Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR

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Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR
# 299                                                         2,20 EUR
April 2021
                                                           davon 1,10 EUR
                                                               für die Ver-
                                                             käufer/innen

               Das Straßenmagazin für Schleswig-Holstein

             Gute Seelen
              Wie der Lübecker Liedermacher
             Florian Künstler Obdachlosen hilft
Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
         für obdachlose Menschen ist und bleibt der Alltag in der augenblicklichen Coro-
    na-Zeit besonders hart. Auch wenn das Wetter jetzt wieder etwas wärmer wird – die
    Einschränkungen des öffentlichen Lebens treffen sie weiterhin. Wir haben mit einem
    Betroffenen darüber gesprochen, wie die Situation in den vergangenen Wochen war. Ab
    Seite 24.
         Viel zu erzählen zum Alltag Obdachloser hat auch der Lübecker Liedermacher
    Florian Künstler. Fast hätte er mal selbst seine Wohnung verloren, inzwischen macht er
    gleich in zweifacher Hinsicht auf die große Not Betroffener aufmerksam: Im vergange-
    nen Winter ist der 35-Jährige regelmäßig im Kältebus der Obdachlosenhilfe mitgefah-
    ren und hat Kleidung und Essen verteilt. Und er hat jetzt bei einem großen Musiklabel
    ein musikalisches Plädoyer für einen menschlichen und empathischen Umgang mit
    Obdachlosen veröffentlicht. Ein Spaziergang mit dem Sänger ab Seite 10.
         Und schließlich: Am 26. September wird die nächste Bundestagswahl stattfinden.
    Welche Antworten zu wichtigen sozialen Fragen bieten da die demokratischen Partei-
    en? In einer großen Interview-Reihe wollen das 20 deutsche Straßenmagazine, unter
    ihnen wir von HEMPELS, von Berliner Politikspitzen wissen. Den Beginn macht
    diesen Monat Grünen-Chef Robert Habeck. Lesen Sie ab Seite 18.
             							                                  Ihre HEMPELS -Redaktion

                                                                    gewinnspiel

                     sofarätsel                                                 Gewinne
         Auf welcher Seite dieser HEMPELS-Ausgabe versteckt               3 x je ein Buch der Ullstein Verlagsgruppe. Im März war das kleine Sofa
         sich das kleine Sofa? Wenn Sie die Lösung wissen, dann           auf Seite 14 versteckt. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden im Mai
         schicken Sie die Seitenzahl an: raetsel@hempels-sh.de            veröffentlicht.
         oder: HEMPELS, Schaßstraße 4, 24103 Kiel. Teilnehmende
         erklären sich einverstanden, dass im Falle eines Gewinns         Im Februar haben gewonnen:
         ihr Name in HEMPELS veröffentlicht wird.                         Ulrich Griess (Dänischenhagen), Liliam Grzesiak (Flensburg) und Ingrid
                                                                          Howe (Wittmoldt) je ein Buch des Ullstein Verlags. Allen Gewinnerinnen
         Einsendeschluss ist der 30.4.2021.                               und Gewinnern herzlichen Glückwunsch!
         Der Rechtsweg ist wie immer ausgeschlossen.

2 | inh a lt                                                                                                                    Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR
Titel

                                                                                         GUTE SEELEN
                                                                                         Früher wäre Florian Künstler fast selbst mal obdachlos ge-

                                                             Titelfoto: Holger Förster
                                                                                         worden. Inzwischen hat der Lübecker Liedermacher einen
                                                                                         Plattenvertrag bei einem großen Label. Und hat dort jetzt
                                                                                         ein musikalisches Plädoyer veröffentlicht für einen mensch-
                                                                                         lichen Umgang mit denen, die auf der Straße leben. Ein Spa-
                                                                                         ziergang durch die Altstadt.
                                                                                         se i t e 10

                             das Leben in zahlen                                                                  IN EIGENER SACHE

                             4   Ein etwas anderer Blick                                                          28 Zum Tod unseres
                                 auf den Alltag                                                                         Fotografen Peter Werner

                             bild des monats                                                                      auf dem Sofa

                             6   Boah, ey!                                                                        34 Verkäuferin Crstina aus Lübeck

                             Schleswig-Holstein Sozial                                        Inhalt
                                                                                              2 Editorial
                             8  Meldungen
                             9  Wie ich es sehe:                                              31	rezept
                                Kolumne von Hans-Uwe Rehse                                    32	MUSIKTIPP; BUCHTIPP; FILMTIPP
                             17 Die Meinungsfreiheit ist                                      33	Service: Mietrecht; Sozialrecht
                                nicht bedroht                                                 36	Leserbriefe, Meldung; Impressum
                             18 Neue Interview-Reihe:
                                                                                              37	VERKÄUFER IN ANDEREN LÄNDERN, MELDUNG
                                Grünen-Chef Habeck
                                zu sozialen Fragen
                                                                                              38	Sudoku; K arik atur
                             21 Wahlverwandte: Wie ein Lübecker                               39	Satire: Scheibners Spot
                                Verein Jung und Alt hilft
                             24 Wie die Situation Obdachloser
                                im Winter war

                                                                                                                               Bitte kaufen Sie
                                                                                                                               HEMPELS nur bei
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                                                                                                                               Ausweis sichtbar tragen

He mpe l s # 2 99 4/2 02 1                                                                                                                     inh a lt | 3
Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR
das leben in zahlen

                     Deutschland: Frauen
                      verdienen weniger
 Frauen verdienen in Deutschland weiterhin weniger Geld als Männer. Im Jahr 2020 lag der durchschnittliche
  Einkommensunterschied – der sogenannte Gender-Pay-Gap – laut Statistischem Bundesamt bei 18 Prozent
 (SH: 13 %). Gegenüber dem Vorjahr ist das nur ein leichter Rückgang um 1 Prozent. In Geld bedeutet das eine
   durchschnittliche Lohnlücke von 4,16 Euro. Erklärt wird sie damit, dass Frauen häufig schlechter bezahlte
  Berufe ergreifen oder in Teilzeit arbeiten. Doch selbst bei gleicher Tätigkeit und vergleichbarer Qualifikation
                                      verdienen Frauen 6 Prozent weniger. PB

                19 %                                                 18 %
               weniger                                              weniger
                               2019                                                2020

4 | das l ebe n in z a hl en                                                                    Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR
Spanien: Frauen
              verdienen das Gleiche
          In Spanien ist die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern für eine gleichwertige Arbeit seit
        dem vergangenen Jahr verboten. Unternehmen, die gegen ein von der spanischen Regierung erlassenes
         Dekret verstoßen, drohen künftig Geldstrafen in Höhe von bis zu 187.000 Euro. Bislang betrug dort
        der sogenannte Gender-Pay-Gap – der Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen – 21
        Prozent und lag damit ähnlich hoch wie in Deutschland mit 19 Prozent. Künftig müssen Unternehmen
                         ihre Gehaltstabellen offenlegen und nach Geschlecht aufschlüsseln. PB

                                                                                                                     Foto: Pixabay

He mpe l s # 2 99 4/2 02 1                                                                   das l ebe n in z a hl e n | 5
Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR
bild des monats

Boah, ey!

6 | bil d de s mon at s                     Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR
An alle trauernden Herzen da drau-
                                                            ßen, die sich in diesen immer noch halb-
                                                            finsteren Zeiten fragen, wie sie endlich
                                                            den aufgestauten Stress der vergangenen
                                                            Monate abbauen könnten: Ruhig Blut!
                                                            »Lebbe geht weider«, hat schon mal ein
                                                            im Hessischen sozialisierter Fußball-
                                                            trainer nach einer Pleitenserie gesagt,
                                                            die Älteren unter uns werden sich viel-
                                                            leicht erinnern. Und tatsächlich, irgend-
                                                            wann durften interessierte Beobachter
                                                            staunen, dass seine Mannschaft ab und
                                                            zu auch mal gewinnen konnte.
                                                               Apropos Staunen: Staunen ist eine
                                                            positive menschliche Emotion. Wer
                                                            staunt, erkennt, dass die Welt nicht nur
                                                            aus einem selbst besteht, dass es um ei-
                                                            nen herum auch noch andere Menschen
                                                            und Dinge gibt, die die eigene Perspek-
                                                            tive zurechtrücken. Das Staunen über
                                                            Kunst und Musik beispielsweise, oder
                                                            über diese filigran anmutenden Was-
                                                            serballetttänzerinnen. Wie die das bloß
                                                            alles hinkriegen, man selbst würde sich
                                                            beim Versuch wohl eher Knoten in die
                                                            Beine binden, vielleicht … aber lassen
                                                            wir das. Staunen wir lieber, um so po-
                                                            sitiver in die Welt schauen zu können
                                                            und weniger eigenen Stress spüren zu
                                                            müssen. Amerikanische Wissenschaft-
                                                            ler haben kürzlich darauf hingewiesen,
                                                            dass schon aufmerksames Spazierenge-
                                                            hen insbesondere einsamen Menschen
                                                            dabei hilft, Sorgen und Grübeleien zu
                                                            besiegen. Im Wald den Vogelstimmen
                                                            zuhören entspannt und stärkt Gemüt
                                                            und Körper. Echt jetzt? Yep!
                             Foto: REUTERS / Stoyan Nenov

