Theodosia - SCSC Ingenbohl
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Zeitschrift der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz Institut Ingenbohl CH-6440 Brunnen 134. Jahrgang Nr. 3/4 2019
Redaktionsteam: Schwester Christiane Jungo Schwester Edelgund Kuhn Schwester Verena Maria Oberhauser Schwester Elsit J. Ampattu Schwester Dorothee Halbach Adresse: christiane.jungo@kloster-ingenbohl.ch Layout und Druck: Triner Media + Print 6430 Schwyz Design: Schwester Gielia Degonda 102
Inhalt Theodosia 2019, 3 Bild 104 Wohnung und Heimat geben 127 Sr. Sandra Brodmann, Locarno, Editorial 105 Provinz Schweiz Sr. Christiane Jungo, Ingenbohl Wenn aus Fremden Freunde werden 131 Wie Franziskus mit Aussätzigen 107 Selma Zurbriggen, Luzern, Schweiz und Armen unterwegs war Aus franziskanischen Schriften zusam- Weitergabe des Charismas 136 mengestellt von Sr. Christiane Jungo Sr. Peggy Jackelen und Sr. Mary Anne Rose, Merrill, Provinz USA 140 Jahre im Dienst der Behinderten 110 – Vom Sankt Josefshaus Herten Holy Cross Mission – Gemeinsame 140 Buchauszug von Sr. M. Clarissa Rutishauser Mission der Schwestern von Ingenbohl und Menzingen in Indien Mehr als ein Beruf 112 Sr. Vijaya Sebastian Bangalore, Sr. Isabelle Zanger, Herten, Provinz Indien Süd Provinz Baden-Württemberg Begleitung in der Formation – 145 Solche Kinder liebhaben 114 Internationaler Formatorinnen Sr. Maria Thomas Müller, Herten, kongress in Assisi Provinz Baden-Württemberg Sr. Maria Magdalena Schlageter, Hegne, Provinz Baden-Württemberg 140 Jahre Lebensort für Menschen 117 mit Behinderungen – Aus unseren Provinzen und 149 Pius-Institut Bruck an der Mur Vikariaten – Christliche Bildung Sr. Romana Miklautsch † , Graz, für über 10 000 Kinder Provinz Europa Mitte Katholische Nachrichten-Agentur 50 Jahre im Caritasheim in Cerová 120 Mitteilungen der Generalleitung 151 – Erinnerungen und Jubiläums feier Sr. Margaréta Kolníková, Trnava, Provinz Slowakei 103
Editorial Die «Theodosia» beschliesst ihren 134. Jahrgang als Doppelnummer 3/4 2019. Die Beiträge illustrieren auf vielfältige Weise, was unsere Vision 2020 ausdrückt: Wir sind mit Menschen unterwegs und gestalten mit ihnen dynamisch Leben. Das sind Menschen an unseren Lebenswegen, Menschen aller Lebensphasen, Menschen unterschiedlicher Kulturen, Menschen mit und ohne Behinderungen. Sie und ihre Bedürfnisse könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch bei aller Verschiedenheit zeugen die Berichte und Erfahrungen von Offenheit, Vertrauen, Hoffnung, Mut und In-Verbindung-Sein, Haltungen, mit denen die Schwestern weltweit unterwegs sind. Hier ein Überblick: Vorbilder für die Begegnung mit Menschen haben wir viele. Heute schauen wir besonders auf Franz von Assisi, wie er schrittweise aufmerksam wird auf Men- schen an seinem Weg. Zwei grosse Institutionen für Menschen mit Behinderungen feiern dieses Jahr ihr 140-Jahr-Jubiläum. Beide verdanken ihr Bestehen der Initiative von Mutter M. The- resia Scherer: Es sind das St. Josefshaus in Herten, Deutschland, und das Pius- Institut in Bruck an der Mur, Österreich. Schwestern erzählen aus der Geschichte und ihren Erfahrungen. Cerová ist für unsere Schwestern der Slowakei ein besonderer Ort. Ein Ort der Tiefen und Höhen in den letzten 50 Jahren. Ein Rückblick, der berührt! Wenn sich eine bisherige Schule mit Internat öffnet und den Bedürfnissen der Zeit stellt, gibt es unerwartete neue Möglichkeiten für die Frauen und Schwestern. So in Locarno in der Schweiz! Wenn eine junge Frau in Uganda ein Praktikum macht, hat sie nicht nur etwas zu erzählen, sie fühlt sich auch angenommen. Wenn infolge Schwesternmangels Leitungen von Häusern an weltliche Personen übertragen werden, geschieht das auf unterschiedliche Weise. Die Schwestern der USA machen uns vor, wie auch das Charisma weitergegeben werden kann. Eine Zusammenarbeit im grossen Stil ist die «Holy Cross Mission» – die gemein- same Mission der Schwestern von Ingenbohl und Menzingen in Indien. 105
Der Formation der jungen Frauen und Schwestern Akzente zu verleihen, das war das Anliegen des Kongresses in Assisi im September dieses Jahres. Um den kirchlichen und gesellschaftlichen Bildungsauftrag besser erfüllen zu kön- nen, schlossen sich fünf franziskanisch orientierte Gemeinschaften Österreichs zusammen, darunter auch die Kreuzschwestern. In den «Mitteilungen der Generalleitung» erfahren wir von Ernennungen von Leitungen und Ankündigungen wichtiger Anlässe im kommenden Jahr. Sr. Christiane Jungo 106
Wie Franziskus mit Aussätzigen und Armen unterwegs war Aus franziskanischen Schriften zusammengestellt von Sr. Christiane Jungo Als Glieder der franziskanischen Familien kommen wir nicht um das Vorbild des Franziskus herum. Seine Vorliebe für Menschen am Rande war nicht angeboren. Er bekennt, dass es eines besonderen Ereignisses bedurfte, in das Gott ihn selbst geführt habe. Das gab ihm neue Augen und ein feines Gespür: Im Aussätzigen, in jedem Armen sah er fortan den Bruder, die Schwester, letztlich seinen geliebten Jesus. Hier liegt der Ansatz für alle unsere Aufgaben im Dienst mit und an den Menschen. Am Ende seines Lebens schreibt Fran- ziskus) von ihm (= dem Aussätzigen) ziskus ein Testament. Es gibt Auskunft den Friedensgruss.» über das, was ihn geprägt hat, was für ihn heilig war. «So hat der Herr mir, dem In 1 Celano 17 lesen wir ausführlicher: Bruder Franziskus, gegeben, das Leben «Darauf begab sich der heilige Liebha- der Busse zu beginnen: denn als ich in ber jeglicher Demütigung zu den Aus- Sünden war, kam es mir sehr bitter vor, sätzigen und lebte mit ihnen zusam- Aussätzige zu sehen. Und der Herr men, indem er mit grösster Sorgfalt al- selbst hat mich unter sie geführt, und len Gottes wegen diente und alle ich habe ihnen Barmherzigkeit erwie- Fäulnis von ihnen abwusch, sogar den sen. Und da ich fortging von ihnen, Eiter der Geschwüre abwischte, wie er wurde mir das, was mir bitter vorkam, selber in seinem Testament erzählt, wo in Süssigkeit der Seele und des Leibes er sagt: ‹Denn als ich in Sünden war, verwandelt. Und danach hielt ich eine kam es mir sehr bitter vor, Aussätzige Weile inne und verliess die Welt.» zu sehen. Und der Herr hat mich unter (Testament 1–3) sie geführt, und ich habe ihnen Barm- herzigkeit erwiesen.› – So entsetzlich Die Begegnung mit dem Aussätzigen kam ihm nämlich, wie er sagte, einst der steht also am Anfang seiner Sinnesän- Anblick von Aussätzigen vor, dass er derung. Sie verändert Franziskus nach- sich mit der Hand die Nase zuhielt, haltig. Die Dreigefährtenlegende betont, wenn er zur Zeit seines Weltlebens aus dass der Aussätzige Franziskus den einer Entfernung von etwa zwei Meilen Friedenskuss gegeben habe und nicht ihre Häuser nur sah. Als er aber nun mit umgekehrt. «Und während er sonst ge- der Gnade und Kraft des Allerhöchsten wohnt war, vor Aussätzigen grossen auf Heiliges und Nützliches zu sinnen Abscheu zu haben, tat er sich jetzt Ge- begann, begegnete er eines Tages, walt an, stieg vom Pferd, reichte dem noch in weltlichem Gewande, einem Aussätzigen ein Geldstück und küsste Aussätzigen. Da raffte er sich auf, über- ihm die Hand. Dann empfing er (= Fran- wand sich, trat hinzu und küsste ihn. – 107
