgenden Jahre dort hat Künst- »Das hat schon sehr weh getan da- ler als »behütet und in geregelten Ver- mals«, sagt Florian Künstler, »im Nach- hältnissen« in Erinnerung. Pflegeeltern hinein war es aber das Beste, was mir und -schwester sind sehr musikalisch, passieren konnte. Ich wurde ins kalte He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 t i t e l | 13
titel Liedermacher Künstler vor der Lübecker Musik- und Kongresshalle (oben) und nebenan vor einer Skulptur. Wasser geworfen und musste für mich 25 gewinnt er schließlich einen NDR- Seit 2019 konzentriert er sich nur auf selbst Verantwortung übernehmen.« Gesangswettbewerb, steigt nach und Musik, neben seiner Solokarriere tritt Eine »Chaoszeit« waren die folgenden nach tiefer in die Szene ein, irgendwann er noch mit einer irischen Coverband Jahre trotzdem, er bricht mehrere Aus- werden höhere Entscheider auf ihn auf- auf. Ende vergangenes Jahr dann die bildungen ab, schließt eine als Medizi- merksam. erste EP »Umwege« mit vier Songs und nischer Bademeister und Masseur auch Mit seiner Pflegefamilie kommt er die Single »Diese Straßen« – seine Ant- ab, jobbt mal hier, mal dort. Zusammen wieder ins Reine, auch zu seiner leib- wort auf die vergangenen Krisen des mit einem Freund beginnt er, auf klei- lichen Mutter findet er wieder guten Lebens, auch er musste ja schon viele neren Musikbühnen aufzutreten, mit Kontakt, »sie hat jetzt ein gutes Leben«. Umwege gehen. 14 | t i t e l Hempel s # 2 99 4/2 02 1
»Wenn man auf der Straße landet, dann hat das immer Ursachen«: Florian Künstler im Gespräch mit einem Obdachlosen. Zurück in die Lübecker Altstadt, zu- gibt Sachen, die die Seele einfach nicht mehr auf – der ältere Mann, dem man rück zum Arbeitsspaziergang auf Ab- verkraften kann.« Diese Emotionen hat ein paar Mal begegnet und der ein mit stand. Als er »Diese Straßen« schrieb, er dann in den Song gepackt: »Du bist ne Schlafsack, Isomatte und allerlei Tüten erzählt Künstler, habe er an Leute ge- gute Seele / hast'n warmes Herz / du hast beladenes klappriges Fahrrad von Müll- dacht, »die ich als Straßenmusiker auch ne raue Schale / mit nem goldnen Kern« eimer zu Mülleimer schiebt; die junge kennengelernt habe«, an Obdachlose Und jetzt, wo man ihm an diesem Frau, die auch über jedem Müllbehältnis und andere bettelnde Menschen. »Wenn Nachmittag Mitte Februar zuhört auf den Kopf tief nach unten beugt; oder die man auf der Straße landet«, sagt Künst- den doch sehr leeren Lübecker Stra- in eisiger Kälte stumm auf den Straßen ler, »dann hat das immer Ursachen. Es ßen, da fallen sie einem plötzlich umso sitzenden Männer mit Bettelbechern He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 titel | 15
titel Florian Künstler vor der Lübecker Altstadtkulisse. vor sich; und die Schlafstätten einiger Künstler sind in diesen Corona-Zeiten zahlung. »Funktioniert wie bei vielen Obdachloser sowieso. »Mein Lied soll bis auf Weiteres fast alle Verdienst- anderen Musikern so lala, live ist ein- ihnen eine Stimme geben«, sagt Flori- möglichkeiten weggebrochen. Einen fach nicht zu ersetzen«, sagt er. Ein In- an Künstler, »es soll ermutigen, die Not Plattenvertrag zu haben heißt nicht, stagram-Konzert hat neulich dann aber wahrzunehmen.« dass einem da jemand jeden Monat ei- doch ganz gut funktioniert, zusammen nen Haufen Euro aufs Konto schaufelt. mit einem Pianisten ist er da anderthalb »Ich darf in zwei Jahren 14 Songs an Stunden lang aufgetreten. 1500 Euro das Label liefern«, sagt Künstler, »Geld kamen zusammen, 1500 Euro für die Ein Instagram-Konzert verdiene ich nur, wenn ich meine Musik Lübecker Obdachlosenhilfe. bei Auftritten präsentiere.« Während er Und an einem der nächsten Abende für Obdachlose erbringt davon erzählt, sieht man, wie er einem wird er dann auch wieder in den Kälte- bettelnden Mann beim Vorübergehen bus steigen, wird durch die Straßen fah- 1500 Euro rasch fünf Euro zusteckt. Nein – man ren und nach den guten Seelen schauen, sieht es nicht so richtig, man bemerkt es denen er ein Lied geschrieben hat. vor allem deshalb, weil man ein »Dan- keschön« hört und beim Hinschauen Man könnte diese Geschichte hier noch so was wie einen in einer Hosen- beenden, einerseits; andererseits sollte tasche verschwindenden Schein zu er- man damit aber vielleicht noch etwas kennen glaubt. warten. Arm sind ja nicht nur die an- Ab und an versucht Künstler, auf In- deren, auch dem Liedermacher Florian stagram Konzerte zu geben, gegen Be- 16 | t i t el Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Die