                                                               Also raus aus der Wohnung, auf zum
                                                            Spaziergang durch den Park, wenn nicht
                                                            gerade ein Lockdown daran hindert.
                                                            Und natürlich immer darauf achten,
                                                            dass einem dabei nicht erst eine nette
                                                            Spaziergängerin in die Quere kommt
                                                            und später am Abend ein paar gemein-
                                                            same Gläschen Wein. Andererseits:
                                                            Komm, lass stecken – warum eigentlich
                                                            nicht? PB

He mpe l s # 2 99 4/2 02 1                                                         bil d de s mon at s | 7
Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR
meldungen

+++                                                                     auch um andere Dinge zu kümmern. Das sei deutlich kosten-
                                                                        günstiger als die bisherigen Hilfekonzepte. In Finnland muss
Schleswig-Holstein stärkt Resozialisierung Straffälliger                der Staat mit »Housing first« pro Jahr 15.000 Euro weniger für
Die Resozialisierung von straffällig gewordenen Menschen soll           einen obdachlosen Menschen ausgeben. pb
in Schleswig-Holstein weiter gestärkt werden. Das Landeskabi-
nett hat deshalb jetzt den Entwurf eines Gesetzes zur ambu-             +++
lanten Resozialisierung und zum Opferschutz beschlossen
und dem Landtag zugeleitet. Schleswig-Holstein will so seine            Sozialverbände: Zugang zu medizinischer Versorgung
Vorreiterstellung bei der Umsetzung einer effektiven Sozialen           Soziale Hilfsorganisationen fordern eine bessere Gesundheits-
Strafrechtspflege weiter ausbauen. Bereits das Bundesverfas-            versorgung für Menschen ohne oder mit eingeschränktem
sungsgericht hat den Anspruch auf Resozialisierung in einen             Versicherungsschutz. Die Verbände machten jetzt in einer
Verfassungsrang erhoben. Es sind die äußeren Bedingungen                Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestages über
dafür zu schaffen, dass Straffällige sich nach ihrer Entlassung         Anträge von Linken und Grünen deutlich, dass etwa Woh-
in die Gesellschaft eingliedern können. »Diesem Anspruch                nungs- und Obdachlose, Geflüchtete und Beitragsschuldner
kommen wir mit dem vorgelegten Entwurf des Landesresozia-               oft keinen adäquaten Zugang zur medizinischen Versorgung
lisierungs- und Opferschutzgesetzes in vollem Umfang nach«,             hätten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe
so Justizminister Claus Christian Claussen. Zudem bilde der             (BAGW) fordert eine Anbindung an das Regelsystem. Für viele
Gesetzentwurf, nach dem Entwurf des Justizvollzugsmoderni-              Wohnungslose sei gerade in der Pandemie die medizinische
sierungsgesetzes und dem noch im Laufe der Legislaturperiode            Versorgung fragil. Diese Menschen litten oft unter Mehrfa-
abzuschließenden ressortübergreifenden Projekt Übergangs-               cherkrankungen. pb
management, den dritten Eckpfeiler für einen an Resozialisie-
rung und Sicherheit orientierten Vollzug, mit einem effektiven          +++
Übergangsmanagement aus der Haft in die Freiheit und gut
aufgestellten Ambulanten Sozialen Diensten. PB                          Covid: Mehrsprachige Videos informieren Obdachlose
                                                                        Eine Projektgruppe der Charité Berlin hat ein Covid-19-
+++                                                                     Projekt speziell für und mit obdachlosen Menschen erarbeitet.
                                                                        Kurze Videoclips sollen ihnen Zugang zu adäquaten Infor-
Berlin: Obdachlosigkeit soll bis 2030 abgeschafft werden                mationen über Covid-19, Schnelltestungen und aktuell über
Die Stadt Berlin will bis 2030 Obdachlosigkeit abschaffen               Impfungen vermitteln, die auf ihre besondere Lage in der
und damit eine Resolution des EU-Parlaments umsetzen. Das               Pandemie zugeschnitten sind. Die Videos stehen im Internet
hat Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Linken ange-               in den Sprachen Deutsch, Rumänisch, Polnisch, Russisch und
kündigt. Im vergangenen Jahr waren bei einer Zählung 2000               Englisch zur Verfügung. Eines klärt über Covid-19 auf, das
Obdachlose festgestellt worden. Insgesamt geht der Senat von            andere über Antigen-Schnelltestungen. Zugleich wolle man
50.000 Menschen aus, die keine eigene Wohnung haben und                 mit dem Projekt für die prekäre Lage obdach- und wohnungs-
notdürftig untergebracht sind. Berlin will sich an Finnland             loser Menschen in der Pandemie sensibilisieren und darüber
orientieren, wo binnen zehn Jahren den meisten Obdachlosen              aufklären. Die Filme sind im Internet schnell zu finden nach
zu einer Wohnung verholfen wurde. Man wolle deren Konzept               Eingabe der Suchbegriffe »charité obdachlose«. Unterstützung
»Housing first« umsetzen, so die Senatorin. In einer Wohnung            erfahren Obdachlose auch bei den verschiedenen Hilfeeinrich-
können Obdachlose zur Ruhe kommen und haben Zeit, sich                  tungen im Land. pb

                                      HEMPELS IM RADIO
                                      Jeden ersten Montag im Monat ist im Offenen Kanal Lübeck das HEMPELS-Radio zu hören. Nächster
                                      Sendetermin ist am 5. April ab 17.05 bis 18 Uhr. Wiederholt wird die Sendung am darauf folgenden Dienstag
                                      ab 10 Uhr. Das HEMPELS-Radio bietet einen Überblick über einige wichtige Themen des aktuellen Heftes
                                      und will zugleich Einblicke in weitere soziale Themen aus der Hansestadt ermöglichen.
                                      Zu empfangen ist der Offene Kanal im Großraum Lübeck über UKW Frequenz 98,8. Oder online über
                                      den Link »Livestream« auf www.okluebeck.de

8 | me l dungen                                                                                                               Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR
WIE ICH ES SEHE

           Wir sind eingesponnen in ein
           Netzwerk aus Beziehungen

                                                        von hans-uwe rehse

   »Alles ist mit allem verbunden!« Es klingt so naheliegend,           Ich will nicht das Streben nach Eigenständigkeit schlecht
was ich gerade in einem Buch gelesen habe. Darin geht es um          machen. Aber mir ist wichtig, auch die Grenzen eines unab-
das Ökosystem Erde. Es wird beschrieben, wie die unter-              hängigen Lebens wahrzunehmen. Die Verbindungen, in de-
schiedlichen Lebewesen »in ein riesiges Netzwerk eingewo-            nen wir stehen und von denen wir leben, sind viel zu wichtig
ben sind«. Da kann »das eine Leben (nicht) ohne das andere           für uns. Mein Vorschlag: Überlegen Sie einmal für sich selbst,
wachsen und gedeihen«. Auf verschiedenen Ebenen lässt sich           in welchen Zusammenhängen Sie eingebunden sind. Welche
das beobachten. Zum Beispiel beim sogenannten »Kohlen-               Rolle spielen die Abhängigkeiten von der Natur? Und wo sind
stoffkreislauf«: Die Pflanzen nehmen im Rahmen der Photo-            Sie angewiesen auf andere Menschen? Ich glaube, das Nach-
synthese Kohlendioxid aus der Atmosphäre auf und spalten             denken darüber kann dazu beitragen, die Beziehungen wieder
es in Kohlenstoff und Sauerstoff auf. Der Kohlenstoff wird           ernster zu nehmen, in denen wir leben. Sodass wir sie nutzen
für den Gewebeaufbau gebraucht, der Sauerstoff entweicht             und pflegen. Um das Leben leichter und Belastungen erträg-
in die Luft. Das pflanzliche Gewebe wiederum ist Nahrung             licher zu machen. Für uns Menschen und für unsere Mitge-
für Tiere und Menschen, die einen Teil davon für den Aufbau          schöpfe.
organischer Strukturen brauchen und den anderen Teil über
die Atmung wieder als Kohlendioxid an die Luft abgeben. Das
nehmen die Pflanzen wieder auf.
   Das Buch betont, dass »alle Lebensformen auf der Erde ein-
gesponnen sind in ein gigantisches Netz aus Beziehungen«.
Das sichert das Überleben und den Fortbestand der unter-
schiedlichen Lebensformen auf der Erde. Beziehungen för-                                    Hans -Uwe Rehse is t Pas tor im
dern das Leben!                                                                             Ruhe s tand und war Ge schäf t s -
   Merkwürdig, dass diese Feststellung mich überrascht hat.                                 führer der Vorwerk er Diakonie
Eigentlich werden wir doch ständig darauf gestoßen, wie eng                                 in Lübeck . SEINE KOLUMNE
alles in der Natur miteinander zusammenhängt. Aktuell zeigt                                 ER SCHEINT JEDEN MONAT
uns das ein kleines Virus. Allerdings wirkt es so, als ob für vie-
le Menschen etwas anderes im Vordergrund steht: Unabhän-
gigkeit, Eigenständigkeit, Selbstbestimmung. Keine Abhän-
gigkeiten! Diese Prioritätensetzung hat das Individuum im
Blick: »Sorge für Dich selbst! Mach was aus Deinem Leben!«
   Sie hat auch eine Kehrseite: »Ich möchte niemandem zur
Last fallen«, sagen viele. Meine Last ist etwas, womit ich allei-
ne fertig werden muss. Wie belastbar und tragfähig sind Be-
ziehungen dann noch?