Von da an begann er sich selbst mehr und mehr zu verachten, bis er durch die Barmherzigkeit des Erlösers zum voll- ständigen Sieg über sich selbst gelang- te. Auch anderen Armen war er, solan- ge er in der Welt blieb und noch den Spuren der Welt folgte, ein Helfer. Den Bedürftigen streckte er die Hand des Erbarmens entgegen und mit den Be- trübten trug er herzliches Mitleid. Als er nämlich eines Tages, ganz gegen seine Gewohnheit – er war ja sehr zuvorkom- mend –, einem Armen, der von ihm ein Almosen erbat, Vorwürfe gemacht hat- te, ergriff ihn sogleich Reue und er fing an, bei sich zu sagen, es sei für ihn eine Schmach und Schande, einem, der im Namen eines so grossen Königs bitte, das Verlangte abzuschlagen. Dann nahm er sich in seinem Herzen vor, fer- nerhin, soweit es ihm möglich sei, nie- mandem, der ihn an Gottes statt bitte, etwas zu versagen. Diesen Vorsatz hat er peinlich genau gehalten und verwirk- licht, bis er sich in jeder Beziehung selbst rückhaltlos hingab. So hat er zu- erst den evangelischen Rat ausgeführt, bevor er ihn lehrte, der da lautet: ‹Wer dich bittet, dem gib; wer von dir borgen will, von dem wende dich nicht ab!›» In der Nicht bullierten Regel 9, 3 hält Franziskus fest: Die Brüder «müssen Franziskus und der Aussätzige sich freuen, wenn sie mit gewöhnlichen Piero Casentini, zvg und verachteten Leuten verkehren, mit 108
Armen und schwachen, mit aussätzigen und mit Bettlern am Weg». Am 23. November 2017 traf Papst Fran- ziskus 400 Mitglieder der franziskani- schen Familie bei einer Audienz. Er bat sie, ihr Herz «den Leprakranken der heutigen Zeit» zu öffnen: Das Engage- ment für die Ausgeschlossenen und Zurückgesetzten dürfe nie aus einer Haltung der Überlegenheit geschehen; die Ordensleute sollten sich bewusst sein, dass sie nur zurückgäben, was sie ihrerseits umsonst empfangen hätten. Besonders rief er sie zu einer einladen- den Haltung gegenüber Obdachlosen, Arbeitslosen, unzureichend versorgten Kranken, verlassenen Alten, misshan- delten Frauen und Migranten auf. «Um- armt die Aussätzigen unserer Zeit», so der Papst. r 109
140 Jahre im Dienst an behinderten Menschen Vom Sankt Josefshaus in Herten Mutter M. Theresia hatte eine besondere Liebe für Kinder und Erwachsene, die mit einer Behinderung durchs Leben gehen mussten. Es passt zu ihr, dass sie gerne Schwestern in solche Institutionen sandte oder Anregung gab, solche zu eröffnen. Eine davon ist das Sankt Josefshaus in Herten. Schwestern der Provinz Baden-Württemberg haben dort jahrzehntelang ihr Bestes gegeben. Zwei Schwestern berichten von ihren Erfahrungen. Heute Das Sankt Josefshaus Herten ist eine katholische Einrichtung, die Hilfe für Menschen mit Behinderungen anbietet. Es gehört zu den frühesten Heimen der Behindertenhilfe in Südbaden, Deutsch- land. Herten ist ein Ortsteil von Rhein- felden. Heute ist es der grösste Arbeit- Pfarrer Karl Rolfus und Mutter M. Theresia, zvg geber in der Gegend mit etwa 1300 Mit- arbeitenden. An elf Standorten werden Weg vom Bahnhof ins Dorf begegneten rund 900 Menschen mit Behinderungen ihnen kurz nacheinander zwei «Kretine» betreut, seit 2005 auch Senioren. Das (durch Jodmangel geistig behinderte Sankt Josefshaus geht auf eine Anre- Menschen). Beim Anblick dieser Men- gung Mutter M. Theresias zurück und schen sagte die Generaloberin zum feiert 2019 sein 140-jähriges Bestehen. Pfarrer: Auch für solche Menschen müsste man etwas tun, wie unsere Schwestern in Bruck an der Mur in der Anfänge Steiermark es tun. Rolfus stimmte zwar zu, vergass das Gespräch aber wieder. Sr. M. Clarissa Rutishauser schildert Erst als Wochen später ein Brief aus In- den Ursprung im Buch «Mutter Maria genbohl eintraf, in dem sich die Gene- Theresia Scherer, Leben und Werk», raloberin nach dem Stand der Dinge Theodosius-Verlag Ingenbohl. erkundigte, kam die Sache ins Rollen. Für sie war das Haus eine abgemachte Im Winter 1878 kam Mutter Maria The- Sache gewesen, und sie stellte zum Vo- resia Scherer zur Visitation nach Her- raus Schwestern zur Verfügung. ten, wo zwei Kreuzschwestern dem Dorfpfarrer Karl Rolfus beim Aufbau ei- Mit Gottvertrauen und Unterstützung ner Krankenstation halfen. Auf dem guter Menschen erstand Rolfus ein al- 110
tes Haus: Am 30. Juni 1879 wurde das Eben trug sie eines der armen Kinder Haus «Maria Hilf» eingeweiht, als Ur- auf dem Arm, als sich eine junge Frau sprung des heutigen Sankt Josefshau- fürs Kloster vorstellte. Sie sah sie an ses. Mit drei schwer behinderten Kin- und sagte: «Wenn Sie solche Kinder dern fing es an. Rasch wurden es viele. lieben können, dürfen Sie kommen.» Als Mutter M. Theresia nach einem Jahr Sie kam und wurde Barmherzige auf Besuch kam, war sie glücklich. Schwester. r 111
Mehr als ein Beruf In der Sonderschule mit behinderten Menschen Sr. Isabella Zanger, Sankt Josefshaus, Herten, Provinz Baden-Württemberg Obschon lange pensioniert, erzählt uns Sr. Isabella begeistert von ihren Erfahrungen, von den Her- ausforderungen und Freuden in der Sonderschule in Herten. Ein Rückblick oder sonst einem Bereich: Lerngänge wie Einkaufen, richtige Abfalltrennung Meine zweite Berufung erlebte ich, als üben, Haushaltarbeiten wie Kochen, ich 1973 nach Herten kam und in der Waschen von Hand und in der Wasch- Karl-Rolfus-Schule behinderte Men- maschine, Körperpflege, Gartenarbeit, schen 31 Jahre lang unterrichten durfte Werkunterricht mit fein- und grobmoto- bis zu meiner Pensionierung im Jahr rischen Übungen zur Herstellung ver- 2004. Ein lang gehegter Wunsch ging schiedener Produkte. Das erforderliche damit in Erfüllung! Nach dem Studium didaktische Material musste ich für je- und der Ausbildung zur Fachlehrerin für den Schüler/jede Schülerin mit und geistig Behinderte hatte ich auch die ohne Hilfsmittel erstellen. fachliche Qualifikation für den Unter- richt. Ich kann sagen: Ich liebe die be- Ich unterrichtete als Klassenlehrerin hinderten Menschen in ihrer Persönlich- acht bis neun Schüler (von der Unter- keit, in ihrer Offenheit, Natürlichkeit, stufe bis zur Werkstufe), deren Kommu- Spontanität, Originalität. nikationsmöglichkeiten unterschiedlich