Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund

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Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund
Handbuch
zum Schutz von
Kindern und
Jugendlichen
im Internationalen Bund
Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund
Inhalt                                                                                                                                                                                                                                                                            Vorwort

I. Schutz von Kindern und Jugendlichen im IB –
   eine große gemeinsame Aufgabe ...........................................................................................................................                            4
1. Warum gibt es dieses Handbuch? – Ziele und Funktion des Handbuchs ...........................................................                                                        5
2. Die Leitlinien zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im IB ............................................................................                                            8
3. Die rechtlichen Grundlagen ............................................................................................................................................              9

II. Interventionen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im IB ...........................................................                                                           12   Liebe Leser*innen,
1. Wann ist das Wohl von Kindern und Jugendlichen gefährdet? ..............................................................................                                            13
    Verschiedene Formen der Gefährdung .......................................................................................................................                         13   wenn das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen ge-       Bereits vor vielen Jahren hat sich der IB mit seinen
       Besondere Gefährdungslagen ................................................................................................................................                     16   fährdet ist, gibt es den dringenden Wunsch, die        Leitlinien zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
       Die Rolle der Eltern/Personensorgeberechtigten ..............................................................................................                                   18   Situation für den jungen Menschen so schnell wie       dafür entschieden, trotz unterschiedlicher gesetzlicher
                                                                                                                                                                                            möglich zu verbessern. Die Gefährdungslage eines       Vorgaben für alle Arbeitsfelder, in denen mit Kindern,
2. Umgang mit (Vermutungen auf) Kindeswohlgefährdungen bzw. Gefährdungen des Wohls
                                                                                                                                                                                            jungen Menschen fachlich gut einzuschätzen und an-     Jugendlichen und Familien gearbeitet wird, Standards
   von Jugendlichen ................................................................................................................................................................   20
                                                                                                                                                                                            gemessen zu reagieren, ist jedoch eine schwierige      zur Stärkung des Schutzes von Kindern und Jugend-
      Klärungsstufen zur Einschätzung der Gefährdungslage ..................................................................................                                           20
                                                                                                                                                                                            Aufgabe. Hierbei können viele Fragen und Unsicher-     lichen festzulegen. In allen Einrichtungen des IB sollen
      Anhaltspunkte für eine Gefährdungslage ............................................................................................................                              22
                                                                                                                                                                                            heiten auftreten, gerade dann, wenn das Thema          sich junge Menschen wohl und sicher fühlen und ver-
      Gefährdungseinschätzung .......................................................................................................................................                  24
                                                                                                                                                                                            Kinderschutz bzw. der Schutz von Minderjährigen        trauensvolle Ansprechpartner*innen finden. Das Hand-
3. Vorgehen bei einer Gefährdung des Wohls von Kindern oder Jugendlichen ....................................................                                                          27   nicht im Fokus der Arbeit liegt.                       buch baut auf diesen Grundlagen auf, die im Zusam-
      Vorgehen bei (Verdacht auf eine) Kindeswohlgefährdung bzw. bei (Verdacht auf die)                                                                                                                                                            menwirken mit den Multiplikatoren*Multiplikatorinnen
      Gefährdung des Wohls eines Jugendlichen .........................................................................................................                                28   Das vorliegende Handbuch bietet Hilfestellungen,       zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im IB und
      Checkliste zur Entwicklung eines einrichtungsbezogenen Verfahrens .........................................................                                                      30   um bei einem konkreten (Verdachts-)Fall gut vorbe-     in jahrelanger Zusammenarbeit und mit Unterstützung
      Handeln in Extremsituationen .................................................................................................................................                   30   reitet zu sein und die Gefährdungsmomente –            der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ent-
      Dokumentation des Vorgehens ..............................................................................................................................                       31   insbesondere in Bezug auf (sexualisierte) Gewalt –     wickelt worden sind.
4. Vorgehen bei Gefährdungen eines Kindes oder Jugendlichen durch Mitarbeitende ......................................                                                                 32   in unseren Einrichtungen zu minimieren. Gemeinsam
                                                                                                                                                                                            auf allen Ebenen und in allen Einrichtungen gilt es,   Auch in Bezug auf das Handbuch gilt den Multiplika-
      Grenzüberschreitungen, Übergriffe und strafrechtlich relevante Formen von Gewalt
                                                                                                                                                                                            mit Hilfe dieses Handbuchs die Standards zum Schutz    toren*Multiplikatorinnen für ihre Unterstützung und
      durch Mitarbeitende ..................................................................................................................................................           32
                                                                                                                                                                                            von Kindern und Jugendlichen im IB vor Ort um-         Herrn Professor Dr. Martin Wazlawik für die fachliche
      Umgang mit Grenzverletzungen, Übergriffen und strafrechtlich relevanten Formen von Gewalt
                                                                                                                                                                                            zusetzen, Handlungssicherheit zu gewinnen und          Beratung ein herzlicher Dank!
      durch Mitarbeitende ..................................................................................................................................................           34
      Vorgehen bei (Verdacht auf) Gefährdungen von Kindern/Jugendlichen durch Mitarbeitende ..............                                                                             36   wirkungsvolle Verfahren und Strukturen aufzubauen
                                                                                                                                                                                            bzw. diese weiterzuentwickeln. Dabei zählt insbe-      Wir hoffen, Ihnen mit diesem Handbuch für die
      Vorgehen zur Rehabilitation von zu Unrecht beschuldigten Mitarbeitern*Mitarbeiterinnen ................                                                                          38
                                                                                                                                                                                            sondere – entsprechend unserem Claim „Menschsein       (Weiter-)Entwicklung Ihrer Schutzkonzepte hilfreiche
5. Vorgehen bei Gefährdungen eines Kindes oder Jugendlichen                                                                                                                                 stärken“ –, die Rechte von Kindern und Jugendlichen    Impulse und Richtlinien zu geben, um auch in
   durch andere junge Menschen in der Einrichtung ...................................................................................................                                  39   zu stärken.                                            schwierigen Situationen gut aufgestellt zu sein!
      Grenzverletzungen und Übergriffe durch Kinder und Jugendliche ...............................................................                                                     39
      Umgang mit Grenzverletzungen und Übergriffen durch Kinder und Jugendliche ....................................                                                                    41