Hempel s # 2 99 4/2 02 1                                                                               Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 9
Gute Seelen Wie der Lübecker Liedermacher Florian Künstler Obdachlosen hilft - 2,20 EUR
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                                                                titel

»Potenzial, um große Hallen zu füllen«: Der Lübecker Liedermacher Florian Künstler.

10 | t i t el                                                                         Hempel s # 2 99 4/2 02 1
Gute Seelen
                                 Früher wäre Florian Künstler fast
                              selbst mal obdachlos geworden. Jetzt
                               hat der Lübecker Liedermacher einen
                              Plattenvertrag – und ein musikalisches
                                 Plädoyer veröffentlicht für einen
                               menschlichen Umgang mit jenen, die
                               auf der Straße leben. Ein Spaziergang
                                         durch die Altstadt

                                                        TEXT: PETER BRANDHORST
                                                         FOTOS: HOLGER FÖRSTER

                                Eigentlich ist man mit ihm verab-      Platte hockende Obdachlose sagt zu
                             redet, um spazieren gehend über sei-      Florian Künstler: »Stimmt, ich erinner
                             ne Künste zu sprechen. Sänger und         mich, du warst erst neulich mit dem
                             Musiker ist Florian Künstler ja, seit     Bus hier.«
                             kurzem beim sehr großen Label Sony
                             unter Vertrag, und dass er – nebenbei
                             bemerkt – tatsächlich diesen Nachna-
                             men trägt, ist reiner Zufall und kein            Florian Künstlers
                             Marketingspielchen       irgendwelcher
                             Plattenfritzen. Seine Songs als Lieder-        Texte spiegeln seine
                             macher also, darum soll es gehen, vor
                             allem um seine erste Single natürlich,           eigene Biographie
                             »Diese Straßen«, ein Plädoyer für ei-
                             nen menschlichen und empathischen
                             Umgang mit Obdachlosen.
                                Und jetzt stoppt man da in der Lübe-      Manchmal lassen sich Geschichten
                             cker Altstadt auf einer dieser Straßen    über verschiedene Ebenen erzählen,
                             für einen Moment, stoppt vor einem        vieles hängt im Leben ja mit vielem zu-
                             leeren Kaufhaus, neben einer alten Ma-    sammen. Und dass man die Geschichte
                             tratze und allerhand Tüten, Dosen und     von Florian Künstler nicht nur als die
                             Decken. Und der dort auf der eiskalten    eines aufstrebenden Sängers erzählen

He mpe l s # 2 99 4/2 02 1                                                                            t i t e l | 11
Rubrik
                                                            titel

sollte, wird an diesem Nachmittag spä-       und Kleidung zu versorgen. »Und, ganz    nem Alltag, der früher manchmal auf
testens vor dem schon länger stillgeleg-     wichtig: mit Gesprächen«, fügt er hin-   der Kippe stand. »Ich war ja quasi auch
ten früherem Sportkaufhaus deutlich.         zu, »jeder Mensch wird krank, wenn       schon mal fast obdachlos«, sagt er, »das
Florian Künstler ist Musiker, klar, er       ihm niemand zuhört.«                     wenige Geld reichte gerade noch für die
ist aber auch Mensch. Etwa drei Mal im          Auch ihm geht es ja um das Zuhören,   Miete, aber nicht mehr für Essen und
Monat fährt der 35-Jährige für jeweils       als Sänger sowieso. Aber auch dann,      Strom.«
vier oder fünf Stunden im Kältebus der       wenn er von seiner persönlichen Ge-         Viele Umwege ist er im zurücklie-
Obdachlosenhilfe Lübeck mit, um auf          schichte erzählt, von seinen Zweifeln,   genden Leben gegangen, Künstlers Tex-
der Straße lebende Menschen mit Essen        von seinem Suchen und Hoffen in ei-      te spiegeln seine eigene Biographie, po-

Die Platte eines Obdachlosen beim Lübecker Hauptbahnhof.

12 | t i t e l                                                                                            Hempel s # 2 99 4/2 02 1
etisch und melancholisch und mit einer    wir gerade schon bei fremden Federn          auch der Junge Florian wird mit dem
Musik, die nicht schwermütig klingt,      sind: Ein kleines NDR-Fernsehporträt         Virus infiziert, lernt Gitarre und
die in ihrer ganzen Pracht vermeintlich   beschreibt ihn als jemand mit »Poten-        schreibt bereits früh eigene Songtexte.
schwerelos dahin schwebt. (Um Co-         zial, um große Hallen zu füllen«.)           Als Teenager holt ihn dann seine Ver-
pyrightstreitigkeiten von vornherein         Florian Künstler ist in Berlin gebo-      gangenheit ein: Er rebelliert und ver-
auszuschließen: Der letzte Halbsatz       ren, und es wäre eine Untertreibung,         weigert, stellt sich und anderen all die
stammt aus einem Pressetext der Plat-     seine ersten Kindheitsjahre als schwie-      Fragen nach seiner Herkunft, findet
tenfirma, auch dort an den Schreibti-     rig zu bezeichnen. Den schon früh an         aber keine Antworten. Verlustängste
schen arbeiten gute Schreiber. Und wo     einer Überdosis Heroin gestorbenen           kommen auf, »mit Problemen konnte

                                                                        Künstler vor den Schließfächern im Lübecker Hauptbahnhof.
                                                                    Für Obdachlose oft der Ort, wo sie ihre Habseligkeiten verstauen.

                                          Vater lernt er nie kennen; ein altes Foto    ich damals überhaupt nicht umgehen.«
                                          von ihm hielt er erstmals vor ein paar       Verknappt gesagt: Als er 18 ist, schmei-
                                          Wochen in den Händen. Die allein er-         ßen ihn die Pflegeeltern raus.
                                          ziehende Mutter war ebenfalls abhän-
                                          gig, »sie kämpfte mit ihrer Sucht und
                                          ihrer Verantwortung für das Kind«, so
                                          der Sohn rückblickend. Schon als Baby                Mit 25 gewinnt er
                                          war er immer unterwegs, mal wurde er
                                          eine Zeit lang von Freunden der Mut-           einen Gesangswettbewerb
                                          ter betreut, mal in einem Kinderheim,
                                          dann wieder noch woanders. Mit Sie-                          des NDR
                                          ben vermittelte ihn das Jugendamt in
                                          eine Pflegefamilie nach Ratekau bei
                                          Lübeck.
                                             Die folgenden Jahre dort hat Künst-         »Das hat schon sehr weh getan da-
                                          ler als »behütet und in geregelten Ver-      mals«, sagt Florian Künstler, »im Nach-
                                          hältnissen« in Erinnerung. Pflegeeltern      hinein war es aber das Beste, was mir
                                          und -schwester sind sehr musikalisch,        passieren konnte. Ich wurde ins kalte

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Liedermacher Künstler vor der Lübecker Musik- und Kongresshalle (oben) und nebenan vor
einer Skulptur.

Wasser geworfen und musste für mich          25 gewinnt er schließlich einen NDR-        Seit 2019 konzentriert er sich nur auf
selbst Verantwortung übernehmen.«            Gesangswettbewerb, steigt nach und          Musik, neben seiner Solokarriere tritt
Eine »Chaoszeit« waren die folgenden         nach tiefer in die Szene ein, irgendwann    er noch mit einer irischen Coverband
Jahre trotzdem, er bricht mehrere Aus-       werden höhere Entscheider auf ihn auf-      auf. Ende vergangenes Jahr dann die
bildungen ab, schließt eine als Medizi-      merksam.                                    erste EP »Umwege« mit vier Songs und
nischer Bademeister und Masseur auch            Mit seiner Pflegefamilie kommt er        die Single »Diese Straßen« – seine Ant-
ab, jobbt mal hier, mal dort. Zusammen       wieder ins Reine, auch zu seiner leib-      wort auf die vergangenen Krisen des
mit einem Freund beginnt er, auf klei-       lichen Mutter findet er wieder guten        Lebens, auch er musste ja schon viele
neren Musikbühnen aufzutreten, mit           Kontakt, »sie hat jetzt ein gutes Leben«.   Umwege gehen.

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»Wenn man auf der Straße landet, dann hat das immer Ursachen«: Florian Künstler im Gespräch mit einem Obdachlosen.

