Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund
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Inhalt Vorwort I. Schutz von Kindern und Jugendlichen im IB – eine große gemeinsame Aufgabe ........................................................................................................................... 4 1. Warum gibt es dieses Handbuch? – Ziele und Funktion des Handbuchs ........................................................... 5 2. Die Leitlinien zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im IB ............................................................................ 8 3. Die rechtlichen Grundlagen ............................................................................................................................................ 9 II. Interventionen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im IB ........................................................... 12 Liebe Leser*innen, 1. Wann ist das Wohl von Kindern und Jugendlichen gefährdet? .............................................................................. 13 Verschiedene Formen der Gefährdung ....................................................................................................................... 13 wenn das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen ge- Bereits vor vielen Jahren hat sich der IB mit seinen Besondere Gefährdungslagen ................................................................................................................................ 16 fährdet ist, gibt es den dringenden Wunsch, die Leitlinien zum Schutz von Kindern und Jugendlichen Die Rolle der Eltern/Personensorgeberechtigten .............................................................................................. 18 Situation für den jungen Menschen so schnell wie dafür entschieden, trotz unterschiedlicher gesetzlicher möglich zu verbessern. Die Gefährdungslage eines Vorgaben für alle Arbeitsfelder, in denen mit Kindern, 2. Umgang mit (Vermutungen auf) Kindeswohlgefährdungen bzw. Gefährdungen des Wohls jungen Menschen fachlich gut einzuschätzen und an- Jugendlichen und Familien gearbeitet wird, Standards von Jugendlichen ................................................................................................................................................................ 20 gemessen zu reagieren, ist jedoch eine schwierige zur Stärkung des Schutzes von Kindern und Jugend- Klärungsstufen zur Einschätzung der Gefährdungslage .................................................................................. 20 Aufgabe. Hierbei können viele Fragen und Unsicher- lichen festzulegen. In allen Einrichtungen des IB sollen Anhaltspunkte für eine Gefährdungslage ............................................................................................................ 22 heiten auftreten, gerade dann, wenn das Thema sich junge Menschen wohl und sicher fühlen und ver- Gefährdungseinschätzung ....................................................................................................................................... 24 Kinderschutz bzw. der Schutz von Minderjährigen trauensvolle Ansprechpartner*innen finden. Das Hand- 3. Vorgehen bei einer Gefährdung des Wohls von Kindern oder Jugendlichen .................................................... 27 nicht im Fokus der Arbeit liegt. buch baut auf diesen Grundlagen auf, die im Zusam- Vorgehen bei (Verdacht auf eine) Kindeswohlgefährdung bzw. bei (Verdacht auf die) menwirken mit den Multiplikatoren*Multiplikatorinnen Gefährdung des Wohls eines Jugendlichen ......................................................................................................... 28 Das vorliegende Handbuch bietet Hilfestellungen, zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im IB und Checkliste zur Entwicklung eines einrichtungsbezogenen Verfahrens ......................................................... 30 um bei einem konkreten (Verdachts-)Fall gut vorbe- in jahrelanger Zusammenarbeit und mit Unterstützung Handeln in Extremsituationen ................................................................................................................................. 30 reitet zu sein und die Gefährdungsmomente – der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ent- Dokumentation des Vorgehens .............................................................................................................................. 31 insbesondere in Bezug auf (sexualisierte) Gewalt – wickelt worden sind. 4. Vorgehen bei Gefährdungen eines Kindes oder Jugendlichen durch Mitarbeitende ...................................... 32 in unseren Einrichtungen zu minimieren. Gemeinsam auf allen Ebenen und in allen Einrichtungen gilt es, Auch in Bezug auf das Handbuch gilt den Multiplika- Grenzüberschreitungen, Übergriffe und strafrechtlich relevante Formen von Gewalt mit Hilfe dieses Handbuchs die Standards zum Schutz toren*Multiplikatorinnen für ihre Unterstützung und durch Mitarbeitende .................................................................................................................................................. 32 von Kindern und Jugendlichen im IB vor Ort um- Herrn Professor Dr. Martin Wazlawik für die fachliche Umgang mit Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen von Gewalt zusetzen, Handlungssicherheit zu gewinnen und Beratung ein herzlicher Dank! durch Mitarbeitende .................................................................................................................................................. 34 Vorgehen bei (Verdacht auf) Gefährdungen von Kindern/Jugendlichen durch Mitarbeitende .............. 36 wirkungsvolle Verfahren und Strukturen aufzubauen bzw. diese weiterzuentwickeln. Dabei zählt insbe- Wir hoffen, Ihnen mit diesem Handbuch für die Vorgehen zur Rehabilitation von zu Unrecht beschuldigten Mitarbeitern*Mitarbeiterinnen ................ 38 sondere – entsprechend unserem Claim „Menschsein (Weiter-)Entwicklung Ihrer Schutzkonzepte hilfreiche 5. Vorgehen bei Gefährdungen eines Kindes oder Jugendlichen stärken“ –, die Rechte von Kindern und Jugendlichen Impulse und Richtlinien zu geben, um auch in durch andere junge Menschen in der Einrichtung ................................................................................................... 39 zu stärken. schwierigen Situationen gut aufgestellt zu sein! Grenzverletzungen und Übergriffe durch Kinder und Jugendliche ............................................................... 39 Umgang mit Grenzverletzungen und Übergriffen durch Kinder und Jugendliche .................................... 41 III. Prävention zum Schutz von Kindern und Jugendlichen Mit freundlichen Grüßen in Einrichtungen des IB ............................................................................................................................................... 44 1. Organisations- und Kommunikationsstrukturen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im IB ..................................................................................................................................... 45 2. Situations- und Risikoanalyse in Einrichtungen ......................................................................................................... 50 3. Personalauswahl und -entwicklung ............................................................................................................................... 53 Karola Becker 4. Beteiligung und Beschwerdemanagement ................................................................................................................. 55 Mitglied des Vorstandes 5. Sexualpädagogik als Beitrag zur Prävention von sexualisierter Gewalt .............................................................. 60 2 3