waren. Darum nahm Kommunikation im Wichtig war für mich, die Schüler und Gesamtunterricht einen hohen Stellen- Schülerinnen in ihrem So-Sein ernst zu wert ein. Ich hatte Schüler, die nicht nehmen, mich in sie einzufühlen, sie sprechen konnten, aber bei denen kennenzulernen mit ihrem «Ist-Zustand Sprachverständnis vorhanden war. Für ihrer Fähigkeiten», um dann auf jeden diese setzte ich zum gesprochenen Schüler/jede Schülerin den Lehrplan Wort Lautgebärden sowie unterstützen- mit entsprechenden Zielen/Einzelzielen de Kommunikation zur Verständigung auszurichten. Es ist ein am Schüler ori- mit Symbolen und Bildkärtchen ein. Es entierter lebenspraktischer Unterricht, gab auch Schüler, die sich nur durch der, so weit wie möglich zur Selbstän- Mimik, kleinste Gesten wie Augenzwin- digkeit, zum Abbau von Verhaltensauf- kern, Handheben verständigen konn- fälligkeiten, zu gutem Sozialverhalten ten. Andere sprachen zwei bis drei Sät- und zur Teilnahme am Umweltgesche- ze in verwaschener Aussprache oder hen führen soll, bis hin zur späteren Ar- aber auch in vollständigem Satzaus- beit in der beschützenden Werkstatt druck. 112
Das alles bedurfte von mir ein waches de nicht vergessen, wie glücklich die Herz und Ohr, um auf vielfältige Weise Kinder waren, wenn sie an Sportfesten auf die unterschiedlichen Schüler ein- bei uns oder in Offenburg an einem zugehen und sie zu fördern. Auch autis- Fussballspiel mit Schülern einer ande- tische Schüler waren in der Klasse, die ren Sonderschule teilnehmen durften. besondere Verhaltensweisen zeigten Auch die Schullandheimaufenthalte im und viel Verständnis, Einfühlung und Schwarzwald waren mit allen dortigen Hilfe benötigten. Die «gestützte Kom- Aktivitäten wie Gesellschaftsspielen, munikation» am Computer war für sie Wanderungen, Reiten, Grillieren usw. eine Hilfe, um sich mitzuteilen. ein Erlebnis, von dem heute noch ehe- malige Schüler sprechen. Für schwer- und körperbehinderte Schüler war mir besonders wichtig, ih- Es galt für mich auch immer wieder, auf nen Freude zu bereiten über die Sinne Probleme der Schüler oder der Eltern durch basale Stimulation wie Musik und einzugehen, ihnen zuzuhören, beizuste- Rhythmus (als basale Stimulation wer- hen, zu beraten, ihr Leid zu trösten und den alle pflegerischen und therapeuti- den Entwicklungsstand in einem jährli- schen Massnahmen bezeichnet, die zur chen Bericht aufzuschreiben. Förderung von körperlich und geistig behinderten Menschen verwendet wer- Nicht vergessen darf ich: Für den religi- den). Rollen im darstellenden Spiel, ösen Unterricht zeigten die Schüler eine also im Theater, weckten das Selbst- starke Offenheit und vielfach ein er- vertrauen und das Wertgefühl. Ich wer- staunliches Verständnis. Spass machte ihnen auch, wenn wir in der Klasse mit ihnen einen Film von der Weihnachts- geschichte drehten. Begeistert schlüpf- ten sie in ihre Rolle. In den Schülergot- tesdiensten konnten und wollten sie sich auf vielfältige Weise einbringen. Wichtig war für mich immer, mit Freude und Humor den Schülerinnen und Schülern zu begegnen und mich auf sie einzulassen. Es war stets ein gegensei- tiges Geben und Nehmen, ja, ein ge- Sr. Maria Thomas Müller und Sr. Isabelle Zanger meinsames Unterwegssein. r 113
Solche Kinder lieb haben Sr. Maria Thomas Müller, Sankt Josefshaus Herten, Provinz Baden-Württemberg Was Mutter M. Theresia einer jungen Frau als Bedingung für den Klostereintritt gestellt hat, das lebt Sr. Maria Thomas seit mehr als 50 Jahren Tag für Tag. Liebe und Dankbarkeit sprechen aus ihren Erin- nerungen. Rückblick und Erfahrungen sich mit einfachen unterstützenden Ge- bärden mitteilen und kommunizieren Seit 1967 darf ich im Sankt Josefshaus konnten. Alle diese Menschen galt es, in Herten unterwegs sein mit Menschen mit individuellen Fördermassnahmen, mit einer Behinderung, insbesondere in vor allem im lebenspraktischen Bereich, deren Begleitung in der Wohngruppe. In zu fördern, sie im Alltag mit der notwen- meiner Anfangszeit lebten in der Grup- digen Assistenz zu begleiten und unter- pe 20 männliche Bewohner, damals stützen, Freizeit zu gestalten, Gottes- Schulkinder. In den letzten Jahren wa- dienste zu besuchen, Brauchtum zu ren es noch acht Personen: junge Er- pflegen, Feste zu feiern usw. wachsene, die tagsüber zur Werkstatt gehen oder eine Fördergruppe besu- Im Laufe der Jahre wurde mir immer chen. Schon daran ist zu erkennen, stärker bewusst, dass im Umgang mit dass im Verlauf der Jahre eine enorme ihnen, genau wie mit anderen Men- Entwicklung stattgefunden hat. schen auch, bestimmte Werte sehr von Bedeutung sind wie z. B.: Aufmerksam- Dabei durfte ich ganz unterschiedliche keit, Wertschätzung, Geduld, Vertrauen, Erfahrungen machen. Da begegnete ich Einfühlen, Zuhören, Verlässlichkeit, Ver- Menschen mit einer leichteren Behinde- söhnungsbereitschaft… Ganz abgese- rung und Menschen mit mehrfachen hen davon, dass wir alle mit irgendei- körperlichen und geistigen Einschrän- nem Handicap auf dem Wege sind und kungen; Menschen mit unterschiedlich so stets aufeinander angewiesen sind. stark herausforderndem Verhalten und Menschen, deren Begleitung sich einfa- Bei dem einen oder anderen Bewohner cher gestaltete; Menschen mit autisti- war es angesagt, mit ihm seine Sprache schen Zügen, psychischen Problemen, Schritt für Schritt auch selber zu lernen mit autoaggressivem Verhalten oder ei- und seine Ausdrucksmöglichkeiten zu ner Epilepsie; Menschen, die mobil wa- entdecken, wahrzunehmen und verste- ren und solche, die auf den Rollstuhl hen zu lernen. So will ich anhand von angewiesen waren; Menschen mit einer ein paar Beispielen aufzeigen, wie sich aktiven Sprache oder ganz ohne Spra- der Dialog mit einem solchen Bewohner che; Menschen, die über einen kleineren im Alltag gestaltete. Ich erinnere mich Wortschatz verfügten und solche, die an einen Jungen, der mit sieben Jahren 114