   Zurück in die Lübecker Altstadt, zu-          gibt Sachen, die die Seele einfach nicht       mehr auf – der ältere Mann, dem man
rück zum Arbeitsspaziergang auf Ab-              verkraften kann.« Diese Emotionen hat          ein paar Mal begegnet und der ein mit
stand. Als er »Diese Straßen« schrieb,           er dann in den Song gepackt: »Du bist ne       Schlafsack, Isomatte und allerlei Tüten
erzählt Künstler, habe er an Leute ge-           gute Seele / hast'n warmes Herz / du hast      beladenes klappriges Fahrrad von Müll-
dacht, »die ich als Straßenmusiker auch          ne raue Schale / mit nem goldnen Kern«         eimer zu Mülleimer schiebt; die junge
kennengelernt habe«, an Obdachlose                  Und jetzt, wo man ihm an diesem             Frau, die auch über jedem Müllbehältnis
und andere bettelnde Menschen. »Wenn             Nachmittag Mitte Februar zuhört auf            den Kopf tief nach unten beugt; oder die
man auf der Straße landet«, sagt Künst-          den doch sehr leeren Lübecker Stra-            in eisiger Kälte stumm auf den Straßen
ler, »dann hat das immer Ursachen. Es            ßen, da fallen sie einem plötzlich umso        sitzenden Männer mit Bettelbechern

 He mpe l s # 2 99 4/2 02 1                                                                                                     titel   | 15
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Florian Künstler vor der Lübecker Altstadtkulisse.

vor sich; und die Schlafstätten einiger         Künstler sind in diesen Corona-Zeiten       zahlung. »Funktioniert wie bei vielen
Obdachloser sowieso. »Mein Lied soll            bis auf Weiteres fast alle Verdienst-       anderen Musikern so lala, live ist ein-
ihnen eine Stimme geben«, sagt Flori-           möglichkeiten weggebrochen. Einen           fach nicht zu ersetzen«, sagt er. Ein In-
an Künstler, »es soll ermutigen, die Not        Plattenvertrag zu haben heißt nicht,        stagram-Konzert hat neulich dann aber
wahrzunehmen.«                                  dass einem da jemand jeden Monat ei-        doch ganz gut funktioniert, zusammen
                                                nen Haufen Euro aufs Konto schaufelt.       mit einem Pianisten ist er da anderthalb
                                                »Ich darf in zwei Jahren 14 Songs an        Stunden lang aufgetreten. 1500 Euro
                                                das Label liefern«, sagt Künstler, »Geld    kamen zusammen, 1500 Euro für die
     Ein Instagram-Konzert                      verdiene ich nur, wenn ich meine Musik      Lübecker Obdachlosenhilfe.
                                                bei Auftritten präsentiere.« Während er        Und an einem der nächsten Abende
    für Obdachlose erbringt                     davon erzählt, sieht man, wie er einem      wird er dann auch wieder in den Kälte-
                                                bettelnden Mann beim Vorübergehen           bus steigen, wird durch die Straßen fah-
                1500 Euro                       rasch fünf Euro zusteckt. Nein – man        ren und nach den guten Seelen schauen,
                                                sieht es nicht so richtig, man bemerkt es   denen er ein Lied geschrieben hat.
                                                vor allem deshalb, weil man ein »Dan-
                                                keschön« hört und beim Hinschauen
  Man könnte diese Geschichte hier              noch so was wie einen in einer Hosen-
beenden, einerseits; andererseits sollte        tasche verschwindenden Schein zu er-
man damit aber vielleicht noch etwas            kennen glaubt.
warten. Arm sind ja nicht nur die an-              Ab und an versucht Künstler, auf In-
deren, auch dem Liedermacher Florian            stagram Konzerte zu geben, gegen Be-

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Die Meinungsfreiheit
                               ist nicht bedroht

             Es mutet merkwürdig an, wenn sich hierzulande Rechtsextremisten und
         Rechtspopulisten zu Märtyrern der Meinungsfreiheit stilisieren – und zwar nicht,
          indem sie sich für demokratische Grundwerte einsetzen. Sondern im Gegenteil:
               Weil andere ihren menschenfeindlichen Thesen den demokratischen
         Grundkonsens entgegenhalten, in dessen Zentrum die Menschenwürde, Solidarität
         und Mitgefühl stehen. Zum Glück sind diejenigen, die soziale Kälte und Hass auf
           Andersdenkende und Schutzbedürftige verbreiten, eine Minderheit und treffen
                                 auf entschiedenen Widerspruch.

             Neben dem Respekt brauchen wir die Bereitschaft zu diskutieren und auch
         mal einen Streit zu riskieren. Es bringt nichts, wenn wir in unseren eigenen Blasen
           mit großem Pathos unsere Meinungen kundgeben, aber still bleiben, wenn die
                                  Mehrheitsmeinung eine andere ist.

                                   HEINRICH BEDFORD - STROHM; R ATSVOR-
                                   SITZENDER DER E VANGELISCHEN KIRCHE
                                          IN DEUTSCHLAND (EKD)

                                Zitiert aus: Chrismon – Das Evangelische Magazin
                                                  Foto: epd/mck

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Schleswig-holstein sozial

     »Ein Dach über dem Kopf
          wahrt Würde«
    In einer großen Interview-Reihe wollen 20 deutsche Straßenmagazine
 vor der kommenden Bundestagswahl von Berliner Politikspitzen Antworten
         zu sozialen Fragen hören. Den Anfang macht diesen Monat
                      Grünen-Co-Chef Robert Habeck

»Wir wollen Hartz IV überwinden«: Grünen-Co-Chef Robert Habeck im Interview.

18 | Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l                                      Hempel s # 2 99 4/2 02 1
INTERVIEW: ANNETTE BRUHNS, FOTOS: LUTZ JÄKEL

    Herr Habeck, vor Ihnen sitzen 20       haben deutlich schlechtere Chancen.        haben beschlossen, bis 2030 die Ob-
deutsche Straßenzeitungen, ange-           Deshalb wollen wir eine Kindergrund-       dachlosigkeit abzuschaffen. Klingt
siedelt zwischen Schleswig-Holstein        sicherung, die allen Kindern garantiert,   schön, allerdings halten sich die Din-
und München, Düsseldorf und Dres-          was sie zum Leben brauchen.                ge oft nicht an EU-Beschlüsse. Sonst
den. Gemeinsamer Nenner unserer               Und wenn nicht, würden Sie dann         wären die EU-Gewässer seit 2015 in
Fragen: Wie rot sind diese Grünen          über eine Abschaffung des Ehegat-          einem »guten Zustand«. Würde eine
eigentlich, die womöglich ab Herbst        tensplittings      Koalitionsgespräche     grüne Regierung Bundesmittel be-
mitregieren?                               platzen lassen?                            reitstellen, damit die Kommunen
    Wenn mit »rot« gemeint ist, eine          Politik bedeutet, Veränderungen vo-     Obdachlose in Wohnungen einquar-
gerechtere, sozialere Gesellschaft zu      ranzubringen – und nicht, sich durch       tieren wie es etwa Finnland vor-
schaffen, kann ich sagen: Wir haben in     rote Linien zu lähmen. Wir argumen-        macht mit seinem »Housing First«-
den letzten drei Jahren unser sozialpo-    tieren jeweils für unsere Ideen und ver-   Programm?
litisches Profil deutlich geschärft.       suchen, das Beste zu erreichen.               »Housing First« überzeugt und kor-
    Tatsächlich will Ihre Partei              ... und Hartz IV? Wäre die Abschaf-     respondiert mit unserer Forderung
Hartz IV abschaffen und durch eine         fung für Sie verhandelbar?                 nach Wohnen als Grundrecht. Studien
»Grundsicherung« ersetzen, eine               Es geht darum, politische Mehrhei-      zufolge finanziert sich das quasi selbst:
staatliche Leistung, die mehr Geld         ten zu schaffen und dann möglichst         Man stellt am Anfang das Geld bereit,
verspricht und an weniger Bedingun-        viel durchzusetzen. Eine Status-Quo-       das man später wieder einspart, etwa
gen geknüpft wäre. Der Einstieg in         Regierung wird es mit uns nicht geben.     für Sozialarbeit, Psychotherapie, Po-
ein bedingungsloses Grundeinkom-           Was wir dann klima-, sozial- oder eu-      lizei, Prozesse. Wenn der Bund ernst
men?                                       ropapolitisch durchsetzen, hängt auch      machen will mit der Abschaffung der
    Es ist richtig, dass wir Hartz IV      davon ab, wie gut wir bei der Wahl ab-     Obdachlosigkeit, sollte er den Kommu-
überwinden wollen. Wir wollen eine         schneiden.                                 nen bei »Housing First«-Programmen
Garantiesicherung, damit jede und je-         Im grünen Grundsatzprogramm             helfen.
der verlässlich vor Armut geschützt ist.   steht oft das Wort »Umverteilung«.            Der Trend geht in die gegenläufige
Sie sollte mit mehr Geld mehr Teilhabe     Würden unter einem Kanzler oder            Richtung: In Großstädten wie Ham-
ermöglichen und Anreize geben anstatt      Vizekanzler Robert Habeck die Rei-         burg hat sich die Zahl der Obdach-
die Menschen mit Sanktionen zu gän-        chen zur Kasse gebeten?                    losen in den letzten zehn Jahren fast
geln. Von einem bedingungslosen Ein-          Ich halte die höhere Besteuerung        verdoppelt. Die Mehrheit stammt
kommen unterscheidet sich das, weil es     von hohen Einkommen und Vermögen           aus armen EU-Staaten. Sie kommen,
eben doch an eine Bedingung geknüpft       für angemessen und notwendig.              um zu arbeiten, landen in prekären
ist: Die Garantiesicherung sollen die                                                 Beschäftigungsverhältnissen          und
erhalten, die es brauchen.                    Ihre Partei will das Recht auf Woh-     stranden am Ende auf der Straße. Wie
                                           nen im Grundgesetz verankern. Was          wollen die Grünen diese Elendsspira-
   Gegen Kinderarmut wollen die            versprechen Sie sich davon?                le beenden?
Grünen auch etwas tun: Eine steuer-           Eine Umkehr von der sozialpoliti-          Wenn Menschen ihr Leben in ihrem
liche »Kindergrundsicherung« soll          schen Logik, wonach ein wohnungslo-        Heimatland aufgegeben haben, um hier
Kinder unabhängig vom Beziehungs-          ser Mensch erst beweisen muss, dass sie    zu arbeiten und dann scheitern, sind
status der Eltern fördern. Dafür           oder er mit den eigenen vier Wänden        sie ja trotzdem da. Wenn dann nur Ob-
soll das Ehegattensplitting weichen.       verantwortungsvoll umgehen kann,           dachlosigkeit bleibt, verschärft sich das
Würden Sie eine schwarz-grüne Re-          bevor er einziehen darf. Umgekehrt         Elend. Deshalb wollen wir sie besser
gierungsehe für die Abschaffung der        wird ein Schuh daraus: Die Sicherheit      sozial absichern. Entscheidend ist aber,
ehelichen Splittingvorteile riskie-        eines Dachs über dem Kopf animiert         schon früher anzusetzen, also konse-
ren?                                       dazu, verantwortlicher und selbstbe-       quent gegen Schwarzarbeit und Drück-
   Alle Kinder sollten dem Staat gleich    stimmter zu leben. Das Wohnrecht und       erlöhne zu kämpfen. Damit beginnt die
viel wert sein. Das ist heute nicht der    die Grundsicherung sind für uns Pfei-      Spirale ja viel zu oft.
Fall. Gutverdiener erhalten für ihre       ler einer die Würde des Menschen ach-         Viele Unions- aber auch SPD-Po-
Kinder faktisch mehr Geld, Kinder aus      tenden Gesellschaft.                       litiker befürchten eine Sogwirkung,
einkommensschwachen         Haushalten        Bundestag und Europaparlament           wenn EU-Arbeitnehmerinnen und