Meinungsfreiheit ist nicht bedroht Es mutet merkwürdig an, wenn sich hierzulande Rechtsextremisten und Rechtspopulisten zu Märtyrern der Meinungsfreiheit stilisieren – und zwar nicht, indem sie sich für demokratische Grundwerte einsetzen. Sondern im Gegenteil: Weil andere ihren menschenfeindlichen Thesen den demokratischen Grundkonsens entgegenhalten, in dessen Zentrum die Menschenwürde, Solidarität und Mitgefühl stehen. Zum Glück sind diejenigen, die soziale Kälte und Hass auf Andersdenkende und Schutzbedürftige verbreiten, eine Minderheit und treffen auf entschiedenen Widerspruch. Neben dem Respekt brauchen wir die Bereitschaft zu diskutieren und auch mal einen Streit zu riskieren. Es bringt nichts, wenn wir in unseren eigenen Blasen mit großem Pathos unsere Meinungen kundgeben, aber still bleiben, wenn die Mehrheitsmeinung eine andere ist. HEINRICH BEDFORD - STROHM; R ATSVOR- SITZENDER DER E VANGELISCHEN KIRCHE IN DEUTSCHLAND (EKD) Zitiert aus: Chrismon – Das Evangelische Magazin Foto: epd/mck He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 17
Schleswig-holstein sozial »Ein Dach über dem Kopf wahrt Würde« In einer großen Interview-Reihe wollen 20 deutsche Straßenmagazine vor der kommenden Bundestagswahl von Berliner Politikspitzen Antworten zu sozialen Fragen hören. Den Anfang macht diesen Monat Grünen-Co-Chef Robert Habeck »Wir wollen Hartz IV überwinden«: Grünen-Co-Chef Robert Habeck im Interview. 18 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 2 99 4/2 02 1
INTERVIEW: ANNETTE BRUHNS, FOTOS: LUTZ JÄKEL Herr Habeck, vor Ihnen sitzen 20 haben deutlich schlechtere Chancen. haben beschlossen, bis 2030 die Ob- deutsche Straßenzeitungen, ange- Deshalb wollen wir eine Kindergrund- dachlosigkeit abzuschaffen. Klingt siedelt zwischen Schleswig-Holstein sicherung, die allen Kindern garantiert, schön, allerdings halten sich die Din- und München, Düsseldorf und Dres- was sie zum Leben brauchen. ge oft nicht an EU-Beschlüsse. Sonst den. Gemeinsamer Nenner unserer Und wenn nicht, würden Sie dann wären die EU-Gewässer seit 2015 in Fragen: Wie rot sind diese Grünen über eine Abschaffung des Ehegat- einem »guten Zustand«. Würde eine eigentlich, die womöglich ab Herbst tensplittings Koalitionsgespräche grüne Regierung Bundesmittel be- mitregieren? platzen lassen? reitstellen, damit die Kommunen Wenn mit »rot« gemeint ist, eine Politik bedeutet, Veränderungen vo- Obdachlose in Wohnungen einquar- gerechtere, sozialere Gesellschaft zu ranzubringen – und nicht, sich durch tieren wie es etwa Finnland vor- schaffen, kann ich sagen: Wir haben in rote Linien zu lähmen. Wir argumen- macht mit seinem »Housing First«- den letzten drei Jahren unser sozialpo- tieren jeweils für unsere Ideen und ver- Programm? litisches Profil deutlich geschärft. suchen, das Beste zu erreichen. »Housing First« überzeugt und kor- Tatsächlich will Ihre Partei ... und Hartz IV? Wäre die Abschaf- respondiert mit unserer Forderung Hartz IV abschaffen und durch eine fung für Sie verhandelbar? nach Wohnen als Grundrecht. Studien »Grundsicherung« ersetzen, eine Es geht darum, politische Mehrhei- zufolge finanziert sich das quasi selbst: staatliche Leistung, die mehr Geld ten zu schaffen und dann möglichst Man stellt am Anfang das Geld bereit, verspricht und an weniger Bedingun- viel durchzusetzen. Eine Status-Quo- das man später wieder einspart, etwa gen geknüpft wäre. Der Einstieg in Regierung wird es mit uns nicht geben. für Sozialarbeit, Psychotherapie, Po- ein bedingungsloses Grundeinkom- Was wir dann klima-, sozial- oder eu- lizei, Prozesse. Wenn der Bund ernst men? ropapolitisch durchsetzen, hängt auch machen will mit der Abschaffung der Es ist richtig, dass wir Hartz IV davon ab, wie gut wir bei der Wahl ab- Obdachlosigkeit, sollte er den Kommu- überwinden wollen. Wir wollen eine schneiden. nen bei »Housing First«-Programmen Garantiesicherung, damit jede und je- Im grünen Grundsatzprogramm helfen. der verlässlich vor Armut geschützt ist. steht oft das Wort »Umverteilung«. Der Trend geht in die gegenläufige Sie sollte mit mehr Geld mehr Teilhabe Würden unter einem Kanzler oder Richtung: In Großstädten wie Ham- ermöglichen und Anreize geben anstatt Vizekanzler Robert Habeck die Rei- burg hat sich die Zahl der Obdach- die Menschen mit Sanktionen zu gän- chen zur Kasse gebeten? losen in den letzten zehn Jahren fast geln. Von einem bedingungslosen Ein- Ich halte die höhere Besteuerung verdoppelt. Die Mehrheit stammt kommen unterscheidet sich das, weil es von hohen