zu uns kam. Einige Worte, die er zu Telefonnähe und erwartete den Klingel- diesem Zeitpunkt sprach, konnte ich ton. War die Mutter einmal verhindert, schnell verstehen: Mama, Papa (Baba), teilte sie uns das rechtzeitig mit und Milch (Mimi), Sonne (Honne), Essen und gab eine neue Zeit durch, damit wir ihn noch ein paar andere. Lauter Dinge, die entsprechend darauf vorbereiten konn- ihm sehr wichtig waren in seinem Alltag. ten. Es hat mich immer sehr beein- Zusehends erweiterte er seinen ihm ei- druckt, wie die beiden mit den wenigen genen Wortschatz mit vielen speziellen Worten am Telefon miteinander über «Wörtern» und ruhte nicht, bis ich ver- einen längeren Zeitraum sprechen stand, was und wen er damit meinte, konnten, wie die Mutter am Tonfall sei- z. B. für bestimmte Mitbewohner und ne Fragen verstand und ihm dann von Mitarbeitende, für lieb und böse, für Kir- zu Hause erzählte, was er wissen woll- che, für Tiere, für Wünsche und Un- te. Im Austausch mit der Mutter lernten pässlichkeiten oder Missmut. Ich übte wir voneinander auch Wörter kennen, viel mit ihm mit Lottokärtchen, indem die der Junge nur zu Hause oder nur bei ich von ihm den Gegenstand auf dem uns benutzte. So war es immer mehr aufgedeckten Kärtchen benennen liess. möglich, mit ihm auch über Situationen Z. B. «Ich habe ein Auto» usw. Für ihn von zu Hause zu sprechen. war es eine gute Sprachübung, und ich lernte dabei auch seine Wörter kennen, Als ich ihn am Abend seines Sterbens die er für die einzelnen Dinge gebrauch- auf der Intensivstation nochmals be- te. Hatte er Kopfschmerzen, zog er in suchte, um Abschied zu nehmen, holte seinem Zimmer die Jalousien herunter er, als ich an sein Bett kam, gleich unter und sagte, dass er «Haareweh» habe. seiner Bettdecke die Hand hervor und Wenn ich am Morgen die Jalousien in zeigte mit dem Finger langsam nach seinem Zimmer hochzog, brachte er oben: Sein Zeichen für Gott und Him- seine Freude über den neuen Tag zum mel. Da wusste ich, dass er auch diese Ausdruck, in dem er rief: «Oh, Tag da, Situation «erkannte», und er konnte Honne (Sonne) da!» dann in Anwesenheit seiner Eltern bald darauf heimgehen an den Ort, wo Es war ihm wichtig, dass sein Bett gleichsam immer die geliebte Sonne für überzogen wurde mit Bettwäsche von ihn scheint. seiner Mama, wozu er nur sagte: «Mut- ti Bett.» Jeden Sonntag bekam er am Oft durfte ich mich erfreuen an der reli- Abend einen Anruf von seiner Mutter. Er giösen Offenheit, welche die meisten setzte sich immer schon rechtzeitig in dieser Menschen zeigten, und wie sie 115
mit dem Herzen verstanden haben, wo- habe. Nein, ich wurde auch sehr reich rauf es ankommt. beschenkt! Dazu zwei Beispiele: «Das Gramm Gold entdecken, das in Von einer Mitarbeiterin war die Mutter jedem Menschen verborgen ist.» Dieses gestorben. Als sie nach ein paar Tagen Wort, das unserer Mutter Maria There- wieder zum Dienst kam, holte ein Be- sia zugeschrieben wird, war und ist mir wohner spontan Tischdecken, Serviet- immer wieder Wegbegleiter und inspi- ten und eine Kerze. Auf meine Nachfra- riert mich für das Unterwegssein mit ge, was das solle, meinte er: «Die den Menschen; mit und ohne Behinde- Mama von (Name) feiert Auferstehung. rung, mit Mitarbeitenden und Mit- Wir müssen ein Fest feiern.» Das hat schwestern. Ich habe erfahren, dass es uns alle sehr bewegt und natürlich gab sich lohnt, immer wieder auf «Schatz- es dann eine festliche Kaffeerunde. suche» zu gehen und auch zu staunen, wie ER alle Wege mit uns geht und in Auf der Gruppe verstarb ein Bewohner. jedem einzelnen Menschen lebt und Er war der Freund des letztgenannten wirkt. Bewohners. Das war eine sehr schmerzliche Erfahrung für ihn. Da kam Inzwischen bin ich im Ruhestand und er am nächsten Tag zu mir und bat arbeite im Ehrenamt. Manchmal werde mich, mit ihm ein Osterlamm zu backen, ich von der ehemaligen Wohngruppe denn sein Freund habe jetzt Auferste- angefragt, einen Dienst zu übernehmen, hung. Natürlich habe ich ihm mit tiefer zum Beispiel bei Erkrankung von Mitar- Betroffenheit diesen Wunsch gerne er- beitenden. Ausserdem begleite ich die füllt. Wir stellten dann dieses Lamm zu Bewohner, die möchten, am Sonntag einem Bild des verstorbenen Freundes, zum Gottesdienst und mache für einzel- dazu eine Kerze. Es ist für mich ein Ge- ne oder zwei bis drei Bewohner ein klei- heimnis, wie tief der Glaube gerade in nes Freizeitangebot. Wenn ich zum diesen Menschen oftmals lebt. Mit Dienst komme, werde ich mit Freude grosser Dankbarkeit blicke ich auf diese empfangen, und ein Bewohner be- Zeit und diese Art des Unterwegsseins grüsst mich meistens mit folgenden zurück. Es war keinesfalls so, dass ich Worten: «Heute du da? Ich helfe dir!» dabei nur gefordert wurde und gegeben r 116
140 Jahre Lebensort für Menschen mit Behinderungen Pius-Institut Bruck an der Mur, Österreich Aus verschiedenen Beiträgen von Sr. Romana Miklautsch †, Graz, Provinz Europa Mitte Das Logo des Pius-Instituts lehnt sich an jenes der Kreuzschwestern weltweit an. Doch jeder Teil des Kreuzes kommt in einer anderen Farbe daher, und aus dem Kreuz rollen gleichsam farbige Bälle. Bei- des kommt in der Geschichte des Pius-Instituts reichlich vor: das Kreuz in allen Farben und Facetten, aber immer auch viel Lebensfreude. 1879 steht über dem Eingangstor des terreich die verwahrlosten Behinderten Pius-Institutes. Seither erfahren hier sah, denen sie ein Heim schaffen woll- Menschen mit besonderen Bedürfnis- te. Und so wird sie zur Initiantin und Be- sen Unterricht, Bildung und Begleitung gründerin des Pius-Institutes. Sr. Con- in ihren vielfältigen Lebenssituationen. cordia Fischer war die erste Provinz «Das Bedürfnis der Zeit ist Gottes Wil- oberin der Provinz Steiermark-Kärnten le.» Dieser Leitspruch war für Mutter und starke Förderin der jungen Einrich- Maria Theresia Scherer wohl entschei- tung. dend, als sie auf ihren Reisen durch Ös- 1879 wurde der Zehenthof der Propstei in St. Ruprecht erworben und zum Pius- Institut umbenannt, nach Papst Pius IX. Es entstand die erste Heimsonderschu- le im damaligen Österreich. Am 12. Sep tember 1879 zogen die Schwestern ein, am 10. Oktober war die eigentliche Er- öffnung des Werkes mit vier Schwes- tern und zwölf Kindern. Mutter Maria Theresia war persönlich anwesend. Die Leistungen der Schwestern wurden auch vom damaligen Kaiser Franz Josef anlässlich seines 60-Jahr-Regierungs- jubiläums mit dem goldenen Verdienst- abzeichen gewürdigt. 1882 besuchte er das Pius-Institut und gewährte jährliche Subventionen. Sr. Marija Brizar mit den letzten drei Schwestern: Das erste Konzept von 1879 bot zur Sr. Ehrentraud, Sr. Simone, Sr. Sunitha Versuchs- und Elementarschule auch 117