He mpe l s # 2 99 4/2 02 1                                                                        Schl e s wig - hol s t ein s ozi a l | 19
Schleswig-holstein sozial

                                                                                           Schwerins Straßenzeitung hat ihre
                                                                                        Verkäuferinnen und Verkäufer ge-
                                                                                        fragt, mit welchem Promi sie gerne
                                                                                        Kaffee trinken würden. Die Men-
                                                                                        schen nannten Popstars, Sportler und
                                                                                        Schauspieler; mit einem Politiker
                                                                                        wollte niemand Kaffee trinken. War-
                                                                                        um ist Ihre Kaste so unbeliebt?
                                                                                           Vielleicht, weil Streit zum Wesen
                                                                                        der Demokratie gehört und Streiten-
                                                                                        de unsympathisch sind. Aber es ist in
                                                                                        den letzten Jahren viel Vertrauen in die
                                                                                        Handlungsfähigkeit und Fairness der
                                                                                        Politik verloren gegangen. Gewinne
                                                                                        von Banken und Spekulanten wurden
                                                                                        privatisiert, Verluste zahlte die Allge-
                                                                                        meinheit. Was sich eingebrannt hat,
                                                                                        ist das Gefühl, die Politik schützt die
Robert Habeck mit Redakteurin Annette Bruhns beim Interview.                            Macht, nicht die Menschen. Ich glaube,
                                                                                        dass wir als Politikerinnen und Politi-
                                                                                        ker sehr daran arbeiten müssen, Ver-
Arbeitnehmer gleich behandelt wür-            man wird sehen, wie das Bundesver-        trauen wieder herzustellen.
den, also dass dann immer mehr Ar-            fassungsgericht entscheidet. Aber wenn       Die Schweriner Straßenzeitung hat
beitslose aus Rumänien, Polen oder            Wohnen ein Recht ist, braucht der Staat   eine weitere Frage: Was würden Sie
Bulgarien einwandern. Wie sehen Sie           auch Mittel, um es durchsetzen zu kön-    als erstes ändern, wenn Sie Bundes-
das?                                          nen.                                      kanzler wären?
   Im Moment geraten die Leute ja vor                                                      Am liebsten: Das Containern erlau-
allem in miserable Beschäftigungsver-            Aus welchen Etats soll das Geld her-   ben! Das ist gewiss nicht die wichtigste
hältnisse. Wenn man die Gleichbehand-         kommen – für die Grundsicherung,          Reform. Aber das Verbot, brauchbare
lung an das Suchen und die Aufnahme           für »Housing First«-Wohnungen, für        Lebensmittel zu retten, ist eine Sache,
von Arbeit knüpft, ist sie gerechtfertigt.    Frauenhäuser: Wollen die Grünen           die mir besonders unsinnig erscheint
Die Leute kommen her, um zu arbeiten,         weniger für Rüstung zahlen? Oder          und die man schnell ändern könnte.
und nicht, um zu verarmen.                    den Bauern weniger geben? Sollen die
                                              Steuern steigen?
   Aus der Stadt mit den höchsten                Die Investitionsausgaben würden        Das Interview im Namen von 20 deut-
Mieten, aus München mit der Zeitung           wir kreditfinanzieren. Dazu gehö-         schen Straßenzeitungen – unter ih-
»Biss«, kommt die Frage, wie die Grü-         ren Neubauten und Sanierungen, aber       nen wir von HEMPELS – hat Annette
nen für billigen Wohnraum in teuren           auch der Bau von Frauenhäusern, Ob-       Bruhns geführt, Chefredakteurin von
Städten sorgen wollen?                        dachlosenunterkünften. Wir werben         Hinz&Kunzt in Hamburg. Das exklusi-
   Bauen! Vor allem öffentliches Bau-         seit langem dafür, die Schuldenbrem-      ve Habeck-Interview ist in diesem Su-
en hilft. Und wenn privat gebaut wird,        se dafür zu reformieren, und es gibt      perwahljahr Auftakt einer Reihe von
sollten Quartiere einen Wohnungsan-           jetzt auch Stimmen aus der CDU in die     Interviews mit Spitzenpolitikerinnen
teil für Ärmere vorhalten müssen.             Richtung. Konsumtive Ausgaben wie         und -politikern der im Bundestag ver-
   Berlin hat einen Mietendeckel statt        die Garantiesicherung müssen sich aus     tretenen demokratischen Parteien zu
der Mietpreisbremse, der grüne Be-            Steuern refinanzieren. Die größte Ge-     sozialen Fragen. Im kommenden Monat
zirk Friedrichshain trommelt für ein          rechtigkeitslücke, die wir haben, sind    wird SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz
starkes Vorkaufsrecht der öffentli-           dabei nicht bezahlte Steuern. Wenn        an der Reihe sein.
chen Hand bei Immobilien. Modelle             wir konsequent Steuerbetrug bekämp-
für den Bund?                                 fen würden, stünden EU-weit zwei- bis
   Das sind Modelle für die extremen          dreistellige Milliardensummen zur
Hochpreisgebiete in den Kommunen.             Verfügung. Da müssen wir handeln.
Es sind Eingriffe in den Markt, und

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Win-win-win
               Viele Kinder wachsen ohne Großeltern auf – zugleich möchten
             sich viele ältere Menschen um Enkel kümmern, haben aber keine
                   oder wohnen weit entfernt. Um Jung wie Alt zu helfen,
                    vermittelt ein Lübecker Verein daher Wahlverwandte