Einkommen und Vermögen aus armen EU-Staaten. Sie kommen, eben doch an eine Bedingung geknüpft für angemessen und notwendig. um zu arbeiten, landen in prekären ist: Die Garantiesicherung sollen die Beschäftigungsverhältnissen und erhalten, die es brauchen. Ihre Partei will das Recht auf Woh- stranden am Ende auf der Straße. Wie nen im Grundgesetz verankern. Was wollen die Grünen diese Elendsspira- Gegen Kinderarmut wollen die versprechen Sie sich davon? le beenden? Grünen auch etwas tun: Eine steuer- Eine Umkehr von der sozialpoliti- Wenn Menschen ihr Leben in ihrem liche »Kindergrundsicherung« soll schen Logik, wonach ein wohnungslo- Heimatland aufgegeben haben, um hier Kinder unabhängig vom Beziehungs- ser Mensch erst beweisen muss, dass sie zu arbeiten und dann scheitern, sind status der Eltern fördern. Dafür oder er mit den eigenen vier Wänden sie ja trotzdem da. Wenn dann nur Ob- soll das Ehegattensplitting weichen. verantwortungsvoll umgehen kann, dachlosigkeit bleibt, verschärft sich das Würden Sie eine schwarz-grüne Re- bevor er einziehen darf. Umgekehrt Elend. Deshalb wollen wir sie besser gierungsehe für die Abschaffung der wird ein Schuh daraus: Die Sicherheit sozial absichern. Entscheidend ist aber, ehelichen Splittingvorteile riskie- eines Dachs über dem Kopf animiert schon früher anzusetzen, also konse- ren? dazu, verantwortlicher und selbstbe- quent gegen Schwarzarbeit und Drück- Alle Kinder sollten dem Staat gleich stimmter zu leben. Das Wohnrecht und erlöhne zu kämpfen. Damit beginnt die viel wert sein. Das ist heute nicht der die Grundsicherung sind für uns Pfei- Spirale ja viel zu oft. Fall. Gutverdiener erhalten für ihre ler einer die Würde des Menschen ach- Viele Unions- aber auch SPD-Po- Kinder faktisch mehr Geld, Kinder aus tenden Gesellschaft. litiker befürchten eine Sogwirkung, einkommensschwachen Haushalten Bundestag und Europaparlament wenn EU-Arbeitnehmerinnen und He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 19
Schleswig-holstein sozial Schwerins Straßenzeitung hat ihre Verkäuferinnen und Verkäufer ge- fragt, mit welchem Promi sie gerne Kaffee trinken würden. Die Men- schen nannten Popstars, Sportler und Schauspieler; mit einem Politiker wollte niemand Kaffee trinken. War- um ist Ihre Kaste so unbeliebt? Vielleicht, weil Streit zum Wesen der Demokratie gehört und Streiten- de unsympathisch sind. Aber es ist in den letzten Jahren viel Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und Fairness der Politik verloren gegangen. Gewinne von Banken und Spekulanten wurden privatisiert, Verluste zahlte die Allge- meinheit. Was sich eingebrannt hat, ist das Gefühl, die Politik schützt die Robert Habeck mit Redakteurin Annette Bruhns beim Interview. Macht, nicht die Menschen. Ich glaube, dass wir als Politikerinnen und Politi- ker sehr daran arbeiten müssen, Ver- Arbeitnehmer gleich behandelt wür- man wird sehen, wie das Bundesver- trauen wieder herzustellen. den, also dass dann immer mehr Ar- fassungsgericht entscheidet. Aber wenn Die Schweriner Straßenzeitung hat beitslose aus Rumänien, Polen oder Wohnen ein Recht ist, braucht der Staat eine weitere Frage: Was würden Sie Bulgarien einwandern. Wie sehen Sie auch Mittel, um es durchsetzen zu kön- als erstes ändern, wenn Sie Bundes- das? nen. kanzler wären? Im Moment geraten die Leute ja vor Am liebsten: Das Containern erlau- allem in miserable Beschäftigungsver- Aus welchen Etats soll das Geld her- ben! Das ist gewiss nicht die wichtigste hältnisse. Wenn man die Gleichbehand- kommen – für die Grundsicherung, Reform. Aber das Verbot, brauchbare lung an das Suchen und die Aufnahme für »Housing First«-Wohnungen, für Lebensmittel zu retten, ist eine Sache, von Arbeit knüpft, ist sie gerechtfertigt. Frauenhäuser: Wollen die Grünen die mir besonders unsinnig erscheint Die Leute kommen her, um zu arbeiten, weniger für Rüstung zahlen? Oder und die man schnell ändern könnte. und nicht, um zu verarmen. den Bauern weniger geben? Sollen die Steuern steigen? Aus der Stadt mit den höchsten Die Investitionsausgaben würden Das Interview im Namen von 20 deut- Mieten, aus München mit der Zeitung wir kreditfinanzieren. Dazu gehö- schen Straßenzeitungen – unter ih- »Biss«, kommt die Frage, wie die Grü- ren Neubauten und Sanierungen, aber nen wir von HEMPELS – hat Annette nen für billigen Wohnraum in teuren auch der Bau von Frauenhäusern, Ob- Bruhns geführt, Chefredakteurin von Städten sorgen wollen? dachlosenunterkünften. Wir werben Hinz&Kunzt in Hamburg. Das exklusi- Bauen! Vor