ein Beschäftigungsangebot und Be- 1942 kam es übrigens zur Enteignung treuung im Heim an. des Pius-Instituts. In dieser Zeit waren die Kreuzschwestern immer bei den Im Ersten und Zweiten Weltkrieg muss- Kindern. Das Pius-Institut war zwar auf- ten die Schwestern und Mitarbeitenden gehoben, aber die Aufgaben und der zum Schutz der Anvertrauten fast Un- Auftrag des Pius-Institutes wurden ide- mögliches leisten. So wurden 1914 die ell immer weitergeführt. Schulräume als Lazarett für 200 Solda- ten verwendet, bei laufendem Betrieb. 1948 bekamen wir das Institut in sehr Die Zwischenkriegszeit war durch die desolatem Zustand für unsere Tätigkeit damaligen politischen Auseinanderset- wieder zurück. Es begann eine schöne zungen nicht leicht. Trotzdem wuchs Aufbauzeit, in der ständig versucht wur- die Kinderzahl stetig: So zählte das de, den Anforderungen der Zeit zu ent- Pius-Institut 1938 300 Kinder mit 49 sprechen und die pädagogischen Ent- Schwestern. wicklungen mutig und ständig auf un- sere Verhältnisse umzusetzen. 1940 begann das NS-Regime (Natio- nalsozialismus) seinen unseligen Feld- zug des Vernichtens «unwerten Le- bens». Laufend wurden die Kinder und Jugendlichen abtransportiert. An die 200 Kinder wurden in den Raum Wien gebracht. Etwa 80 Kinder kamen nach Kainbach bei Graz, eine Zweigstelle des «Feldhofes» – heute «Siegmund Freud Klinik». Dort verblieben die Kinder mit den Schwestern einige Zeit. 1942 folgte die Übersiedlung der Kinder Unser Leitbild war immer getragen vom und Jugendlichen nach Schloss Pertl- Auftrag und Erbe unserer Gründerin stein. Nach einer abenteuerlichen Mutter M. Theresia Scherer, Menschen Flucht gelangten die Schwestern 1945 mit Beeinträchtigungen Bildung und da- mit den Kindern wieder nach Graz. Da- mit Integration zu ermöglichen und von erzählte die «Theodosia 1/2011», durch Geborgenheit und Stabilität Hei- S. 20ff: «Durchs Feuer gehen.» mat zu vermitteln. 118
Seit der Gründung war man bemüht, Die hausinterne Berufsausbildungs die soziale, pädagogische und religiöse assistenz unterstützt die Lehrlinge in Aufgabe an den Kindern bestmöglich sozialpädagogischer, psychologischer zu erfüllen, und zwar und didaktischer Hinsicht während der • durch die Führung einer guten gesamten Ausbildungszeit. Sonderschule • durch das Angebot eines zeit gemässen Heimes, in dem unsere Leitschnur und Richtung im Kinder und Jugendlichen nicht Pius-Institut nur sozial wohl organisiert, sondern vor allem auch menschlich an 1. Behinderte nach ihren Möglichkei- sprechend leben können ten fördern und sie ernst nehmen • und durch die berufliche Vorberei- 2. Sie nicht nur in die Gesellschaft in- tung, die sie hier erfahren können. tegrieren, sondern ihnen auch die bestmögliche Lebensqualität und Zur allgemeinen Sonderschule führen somit Geborgenheit und Stabilität wir ein berufsvorbereitendes Jahr. Im geben. Rahmen eines Praktikums wird geklärt, 3. Sie zu vollwertigen Gliedern der welcher Bereich des Werkstätten-/ Gesellschaft heranbilden, ohne sie Dienstleistungsbereichs in Frage kommt. nach ihrem Leistungsvermögen zu Die Jugendlichen haben die Möglichkeit, beurteilen. eine Teilqualifizierungslehre in sechs verschiedenen Lehrberufen zu absol- «Wo ein Werk geschaffen, wo ein Traum vieren: Tischler/Tischlerin, Garten-und weitergeträumt, ein Baum gepflanzt, Grünraumgestaltung mit Schwerpunkt ein Kind geboren wird, da ist das Leben Landschaftspflege, Restaurantfachfrau/ am Werk und eine Bresche ins Dunkel Restaurantfachmann, Koch/Köchin, der Zeit geschlagen», sagte Hermann Verwaltungsassistent/in, Friedhofs- und Hesse Ziergärtner/in. r 119
50 Jahre im Caritasheim in Cerová Erinnerungen und die Feier des Jubiläums Sr. Margaréta Kolníková, Trnava, Provinz Slowakei Für unsere slowakischen Schwestern ist Cerová kein gewöhnlicher Ort. Er ist Zeuge ihrer schmerz- lichsten und glücklichen Zeiten. Er ist voll von Erinnerungen in allen Farben. Cerová erzählt uns ein eindrückliches Stück Institutsgeschichte. Cerová – ein geschichtlicher Ort Das Schloss in Cerová hatte schon vor der Ankunft unserer Schwestern eine Cerová ist ein Ort des Gedächtnisses interessante Geschichte. Etwa im Jahr und «ein betendes Herz» unserer Pro- 1700 gebaut, diente es zuerst als Her- vinz in der Slowakei. Für uns ist es «Hei- rensitz, der mehreren adeligen Familien liges Land», in dem viele Lebens gehörte. Später, nach dem zweiten geschichten unserer Schwestern wie Weltkrieg und dem Beginn des totalitä- Samen eingepflanzt worden sind. Hier ren Regimes, wurde es verstaatlicht. Im haben viele unserer Schwestern die Schloss wurden Soldaten unterge- Ordensausbildung bekommen und sich bracht. Dann wurde hier eine Landwirt- auf die Ablegung ihrer Gelübde vorbe- schaftsschule gegründet und später ein reitet. Hier haben viele Schwestern Gott Waisenhaus für Buben eingerichtet. ihr Leben, Leiden und Beten gelobt. Nach dem zerstörenden Erdbeben im Jahr 1967 zerfielen die Gebäude. In den Dieses Jahr feierten wir den 50. Jahres- verlassenen Räumen wohnten dann für tag des Ankommens der ersten einige Zeit «Roma-Familien». Schwestern an diesem Ort. Aber schon bald müssen wir Cerová, das unser Zu- Unsere Schwestern wurden durch das hause geworden war, verlassen. Wir totalitäre Regime gezwungen, in das bereiten in Podunajské Biskupice ein tschechische Grenzgebiet umzusiedeln. neues Heim für unsere betagten Während der politischen «Tauwetterpe- Schwestern vor und beginnen aufs riode» unter dem Politiker Alexander Neue einen gemeinsamen Weg in ei- Dubček konnten sie aus dem Exil, aus nem Haus, aus dem wir während der der Verbannung in ihre ursprüngliche Enteignung vertrieben wurden. Es ist Heimat in die Slowakei zurückkehren. eine Gelegenheit, das Vergangene mit Auch unser ehemaliges Provinzhaus in Dankbarkeit anzuschauen und uns Podunajské Biskupice wurde in den durch die Erinnerungen in diesem Jubi- 50er-Jahren verstaatlicht. Die jüngeren läumsjahr inspirieren zu lassen von all Schwestern arbeiteten an verschiede- dem, was Gott Grosses an uns getan nen Wirkungsorten. Die betagten hat. Schwestern wurden in sogenannten 120
Caritasheimen untergebracht, wo sie im Dach, Spalten in den Wänden, durch mit Schwestern aus verschiedenen Frost zerstörte Wasserleitungen, be- Kongregationen und Instituten lebten. schädigte Stromleitungen, zerbrochene Cerová – mühsame Wieder herstellung Auf Anfrage der Oberinnen, für die Kreuzschwestern ein eigenes Heim zu bekommen, wies ihnen der Staat die Ruinen des erwähnten Schlosses in Cerová zu. Sie sollten das Anwesen zu einem funktionierenden Caritasheim umwandeln – dann werde es aus- schliesslich für sie sein. Es wurde ein wahres Zuhause bis heute. Der Beginn in Cerová war wirklich sehr schwierig. Die ersten Schwestern ka- men zwischen Ende Sommer und An- fang Herbst 1969. Was sie hier erlebt hatten, können wir am besten ausdrü- cken, wenn wir aus den Archivdoku- menten und Chroniken lesen: «Als im August 1969 die ersten zwei Schwestern aus Holíč kamen, war ihnen klar, dass im Schloss niemand wohnen konnte. Der Zustand des Schlosses war schlechthin abschreckend und erschre- ckend: Ausgerissene Stromleitungen, vermodernde Böden … Eine Türe zuzu- sperren war unmöglich, die Toiletten konnte man nicht betreten…» «In Cerová – Lieskové erwartet uns von allen Seiten Arbeit und Arbeit: Löcher Cerová während der Renovation 121