                                     TEXT: GEORG MEGGERS, FOTOS: BABETTE BRANDENBURG

   »Wollen wir uns eine Fantasiege-          – und wir rutschen auch.« Sie habe an         Aktion gemacht«, sagt die heute 55-Jäh-
schichte erzählen?«, fragt Marion Hoff-      diesem Tag »zwar etwas Rücken«, wie           rige. Die Eltern der fünffachen Mutter
mann. »Darüber, was im Wasser los ist?«      sie sagt, trotzdem steigt sie die Stufen      wohnten weit entfernt – trotzdem wollte
Die 63-Jährige zeigt auf die Lübecker        hinauf zu Emilia und rutscht mit ihr ge-      sie ihren Kindern regelmäßigen Kontakt
Obertrave, und dorthin blickt nun auch       meinsam hinunter. Dann noch einmal.           zu älteren Menschen ermöglichen. Und
die sechsjährige Emilia. Sie sagt: »Ja, da   Und einmal noch.                              nicht nur ihren eigenen.
kommen Krebse und machen schnapp,               Claudia Bolte fährt mit einem E-Bike          Von diesem Kontakt profitieren bei-
schnapp!« Wie Enkelin und Großmut-           zum Interview vor dem Vereinsbüro auf         de Seiten: »Großeltern haben mehr Zeit
ter sitzen die beiden nebeneinander am       der Altstadtinsel. 2008 hat sie die »Wahl-    und können somit gelassener sein als El-
Flussufer. Und das sind sie auch – wenn      verwandtschaften Alt und Jung« als Pro-       tern, die oft mitten im Alltagsstress ste-
auch nicht verwandt, so doch wahlver-        jekt gestartet, ein Jahr später entstand      cken«, sagt Claudia Bolte. Damit seien sie
wandt.                                       ein gemeinnütziger Verein daraus. »Ich        wichtige Bezugspersonen für die Kinder.
   Zusammengeführt hat sie der Lübe-         habe damals aus einem Problem eine            »Andererseits sind viele ältere Menschen
cker Verein »Wahlverwandtschaften Alt
und Jung«. Dessen Ziel: Generationen
miteinander verbinden. Kinder, die ohne
Großeltern aufwachsen, weil diese etwa
nicht in der Nähe wohnen oder bereits
verstorben sind. Und Großeltern, die
keine eigenen Enkel haben, sich aber ger-
ne um Kinder kümmern möchten. »Die
bringen wir zusammen«, sagt Claudia
Bolte, Gründerin und Vorsitzende des
Vereins. Rund 140 Wahlverwandtschaf-
ten wurden seither in Lübeck und dem
Umland geschlossen, aktuell bestehen
etwa 50. Wie die von Marion Hoffmann
und Emilia.
   »Marion, Marion!« Auf dem Spiel-
platz am Dom sitzt Emilia ganz oben auf
einer Rutsche. In der einen Hand hält sie
ihren Kuscheltier-Löwen, mit der ande-
ren winkt sie ihrer Wahloma zu. Mari-
on Hoffmann sagt: »Wir singen, malen           Auf dem Spielplatz am Dom (v.l.n.r.): Mutter Peggy Burmeister, Vater André Lamprecht und
und sammeln Tannenzapfen zusammen              Tochter Emilia mit der Vereinsvorsitzenden Claudia Bolte und Wahloma Marion Hoffmann.

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Schleswig-holstein sozial

einsam. Bei uns finden sie eine Aufga-         Jahre lang Bankangestellte. »Ich habe           takt sorgt für einen wunderbaren Ener-
be und ein soziales Netzwerk.« Zudem           das Glück, dass ich nicht mehr arbei-           gieaustausch.«
können die Jüngeren auch den Älteren           ten muss. Mir gehts saugut – deshalb               Die meisten Wahlenkelinnen und
helfen; etwa im Umgang mit dem Han-            möchte ich anderen etwas von meiner             -enkel sind im Grundschulalter, einige
dy. Und natürlich entlastet es auch die        Zeit schenken.« Eigene Enkel hat die            auch schon Teenager. Die Wahlgroß-
Eltern, wenn sich mal jemand anderes           zweifache Mutter nicht; dafür trifft sie        eltern sind zwischen 50 und 85 Jahre
um ihre Kinder kümmert. So entsteht            seit 2019 einmal pro Woche Emilia und           alt, wobei es keine Begrenzungen gibt.
über drei Generationen eine Win-win-           geht »danach jedes Mal beflügelt nach           Mit dem E-Bike – einer Spende der
win-Situation.                                 Hause«. Während Emilia jetzt auf ein            Sparkassenstiftung – besucht Claudia
   Bevor Marion Hoffmann Wah-                  Klettergerüst kraxelt, hält die Wahloma         Bolte alle Wahlverwandten zu Hau-
loma wurde, war die Lübeckerin 40              ihren Kuscheltier-Löwen. »Unser Kon-            se. Wer teilnehmen möchte, muss ein

Die 63-jährige Marion Hoffmann trifft einmal pro Woche die sechsjährige Emilia und geht »danach jedes Mal beflügelt nach Hause«.

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ärztliches Attest sowie ein polizeiliches      und berufstätig, ihre Eltern wohnen weit      amtlich. Sie betreuen etwa die Wahl-
Führungszeugnis vorlegen. »Und wir             weg. Deshalb sei sie auf der Suche nach       familien oder kümmern sich um die
gucken sehr genau, wer zu wem passt.           Wahlgroßeltern für ihre Tochter. »Hof-        Vereinsverwaltung. Und mit dem Ziel,
Die Wellenlänge zwischen Alt und Jung          fentlich finden wir bald jemanden für die     die Generationen zusammenzubringen,
muss einfach stimmen.«                         beiden«, sagt Claudia Bolte. »Es gibt viele   organisieren sie Frühstückstreffen, Floh-
    Während Marion Hoffmann und Emi-           interessierte junge Familien, aber leider     märkte, Filmabende und andere Events –
lia auf dem Spielplatz ein Holzboot entern,    nur wenige Omas und Opas.« Interes-           auch wenn diese in Corona-Zeiten nicht
trifft Claudia Bolte eine Mutter und deren     sierte können an wahlverwandtschaften         oder nur in kleineren Runden stattfinden
sechsjährige Tochter, die sich ebenfalls bei   -luebeck@t-online.de schreiben oder sich      konnten. »Für unser Engagement be-
den »Wahlverwandtschaften« angemel-            telefonisch unter der Nummer (0451) 58        kommt der Verein keine öffentliche För-
det haben. Die Mutter ist alleinerziehend      24 96 39 melden.                              derung, wir sind also vollkommen auf

                                                          Claudia Bolte (li.) hat den Verein »Wahlverwandtschaften Alt und Jung« gegründet,
                                                                          der auch Emilia und Marion Hoffmann (re.) zusammengeführt hat.

                                                  »Hoffentlich finden noch viel mehr         Spenden angewiesen«, sagt Claudia Bol-
                                               Wahlfamilien zusammen«, sagt André            te. »Wer uns unterstützen möchte, findet
                                               Lamprecht. Er und Peggy Burmeister            unsere Kontodaten unter www.wahlver
                                               sind Emilias Eltern. Es sei eine gro-         wandtschaften-luebeck.de im Internet.«
                                               ße Entlastung für sie, dass sich Marion           Als an der Obertrave die Fantasiege-
                                               Hoffmann regelmäßig um ihre Tochter           schichte über die schnappenden Krebse
                                               kümmert, erzählen sie auf dem Weg vom         auserzählt ist, gehen Marion Hoffmann
                                               Spielplatz zur Obertrave. »Emilia freut       und Emilia über eine Brücke aufs ande-
                                               sich immer sehr über die Treffen mit ih-      re Flussufer. Emilia stürmt einige Meter
                                               rer Wahloma«, sagt André Lamprecht.           voraus, ihre Wahloma hinterher. Emilia
                                               »Und auch wir Eltern sind mit Marion          lässt sich einholen und spurtet wieder
                                               wie eine richtige Familie zusammenge-         los: »Nochmal!« Beide lachen. Marion
                                               wachsen.« Neben Mutter und Vater geht         Hoffmann hatte von einem »Energieaus-
                                               Emilia Hand in Hand mit ihrer Wahloma.        tausch« gesprochen. Passt: Denn dass sie
                                               »Ich freue mich, dass ich den Eltern Frei-    heute »Rücken hat«, ist überhaupt nicht
                                               räume schaffe«, sagt Marion Hoffmann.         zu bemerken.
                                                  Rund 100 Menschen engagieren sich
                                               derzeit aktiv im Verein, allesamt ehren-

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Schleswig-holstein sozial

                                      Was immer hilft
         Für Obdachlose ist jeder Winter gefährlich. Zusätzlich erschwert
           wurde ihre Lage diesmal durch den Lockdown. Wir haben mit
        einem Mann gesprochen, der selbst keine Wohnung hat und oft mit
                       Obdachlosen über ihre Sorgen spricht