allem öffentliches Bau- seit langem dafür, die Schuldenbrem- ve Habeck-Interview ist in diesem Su- en hilft. Und wenn privat gebaut wird, se dafür zu reformieren, und es gibt perwahljahr Auftakt einer Reihe von sollten Quartiere einen Wohnungsan- jetzt auch Stimmen aus der CDU in die Interviews mit Spitzenpolitikerinnen teil für Ärmere vorhalten müssen. Richtung. Konsumtive Ausgaben wie und -politikern der im Bundestag ver- Berlin hat einen Mietendeckel statt die Garantiesicherung müssen sich aus tretenen demokratischen Parteien zu der Mietpreisbremse, der grüne Be- Steuern refinanzieren. Die größte Ge- sozialen Fragen. Im kommenden Monat zirk Friedrichshain trommelt für ein rechtigkeitslücke, die wir haben, sind wird SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz starkes Vorkaufsrecht der öffentli- dabei nicht bezahlte Steuern. Wenn an der Reihe sein. chen Hand bei Immobilien. Modelle wir konsequent Steuerbetrug bekämp- für den Bund? fen würden, stünden EU-weit zwei- bis Das sind Modelle für die extremen dreistellige Milliardensummen zur Hochpreisgebiete in den Kommunen. Verfügung. Da müssen wir handeln. Es sind Eingriffe in den Markt, und 2 0 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Win-win-win Viele Kinder wachsen ohne Großeltern auf – zugleich möchten sich viele ältere Menschen um Enkel kümmern, haben aber keine oder wohnen weit entfernt. Um Jung wie Alt zu helfen, vermittelt ein Lübecker Verein daher Wahlverwandte TEXT: GEORG MEGGERS, FOTOS: BABETTE BRANDENBURG »Wollen wir uns eine Fantasiege- – und wir rutschen auch.« Sie habe an Aktion gemacht«, sagt die heute 55-Jäh- schichte erzählen?«, fragt Marion Hoff- diesem Tag »zwar etwas Rücken«, wie rige. Die Eltern der fünffachen Mutter mann. »Darüber, was im Wasser los ist?« sie sagt, trotzdem steigt sie die Stufen wohnten weit entfernt – trotzdem wollte Die 63-Jährige zeigt auf die Lübecker hinauf zu Emilia und rutscht mit ihr ge- sie ihren Kindern regelmäßigen Kontakt Obertrave, und dorthin blickt nun auch meinsam hinunter. Dann noch einmal. zu älteren Menschen ermöglichen. Und die sechsjährige Emilia. Sie sagt: »Ja, da Und einmal noch. nicht nur ihren eigenen. kommen Krebse und machen schnapp, Claudia Bolte fährt mit einem E-Bike Von diesem Kontakt profitieren bei- schnapp!« Wie Enkelin und Großmut- zum Interview vor dem Vereinsbüro auf de Seiten: »Großeltern haben mehr Zeit ter sitzen die beiden nebeneinander am der Altstadtinsel. 2008 hat sie die »Wahl- und können somit gelassener sein als El- Flussufer. Und das sind sie auch – wenn verwandtschaften Alt und Jung« als Pro- tern, die oft mitten im Alltagsstress ste- auch nicht verwandt, so doch wahlver- jekt gestartet, ein Jahr später entstand cken«, sagt Claudia Bolte. Damit seien sie wandt. ein gemeinnütziger Verein daraus. »Ich wichtige Bezugspersonen für die Kinder. Zusammengeführt hat sie der Lübe- habe damals aus einem Problem eine »Andererseits sind viele ältere Menschen cker Verein »Wahlverwandtschaften Alt und Jung«. Dessen Ziel: Generationen miteinander verbinden. Kinder, die ohne Großeltern aufwachsen, weil diese etwa nicht in der Nähe wohnen oder bereits verstorben sind. Und Großeltern, die keine eigenen Enkel haben, sich aber ger- ne um Kinder kümmern möchten. »Die bringen wir zusammen«, sagt Claudia Bolte, Gründerin und Vorsitzende des Vereins. Rund 140 Wahlverwandtschaf- ten wurden seither in Lübeck und dem Umland geschlossen, aktuell bestehen etwa 50. Wie die von Marion Hoffmann und Emilia. »Marion, Marion!« Auf dem Spiel- platz am Dom sitzt Emilia ganz oben auf einer Rutsche. In der einen Hand hält sie ihren Kuscheltier-Löwen, mit der ande- ren winkt sie ihrer Wahloma zu. Mari- on Hoffmann sagt: »Wir singen, malen Auf dem Spielplatz am Dom (v.l.n.r.): Mutter Peggy Burmeister, Vater André Lamprecht und und sammeln Tannenzapfen zusammen Tochter Emilia mit der Vereinsvorsitzenden Claudia Bolte und Wahloma Marion Hoffmann. He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 2 1