I. Schutz von Kindern und 1. Warum gibt es dieses Handbuch? – Ziele und Funktion des Handbuchs Jugendlichen im IB – eine große gemeinsame Aufgabe In unserer Gesellschaft sind einige junge Menschen belastenden Lebenssituationen und besonderen Gefährdungen wie z. B. Gewalt, Bedrohung und Vernachlässigung ausgesetzt. Nicht immer ist dies Dieses Handbuch bildet das gemein- schnell und einfach zu erkennen. Die Gefahren können same Dach im IB für alle Arbeitsfelder, dabei vom familiären Umfeld, vom Freundes- und in denen mit Kindern, Jugendlichen und Bekanntenkreis, vom sozialen Umfeld, aber auch von Familien gearbeitet wird, wenngleich (Bildungs-)Institutionen und sozialen Einrichtungen unterschiedliche Gesetzgebungen zum ausgehen und zeigen sich je nach Alter z. T. auch Schutz von Kindern und Jugend- sehr unterschiedlich. Für junge Menschen in solchen lichen gelten Situationen ist es besonders wichtig, dass ihre Not- lage möglichst frühzeitig wahrgenommen wird und sie Ansprechpartner*innen finden, die sie ernst- (siehe Seite 9 f.). i nehmen, beraten und begleiten. Bereits vor vielen Jahren hat sich der IB das aus- Um den Schutz von jungen Menschen bestmöglich drückliche Ziel gesteckt, in seinen Einrichtungen1 gewährleisten zu können, ist es von zentraler Be- ein Umfeld zu gestalten, das Kindern und Jugend- deutung, die Rahmenbedingungen dafür auf allen lichen Schutz und vertrauensvolle Ansprech- Führungsebenen zu schaffen und Prozesse klar partner*innen bietet. Dafür braucht es das und nachvollziehbar zu kommunizieren. Die Ver- Mitwirken aller Fach- und Führungskräfte, die mit antwortung hierfür liegt bei den Institutionen jungen Menschen arbeiten – in allen Arbeitsfeldern und ihren Führungskräften ebenso wie bei den der Kinder- und Jugendhilfe, in IB-Schulen, in Maß- einzelnen Mitarbeitenden, die von akuten Gefähr- nahmen der (beruflichen) Bildung, in den Straffälligen- dungen und gewichtigen Anhaltspunkten für Gefähr- hilfen, in Einrichtungen für junge, wohnungslose dungen des Wohls von Kindern oder Jugendlichen Menschen und allen weiteren Feldern, in denen Kenntnis erlangen. Dies gilt aufgrund der gesetzlichen Kinder und/oder Jugendliche sind. Vorgaben in besonderem Maße für die Arbeit mit jungen Menschen unter 18 Jahren. Auch in der Arbeit mit Menschen, die Kinder haben (und bei denen die Kinder nicht direkt zur Zielgruppe gehören), ist es wichtig, akute Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen und sich im Team, mit Vorgesetzten sowie mit „Insoweit erfahrenen Fachkräften“ (ISEF) zu beraten. 1 Unter dem Begriff „Einrichtungen“ sind in diesem Handbuch sowohl einzelne Schulen und Kitas zu verstehen als auch Einrichtungen, die verschiedene Angebote führen, wie beispielsweise einige Einrichtungen der Beruflichen Bildung oder der Erziehungshilfen – d. h., es ist hier die Ebene gemeint, auf der die konkrete konzeptionelle und praktische Arbeit jedes Angebots und jeder (Dienst-)Leistung des IB für Kinder, Jugendliche und Familien angesiedelt ist. 4 5
Was ist überhaupt eine Kindeswohl- gefährdung oder Gefährdung des Wohls In der alltäglichen Arbeit mit Kindern eines Jugendlichen? und Jugendlichen tauchen dazu viele Fragen und Unsicherheiten auf: Diesen Fragen wird in dem vorliegenden Handbuch (bei Gefährdungen durch Mitarbeitende oder andere nachgegangen. Ziel ist es, mit dem Handbuch Kinder/Jugendliche) zu beschweren. Um diese Aufga- Bin ich eigentlich alle Fach- und Führungskräfte des IB dabei zu ben gut umsetzen zu können, liegt die Verantwortung zuständig für den unterstützen, von Führungskräften aller Ebenen darin, unterstüt- Schutz von jungen zende Rahmenbedingungen und passende Struk- Menschen? • den Blick für Gefährdungslagen von jungen turen zu entwickeln. In allen Organisationseinheiten Menschen zu stärken, (OE) des IB gibt es besondere Funktionsträger*innen, Wie kann ich • einen sichereren Umgang im Falle einer akuten von den OE festgelegte Verantwortungsbereiche und Gefährdungen Gefährdung und bei Verdacht auf eine Gefähr- Strukturen zur Stärkung des Schutzes von Kindern und erkennen und richtig dung des Wohls von Kindern und Jugendlichen Jugendlichen entsprechend einem IB-übergreifenden einschätzen? Ab wann zu gewinnen, Modell (siehe Seite 49). muss ich handeln • die gesetzlichen Vorgaben und hilfreichen und wie? Ist besonders Strukturen im IB (und darüber hinaus) kennen- schnelles Handeln zulernen und nutzen zu können und wichtig? Institution/ Institution/ • auf allen Führungsebenen sowie in den ein- Führungskräfte Führungskräfte Es heißt doch immer zelnen Einrichtungen Strukturen zu schaffen, Kinderschutz und Kindeswohl- die die Rechte und den Schutz der jungen gefährdung – bezieht sich das Menschen stärken. IN ÄVENTION überhaupt auf Jugendliche? TE Kann/Darf/Muss ich RVENTIO Schutz von den betroffenen Damit Kinder und Jugendliche in den Einrichtungen des Kindern & jungen Menschen IB einen Ort finden, an dem sie sich wohl und sicher Jugendlichen (und seine Eltern) fühlen können, sind ein offener Blick auf die indivi- darauf ansprechen? duellen Lebenslagen der jungen Menschen und ein PR Welche Verantwortung abgestimmtes Verfahren bei (dem Verdacht auf eine) N trage ich als Vorgesetzte*r Gefährdung des Wohls von Kindern und Jugendlichen für den Schutz von Kindern wichtige Voraussetzungen. Entscheidend ist aber nicht und Jugendlichen in meiner nur der Bereich der Intervention, d.h. das Handeln, Einrichtung? wenn bereits eine Gefährdung vermutet oder bekannt alle alle Mitarbeitenden Mitarbeitenden ist. Ebenso bedeutend ist der Bereich der Prävention Wer kann mich zum Schutz von Kindern und Jugendlichen – mit einer unterstützen? Vielzahl von Bausteinen. Zu diesen zählen eine offene Wo bekomme ich Atmosphäre und ein regelmäßiger Austausch im Team Wie können wir Kinder Hilfe? über Risikofaktoren, über den Umgang mit Gefähr- In diesem Handbuch sind im ersten Abschnitt mit den und Jugendliche in dungen innerhalb der Einrichtung sowie über ein- IB-internen Leitlinien und gesetzlichen Rahmenbedin- unserer Einrichtung Welche Ebene macht was richtungsbezogene, passende Standards. Ein weiterer gungen die wesentlichen Grundlagen dargestellt. Der bestmöglich stärken zum Schutz von Kindern ganz wichtiger Baustein ist, den jungen Menschen in zweite Abschnitt beinhaltet Hintergrundinformationen, und schützen? und Jugendlichen im IB – den Einrichtungen einen Rahmen zu bieten, in dem sie Hilfestellungen und Standards zum Bereich Intervention. und was ist die Aufgabe ernst genommen werden, ernsthaft beteiligt werden Im dritten Abschnitt werden die vielfältigen Bausteine von Führung? und es zu den Zielgruppen passende Wege gibt, sich und Standards zur Prävention näher beschrieben. 6 7