Fensterscheiben, herausgebrochene Türen, kaputte Böden und Schmutz über Schmutz. Ei – das ist die Erb- schaft, die wir bekamen! Doch wir überwanden den ersten schrecklichen Eindruck. Mit Mut im Herzen und dem Vertrauen auf Gott vereinbarten wir mit der Caritaszentrale, dass wir fähige Schwestern für die Leitung des Aufbaus und zur Unterstützung der Bauausfüh- rung zur Verfügung stellen, dass wir die Verköstigung der Arbeiter finanzieren werden, und dass die Schwestern von verschiedenen Gemeinschaften an den Brigaden teilnehmen werden.» Wegen der unbewohnbaren Räume, den harten Bedingungen und der schweren Arbeit haben unsere Schwes- tern in Cerová wahrlich «im Zeichen des Kreuzes» angefangen. Sie haben aber auch Gottes Hilfe und Segen erlebt und vor allem von den dortigen Bewohnern Hilfe bekommen. Die Schwestern der ersten Gruppe konn- ten bei ihrem Ankommen im «Schloss» fast nichts zum Übernachten finden. Deswegen haben sie sich an die Nach- barn gewandt, die ihnen grossartig ge- holfen haben. In den ersten Tagen ha- ben unsere Schwestern in drei Familien Essen und Unterkunft bekommen. Die- se Hilfe dauerte noch lange an. Nach einer Aufforderung durch den Herrn Pfarrer brachten die Leute Lebensmittel 122
und Holz für die Winterzeit. Sie sahen, nen», in die sich immer noch im Bau dass die Schwestern nicht nur beten, befindlichen Räume eingezogen. sondern auch fleissig und hart arbeiten. Mit der Zeit entwickelte sich zwischen den Schwestern und der Dorfgemeinde Cerová – unsere neue Heimat eine herzliche Beziehung, die bis heute anhält. Schon im Oktober wurden auch die be- tagten und pflegebedürftigen Schwes- Nach dem ersten Halbjahr der Vorberei- tern hierhergebracht. Zugleich war von tung für den Neuaufbau des Schlosses Anfang an auch das Noviziat in Cerová. kamen am 1. Januar 1970 die ersten Ar- Hier konnten die Novizinnen unauffällig beiter. Eine lange Etappe der Bauarbei- und geheim ihre Formation erhalten. So ten und der Rekonstruktion begann. Wir beschreibt es unsere Chronik: erinnern uns vor allem an drei Schwes- «Unter solchen Umständen wurde tern, an die «Erbauerinnen», die die an- 1971 – 1973 ein Noviziat durchgeführt. spruchsvolle Aufgabe auf sich genom- Die Novizinnen standen gemeinsam mit men und zur Errichtung des neuen Ca- ihrer Leiterin im Arbeitsverhältnis bei ritasheimes alles gegeben haben. der Caritaszentrale. Nachmittags oder abends nach den Arbeitsstunden konn- Sr. Vianea Hirjaková war die erste Obe- ten sie studieren. Im Jahr 1971 war ja rin, die Leiterin des Caritasheims und der ‹Dubčeks–Frühling› schon wieder gleichzeitig auch die «Bauführerin». Die- vorbei. In den Caritasheimen galt erneut se fähige und lebenskluge Schwester das strenge Regime wie schon vor hat ihr Leben und ihre Kraft dem Auf- 1969. Die staatliche, politische Überwa- bau von Cerová geopfert. Hier blieb sie chung wurde wieder eingeführt. Die bis zu ihrem Tod im Alter von 66 Jahren. heilige Profess, das Ablegen der Or- Ebenso sind ihre beiden Mitschwestern densgelübde, war nur in der Nacht bei – ihre Mitarbeiterinnen – Sr. Regina verdunkelten Fenstern möglich. In der Takáčová und Sr. Nazária Koprdová in Nacht vom 13. auf den 14. September besonderer Weise zu nennen. Sie ha- legten vierzehn Schwestern ihre erste ben wesentlich dazu beigetragen, dass heilige Profess ab.» aus der Schlossruine ein funktionieren- Diese jungen, mutigen Schwestern er- des Caritasheim geworden ist. wartete eine schwere Prüfung: Nach dem «Arbeitsnoviziat» und der Erstpro- Schon im Jahr 1971 sind die ersten fess kam die staatliche Anordnung, das Schwestern, «die ersten Bewohnerin- Ordenskleid auszuziehen und die Or- 123
Cerová heute densgemeinschaft zu verlassen. Diese Immer mehr Schwestern kamen nach Schwestern mussten in öffentlichen Cerová. Sie kamen als Pensionierte, Diensten arbeiten. aber auch aus aufgelösten Gemein- schaften. Jüngeren Schwestern war der Nach der vom Staat verordneten Aufhe- Aufenthalt in Cerová verboten. Die He- bung der Ordensgemeinschaft und der rausforderung war gross. Es galt, die Vertreibung der Schwestern aus dem kranken, betagten und pflegebedürfti- sogenannten «Miniprovinzhaus» in gen Mitschwestern zu betreuen und Trnava wohnte die damalige Provinz den Haushalt für das grosse Haus zu oberin Sr. Melánia Šolcová in Cerová. leisten. Im Jahr 1977 wurde das Caritasheim in Cerova durch Mutter Edelfrieda Haag In späterer Zeit ist es einer Oberin ge- zum Provinzhaus der Slowakei erhoben. lungen, die Erlaubnis zu bekommen, Es war bereits das dritte Provinzhaus. dass auch jüngere Schwestern ange- 124
stellt werden dürfen. Hier durften diese datur, Postulat, Noviziat) bis zur Able- dann auch das Ordenskleid tragen. gung der Gelübde auf Lebenszeit in Cerová statt. Am Fest Kreuzerhöhung, am 14. Sep- tember 1981, waren mit der Einweihung Gebet, Opfer, Arbeit und Mühe, Leiden des sogenannten «Kirchleins» alle Bau- und Freude, wunderschöne Lebens- arbeiten abgeschlossen. Zu spüren war und Ordensjubiläen, Einkleidungen, vor allem Dankbarkeit und Zufriedenheit Professfeiern – wie auch das Begleiten der Schwestern darüber, dass es ihnen von sterbenden Mitschwestern und das gelungen war, ein «echtes» Zuhause zu «Heimgehen» am Ende des Lebens – errichten. das alles zeichnet die Gemeinschaft in Cerová aus und ist wie ein wunderschö- nes Mosaik, das als Erinnerung bleibt. Cerová – Hoffnungslichter Im Jahre 1996 wurde der Sitz der Pro- In den 80er- und am Anfang der 90er- vinzleitung und auch der Ordensausbil- Jahre waren bis zu 187 Schwestern in dung in das neu errichtete Provinzhaus Cerová. Nach der sogenannten «Sam- nach Trnava verlegt. Seit der zweiten tenen-Revolution» durften die Schwes- Hälfte der 90er-Jahre reduziert sich die tern endlich wieder im Ordenskleid in Anzahl der Schwestern in Cerová. Dafür der Öffentlichkeit tätig sein und sich der werden die Grabstätten auf dem Fried- Pastoralarbeit widmen. Im Caritasheim hof Lieskové in Cerová immer zahlrei- wurden Exerzitien und spirituelle Be- cher. 336 Schwestern sind schon dort gegnungen für Mädchen angeboten. bestattet. Manche Leute sind einfach gekommen, um bei uns die Stille zu erleben und durch das Gebet neue Kraft zu finden. Nach den vielen Jahren war es endlich auch wieder möglich, junge Frauen ins Kloster aufzunehmen und auszubilden. Mehr als 120 von unseren Schwestern haben in Cerová den Anfang ihres Or- densweges erlebt. Nach dem Sturz des totalitären Regimes fand die Or- densausbildung in allen Phasen (Kandi- Jubelprofess 1972 125