                                            TEXT: GEORG MEGGERS, FOTOS: HOLGER FÖRSTER

    »Eine ganz schwierige Zeit für Ob-         lose und Bedürftige engagieren. Und das       In seinen 20ern lebte Muck einige
dachlose«, sagt Muck. Man erreicht den         hat uns auch Muck bestätigt.              Jahre ohne Obdach auf der Straße, heute
HEMPELS-Verkäufer im Café »Zum                    Der 53-jährige Kieler heißt eigent-    versucht er Obdachlosen zu helfen, die er
Sofa«, einem Kieler Tagestreff für Woh-        lich Gerd mit Vornamen. Weil er in sei-   im »Sofa« oder in der Stadt trifft. »Jün-
nungslose und Bedürftige. Weil Muck            ner Familie der Kleinste war, bekam er    gere unterschätzen oft die Gefahr durch
kein eigenes Handy besitzt, hat ihm un-        den Spitznamen nach der Märchenfigur      Kälte, ich gebe ihnen Tipps.« Wichtig sei,
sere Verkäuferbetreuerin ihres geliehen.       »der kleine Muck«. Seither nennen ihn     zwei Schlafsäcke übereinander zu benut-
    Wer mit jemandem telefoniert, der          fast alle so; und auch unsere Verkäu-     zen sowie eine Isomatte mit Pappe dar-
sich gerade im »Sofa« aufhält, den er-         ferbetreuerin hatte zu Beginn des Ge-     unter. Und man müsse sich unbedingt
wartet meist eine Soundkulisse: ein            sprächs gesagt: »Ich übergebe dann mal    einen Unterstand suchen.
Hintergrundrauschen aus Gelächter und          an Muck.«                                     Neben der alljährlichen Kälte ver-
Geschnacke, aus Stühlen, die gerückt                                                     schärft der Lockdown die Not vieler
werden, und Hunden, die bellen. So                                                       Menschen: Denn einige Tagestreffs
kannte man es. Nun, im Frühjahr 2021,                                                    dürfen nicht öffnen – oder wie das Café
ist außer Mucks Stimme nichts zu hören.                »Ich sag mal so:                  »Zum Sofa« nur eine begrenzte Anzahl
Der Grund: Seit dem Lockdown dürfen                                                      Besuchende einlassen. »Wo sollen die
sich maximal acht Personen im Café                immer das Beste draus                  Leute hin? Vielen Wohnungslosen und
aufhalten, sonst waren es im Winter bis                                                  Bedürftigen fehlt einfach ein Ort, an
zu 50. Zudem mit Abstand voneinander                        machen«                      dem sie Kontakt zu anderen Menschen
sowie bei regelmäßiger Durchlüftung,                                                     haben.« Und wer wie Muck kein Smart-
weshalb die meisten Gäste wie Muck                                                       phone oder Laptop besitzt, der kann
auch drinnen ihre Jacken tragen.                                                         persönliche Treffen auch nicht mit einer
    Etwa 10.000 Frauen und Männer in              Vor einem Jahr verlor er seine Woh-    Zoom-Konferenz ersetzen.
Schleswig-Holstein haben nach Schät-           nung, und er darf seither im Keller           Zur Schließung einiger Tagestreffs
zungen des Diakonischen Werks kei-             eines Bekannten übernachten. »Ich         während des Lockdowns haben wir
ne eigene Wohnung oder sind akut von           habe großes Glück«, sagt Muck. Glück      auch Lutz Regenberg befragt, er ist
Wohnungslosigkeit bedroht, mehrere             bedeutet für ihn, dass er zumindest       Mitarbeiter der Lübecker Vorwerker
hundert müssen sogar ohne Obdach auf           nachts nicht draußen friert. Und dass     Diakonie und im HEMPELS-Vorstand.
der Straße schlafen. Für sie ist das Le-       es einen Ort gibt, an dem er sich über    »Für Menschen auf der Straße ist das
ben zu keiner Jahreszeit leicht und war        die Pokalerfolge von Holstein Kiel        ein großes Problem«, sagt er am Telefon.
es auch vor Corona nicht – doch dieser         freuen kann. Nicht auf einer Couch        Deshalb hat die Zentrale Beratungsstel-
Lockdown-Winter gefährdet und belas-           vor einem Flachbildschirm, sondern        le (ZBS) der Vorwerker Diakonie, in der
tet sie noch stärker. Das haben uns Lutz       auf seiner Matratze mit aufgedrehtem      auch die HEMPELS-Straßenverkau-
Regenberg und Lukas Lehmann erzählt,           Radio daneben. »Ich sag mal so: immer     fenden aus Lübeck und dem Umland
die sich in Lübeck und Kiel für Obdach-        das Beste draus machen.«                  betreut werden, ihre Öffnungszeiten

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Muck verlor vor einem Jahr seine Wohnung. Seither darf der 53-Jährige im Keller eines Bekannten übernachten.

verlängert. In der ZBS können Obdach-         der Straße übernachten, weil sie in kei-      Altholstein und HEMPELS, die sich für
lose duschen, Wäsche waschen und zur          ner Einrichtung unterkommen wollen.           Wohnungslose und Bedürftige engagiert.
Toilette gehen; zudem bekommen sie               Vieles, was das Leben obdachloser          Er sagt: »Viele Hilfsangebote sind nied-
Einkaufsgutscheine und Lebensmittel-          Menschen in jedem Jahr erschwert, er-         rigschwellig angelegt. Niemand muss
pakete.                                       schwert es in diesem Corona-Winter            angeben, wie er heißt oder wo er sich auf-
   Die Vorwerker Diakonie hat im ver-         noch mehr. Doch es gibt auch Dinge, die       gehalten hat.« Das sei nun anders: »Um
gangenen Jahr neben der regulären             sich zum Positiven entwickelt haben.          ein Infektionsgeschehen nachvollziehen
Notunterkunft zusätzliche Container           »Wir erleben, dass sich jetzt besonders       zu können, müssen wir diese Daten jetzt
errichtet, in denen Obdachlose über-          viele Privatpersonen und Unternehmen          aufzeichnen. Einige Menschen nehmen
nachten können. Dadurch gibt es jetzt         engagieren«, sagt Lutz Regenberg. Sie         Hilfsangebote deshalb leider nicht wahr.«
genug Plätze, um sie isoliert vonein-         versorgen Obdachlose etwa mit Lebens-            Die Situation sei für Obdachlose »ex-
ander unterzubringen. »Und sie haben          mitteln oder Schlafsäcken. Oder sie spen-     trem belastend – noch belastender als
großes Verständnis für die coronabe-          den sie der Vorwerker Diakonie, deren         sonst schon«, sagt Lukas Lehmann. »Bit-
dingten Hygienemaßnahmen, denn sie            Mitarbeitende sie dann an die Menschen        ter ist außerdem, dass wir wegen der be-
wollen sich natürlich auch nicht anste-       auf der Straße weiterreichen.                 grenzten Besucherzahlen nur Platz für
cken«, sagt Lutz Regenberg. Während              Und wie sieht es in Kiel aus? Wir fra-     Obdachlose in unseren Tagestreffs ha-
des Kälteeinbruchs in diesem Frühjahr         gen telefonisch bei Lukas Lehmann nach,       ben, nicht für andere Bedürftige, denen
hat die Vorwerker Diakonie zudem eine         dessen Büro sich zwei Stockwerke über         ja auch soziale Kontakte fehlen.« Doch
weitere Wohnung angemietet. In ihr sol-       dem Café »Zum Sofa« befindet. Lukas           gibt es auch etwas, das jetzt gut läuft?
len vor allem die Menschen Schutz vor         Lehmann ist Geschäftsleiter des Kieler        »Wir haben das Mittagstischangebot
der Kälte finden, die sonst bewusst auf       Ankers, einer Gesellschaft von Diakonie       ausgebaut und wir geben hochwertige

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Schleswig-holstein sozial

Schlafsäcke und Isomatten sowie warme        um Punkt 9 Uhr das Café, an Wochen-           schwieriger ist: »Pfandsammler – die
und wasserfeste Klamotten an Menschen        enden verbringt er einige Stunden ein         finden kaum noch Flaschen.« Weil Knei-
aus, die auf der Straße schlafen.« Und       Stockwerk darüber: im Tagestreff und          pen geschlossen sind, geht niemand mehr
wie Lutz Regenberg erlebt auch Lukas         Kontaktladen (TaKo) der stadt.mission.        mit einem Getränk dorthin und stellt die
Lehmann, dass sich viele Menschen jetzt      mensch. Im TaKo bekommt er täglich            geleerte Flasche neben einen Mülleimer.
besonders für Obdachlose engagieren,         eine Mahlzeit vom Mittagstisch Manna;         Ohne sie fehlt einigen Menschen ein
etwa mit Sach- oder Geldspenden. »Das        einem Gemeinschaftsprojekt des Kieler         wichtiger Zuverdienst.
ist echt toll!«                              Ankers, der stadt.mission.mensch und             Bevor Muck nun das Handy zurück
    In Kiel war in diesem Jahr zudem erst-   des Caritasverbands. »Etwas Warmes im         an unsere Verkäuferbetreuerin gibt, noch
mals ein Kältebus unterwegs, um woh-         Bauch ist wichtig«, sagt Muck. Und: »Die      eine Frage: Hat er vielleicht eine Lösung?
nungs- und obdachlose Menschen mit           Mitarbeiter der verschiedenen Obdach-         Was könnte Obdachlosen in dieser Zeit
Kleidung, Hygieneartikeln, Essen und         losenhilfen setzen sich trotz aller Schwie-   helfen? »Das, was ihnen immer hilft:
heißen Getränken zu versorgen. Kurz-         rigkeiten für Bedürftige ein. Deshalb rate    Wohnungen.« Nach einer Pause sagt er
fristig organisiert hatte dieses Angebot     ich jedem Obdachlosen, sich dort Hilfe        es noch einmal: »Wohnungen. Wir brau-
Mitte Februar bis geplant Ende März          zu suchen.« Gleich nach dem Mittages-         chen einfach mehr bezahlbaren Wohn-
der Malteser Hilfsdienst. In den kom-        sen im TaKo verkauft Muck noch einige         raum für alle Menschen – das wünsche
menden Jahren wollen die Malteser die-       Stunden unser Straßenmagazin in Kiel,         ich mir.« Auch für sich selbst? »Klar, in
se Hilfe während des gesamten Winters        abends gehts dann zurück in die Keller-       der eigenen Wohnung fühlt man sich
anbieten. In Lübeck half diesen Winter       Unterkunft.                                   schon besser.« Bis dahin versucht er, das
die Obdachlosenhilfe Lübeck mit einem           Wenn Muck von seinem Alltag erzählt,       Beste draus zu machen.
Kältebus.                                    klingt das nie nach einer Beschwerde.
    Zurück zu Muck, zurück ins »Sofa«.       Vielleicht liegt das daran, dass er Men-
Wie heute betritt er jeden Wochentag         schen kennt, deren Leben gerade noch