2. Die Leitlinien zum Schutz von 3. Die rechtlichen Kindern und Jugendlichen im IB Grundlagen Die folgenden „Leitlinien zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im IB“ bilden Es gibt verschiedene rechtliche Grundlagen zur das „Grundgerüst“ des gemeinsamen Dachs im IB zum Schutz von Kindern und Jugendlichen Erfüllung des gesellschaftlichen Auftrags, die Rechte und bieten wesentliche Eckpunkte zu deren Umsetzung: von Kindern und Jugendlichen zu achten und ihren Schutz zu gewährleisten. Die dazu zählenden Gesetze EU-Grundrechtecharta – bzw. (Selbst-)Verpflichtungen gelten auf unterschied- Art. 24 „Rechte des Kindes“ lichen rechtlichen Ebenen und greifen ineinander. Deutschland als Mitgliedsstaat der Europäischen Union Aufgrund von immer wieder öffentlich gewordenen hat sich dazu verpflichtet, die in der EU-Grundrechte- massiven Übergriffen bis hin zu Tötungen von Kindern charta aufgeführten Grund- und Menschenrechte 1. Die Wahrnehmung der Kinderrechte die erforderlichen Verhaltensweisen aufzeigt. und Jugendlichen im familiären und sozialen Umfeld, zu achten und zu garantieren. In Artikel 24 werden und des Kinderschutzes ist Standard in Dieser ist in den Organisationseinheiten er- aber auch in (Bildungs-) Einrichtungen wurde eine grundlegende Rechte von Kindern hervorgehoben, allen Arbeitsfeldern, in denen mit Kindern arbeitet und in Kraft gesetzt. Reihe von spezifischen gesetzlichen Regelungen zur u. a. „der Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, und Jugendlichen gearbeitet wird. Im Rahmen Mitarbeiter*innen aus anderen Arbeits- Stärkung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen die für ihr Wohlergehen notwendig sind“ (Art. 24 Abs. 2). des Qualitätsmanagements wird der Kinder- feldern informieren in Verdachtsfällen ihre eingeführt. schutz in allen Geschäftsprozessen berück- direkten Vorgesetzten. Diese beraten sich sichtigt. mit den Kinderschutzfachkräften in der Grundgesetz und 2. Die Führungskräfte haben den Auftrag, Organisationseinheit. Sollte dies nicht möglich UN-Kinderrechtskonvention – dem Schutz von Kindern und Jugendlichen sein, informieren diese nach Eigenabwägung Bürgerliches Gesetzbuch besondere Aufmerksamkeit zu widmen. die zuständigen Stellen der öffentlichen eine Konkretisierung der Menschen- Im deutschen Grundgesetz sind keine Altersgrenzen Sie schaffen ein Kinder und Jugendliche Jugendhilfe. rechte für Kinder bzw. Altersvorgaben festgeschrieben, sodass jeder schützendes Klima in ihrem Zuständigkeits- Weitere Personen, die für den IB tätig sind Mensch von Anfang an Träger der Grundrechte bereich. Kinderschutz ist regelmäßiges und hier Kontakt zu Kindern und Jugendlichen Mit dem Unterzeichnen der ist. Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind Kinder und Jugend- Thema auf Führungskonferenzen und in haben, werden über das Engagement des IB UN-Kinderrechtskonvention liche mit ihren besonderen Bedürfnissen im Grundge- den Fortbildungen für Führungskräfte. in Bezug auf Kinderrechte und den Schutz von (UN-KRK), einem welt- setz nicht erwähnt, jedoch konkretisieren sich die Vor- 3. Alle Mitarbeiter*innen des IB, die mit Kindern und Jugendlichen informiert. weiten Übereinkommen haben und Initiativen (auch aufgrund der Forderungen Kindern und Jugendlichen arbeiten, werden über die Rechte des Kindes, des VN-Ausschusses für die Rechte des Kindes), diese 5. Multiplikatoren*Multiplikatorinnen in Bezug auf Kinderrechte und den Schutz verpflichtet sich Deutsch- explizit ins Grundgesetz aufzunehmen. für den Schutz von Kindern und Jugendlichen von Kindern und Jugendlichen sensibilisiert land seit 1992 (damals mit sind in den Organisationseinheiten ernannt. sowie auf Dienstbesprechungen und Dienst- einigen Vorbehalten) selbst, Die Grundlage für den Schutz von Kindern und Jugend- Sie beraten, regen Aktivitäten in Bezug auf beratungen über diese Thematik und über die Rechte von Kindern und Ju- lichen bilden im Grundgesetz insbesondere Art. 1 den Kinderschutz an und steuern den Infor- mögliche Indikatoren für Gefährdungen gendlichen zu wahren, ihr Wohl sicherzustellen und „Die Würde des Menschen“, Art. 3 „Recht auf Leben mations- und Erfahrungsaustausch. des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen es „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, (…) und körperliche Unversehrtheit“, Art. 3 „Gleichheit vor Sie nehmen an entsprechenden bundes- geschult. vorrangig zu berücksichtigen“ (Art. 3). Die UN-KRK dem Gesetz“ und Art. 6 „Beziehung Kind-Eltern-Staat“. weiten Fachtagungen des IB zum Schutz beinhaltet eine Reihe von Schutz-, Förder- und Be- 4. Alle Mitarbeiter*innen aus Arbeits- von Kindern und Jugendlichen teil. teiligungsrechten, für deren Umsetzung die Staaten Auch das Bürgerliche Gesetzbuch beinhaltet eine feldern des SGB VIII orientieren sich an dazu verpflichtet sind, die erforderlichen gesetz- Reihe von Regelungen in Bezug auf das Wohl einem Handlungsleitfaden, der bei Verdacht lichen, gesellschaftlichen und sozialen Voraussetzun- und den Schutz von Kindern und Jugendlichen. auf und bei akuter Kindeswohlgefährdung gen zu schaffen. Im Besonderen sind dies die Paragrafen 1626 ff. zur Pflege und Erziehung durch die Eltern, § 1631 Abs. 2 zum Recht auf gewaltfreie Erziehung sowie § 1666 zu möglichen staatlichen Eingriffen in die elterliche Sorge. 8 9