Cerová – Dank für das Vergangene Schwester Alena Števková, die schon fast 30 Jahre als Leiterin des Caritas- Am 7. September 2019 feierten wir mit heims in Cerová dient, ihren grossen vielen Schwestern 50 Jahre Leben in Dank aus. Am Nachmittag waren Nach- Cerová. Es war eine wirklich schöne barn, Ortsbewohner und Wohltäter zu Familienfeier. Bei der Anbetung vor dem einer Agape eingeladen. Es war ein Allerheiligsten haben wir Gott in Dank- freudiges und herzliches Fest. Ein barkeit unsere Vergangenheit, die Ge- grosser Dank gilt besonders Schwester genwart und alles, was uns die Zukunft Mansueta Kráľová, der Oberin in bringt, übergeben. Durch eine Power- Cerová. Point-Präsentation wurde allen Anwe- senden die Geschichte dieses beson- Bis das schon erwähnte neue Heim in deren und liebgewordenen Ortes noch- Podunajské Biskupice bezugsbereit ist, mals lebendig. Der festliche Dankgot- bleibt Cerová das Zuhause für unsere tesdienst mit Msgr. Stanislav Zvolenský, betagten und pflegebedürftigen Mit- Erzbischof von Bratislava, und mehre- schwestern. Sie erbitten hier durch ihr ren Mitzelebrierenden hat den Tag ge- Gebet und durch das Annehmen ihrer krönt. Schwester Šebastiana Tuptová, Leiden Gottes Segen für unsere Kon- Provinzoberin, drückte den Schwestern gregation, für die Kirche und für die der dortigen Gemeinschaft, besonders ganze Welt. r Die gegenwärtige Gemeinschaft in Cerová, Ostern 2019 126
Wohnung und Heimat geben Sr. Sandra Brodmann, Villa Erica, Locarno, Tessin, Provinz Schweiz Nach der Generalvisitation bat uns Sr. Dorothee Halbach, einen Bericht über unseren Einsatz für die Frauen zu schreiben, mit denen wir tagtäglich unterwegs sind. Ein Blick zurück verständlichkeit war. In den 70er-Jahren musste die alte Villa aus Sicherheits- 1933 übernahmen die Kreuzschwestern gründen abgerissen werden, und an der das Haus Villa Erica in Locarno, um er- gleichen Stelle wurde 1978 der heutige holungsbedürftigen Schwestern und Bau erstellt. Das Internat bot max. 90 Frauen eine Unterkunft zu geben. Nach Schülerinnen in Doppelzimmern mit ei- zehn Jahren jedoch wurde die Pension gener Nasszelle Unterkunft. aufgegeben und eine Mädchenschule eröffnet, da die Ausbildung junger Frau- Nach 72 Jahren mussten wir 2015 die en auch im Tessin noch keine Selbst- Sprach- und Handelsschule wegen Schwesternmangel schliessen. Zur glei- chen Zeit wurden für das nun 40-jährige Haus Sanierungsarbeiten ins Auge ge- fasst. Da wir schon seit zwanzig Jahren auch ehemaligen Schülerinnen Zimmer vermieteten und erkannten, dass solche günstigen Angebote in Locarno fehlten, wurde entschieden, aus der Villa ein Haus der Mehrgenerationen zu ma- chen, indem wir auch Wohnungen für noch selbstständige Betagte dazu plan- ten. Der Mensch denkt, doch Gott lenkt. Durch Rekurse von Nachbarn mussten wir während der Bauarbeiten umstellen und statt Wohnungen vor al- lem Einzelzimmer mit Gruppenküchen einrichten. Die Gegenwart Schon während der Bauarbeiten stieg Ehemalige Schule Villa Erica die Nachfrage nach Zimmern an, und 127
Bewohnerinnen heute beherbergen wir über dreissig 18- die Abende in eifrigen Diskussionen und bis 64-jährige Frauen. Das Haus ist fast in Lebhaftigkeit miteinander verbringen. immer voll ausgebucht. Zurzeit sind Die jungen Frauen haben das Bedürfnis etwa die Hälfte junge Frauen in ver- nach Gemeinschaft und schätzen es zu- schiedenen Ausbildungen, z. B. Studen- dem, wenn wir Schwestern Anteil an ih- tinnen der Pädagogischen Hochschule, ren Erfahrungen nehmen. Praktikantinnen in sozialen Berufen, aus dem Tessin, aber besonders aus Italien, Während der Sommerferien können die die bei uns ein günstiges Zimmer an ei- Studentinnen ihr Zimmer abgeben, und nem sicheren Ort suchen. Sie schätzen wir öffnen das Haus für Gäste des inter- das ruhige Haus, wo sie gut studieren nationalen Filmfestivals. Viele sind können. Zudem hat jede ein eigenes schon Stammgäste bei uns und kom- Zimmer mit Nasszelle, um sich zurück- men zum Teil von weit her, z. B. ein thai- zuziehen. Und die verschiedenen Wohn- ländischer Filmkritiker oder eine Gruppe küchen bieten Gelegenheit, gemeinsam aus Taiwan, die mit ihrem Film auf die zu essen und sich auszutauschen. Es heikle Situation in ihrem Land aufmerk- freut uns zu sehen und zu hören, wie sie sam machen will. 128
Ein Obdach für Leib und Seele Die Nachfrage nach günstigen Zimmern von Frauen jeglichen Alters zeigte sich als unvorhergesehenes, neues Bedürf- nis. Vermehrt kommen Ausländerinnen und Frauen in Notsituationen zu uns. Wir vermieten die Zimmer nur monats- weise; für gewisse geht es um eine Übergangslösung, andere bleiben meh- rere Jahre bei uns. Unsere Mieterinnen sind Frauen aus dem Tessin oder aus der restlichen Schweiz, aus Italien, Deutschland, Frankreich, Kroatien, Spa nien, Russland, Brasilien, Uruguay, aus der Türkei und der Dominikanischen Republik. Momentan beherbergen wir Frauen aus Polen und Rumänien, die als Altenpflegerinnen bei Betagten zu Sr. Sandra, Sr. Gerda und Sr. Marialuisa Hause arbeiten. Dann haben wir jünge- re und ältere Frauen, besonders aus stehen diese Frauen mit den Koffern auf Italien, die unbedingt Arbeit suchen, der Strasse. Eine sagte kürzlich stellver- was in ihrer Heimat aussichtslos ist. Alle tretend für andere: «Wir sind dankbar, diese Frauen finden bei uns, so wie sie dass es euch Schwestern gibt, denn selbst sagen, Wohnung, Heimat und Si- sonst kümmert sich niemand um uns.» cherheit. Ihre Geschichten, ihre aktuel- len Situationen und Probleme sind be- Bei uns finden sie auch Frauen, die ihre eindruckend. Alle leiden unter der Ferne eigene Sprache sprechen, die gleiche zu ihren Familien, nehmen das aber auf Mentalität haben und ähnliche schwie- sich, um diese in schwierigen Situatio- rige Situationen erleben. Sie helfen und nen finanziell zu unterstützen. Bei uns unterstützen sich gegenseitig. Sie brau- in der Schweiz werden sie oft ausge- chen das offene Ohr einer Schwester, nützt, können sich jedoch nicht wehren, die sich von ihren Problemen berühren um die Stelle nicht zu verlieren. Wenn lässt und nebst einem guten Wort oft die zu Betreuenden plötzlich schwere konkrete Hilfe leistet, besonders in Zei- Pflegefälle werden oder sogar sterben, ten der Arbeitslosigkeit oder wenn sie 129
sogar ausgesteuert werden. Viele von Gottes Führung und unsere Flexibilität ihnen können nur dank der bescheide- hat sich jedoch ein neues Apostolat für nen Miete ein würdiges Leben führen. zum Teil besorgniserregende Bedürf- nisse aufgezeigt, die uns vorher nicht bekannt waren. Offenheit und Solidari- Die drei Schwestern tät mit Frauen aus verschiedenen Län- dern und in verschiedensten Situatio- Wir drei Schwestern sind zudem in zwei nen ist für uns drei Schwestern eine Pfarreien tätig und auf diese Art mit neue, sinnvolle Herausforderung. Menschen und ihren Schicksalen unter- wegs. Eine der Schwestern gibt auch Tagtäglich da zu sein für Benachteiligte, Deutschunterricht, z. B. Priestern und und so auch indirekt ihren bedürftigen Ärzten, damit sie die ihnen Anvertrauten Familien im Ausland zu helfen, ist für besser begleiten können. uns Schwestern ein Weiterführen des Auftrags von Mutter M. Theresia, unter Nach der Schliessung der Schule lag es deren Schutz und Führung wir stehen. nahe, weiterhin unseren Beitrag zur Bil- Wir sind überzeugt, dass sie uns ermu- dung junger Frauen zu leisten. Durch tigend zulächelt. r 130