Schleswig-holstein sozial einsam. Bei uns finden sie eine Aufga- Jahre lang Bankangestellte. »Ich habe takt sorgt für einen wunderbaren Ener- be und ein soziales Netzwerk.« Zudem das Glück, dass ich nicht mehr arbei- gieaustausch.« können die Jüngeren auch den Älteren ten muss. Mir gehts saugut – deshalb Die meisten Wahlenkelinnen und helfen; etwa im Umgang mit dem Han- möchte ich anderen etwas von meiner -enkel sind im Grundschulalter, einige dy. Und natürlich entlastet es auch die Zeit schenken.« Eigene Enkel hat die auch schon Teenager. Die Wahlgroß- Eltern, wenn sich mal jemand anderes zweifache Mutter nicht; dafür trifft sie eltern sind zwischen 50 und 85 Jahre um ihre Kinder kümmert. So entsteht seit 2019 einmal pro Woche Emilia und alt, wobei es keine Begrenzungen gibt. über drei Generationen eine Win-win- geht »danach jedes Mal beflügelt nach Mit dem E-Bike – einer Spende der win-Situation. Hause«. Während Emilia jetzt auf ein Sparkassenstiftung – besucht Claudia Bevor Marion Hoffmann Wah- Klettergerüst kraxelt, hält die Wahloma Bolte alle Wahlverwandten zu Hau- loma wurde, war die Lübeckerin 40 ihren Kuscheltier-Löwen. »Unser Kon- se. Wer teilnehmen möchte, muss ein Die 63-jährige Marion Hoffmann trifft einmal pro Woche die sechsjährige Emilia und geht »danach jedes Mal beflügelt nach Hause«. 2 2 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 2 99 4/2 02 1
ärztliches Attest sowie ein polizeiliches und berufstätig, ihre Eltern wohnen weit amtlich. Sie betreuen etwa die Wahl- Führungszeugnis vorlegen. »Und wir weg. Deshalb sei sie auf der Suche nach familien oder kümmern sich um die gucken sehr genau, wer zu wem passt. Wahlgroßeltern für ihre Tochter. »Hof- Vereinsverwaltung. Und mit dem Ziel, Die Wellenlänge zwischen Alt und Jung fentlich finden wir bald jemanden für die die Generationen zusammenzubringen, muss einfach stimmen.« beiden«, sagt Claudia Bolte. »Es gibt viele organisieren sie Frühstückstreffen, Floh- Während Marion Hoffmann und Emi- interessierte junge Familien, aber leider märkte, Filmabende und andere Events – lia auf dem Spielplatz ein Holzboot entern, nur wenige Omas und Opas.« Interes- auch wenn diese in Corona-Zeiten nicht trifft Claudia Bolte eine Mutter und deren sierte können an wahlverwandtschaften oder nur in kleineren Runden stattfinden sechsjährige Tochter, die sich ebenfalls bei -luebeck@t-online.de schreiben oder sich konnten. »Für unser Engagement be- den »Wahlverwandtschaften« angemel- telefonisch unter der Nummer (0451) 58 kommt der Verein keine öffentliche För- det haben. Die Mutter ist alleinerziehend 24 96 39 melden. derung, wir sind also vollkommen auf Claudia Bolte (li.) hat den Verein »Wahlverwandtschaften Alt und Jung« gegründet, der auch Emilia und Marion Hoffmann (re.) zusammengeführt hat. »Hoffentlich finden noch viel mehr Spenden angewiesen«, sagt Claudia Bol- Wahlfamilien zusammen«, sagt André te. »Wer uns unterstützen möchte, findet Lamprecht. Er und Peggy Burmeister unsere Kontodaten unter www.wahlver sind Emilias Eltern. Es sei eine gro- wandtschaften-luebeck.de im Internet.« ße Entlastung für sie, dass sich Marion Als an der Obertrave die Fantasiege- Hoffmann regelmäßig um ihre Tochter schichte über die schnappenden Krebse kümmert, erzählen sie auf dem Weg vom auserzählt ist, gehen Marion Hoffmann Spielplatz zur Obertrave. »Emilia freut und Emilia über eine Brücke aufs ande- sich immer sehr über die Treffen mit ih- re Flussufer. Emilia stürmt einige Meter rer Wahloma«, sagt André Lamprecht. voraus, ihre Wahloma hinterher. Emilia »Und auch wir Eltern sind mit Marion lässt sich einholen und spurtet wieder wie eine richtige Familie zusammenge- los: »Nochmal!« Beide lachen. Marion wachsen.« Neben Mutter und Vater geht Hoffmann hatte von einem »Energieaus- Emilia Hand in Hand mit ihrer Wahloma. tausch« gesprochen. Passt: Denn dass sie »Ich freue mich, dass ich den Eltern Frei- heute »Rücken hat«, ist überhaupt nicht räume schaffe«, sagt Marion Hoffmann. zu bemerken. Rund 100 Menschen engagieren sich derzeit aktiv im Verein, allesamt ehren- He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 2 3
Schleswig-holstein sozial Was immer hilft Für Obdachlose ist jeder Winter gefährlich. Zusätzlich erschwert wurde ihre Lage diesmal durch den Lockdown. Wir haben mit einem Mann gesprochen, der selbst keine Wohnung hat und oft mit Obdachlosen über ihre Sorgen spricht TEXT: GEORG MEGGERS, FOTOS: HOLGER FÖRSTER »Eine ganz schwierige Zeit für Ob- lose und Bedürftige engagieren. Und das In seinen 20ern lebte Muck einige dachlose«, sagt Muck. Man erreicht den hat uns auch Muck bestätigt. Jahre ohne Obdach auf der Straße, heute HEMPELS-Verkäufer im Café »Zum Der 53-jährige Kieler heißt eigent- versucht er Obdachlosen zu helfen, die er Sofa«, einem Kieler Tagestreff für Woh- lich Gerd mit Vornamen. Weil er in sei- im »Sofa« oder in der Stadt trifft. »Jün- nungslose und Bedürftige. Weil Muck ner Familie der Kleinste war, bekam er gere unterschätzen oft die Gefahr durch kein eigenes Handy besitzt, hat ihm un- den Spitznamen nach der Märchenfigur Kälte, ich gebe ihnen Tipps.