lungen zur Inobhutnahme durch das Jugendamt, falls „Kindeswohlgefährdung“ – • Wenn es im Falle einer Kindeswohlgefährdung ein Kind/Jugendlicher darum bittet oder „eine dringende bzw. einer Gefährdung des Wohls von Jugend- … und Jugendliche? Gefahr für das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen lichen trotz Bemühungen der Fachkräfte nicht zu die Inobhutnahme erfordert“ (§ 42 ff.). Sowohl im „Gesetz zur Kooperation und Infor- einer Abwendung der Gefahr kommt, sind die im mation im Kinderschutz“ als auch im SGB VIII KKG § 4 Abs. 1 benannten Personengruppen wie § 8a wird der Begriff „Kindeswohlgefährdung“ Sozialpädagogen*Sozialpädagoginnen, Lehrkräfte, Bundeskinderschutzgesetz verwendet. Die Inhalte und die mit den Geset- Berater*innen, Hebammen, Ärzte*Ärztinnen und (BKiSchG) zen verbundenen Ziele gelten jedoch ebenso „Berufspsychologen*Berufspsychologinnen“ befugt, für Jugendliche, also für alle jungen Menschen erforderliche Daten an das Jugendamt weiter- Um den Schutz von Kindern und Jugendlichen in unter 18 Jahren. Durch die Verwendung des zugegeben. Deutschland zu stärken, trat Anfang 2012, ergänzend Begriffs „Kindeswohlgefährdung“ geraten – zu den Regelungen im SGB VIII, das Bundeskinder- sicherlich ungewollt – Jugendliche jedoch häu- • Fach- und Führungskräfte (Fallverantwortliche) aus schutzgesetz (BKiSchG) in Kraft. Ein wesentlicher Be- fig aus dem Blick. Dem IB ist es ein großes den Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe standteil des BKiSchG ist das mit ihm neu eingeführte Anliegen, gerade auch auf die häufig nicht so (SGB VIII) sind verpflichtet, an gegebener Stelle nach „Gesetz zur Kooperation und Information im stark wahrgenommenen besonderen Gefähr- einer umfassenden Gefährdungseinschätzung Kinderschutz“ (KKG). Durch dieses haben Lehrkräfte, dungslagen von Jugendlichen aufmerksam die erforderlichen Daten an das Jugendamt weiter- Sozialgesetzbuch (SGB) VIII – Sozialpädagogen*Sozialpädagoginnen, Berater*innen, zu machen3. zugeben (siehe Seite 20 ff.). Kinder- und Jugendhilfe Ärzte*Ärztinnen u. v. m. im Falle einer akuten Gefähr- dung eines Kindes/Jugendlichen einen Anspruch auf • Erforderliche Daten sind nur solche, die zur Er- In § 1 Artikel 1 des SGB VIII ist eine der wesentlichsten Beratung durch eine „Insoweit erfahrene Fachkraft“ füllung der konkreten Aufgabe notwendig sind. Regelungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen und sind seitdem befugt, bei weiterem Handlungs- Es ist daher bei jeder Datenweitergabe zu prüfen, festgeschrieben: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf bedarf die erforderlichen Daten an das Jugendamt ob diese wirklich notwendig ist. Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu weiterzugeben. Weitere neue Bausteine waren die einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen flächendeckende Entwicklung Früher Hilfen sowie ein • Die Daten dürfen ausschließlich ans Jugendamt Persönlichkeit“. diesbezüglicher Aufbau von Netzwerkstrukturen. weitergegeben werden und nur nach vorheriger Datenschutz in Verbindung mit dem Information der Betroffenen, solange sich da- Zur staatlichen Gewährleistung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen ist in § 8a explizit der Auch im SGB VIII wurden mit dem BKiSchG aufbau- Schutz von Kindern und Jugendlichen durch das Risiko für die betroffenen Kinder und end auf dem bereits bestehenden Schutzauftrag an Jugendlichen nicht erhöht. Schutzauftrag für die Kinder- und Jugendhilfe mehreren Stellen neue gesetzliche Regelungen einge- Insbesondere wenn es um das Wohl von Kindern im Zusammenspiel mit den öffentlichen Trägern fest- führt. Neu eingefügt wurde u. a. § 8b mit einem neuen und Jugendlichen geht, stellt sich die Frage, wann und • In Extremsituationen (bei akuter Selbst- und Fremd- geschrieben. § 8a beinhaltet eine Festlegung der Ver- bzw. erweiterten Anspruch auf fachliche Beratung welche personenbezogenen Daten an Dritte weiter- gefährdung sowie bei massiver bis hin zu lebensbe- antwortungsbereiche/Aufgaben sowie Verfahrenswege und Begleitung, die Notwendigkeit eines erweiterten gegeben werden dürfen bzw. weitergegeben werden drohlicher Gefährdung eines Kindes oder Jugend- bei (dem Verdacht auf eine) Gefährdung des Wohls Führungszeugnisses für Ehrenamtliche sowie weitere müssen. lichen) sind alle Personengruppen befugt, die erforder- von Kindern und Jugendlichen. Zudem enthält eine verbindliche Standards. lichen Daten direkt an das Jugendamt weiterzugeben. Vielzahl von weiteren Paragrafen im SGB VIII gesetzliche Im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinder- Regelungen rund um den Schutz von Kindern und schutz (KKG) sowie im SGB VIII sind die Rahmenbedin- • Bei einer Beratung durch „Insoweit erfahrene Jugendlichen, wie z.B. Ausführungen zur Beteiligung Regionale Regelungen gungen für den Austausch von Informationen Fachkräfte“ dürfen die Daten nur in anonymisierter von Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern/ festgelegt: und pseudonymisierter Form weitergegeben werden. Personensorgeberechtigten2, die Verpflichtung zur Ent- Über die oben aufgeführten rechtlichen Grundlagen wicklung eines Beschwerdemanagements oder Rege- hinaus kann es weitere regionale Regelungen geben. 3 Bereits 2009 führte der IB in Kooperation mit der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster unter der Projektleitung von Frau Professorin Dr. Karin Böllert und der wissenschaftlichen Mitarbeit von Herrn Professor Dr. Martin Wazlawik ein Projekt durch, das sich mit den besonderen 2 Personensorgeberechtigte (PSB): Personensorgeberechtigt ist, wem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften Gefährdungslagen von Jugendlichen befasst. Die Ergebnisse dieses Projektes wurden in der Arbeitshilfe „Jugendliche schützen!“ zusammen- des Bürgerlichen Gesetzbuches die Personensorge zusteht. In der Regel sind das die Eltern. geführt und veröffentlicht. 10 11
II. Interventionen 1. Wann ist das Wohl von Kindern und Jugendlichen gefährdet? zum Schutz von Kindern und Jugendlichen Verschiedene Formen der kommt es immer wieder zu Gefährdungen von im IB Gefährdung Kindern und Jugendlichen – diese können sowohl von Mitarbeitenden als auch von anderen Kindern Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, ge- und Jugendlichen in den Einrichtungen ausgehen. sund und sicher aufzuwachsen und in ihrer Entwicklung gefördert zu werden (siehe Seite 9 f.). Einige junge Bei vielen Problemlagen geht es darum, diese im Menschen – in allen Altersgruppen und Milieus – befin- Rahmen der (pädagogischen) Arbeit in Einzelgesprä- den sich jedoch in schwierigen Lebenssituationen, chen mit den betroffenen Kindern oder Jugendlichen durch die sie körperlich und/oder seelisch gefährdet anzusprechen und/oder in Form von Gruppenange- und/oder in ihrer Entwicklung erheblich beeinträchtigt boten o. Ä. aufzugreifen. Je nach Situation kann es werden. In der alltäglichen Arbeit ist es nicht immer hilfreich und/oder notwendig sein, die Eltern/Perso- einfach zu unterscheiden, ob es ausreicht, sich um den nensorgeberechtigten mit einzubinden. Sowohl den jeweiligen jungen Menschen Sorgen zu machen und jungen Menschen als auch den Eltern/PSB können Unterstützung anzubieten, oder ob es sich um eine Kin- innerhalb der Einrichtung – abhängig vom Auftrag, deswohlgefährdung bzw. eine Gefährdung des Wohls von den Zielen und den Rahmenbedingungen in der von Jugendlichen (im rechtlichen