Wenn aus Fremden Freunde werden Selma Zurbriggen, Luzern, Schweiz Als junge Frau engagiert sich Selma Zurbriggen (20) mit «Voyage-Partage» in einem kirchlichen Pro- jekt. Dabei taucht sie in eine neue Kultur ein und erhält Einblick in die Arbeit unserer Schwestern in Kikyusa, Uganda. Für sie ist das Volontariat eine beeindruckende Erfahrung. Ich bin die einzige Weisse meilenweit, kamen sie mich ganz vorsichtig berüh- und die Leute nennen mich Muzungu. ren und mittlerweile werde ich in einer An den ersten Tagen habe ich mich ge- Gruppenumarmung fast über den Hau- fühlt wie in einem Film, aber es war fen geschmissen. nicht wirklich real. Sobald man jedoch die Menschen kennenlernt und eine un- bekannte Menschenmenge durch be- kannte Gesichter ersetzt, ist man plötz- lich ein Teil des Gewusels in Uganda. Kikyusa ist mittlerweile mein zweites Zuhause geworden. Kikyusa ist ein klei- nes Dorf in der Nähe von Wobulenzi, im Distrikt Luweero, etwa zwei Stunden nördlich von Kampala, der Hauptstadt Ugandas. Ich lebe dort bei den Kreuz- schwestern. Fast sieben Tage in der Woche bin ich in der Schule der Schwestern, St. Kizito Primarschule. Die Schule hat sieben Primarklassen mit je etwa 50 SchülerIn- nen, die kaum zu bändigen sind. Ich Alltag in Kikyusa mit vielen unterrichte vor allem in der 4. Klasse Facetten und helfe bei den Erstklässlern aus, wo ich kann, sei es Bleistifte mit einer Ra- Die unasphaltierten Strassen gleichen sierklinge spitzen, Plakate malen oder einer roten verfahrenen Skipiste. Wenn Hefte verteilen. Das Spitzen der Bleistif- es nicht gerade geregnet hat, und die te kann ich immer noch nicht wirklich, Strassen dann einen kleinen Fluss füh- die kleinen Siebenjährigen sind da um ren, sind sie staubig. Fährt ein Auto vor- einiges geübter. Ich kann fast jedes bei, wirbelt dieses so viel Staub hoch, Kind beim Namen nennen. Zu Beginn dass die Luft in roten Nebel verwandelt haben sie mich nur angestarrt, dann wird und die Augen brennen. 131
Die Häuser von Kikyusa bestehen aus sammen mit Sr. Claris abtrockne, und Backstein und sind nur einstöckig. Ein wir es zusammen versorgen. Stück Stoff dient tagsüber als Türe. Frisch gewaschene Kleider hängen an Meistens haben wir Strom und fliessen- Wäscheleinen, die zwischen den Häu- des Wasser. Mit Betonung auf meis- sern gespannt sind. Frauen tragen ihre tens, denn an gewissen Tagen ist das Babys auf dem Rücken und das eben eine oder andere am Streiken. Nach ein Eingekaufte auf dem Kopf. Überall ver- oder zwei Tagen kommt es wieder zu- kaufen kleine Shops Kleider, Esswaren, rück. Fliessendes Wasser ist hier ein Handys usw. Am Strassenrand wird ge- richtiger Luxus. Die meisten Leute tra- kocht, und die Leute preisen lautstark gen es von Boreholes (Löcher tief im ihre Waren an. «Hey Muzungu, how are Boden, aus welchem das Wasser mit you? Gjangu!» Die Strasse ist gleich- einer Pumpe hochgepumpt wird) heran. sam ein offizieller Mülleimer. Zudem muss man den rasenden BodaBodas (Velos oder Motorrädern) und Autos ausweichen. Jeden Samstag ist Waschtag. Die Klei- der werden mit einer blauen Seife von Hand gewaschen. Zu Beginn waren meine Hände ein wenig aufgeschürft. Die Schwestern erschraken ob meiner schrumpeligen Hände; denn ihre Hände bleiben völlig glatt, auch wenn sie stun- denlang im Wasser gewesen sind. Mitt- lerweile muss ich nur noch die wilden Paviane fürchten, die über die Wäsche- leine laufen und die Wäsche schmutzig machen. Geschirrspülmaschinen kennt man nicht. Hier hat die «Maschine» Hände und Füsse, und wie an einem Fliess- band geht das Geschirr von Hand zu Hand weiter, bis ich es am Schluss zu- 132
Ich habe eine recht improvisierte Du- getragen, bis sie aus mehr Löchern als sche, die nur kaltes Wasser führt. Dies Stoff bestehen, die Schuhe, bis sie von ist jedoch nicht weiter schlimm, da es den Füssen fallen. hier richtig heiss ist und nur der Regen, der Wind und die kühlen Morgenstun- Viele Menschen leben von dem, was sie den Abkühlung bringen. Ein normales anpflanzen. Wenn es also nicht recht- WC habe ich im Kloster auch. In der zeitig regnet, haben alle ein grösseres Schule benutzt man aber Latrinen: Ein Problem. Tagein, tagaus wird Posho kleines Häuschen mit einem Loch im (weisser Maisbrei) mit Bohnen geges- Boden. Den Abfall verbrennt man im sen, ab und zu auch Matoke (ein gold- Hinterhof. Man wirft ihn in ein grosses gelber Brei aus Kochbanane) oder sai- Loch und macht ein Feuer. sonale Früchte wie Ananas, Mango, Jackfrucht. Man muss nicht erwarten, in Stille ein- schlafen zu können. Bis tief in die Nacht Nicht alle können es sich leisten, die hört man Musik, das Megaphon des Schulgebühren zu bezahlen. Die Schwes- Trading Centers (Einkaufszentrum), ein tern versuchen, den Leuten so gut wie frisch geborenes Baby, das vom Health möglich entgegenzukommen. Der Mo- Center her schreit, oder Muslime, die in natslohn einer Lehrerin beträgt 200 000 aller Lautstärke zu jeder Tageszeit zum Uganda Shillings (50 CHF). Trotz aller Gebet zu Allah rufen. Schwierigkeiten sind die Leute irgend- wie glücklich. An Sonntagen ziehen alle Die Armut hier in Uganda ist mit nichts ihre schönen farbigen Kleider an. In der vergleichbar in der Schweiz. Das Land Kirche wird getrommelt, gesungen und der Schwestern und deren Schule sind getanzt. wie eine kleine Oase. Hier bekommt man die Armut nur wenig zu spüren. Die Ich werde immer mit offenen Armen grün-weiss karierten Schuluniformen, empfangen und bin jedes Mal aufs die Parkettböden im Kloster aus aufge- Neue von der Kreativität der Menschen klebter Folie, die eiskalte Dusche, der in Uganda beeindruckt. Man benutzt sehr kritische Gasherd und die stabilen das, was man hat, möglichst gut. Bana- Betonwände sind purer Luxus. Ich habe nenblätter werden zum Kochen ge- Familien besucht, die alle in einem braucht oder man rollt sie zusammen Raum von fünf mal sechs Metern zu- und legt sie auf den Kopf, sodass es sammenleben. Die Hütten sind zum Teil angenehmer ist, schwere Dinge zu tra- aus Lehm gebaut. Die Kleider werden gen. Was zuvor Abfall war, wird von 133
Sie können auch lesen