« Wichtig sei, sere Verkäuferbetreuerin ihres geliehen. »der kleine Muck«. Seither nennen ihn zwei Schlafsäcke übereinander zu benut- Wer mit jemandem telefoniert, der fast alle so; und auch unsere Verkäu- zen sowie eine Isomatte mit Pappe dar- sich gerade im »Sofa« aufhält, den er- ferbetreuerin hatte zu Beginn des Ge- unter. Und man müsse sich unbedingt wartet meist eine Soundkulisse: ein sprächs gesagt: »Ich übergebe dann mal einen Unterstand suchen. Hintergrundrauschen aus Gelächter und an Muck.« Neben der alljährlichen Kälte ver- Geschnacke, aus Stühlen, die gerückt schärft der Lockdown die Not vieler werden, und Hunden, die bellen. So Menschen: Denn einige Tagestreffs kannte man es. Nun, im Frühjahr 2021, dürfen nicht öffnen – oder wie das Café ist außer Mucks Stimme nichts zu hören. »Ich sag mal so: »Zum Sofa« nur eine begrenzte Anzahl Der Grund: Seit dem Lockdown dürfen Besuchende einlassen. »Wo sollen die sich maximal acht Personen im Café immer das Beste draus Leute hin? Vielen Wohnungslosen und aufhalten, sonst waren es im Winter bis Bedürftigen fehlt einfach ein Ort, an zu 50. Zudem mit Abstand voneinander machen« dem sie Kontakt zu anderen Menschen sowie bei regelmäßiger Durchlüftung, haben.« Und wer wie Muck kein Smart- weshalb die meisten Gäste wie Muck phone oder Laptop besitzt, der kann auch drinnen ihre Jacken tragen. persönliche Treffen auch nicht mit einer Etwa 10.000 Frauen und Männer in Vor einem Jahr verlor er seine Woh- Zoom-Konferenz ersetzen. Schleswig-Holstein haben nach Schät- nung, und er darf seither im Keller Zur Schließung einiger Tagestreffs zungen des Diakonischen Werks kei- eines Bekannten übernachten. »Ich während des Lockdowns haben wir ne eigene Wohnung oder sind akut von habe großes Glück«, sagt Muck. Glück auch Lutz Regenberg befragt, er ist Wohnungslosigkeit bedroht, mehrere bedeutet für ihn, dass er zumindest Mitarbeiter der Lübecker Vorwerker hundert müssen sogar ohne Obdach auf nachts nicht draußen friert. Und dass Diakonie und im HEMPELS-Vorstand. der Straße schlafen. Für sie ist das Le- es einen Ort gibt, an dem er sich über »Für Menschen auf der Straße ist das ben zu keiner Jahreszeit leicht und war die Pokalerfolge von Holstein Kiel ein großes Problem«, sagt er am Telefon. es auch vor Corona nicht – doch dieser freuen kann. Nicht auf einer Couch Deshalb hat die Zentrale Beratungsstel- Lockdown-Winter gefährdet und belas- vor einem Flachbildschirm, sondern le (ZBS) der Vorwerker Diakonie, in der tet sie noch stärker. Das haben uns Lutz auf seiner Matratze mit aufgedrehtem auch die HEMPELS-Straßenverkau- Regenberg und Lukas Lehmann erzählt, Radio daneben. »Ich sag mal so: immer fenden aus Lübeck und dem Umland die sich in Lübeck und Kiel für Obdach- das Beste draus machen.« betreut werden, ihre Öffnungszeiten 24 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Muck verlor vor einem Jahr seine Wohnung. Seither darf der 53-Jährige im Keller eines Bekannten übernachten. verlängert. In der ZBS können Obdach- der Straße übernachten, weil sie in kei- Altholstein und HEMPELS, die sich für lose duschen, Wäsche waschen und zur ner Einrichtung unterkommen wollen. Wohnungslose und Bedürftige engagiert. Toilette gehen; zudem bekommen sie Vieles, was das Leben obdachloser Er sagt: »Viele Hilfsangebote sind nied- Einkaufsgutscheine und Lebensmittel- Menschen in jedem Jahr erschwert, er- rigschwellig angelegt. Niemand muss pakete. schwert es in diesem Corona-Winter angeben, wie er heißt oder wo er sich auf- Die Vorwerker Diakonie hat im ver- noch mehr. Doch es gibt auch Dinge, die gehalten hat.« Das sei nun anders: »Um gangenen Jahr neben der regulären sich zum Positiven entwickelt haben. ein Infektionsgeschehen nachvollziehen Notunterkunft zusätzliche Container »Wir erleben, dass sich jetzt besonders zu können, müssen wir diese Daten jetzt errichtet, in denen Obdachlose über- viele Privatpersonen und Unternehmen aufzeichnen. Einige Menschen nehmen nachten können. Dadurch gibt es jetzt engagieren«, sagt Lutz Regenberg. Sie Hilfsangebote deshalb leider nicht wahr.