Sinne) handelt, die jeweiligen Einrichtung – verschiedene Formen der weiterer Schritte zur Klärung der Gefährdungslage und Unterstützung angeboten werden oder sie können ggf. zur Abwendung der Gefahren bedarf. ggf. an Beratungsstellen bzw. spezialisierte Einrich- tungen wie Drogen- und Suchtberatungsstellen o. Ä. vermittelt werden. Junge Menschen können verschiedensten Gefahren ausgesetzt sein. Diese können von den Eltern und/ Besondere Handlungsnotwendigkeiten für Fach- und oder dem familiären Umfeld ausgehen. Ebenso können Führungskräfte entstehen, wenn Gefährdungen von gefährdende Situationen in unterschiedlichster Art jungen Menschen in den eigenen Einrichtungen auf- im weiteren sozialen Umfeld der jungen Menschen, treten. Der Umgang mit Gefährdungen in den Ein- beispielsweise im Freundeskreis, in Sportvereinen richtungen – durch Mitarbeitende und andere junge oder Freizeiteinrichtungen entstehen. Aber auch in Menschen – wird unter Punkt II.4 und II.5 beschrieben. Bildungseinrichtungen und sozialen Einrichtungen Die verschiedenen Maßnahmen zum institutionellen Schutz in Einrichtungen sind unter III. ausgeführt. Fälle, in denen die Gefährdungen von den Eltern/ Von großer Bedeutung ist – unabhängig wo- Personensorgeberechtigten selbst ausgehen oder von die Gefährdung eines jungen Menschen Eltern/Personensorgeberechtigte ihrer Aufgabe, Ge- ausgeht –, individuelle Problem- oder Not- fährdungen abzuwenden, nicht nachkommen können lagen frühzeitig wahrzunehmen und eine oder wollen, stellen ebenfalls besondere Gefährdungs- vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, situationen dar, die spezielle, festgelegte Vorgehens- die es den Kindern und Jugendlichen weisen und Kommunikationswege erfordern. Für erleichtert, sich an Mitarbeitende Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gelten dies- oder Leitungen zu wenden. bezüglich gesetzliche Vorgaben, die auch für dieses Handbuch die Grundlage bilden. 12 13
Kindeswohlgefährdung bzw. Gefährdung des Wohls eines*einer Jugendlichen durch das familiäre Umfeld des Kindes/ Im Falle des Verdachts auf eine Gefährdung des Wohls sonensorgeberechtigten die Grundlage für die Jugendlichen bzw. eines Kindes oder Jugendlichen bilden die in der De- fachliche Einschätzung der Lebens- und Gefährdungs- die Eltern/Personen- finition genannten Kriterien neben der professionellen situation des jeweiligen Kindes und Jugendlichen sorgeberechtigten Bewertung des (Erziehungs-)Verhaltens der Eltern/Per- (Prozess der Gefährdungseinschätzung siehe S. 27 ff.). ▼ durch andere Formen möglicher Gefährdungen des Wohls von Kindern und Jugendlichen: durch Gefährdungen Teilnehmende, ▼ ▼ Mitarbeitende, von Kindern & Klienten*Klientinnen, • Vernachlässigung: Mangelnde oder • Sexualisierte Gewalt/Sexueller Miss- Teams & Leitungen Schüler*innen, Jugendlichen Auszubildende, unangemessene Förderung, Missachtung brauch: Jede sexuelle Handlung, die an oder Bewohner*innen der Gesundheit, mangelnde Beaufsichtigung, vor einem Kind oder Jugendlichen gegen ▼ mangelnde Pflege und Fürsorge dessen Willen vorgenommen wird oder der das Kind oder der Jugendliche nicht wissent- • Körperliche Misshandlung: Physische Ge- lich zustimmen kann; Ausnutzung der Macht- walt gegenüber Kindern oder Jugendlichen durch und Autoritätsposition durch Eltern oder andere Erwachsene, wie das weitere (nach Bange/Deegener, 1996, S. 105)5 soziale Umfeld des z. B. durch heftiges Schütteln, durch Schläge jungen Menschen mit der Hand oder Gegenständen, durch Zu- • Erwachsenenkonflikte um das Kind oder fügung von Verbrennungen/Verbrühungen, den Jugendlichen: Kinder und Jugendliche durch Vergiftung, durch Verabreichung von werden bei Trennung und Scheidung der medizinisch nicht indizierten Medikamenten Eltern direkt in den (Paar-)Konflikt miteinbe- zogen und dadurch instrumentalisiert; Streit In der Praxis stellt sich immer wieder die Frage, • Seelische Misshandlung: Elterliche über den zukünftigen Verbleib des Kindes wie sich eine Kindeswohlgefährdung bzw. eine Äußerungen oder Handlungen, die das Kind oder Jugendlichen, ohne das Wohl des Kin- i Gefährdung des Wohls von Jugendlichen von oder den Jugendlichen terrorisieren und/ des oder Jugendlichen zu berücksichtigen anderen Gefährdungen unterscheiden lässt. oder herabsetzen und/oder überfordern und Um eine Kindeswohlgefährdung Zu einer Kindeswohlgefährdung bzw. Gefährdung ihm das Gefühl der Ablehnung und eigenen • Autonomiekonflikte: Ablösekonflikte bzw. Gefährdung des Wohls eines des Wohls von Jugendlichen kann es dann kommen, Wertlosigkeit vermitteln; Überbehütung und zwischen Eltern und ihren heranwachsenden Jugendlichen im rechtlichen Sinne wenn Eltern/Personensorgeberechtigte bestehende symbiotische Fesselung der Kinder (körperli- Kindern werden nicht bewältigt; krisenhafte nach § 1666 BGB handelt es sich dann, Gefahren für ihr Kind/ihre Kinder nicht abwenden che Misshandlungen implizieren immer auch Auseinandersetzung durch unterschiedliche „(…) wenn sich bei Fortdauer einer können oder wollen. Gefährdungen des Wohls von eine Gefährdung der seelischen Entwicklung) Normvorstellungen beider Seiten identifizierbaren Gefährdungssituation Kindern und Jugendlichen stehen immer im Zusam- (Aufzählung aus Schone/Tenhaken, 2015, S. 25 ff.)6 für das Kind eine erhebliche Schädigung menhang mit dem Erziehungsverhalten der Eltern/ seines körperlichen, geistigen oder seeli- Personensorgeberechtigten und der Frage, inwieweit schen Wohls mit hoher Wahrscheinlich- die Eltern/Personensorgeberechtigten ihre Erziehungs- keit voraussehen und begründen lässt.“ verantwortung wahrnehmen (können und wollen). Die Tatsache, dass ein junger Mensch im familiären der Auswirkungen auf das Kind (oder den Jugendlichen) (Schone/Tenhaken, 2015, S. 20) 4 Umfeld z. B. physische Gewalt erlebt, ist für eine Be- zu bewerten, und es sind Prognosen aufzustellen, ob Dabei ist nicht jedes als unerwünscht oder als wertung seiner Lebens- und Gefährdungssituation eine Gefährdung in dem Sinne besteht, dass Schäden schädlich empfundene Erziehungsverhalten gleich- nicht allein entscheidend. „Tatbestände sprechen in zu erwarten sind.“ zusetzen mit einer Gefährdung des Wohls junger solchen Fällen selten für sich, sondern sind hinsichtlich (Schone/Tenhaken, 2015, S. 21) 7 Menschen. 5 Bange, D./Deegener G.; 1996: Sexueller Missbrauch an Kindern. Ausmaß, Hintergründe, Folgen; Weinheim; Beltz, Psychologie Verlags Union 6 Schone, R./Tenhaken, W. (Hrsg.); 2015: Kinderschutz in Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe. Ein Lehr- und Praxisbuch zum Umgang 4 Schone, R./Tenhaken, W. (Hrsg.); 2015: Kinderschutz in Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe. Ein Lehr- und Praxisbuch zum Umgang mit Fragen der Kindeswohlgefährdung; 2. überarbeitete und erweiterte Auflage; Weinheim und Basel; Beltz Juventa mit Fragen der Kindeswohlgefährdung; 2. überarbeitete und erweiterte Auflage; Weinheim und Basel; Beltz Juventa 7 ebd. 14 15