HEMPELS-Verkäufer Muck im Café »Zum Sofa«, einem Kieler Tagestreff für Wohnungslose und Bedürftige.

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Ich will mich entfalten.
                                                                Nirgends will ich gebogen bleiben,
                                                                    denn dort bin ich gelogen,
                                                                       wo ich gebogen bin.
                                                                       (Rainer Maria Rilke)

                                                         Hans-Peter Gustav Werner

                                                                 * 5.2.1950         † 7.3.2021

                                                 Sehr traurig und voller Liebe haben wir von meinem Ehemann,
                                                 unserem Vater, Schwiegervater und Opa Abschied genommen.
                                          Mit Dankbarkeit schauen wir auf ein großartiges gemeinsames Leben zurück.

                                                                         Deine Christiane
                                                                Frederik und Anna-Lena mit Paula
                                                                     Franziska und Matthias
                                                                      und Puki und Hermine

                                                                      Busdorf im März 2021

                                                                                              Ich will mich entfalten. Nirgends will ich gebogen bleiben,
                                                                                                    denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin.

                               Peter Werner                                                               Wir trauern um unseren Genossen

                                                                                                               Peter Werner

                         Peter war ein großer Fotograf,                                                             † 7. 3.2021
                       und er war ein ganz feiner Mensch.
                  Seine Solidarität galt immer den Schwachen.
                                                                                                     DIE LINKE. Landesverband Schleswig-Holstein

                               Danke für alles vom                                         DIE LINKE. Flensburg         DIE LINKE. Schleswig-Flensburg
                             gesamten HEMPELS-Team                                         DIE LINKE. Kiel              DIE LINKE. Lübeck
                                                                                           DIE LINKE. Plön              DIE LINKE. Stormarn
                                                                                           DIE LINKE. Dithmarschen      DIE LINKE. Rendsburg-Eckernförde

                                                                                                           Die Bundestagsabgeordneten
                                                                                                      Cornelia Möhring und Lorenz Gösta Beutin

He mpe l s # 2 99 4/2 02 1                                                                                                                          a nzeige n | 2 7
in eigener sache

             Er sah das, was andere
                   nicht sehen
                            Zum Tod unseres Fotografen Peter Werner

                                                     TEXT: PETER BRANDHORST

   Es dürfte in seinem Erwachsenenle-         tografiere, dann schaue ich mit meiner       seine Augen sahen.
ben wohl nur ganz wenige Tage gegeben         Kamera immer auch auf die Schwere                Dass er die Fotografie immer als »po-
haben, an denen er mal keine Fotokame-        der Arbeit«, sagte er mal. Immer wieder      litische Waffe« verstand bei den Bemü-
ra in der Hand hatte. »Fotografie ist für     hat er mit seinen Fotos auch auf Auslän-     hungen, Veränderungen zu bewirken,
mich wie eine Sucht«, hat Peter Werner        derfeindlichkeit, Kriegstreiberei oder       zeigt sich auch an seinem Wirken bei den
mal gesagt. Und süchtig war er ja tat-        Umweltverschmutzung hingewiesen. Er          Kieler Arbeiterfotografen. 2008 gehörte
sächlich – sehnsüchtig nach einer Ge-         wolle »die Menschen mit ihren Emoti-         er zu den Neubegründern dieser Verei-
sellschaft, die sich Schwachen gegenüber      onen zeigen«, so Werner, »ich möchte         nigung, die ursprünglich zwischen den
solidarisch verhält, die Ausgegrenzte mit     nicht nur Blümchen oder Sonnenunter-         beiden Weltkriegen innerhalb der Ar-
ihren Nöten in den Blick nimmt und die        gänge fotografieren.«                        beiterschaft entstanden war und sich die
denjenigen Mut macht, die ihre Hoffnun-          Peter Werner hat in Marburg Sozial-       sozialdokumentarische Fotografie zur
gen allzu oft schwinden sehen.                wissenschaften studiert und später als       Aufgabe gemacht hatte. Auch hier stand
   Peter Werner hat mit seinen unzähli-       Gewerkschaftssekretär bei der Kieler IG      für ihn immer der Wille nach visuellem
gen Fotoarbeiten immer eingegriffen in        Metall gearbeitet. Viele Jahre war er, der   Eingreifen und Dokumentation im Mit-
gesellschaftliche Diskurse. Er hat sicht-     mit seiner Frau Christiane in Busdorf bei    telpunkt.
bar gemacht, was andere vielleicht gerne      Schleswig lebte und Vater eines Sohnes           Zu HEMPELS war Peter Werner erst
auch übersehen. Werner war ein im bes-        und einer Tochter ist, SPD-Mitglied, be-     relativ spät gekommen, nach seinem Aus-
ten Sinne parteiischer Fotograf – partei-     vor er die Partei 2006 wegen der Hartz-      scheiden aus dem gewerkschaftlichen Be-
isch mit den Interessen derer, die häufig     Gesetze verließ. Als sozialer Demokrat       rufsleben. Und wenn man dann mit ihm
keine Stimme haben. »Empathische Fo-          verstand er sich weiterhin, in seinem        unterwegs war, bei Reportagen und In-
tografie« hat er das mal genannt – eine       Denken und Handeln politisch klar posi-      terviews, dann durfte man jedes Mal er-
Fotografie, die Solidarität und Einigkeit     tioniert, in späteren Jahren auch als Mit-   leben, wie er sich zunächst ausgiebig Zeit
erlebbar macht und dabei hilft, dass sich     glied der Linkspartei.                       nahm für Gespräche mit den zu porträ-
gesellschaftliche Bedingungen verän-             Seinen Fotos hat man so immer an-         tierenden Menschen. Peter Werner woll-
dern. Die jenen mit ihren Aktivitäten ein     gesehen, dass sein Herz für die Schwa-       te immer verstehen, was jemanden be-
Gesicht gibt, die sich bereits auf diesen     chen und Ausgebeuteten schlug. Lauter        schäftigt, er wollte die Geschichte hinter
Weg der Veränderung gemacht haben.            Fotos, die Blicke auf Seelen ermöglicht      dem Menschen kennen. Er wollte nicht
Denn »das, was man nicht sehen kann,          haben, die Hoffnungen erlebbar und Ent-      einfach nur fotografieren, er wollte ganz
das hat nicht stattgefunden«. Also hat er     täuschungen nachvollziehbar machten.         genau wissen, was er wie und warum im
immer und überall fotografiert, damit         »Inhalt geht vor Form«, hat er, der Auto-    Bild festhält. Und dabei hat er immer da-
auch jeder und jede sieht, was stattfindet.   didakt an der Kamera, seine Art des Fo-      rauf geachtet, mit seinen Fotos nie eine
   Seine Solidarität galt dabei Obdach-       tografierens genannt, »nicht umgekehrt«.     Person vorzuführen. Für uns waren seine
losen, Geflüchteten oder von Altersar-        Peter Werner wusste, dass außergewöhn-       Fotoarbeiten eine große Bereicherung.
mut betroffenen Menschen genauso wie          liche Fotos nicht in der Kamera entste-          Nach langer und schwerer Krankheit
Arbeitern, die gegen Werksschließungen        hen; sie entstehen vorher im Kopf. Mit       ist Peter Werner am 7. März im Alter von
kämpfen. »Wenn ich in Betrieben fo-           der Kamera hat er nur festgehalten, was      71 Jahren verstorben.

2 8 | in eige ner s ache                                                                                        Hempel s # 2 99 4/2 02 1
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