« genug Plätze, um sie isoliert vonein- versorgen Obdachlose etwa mit Lebens- Die Situation sei für Obdachlose »ex- ander unterzubringen. »Und sie haben mitteln oder Schlafsäcken. Oder sie spen- trem belastend – noch belastender als großes Verständnis für die coronabe- den sie der Vorwerker Diakonie, deren sonst schon«, sagt Lukas Lehmann. »Bit- dingten Hygienemaßnahmen, denn sie Mitarbeitende sie dann an die Menschen ter ist außerdem, dass wir wegen der be- wollen sich natürlich auch nicht anste- auf der Straße weiterreichen. grenzten Besucherzahlen nur Platz für cken«, sagt Lutz Regenberg. Während Und wie sieht es in Kiel aus? Wir fra- Obdachlose in unseren Tagestreffs ha- des Kälteeinbruchs in diesem Frühjahr gen telefonisch bei Lukas Lehmann nach, ben, nicht für andere Bedürftige, denen hat die Vorwerker Diakonie zudem eine dessen Büro sich zwei Stockwerke über ja auch soziale Kontakte fehlen.« Doch weitere Wohnung angemietet. In ihr sol- dem Café »Zum Sofa« befindet. Lukas gibt es auch etwas, das jetzt gut läuft? len vor allem die Menschen Schutz vor Lehmann ist Geschäftsleiter des Kieler »Wir haben das Mittagstischangebot der Kälte finden, die sonst bewusst auf Ankers, einer Gesellschaft von Diakonie ausgebaut und wir geben hochwertige He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 25
Schleswig-holstein sozial Schlafsäcke und Isomatten sowie warme um Punkt 9 Uhr das Café, an Wochen- schwieriger ist: »Pfandsammler – die und wasserfeste Klamotten an Menschen enden verbringt er einige Stunden ein finden kaum noch Flaschen.« Weil Knei- aus, die auf der Straße schlafen.« Und Stockwerk darüber: im Tagestreff und pen geschlossen sind, geht niemand mehr wie Lutz Regenberg erlebt auch Lukas Kontaktladen (TaKo) der stadt.mission. mit einem Getränk dorthin und stellt die Lehmann, dass sich viele Menschen jetzt mensch. Im TaKo bekommt er täglich geleerte Flasche neben einen Mülleimer. besonders für Obdachlose engagieren, eine Mahlzeit vom Mittagstisch Manna; Ohne sie fehlt einigen Menschen ein etwa mit Sach- oder Geldspenden. »Das einem Gemeinschaftsprojekt des Kieler wichtiger Zuverdienst. ist echt toll!« Ankers, der stadt.mission.mensch und Bevor Muck nun das Handy zurück In Kiel war in diesem Jahr zudem erst- des Caritasverbands. »Etwas Warmes im an unsere Verkäuferbetreuerin gibt, noch mals ein Kältebus unterwegs, um woh- Bauch ist wichtig«, sagt Muck. Und: »Die eine Frage: Hat er vielleicht eine Lösung? nungs- und obdachlose Menschen mit Mitarbeiter der verschiedenen Obdach- Was könnte Obdachlosen in dieser Zeit Kleidung, Hygieneartikeln, Essen und losenhilfen setzen sich trotz aller Schwie- helfen? »Das, was ihnen immer hilft: heißen Getränken zu versorgen. Kurz- rigkeiten für Bedürftige ein. Deshalb rate Wohnungen.« Nach einer Pause sagt er fristig organisiert hatte dieses Angebot ich jedem Obdachlosen, sich dort Hilfe es noch einmal: »Wohnungen. Wir brau- Mitte Februar bis geplant Ende März zu suchen.« Gleich nach dem Mittages- chen einfach mehr bezahlbaren Wohn- der Malteser Hilfsdienst. In den kom- sen im TaKo verkauft Muck noch einige raum für alle Menschen – das wünsche menden Jahren wollen die Malteser die- Stunden unser Straßenmagazin in Kiel, ich mir.« Auch für sich selbst? »Klar, in se Hilfe während des gesamten Winters abends gehts dann zurück in die Keller- der eigenen Wohnung fühlt man sich anbieten. In Lübeck half diesen Winter Unterkunft. schon besser.« Bis dahin versucht er, das die Obdachlosenhilfe Lübeck mit einem Wenn Muck von seinem Alltag erzählt, Beste draus zu machen. Kältebus. klingt das nie nach einer Beschwerde. Zurück zu Muck, zurück ins »Sofa«. Vielleicht liegt das daran, dass er Men- Wie heute betritt er jeden Wochentag schen kennt, deren Leben gerade noch HEMPELS-Verkäufer Muck im Café »Zum Sofa«, einem Kieler Tagestreff für Wohnungslose und Bedürftige. 26 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Ich will mich entfalten. Nirgends will ich gebogen bleiben, denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin. (Rainer Maria Rilke) Hans-Peter Gustav Werner * 5.2.1950 † 7.3.2021 Sehr traurig und voller Liebe haben wir von meinem Ehemann, unserem Vater, Schwiegervater und Opa Abschied genommen. Mit Dankbarkeit schauen wir auf ein großartiges gemeinsames Leben zurück. Deine Christiane Frederik und Anna-Lena mit Paula Franziska und Matthias und Puki und Hermine Busdorf im März 2021 Ich will mich entfalten. Nirgends will ich gebogen bleiben, denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin. Peter Werner Wir trauern um unseren Genossen Peter Werner Peter war ein großer Fotograf, † 7. 3.2021 und er war ein ganz feiner Mensch. Seine Solidarität galt immer den Schwachen. DIE LINKE. Landesverband Schleswig-Holstein Danke für alles vom DIE LINKE. Flensburg DIE LINKE. Schleswig-Flensburg gesamten HEMPELS-Team DIE LINKE. Kiel DIE LINKE. Lübeck DIE LINKE. Plön DIE LINKE. Stormarn DIE LINKE. Dithmarschen DIE LINKE. Rendsburg-Eckernförde Die Bundestagsabgeordneten Cornelia Möhring und Lorenz Gösta Beutin He mpe l s # 2 99 4/2 02 1 a nzeige n | 2 7