Besondere kann dabei jedoch dazu führen, dass kindliche Signale Gefährdungslagen verzerrt und schwierig zu interpretieren sind. So kann Sowohl im Säuglings- und Kleinkindalter8 als auch im z. B. die Schmerzgrenze misshandelter Kleinkinder Jugendalter sowie bei Kindern und Jugendlichen mit herabgesetzt sein oder freundliche Zuwendung der Beeinträchtigungen kommen zu den oben genannten Mitarbeitenden aufgrund mangelnder Gefühlsdifferen- allgemeinen Gefährdungsformen besondere Gefähr- zierung beim Kleinkind Abwehr erzeugen. dungslagen hinzu: Insbesondere im Säuglings- und Kleinkindalter lässt sich nicht immer leicht klären, ob Entwicklungsver- Besondere Gefährdungslagen zögerungen und Verhaltensauffälligkeiten Folgen einer von Säuglingen und Kleinkindern gestörten Eltern-Kind-Beziehung sind, medizinische In diesem Zusammenhang können Gefährdungen des Allgemein bei Jugendlichen und gerade auch bei Je jünger ein Kind ist, desto abhängiger ist es von einer Ursachen haben oder möglicherweise eine Folge von Wohls von Jugendlichen entstehen, wenn stark unan- Jugendlichen mit Behinderungen kann das zunehmen- umfassenden Versorgung. Insbesondere bei Säuglingen, Vernachlässigung, sexualisierter Gewalt oder Miss- gemessene Reaktionen (z. B. mit Gewalt oder emotio- de Bedürfnis nach Selbstständigkeit zu starken aber auch bei Kleinkindern kann es sehr viel schnel- handlungen sind. naler Ablehnung) oder ausbleibende Reaktionen der Autonomiekonflikten innerhalb der Familien und ggf. ler als im Kindes- und Jugendalter zu einer lebens- Eltern die Gefährdungssituation verstärken9. zu Gefährdungslagen für die jungen Menschen führen bedrohlichen Situation durch eine mangelnde (siehe „Besondere Gefährdungslagen von Jugendlichen“). Versorgung kommen. Der Übergang von ersten Hin- Besondere Gefährdungslagen weisen auf Vernachlässigung bis zur akuten, potenziell im Jugendalter Besondere Gefährdungslagen lebensbedrohlichen Notsituation kann sich rasant voll- Insbesondere im Jugendalter können Autonomiekon- von jungen Menschen mit Besondere Gefährdungslage: ziehen, wie z. B. bei schnellem Austrocknen aufgrund flikte zwischen Eltern und Kindern zu Gefährdungs- Beeinträchtigungen/Behinderungen Häusliche Gewalt von mangelnder oder gar keiner Flüssigkeitsgabe. situationen führen. Nicht selten stehen im Jugendalter Bei jungen Menschen mit Beeinträchtigungen kann es Das Erleben von sexualisierter, körperlicher und/oder der zunehmende Wunsch der jungen Menschen, von den Möglichkeiten, sich (sprachlich) auszu- psychischer Gewalt im familiären Rahmen stellt für Auch eine mangelnde Aufsicht und/oder ein unge- Entscheidungen allein zu treffen, und/oder die selbst drücken, den Lebensalltag selbstständig bewältigen Kinder und Jugendliche eine besondere Gefährdungs- nügender Schutz birgt für Säuglinge oder Kleinkinder entwickelten Lebensvorstellungen den Werten, Vor- (und beispielsweise nicht auf Pflege angewiesen sein lage dar. Die jungen Menschen erleben Familie nicht eine besondere Gefahr, da sie Risiken nicht einschät- stellungen und Erziehungszielen der Eltern entgegen. zu müssen) oder Entscheidungen selbstständig treffen als einen Ort, der ihnen Geborgenheit, Sicherheit und zen können. Ein (häufiges) Auftreten von Platzwunden, Zu einer Gefährdung wird dies, wenn dieser Konflikt zu können, abhängen, ob und in welcher Form sie Schutz bietet, sondern Angst und Unsicherheiten blauen Flecken, Knochenbrüchen, Verbrühungen und gewalttätig ausgetragen oder von den Erziehungsver- ein erhöhtes Risiko hinsichtlich der oben benannten hervorruft und vielfältige Gefahren für sie (und ande- Verbrennungen kann sowohl ein Zeichen mangelnden antwortlichen ein hohes Maß an psychischem Zwang Gefährdungsformen tragen. re Familienmitglieder) birgt. Auch das Miterleben von Schutzes sein als auch einen Hinweis auf bewusste ausgeübt wird. Auch wenn die Eltern eine Ablösung des häuslicher Gewalt zwischen Erwachsenen oder gegen- körperliche Misshandlungen geben. Jugendlichen durch massive Zwangsverpflichtungen, z. B. Ältere Kinder und Jugendliche, die nicht oder nur sehr über Geschwistern/weiteren Kindern im familiären durch die Übertragung der (alleinigen) Verantwortung für eingeschränkt verbal kommunizieren können, sind Setting stellt eine große Belastung für die betroffenen Säuglinge und Kleinkinder können ihr Befinden noch das Führen des Haushalts oder die Versorgung der Ge- einem höheren Risiko ausgesetzt, dass eine Gefähr- Kinder und Jugendlichen dar und kann sich weitrei- nicht verbal kommunizieren. Sofern keine massiven schwister oder Eltern, verhindern (wollen), kann dies zu dung bei ihnen nicht oder erst viel später wahrge- chend auf ihre Entwicklung auswirken. Zudem besteht körperlichen Anzeichen bestehen, ist es daher bei einer Gefährdung des Wohls eines Jugendlichen führen. nommen wird – insbesondere bei Formen, die keine für sie ein erhöhtes Risiko, selbst Opfer von häuslicher ihnen deutlich schwieriger, Gefährdungen einzuschät- sichtbaren körperlichen Spuren der Gewalt bzw. Miss- Gewalt zu werden. zen, als im Kinder- und Jugendalter. Umso wichtiger ist Im Jugendalter hängen Gefährdungen – häufiger als bei handlung hinterlassen. Für Kinder und Jugendliche daher die Wahrnehmung von Anzeichen für Ge- (kleinen) Kindern – auch mit ihrem eigenen Verhalten mit geistiger Beeinträchtigung oder psychischer Erkran- Enge Bindungen zu (einzelnen) Familienmitgliedern, fährdungen in der Interaktion mit den Kindern sowie (z. B. „Risikoverhalten“) und/oder dem sozialen Umfeld, kung besteht (zudem) ein erhöhtes Risiko, dass nicht (selbst) entwickelte Schuld- oder Verantwortungsgefühle in der Bindung und Beziehung zwischen den Kindern insbesondere dem Freundeskreis zusammen. Durch ernst genommen wird, wenn die jungen Menschen und/oder ein Gefühl der Ohnmacht können es den und ihren Eltern bzw. wichtigen Bezugspersonen. die (unmittelbaren) Reaktionen der Eltern können von ihren Erlebnissen berichten. jungen Menschen bei häuslicher Gewalt in besonderer Eine bereits bestehende Gefährdung von Kleinkindern Gefährdungen entschärft, aber auch verstärkt werden. 9 Weitere Hilfestellungen für die Praxis in Bezug auf die besonderen Gefährdungslagen von Jugendlichen bietet die Arbeitshilfe des IB 8 Im ersten Lebensjahr werden Kinder auch als Säuglinge bezeichnet und im 2. und 3. Lebensjahr als Kleinkinder. „Jugendliche schützen!“ (siehe Fußnote 3). 16 17
Weise erschweren, auf ihre Notlage aufmerksam zu ma- (sollen). Nicht nur in institutionellen Kontexten sondern chen. Von großer Bedeutung ist es daher, häusliche Ge- auch im familiären Rahmen versuchen Täter*innen mit walt frühzeitig zu erkennen und langfristig zu verhindern. verschiedenen Strategien, es den betroffenen jungen Menschen unmöglich zu machen, sich gegen die Hand- lungen des*der Täters*Täterin zu wehren und andere Besondere Gefährdungslage: (Erwachsene) einzubeziehen. Oder sie suchen gezielt Sexualisierte Gewalt bestimmte Familienkonstellationen/-situationen, die Sexualisierte Gewalt geschieht nicht zufällig. Die Band- sexuellen Missbrauch leichter möglich machen. breite sexualisierter Gewalt reicht von sexualisierten verbalen oder körperlichen Grenzüberschreitungen über sexualisierte Übergriffe bis hin zu strafrechtlich Die Rolle der Eltern/Personen- relevanten Formen sexualisierter Gewalt durch eine sorgeberechtigten oder mehrere Personen, auch in digitalen Räumen. Mit sexualisierter Gewalt geht immer ein Machtmiss- Auch wenn in einigen Fällen eine (sofortige) Verände- brauch einher. Dabei werden sexuelle Handlungen rung der Lebenssituation für das betroffene Kind oder dazu genutzt, Macht und Gewalt auszuüben. den betroffenen Jugendlichen – aus persönlicher und pädagogischer Sicht – als wünschenswert oder viel- Ähnlich wie bei häuslicher Gewalt fällt es Kindern und leicht sogar als notwendig empfunden wird, kann es Jugendlichen, die im familiären Umfeld sexuellen Miss- sein, dass keine Kindeswohlgefährdung im Sinne der brauch erleben, meist schwer, sich anderen mitzuteilen gesetzlichen Vorgaben vorliegt. Für die Einschätzung der Gefährdungen von volljährigen jungen Menschen und auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Zum familiären Situation und Möglich- Aufgrund der gesetzlichen Regelungen spielt das Alter ! einen erschweren die (engen) familiären Bindungen keiten sind die folgenden grundlegenden des jungen Menschen eine entscheidende Rolle. und Beziehungen – zum Teil zu den Tätern*Täterinnen Ausschlaggebend für die fachliche Fragen entscheidend: Nur bei unter 18-Jährigen kann über das Jugendamt selbst und/oder den weiteren Familienmitgliedern – Einschätzung der Gefährdungslage ein Verfahren zur Abwendung einer Kindeswohl- den betroffenen Kinder und Jugendlichen, die sexua- sind nicht nur die Form, die Häufig- • Was tun die Eltern/Personensorge- gefährdung bzw. einer Gefährdung des Wohls eines lisierten Handlungen richtig einzuordnen, d. h., se- keit, die Intensität und der Zeitraum der berechtigten Schädliches? Jugendlichen eingeleitet werden. Bei volljährigen xualisierte Übergriffe und Gewalt zu erkennen und zu Gefährdung selbst, sondern ebenso ent- jungen Menschen, die sich in einer (akuten) • Was unterlassen die Eltern/Personensorge- benennen. Zum anderen erleben viele junge Menschen scheidend sind die Möglichkeiten im fami- Gefährdungslage befinden, müssen andere Wege berechtigten Notwendiges? bei sexualisierter Gewalt in der Familie ambivalente liären Umfeld und der Wille der Eltern/Per- der (Krisen-)Intervention gesucht werden, wie z. B. Gefühle (gegenüber den Tätern*Täterinnen und/oder sonensorgeberechtigten, die Gefahr(en) ab- • Was wollen und können die Eltern/ bei dringendem Handlungsbedarf das Einschalten anderen Familienmitgliedern), die sie hemmen, über zuwenden und die jungen Menschen bei der Personensorgeberechtigten tun, um die der Polizei oder des Rettungsdienstes. Besteht kein ihre Erlebnisse zu sprechen. Verarbeitung der Erlebnisse zu unterstützen. Gefährdungslage zu beenden? dringender Handlungsbedarf, kann neben einrich- tungsinterner Beratung und der Einbindung möglicher • Brauchen die Eltern/Personensorge- Hinzu kommt, dass von sexualisierter Gewalt betrof- Ressourcen aus dem Umfeld des jungen Menschen berechtigten Hilfe, um die Gefährdungslage fene Kinder und Jugendliche die Schuld häufig bei sich Unterschieden wird, ob das Wohl eines Kindes oder zur Verbesserung der Lebenssituation auch die Unter- zu beenden? selbst suchen und große Schamgefühle entwickeln. Jugendlichen gefährdet ist oder ob das Wohl des Kindes stützung durch spezielle Beratungsstellen angeboten Daher ist es im Kontakt mit den betroffenen Kindern oder Jugendlichen nicht gewährleistet ist. Ist das Wohl • Wollen und können die Eltern/Personen- werden. Bei Bedarf kann dem jungen Menschen und Jugendlichen wesentlich, sie dahingehend zu (be) eines Kindes oder Jugendlichen nicht gewährleistet, sorgeberechtigten Hilfe annehmen? Unterstützung bei der Suche nach einer passenden stärken, dass sie niemals schuld an der ihnen gegen- besteht entweder noch Klärungsbedarf, inwieweit das Therapie oder bei einem notwendigen Wechsel des • Reichen die Maßnahmen aus, um über verübten Gewalt haben. Das „Besondere“ in Wohl des Kindes oder Jugendlichen gefährdet ist, oder Lebensortes angeboten werden. eine Gefährdungslage zu beenden? Bezug auf sexualisierte Gewalt sind die oft im Ver- die Gefährdungseinschätzung ergab, dass dem Wohl borgenen liegenden Täter*innen-Strategien, die ein des Kindes oder Jugendlichen eine Gefährdung droht, Aufdecken des sexuellen Missbrauchs erschweren wenn bestimmte Maßnahmen nicht ergriffen werden. 18 19
3. Klärungsstufe 2. Umgang mit (Vermutungen auf) 2. Klärungsstufe Kindeswohlgefährdungen bzw. Gefährdungen Einbindung des Jugendamtes Beratung mit des Wohls von Jugendlichen 1. Klärungsstufe Vorgesetzter*m, Team und „Insoweit erfahrener Fachkraft“ Eigene Beobachtungen; Einbindung erste Beratung mit des Jugendamtes Einbindung Kollegen*Kolleginnen; des nicht notwendig Jugendamtes Klärungsstufen zur Einschätzung Einbindung Vorgesetze*r nicht notwendig Auch wenn der Wunsch groß ist, der Gefährdungslage für den betroffenen jungen Menschen keine gewichtigen die Lebenssituation so schnell wie möglich Anhaltspunkte Eine besondere Notlage für junge Menschen ist gege- zu verbessern, ist es wichtig, Ruhe zu be- ben, wenn sie durch ihre Eltern/Personensorgeberech- wahren, überlegt zu handeln und sich tigten gefährdet werden oder die Eltern/PSB Gefahren ausreichend Zeit für eine Einschätzung zu für ihre Kinder nicht abwenden können oder wollen. nehmen! Ausnahmen hierbei bilden akute Einbindung des Kindes/Jugendlichen Diese besonderen Notlagen junger Menschen in der Gefährdungslagen, die ein sofortiges (außer bei begründeter Annahme einer Erhöhung der Gefahr für das Kind/den Jugendlichen) Praxis zu erkennen und den Grad der Gefährdung Handeln erfordern! (siehe Seite 28 ff.) des Wohls des Kindes oder Jugendlichen professionell Einbindung der Eltern/Personensorgeberechtigten einzuordnen, stellt eine große Herausforderung dar. (außer bei begründeter Annahme einer Erhöhung der Gefahr für das Kind/den Jugendlichen) Zu klären, ob es sich überhaupt um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen handelt, Damit diese weitreichende Gefährdungseinschätzung ob diese nur eine vorübergehende Gefährdungssitua- nicht von Einzelnen getroffen werden muss, gibt es tion ohne negative Folgen ist oder ob es sich um eine mehrere Klärungsstufen. Abgeleitet sind diese von den Nach einer ersten