in eigener sache Er sah das, was andere nicht sehen Zum Tod unseres Fotografen Peter Werner TEXT: PETER BRANDHORST Es dürfte in seinem Erwachsenenle- tografiere, dann schaue ich mit meiner seine Augen sahen. ben wohl nur ganz wenige Tage gegeben Kamera immer auch auf die Schwere Dass er die Fotografie immer als »po- haben, an denen er mal keine Fotokame- der Arbeit«, sagte er mal. Immer wieder litische Waffe« verstand bei den Bemü- ra in der Hand hatte. »Fotografie ist für hat er mit seinen Fotos auch auf Auslän- hungen, Veränderungen zu bewirken, mich wie eine Sucht«, hat Peter Werner derfeindlichkeit, Kriegstreiberei oder zeigt sich auch an seinem Wirken bei den mal gesagt. Und süchtig war er ja tat- Umweltverschmutzung hingewiesen. Er Kieler Arbeiterfotografen. 2008 gehörte sächlich – sehnsüchtig nach einer Ge- wolle »die Menschen mit ihren Emoti- er zu den Neubegründern dieser Verei- sellschaft, die sich Schwachen gegenüber onen zeigen«, so Werner, »ich möchte nigung, die ursprünglich zwischen den solidarisch verhält, die Ausgegrenzte mit nicht nur Blümchen oder Sonnenunter- beiden Weltkriegen innerhalb der Ar- ihren Nöten in den Blick nimmt und die gänge fotografieren.« beiterschaft entstanden war und sich die denjenigen Mut macht, die ihre Hoffnun- Peter Werner hat in Marburg Sozial- sozialdokumentarische Fotografie zur gen allzu oft schwinden sehen. wissenschaften studiert und später als Aufgabe gemacht hatte. Auch hier stand Peter Werner hat mit seinen unzähli- Gewerkschaftssekretär bei der Kieler IG für ihn immer der Wille nach visuellem gen Fotoarbeiten immer eingegriffen in Metall gearbeitet. Viele Jahre war er, der Eingreifen und Dokumentation im Mit- gesellschaftliche Diskurse. Er hat sicht- mit seiner Frau Christiane in Busdorf bei telpunkt. bar gemacht, was andere vielleicht gerne Schleswig lebte und Vater eines Sohnes Zu HEMPELS war Peter Werner erst auch übersehen. Werner war ein im bes- und einer Tochter ist, SPD-Mitglied, be- relativ spät gekommen, nach seinem Aus- ten Sinne parteiischer Fotograf – partei- vor er die Partei 2006 wegen der Hartz- scheiden aus dem gewerkschaftlichen Be- isch mit den Interessen derer, die häufig Gesetze verließ. Als sozialer Demokrat rufsleben. Und wenn man dann mit ihm keine Stimme haben. »Empathische Fo- verstand er sich weiterhin, in seinem unterwegs war, bei Reportagen und In- tografie« hat er das mal genannt – eine Denken und Handeln politisch klar posi- terviews, dann durfte man jedes Mal er- Fotografie, die Solidarität und Einigkeit tioniert, in späteren Jahren auch als Mit- leben, wie er sich zunächst ausgiebig Zeit erlebbar macht und dabei hilft, dass sich glied der Linkspartei. nahm für Gespräche mit den zu porträ- gesellschaftliche Bedingungen verän- Seinen Fotos hat man so immer an- tierenden Menschen. Peter Werner woll- dern. Die jenen mit ihren Aktivitäten ein gesehen, dass sein Herz für die Schwa- te immer verstehen, was jemanden be- Gesicht gibt, die sich bereits auf diesen chen und Ausgebeuteten schlug. Lauter schäftigt, er wollte die Geschichte hinter Weg der Veränderung gemacht haben. Fotos, die Blicke auf Seelen ermöglicht dem Menschen kennen. Er wollte nicht Denn »das, was man nicht sehen kann, haben, die Hoffnungen erlebbar und Ent- einfach nur fotografieren, er wollte ganz das hat nicht stattgefunden«. Also hat er täuschungen nachvollziehbar machten. genau wissen, was er wie und warum im immer und überall fotografiert, damit »Inhalt geht vor Form«, hat er, der Auto- Bild festhält. Und dabei hat er immer da- auch jeder und jede sieht, was stattfindet. didakt an der Kamera, seine Art des Fo- rauf geachtet, mit seinen Fotos nie eine Seine Solidarität galt dabei Obdach- tografierens genannt, »nicht umgekehrt«. Person vorzuführen. Für uns waren seine losen, Geflüchteten oder von Altersar- Peter Werner wusste, dass außergewöhn- Fotoarbeiten eine große Bereicherung. mut betroffenen Menschen genauso wie liche Fotos nicht in der Kamera entste- Nach langer und schwerer Krankheit Arbeitern, die gegen Werksschließungen hen; sie entstehen vorher im Kopf. Mit ist Peter Werner am 7. März im Alter von kämpfen. »Wenn ich in Betrieben fo- der Kamera hat er nur festgehalten, was 71 Jahren verstorben. 2 8 | in eige ner s ache Hempel s # 2 99 4/2 02 1
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