groben Einschätzung aufgrund einem späteren Zeitpunkt eingebunden. Es braucht gravierende Gefährdungslage für das Kind oder den gesetzlichen Vorgaben für die Kinder- und Jugendhilfe. eigener Beobachtungen werden der*die direkte Vor- eine Klärung und Begründung, warum die Eltern/Per- Jugendlichen handelt, ist ein Prozess, der ein abge- Auf jeder Stufe sind mehrere Personen an der Ein- gesetzte über den Fall informiert und Kollegen*Kolle- sonensorgeberechtigten nicht hinzugezogen werden. stimmtes Vorgehen erfordert. schätzung der aktuellen Situation beteiligt. ginnen zum Austausch hinzugezogen. Darüber hinaus Dies muss zusammen mit der Beschreibung des wird in der 2. Klärungsstufe eine „Insoweit erfahrene Vorgehens sowie den Gefährdungseinschätzungen Fachkraft“ eingebunden. Mit ihrem speziellen Fach- dokumentiert werden. und Erfahrungswissen unterstützt die ISEF die Fach- und Führungskräfte darin, die Beobachtungen und Wichtig ist, die Kinder und Jugendlichen während des Insoweit erfahrene Fachkräfte (ISEF) Hinweise richtig einzuordnen und zu interpretieren. ganzen Prozesses entsprechend ihrem Alter und Ent- Während der 2. Klärungsstufe wird zudem über das wicklungsstand einzubinden. Auch hier gilt, dass nur in Allen Einrichtungen im IB stehen ISEF mit einem Je nach regionalen Strukturen sind die ISEF für be- weitere Vorgehen beraten und innerhalb des Teams begründeten Ausnahmefällen entschieden werden spezifischen Fach- und Erfahrungswissen zur stimmte Einrichtungen oder Arbeitsfelder zuständig. sowie mit der*dem direkten Vorgesetzten geklärt, kann, den jungen Menschen in dem Prozess nicht zu Beratung und Unterstützung zur Verfügung. Gesetzlich vorgeschrieben ist dies für Einrichtungen wer die Verantwortung für diesen Fall und somit für beteiligen. Dies kann beispielsweise bei einem Ver- ISEF bieten Beratung und Unterstützung bei der Kinder- und Jugendhilfe; im IB stehen jedoch auch das weitere Vorgehen übernimmt. Aufbauend auf dacht auf sexuellen Missbrauch in der Familie oder bei für die anderen Arbeitsfelder ISEF zur Verfügung. • der Risiko- und Gefährdungseinschätzung, diesen Einschätzungen wird dann entschieden, häuslicher Gewalt notwendig sein, um das Kind oder Z. T. werden in den Kommunen andere Bezeichnun- • der Gestaltung des Einschätzungsprozesses ob das Jugendamt eingebunden oder (vorerst) den Jugendlichen zu schützen. gen für ISEF verwendet. und der Durchführung des Verfahrens, nicht informiert werden muss. • der Beteiligung der jungen Menschen und (Beschreibung des ganzen Verfahrens siehe Seite 28 ff.) Insbesondere bei den Entscheidungen für geeignete Um eine ergänzende Perspektive in den Prozess ihrer Eltern, Möglichkeiten zur Abwendung der Gefahren und zur einzubringen, ist es notwendig, dass die ISEF aus einer • der Einschätzung, inwieweit das Jugendamt Von Anfang an werden sowohl das Kind/ der*die eigenen Entwicklung müssen die Wünsche und Vor- anderen Einrichtung und ggf. auch aus einem ande- eingebunden werden soll/muss, Jugendliche als auch die Eltern/Personensorge- stellungen der Kinder und Jugendlichen angemessen ren Arbeitsfeld kommt. An einigen Orten ist es für die • der Erstellung von Schutz- und Hilfeplänen und berechtigten beteiligt und das weitere Vorgehen erfragt, gehört und einbezogen werden – auch um Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe • der Überprüfung der vereinbarten Maßnahmen. transparent gestaltet. Besteht jedoch die Gefahr, einen (inneren) Rückzug des jungen Menschen und sogar zwingend vorgeschrieben, dass die ISEF nicht dass sich durch die Einbindung der Eltern/Personen- eine dadurch mögliche Verstärkung der Gefährdung zu Die Fallverantwortung bleibt bei dem*der zuständigen aus der eigenen Einrichtung und nicht vom eigenen sorgeberechtigten die Situation für den jungen Men- verhindern. Mitarbeiter*in und der zuständigen Leitungskraft. Träger kommen dürfen. schen verschlimmern könnte, werden diese erst zu 20 21
Formen von Hinweisen auf eine Gefährdungslage: Anhaltspunkte für eine Die folgenden Anhaltspunkte können Hinweise auf eine Gefährdung Gefährdungslage des Wohls von Kindern oder Jugendlichen geben, hängen jedoch sehr vom Alter und/oder Entwicklungsstand des jungen Menschen ab: Hinweise auf eine Gefährdung des Wohls junger geäußerter Menschen können sowohl von den Kindern und Hinweis Beispiele für Anhaltspunkte in der äußeren Erscheinung Jugendlichen selbst als auch von Eltern/Personen- und dem Verhalten eines jungen Menschen: sorgeberechtigten oder Dritten geäußert werden. Zudem ist der eigene geschulte Blick für diese be- • nicht herzuleitende/erklärbare Verletzungen (auch Selbstverletzungen) sonderen Gefährdungslagen von jungen Menschen • starke Unterernährung/-versorgung (Flüssigkeiten/Lebensmittel) ein wichtiges „Hilfsmittel“, um auch ohne geäußerte beobachtete • mangelnde/fehlende Körperhygiene Hinweise zu erkennen, dass das Wohl eines jungen Anzeichen • nicht dem Wetter entsprechende und/oder stark verschmutzte Kleidung Menschen bedroht und professionelles Handeln • unzureichende ärztliche Versorgung erforderlich ist. Deutliche Zeichen für eine Gefähr- • Einnahme bzw. Verabreichung gesundheitsgefährdender Substanzen dungslage können natürlich auch konkrete, mit- • mangelnde Beaufsichtigung und/oder (zeitweise) unbekannter Aufenthalt erlebte Situationen sein. konkrete, • psychische Auffälligkeiten: Ängste, Zwänge, Apathie miterlebte Um die Lebenssituation des jungen Menschen gut ein- • hohe Aggressivität, gewalttätige und/oder sexualisierte Übergriffe Situation schätzen zu können, geht es darum, (weitere) Anhalts- gegen andere Personen punkte für eine Gefährdung wahrzunehmen und auf … u. v. m. den unterschiedlichen Klärungsstufen zu beraten. Beispiele für Anhaltspunkte in Bezug auf die familiäre Situation: ! • gesundheitsgefährdende Wohnsituation, mangelnde Hygiene, starke Beschädigungen, Obdachlosigkeit Eine Ausnahme bildet der • psychische Erkrankungen und/oder Suchterkrankungen der Eltern/ Fall einer akuten Gefährdung Personensorgeberechtigten eines jungen Menschen, bei dem • Gewalt im häuslichen Kontext (auch verbale Gewalt wie Erniedrigungen und ein dringender Handlungsbedarf massive Beschimpfungen) besteht und die Gefahr sofort • keine bzw. mangelnde Wahrnehmung der Aufsichtspflicht und/oder abgewendet werden muss Beaufsichtigung durch ungeeignete Personen (siehe Seite 30 f.). • mangelnde Versorgung der jungen Menschen (bezüglich Nahrung, Krankheits- behandlung, Förderung von jungen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung) • Ausnutzen der jungen Menschen für Straftaten oder Gelderwerb (u. a. Betteln) • Zugang zu unangemessenem Medienkonsum (insbesondere gewaltverherrlichend, pornografisch) • Isolierung des jungen Menschen • Zwang zur Heirat … u. v. m. 22 23
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