III. Prävention zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
                                                                                                                                                                                            Mit freundlichen Grüßen
     in Einrichtungen des IB ...............................................................................................................................................           44
1. Organisations- und Kommunikationsstrukturen zum Schutz von
     Kindern und Jugendlichen im IB .....................................................................................................................................              45
2. Situations- und Risikoanalyse in Einrichtungen .........................................................................................................                            50
3. Personalauswahl und -entwicklung ...............................................................................................................................                    53   Karola Becker
4. Beteiligung und Beschwerdemanagement .................................................................................................................                              55   Mitglied des Vorstandes
5. Sexualpädagogik als Beitrag zur Prävention von sexualisierter Gewalt ..............................................................                                                 60

2                                                                                                                                                                                                                                                                                                          3
Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund
I.
     Schutz von Kindern und   1. Warum gibt es dieses Handbuch? –
                                 Ziele und Funktion des Handbuchs
     Jugendlichen im IB –
     eine große gemeinsame
     Aufgabe
                              In unserer Gesellschaft sind einige junge Menschen
                              belastenden Lebenssituationen und besonderen
                              Gefährdungen wie z. B. Gewalt, Bedrohung und
                              Vernachlässigung ausgesetzt. Nicht immer ist dies                                   Dieses Handbuch bildet das gemein-
                              schnell und einfach zu erkennen. Die Gefahren können                                same Dach im IB für alle Arbeitsfelder,
                              dabei vom familiären Umfeld, vom Freundes- und                                      in denen mit Kindern, Jugendlichen und
                              Bekanntenkreis, vom sozialen Umfeld, aber auch von                                  Familien gearbeitet wird, wenngleich
                              (Bildungs-)Institutionen und sozialen Einrichtungen                                 unterschiedliche Gesetzgebungen zum
                              ausgehen und zeigen sich je nach Alter z. T. auch                                   Schutz von Kindern und Jugend-
                              sehr unterschiedlich. Für junge Menschen in solchen                                 lichen gelten
                              Situationen ist es besonders wichtig, dass ihre Not-
                              lage möglichst frühzeitig wahrgenommen wird und
                              sie Ansprechpartner*innen finden, die sie ernst-
                                                                                                                  (siehe Seite 9 f.).
                                                                                                                                                                      i
                              nehmen, beraten und begleiten.

                              Bereits vor vielen Jahren hat sich der IB das aus-                          Um den Schutz von jungen Menschen bestmöglich
                              drückliche Ziel gesteckt, in seinen Einrichtungen1                          gewährleisten zu können, ist es von zentraler Be-
                              ein Umfeld zu gestalten, das Kindern und Jugend-                            deutung, die Rahmenbedingungen dafür auf allen
                              lichen Schutz und vertrauensvolle Ansprech-                                 Führungsebenen zu schaffen und Prozesse klar
                              partner*innen bietet. Dafür braucht es das                                  und nachvollziehbar zu kommunizieren. Die Ver-
                              Mitwirken aller Fach- und Führungskräfte, die mit                           antwortung hierfür liegt bei den Institutionen
                              jungen Menschen arbeiten – in allen Arbeitsfeldern                          und ihren Führungskräften ebenso wie bei den
                              der Kinder- und Jugendhilfe, in IB-Schulen, in Maß-                         einzelnen Mitarbeitenden, die von akuten Gefähr-
                              nahmen der (beruflichen) Bildung, in den Straffälligen-                       dungen und gewichtigen Anhaltspunkten für Gefähr-
                              hilfen, in Einrichtungen für junge, wohnungslose                            dungen des Wohls von Kindern oder Jugendlichen
                              Menschen und allen weiteren Feldern, in denen                               Kenntnis erlangen. Dies gilt aufgrund der gesetzlichen
                              Kinder und/oder Jugendliche sind.                                           Vorgaben in besonderem Maße für die Arbeit mit
                                                                                                          jungen Menschen unter 18 Jahren.
                              Auch in der Arbeit mit Menschen, die Kinder haben
                              (und bei denen die Kinder nicht direkt zur Zielgruppe
                              gehören), ist es wichtig, akute Gefährdungen von
                              Kindern und Jugendlichen wahrzunehmen und sich
                              im Team, mit Vorgesetzten sowie mit „Insoweit
                              erfahrenen Fachkräften“ (ISEF) zu beraten.

                              1
                                  Unter dem Begriff „Einrichtungen“ sind in diesem Handbuch sowohl einzelne Schulen und Kitas zu verstehen als auch Einrichtungen,
                                  die verschiedene Angebote führen, wie beispielsweise einige Einrichtungen der Beruflichen Bildung oder der Erziehungshilfen –
                                  d. h., es ist hier die Ebene gemeint, auf der die konkrete konzeptionelle und praktische Arbeit jedes Angebots und jeder (Dienst-)Leistung
                                  des IB für Kinder, Jugendliche und Familien angesiedelt ist.
4                                                                                                                                                                              5
Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund
Was ist überhaupt
                                                          eine Kindeswohl-
                                                          gefährdung oder
                                                          Gefährdung des Wohls
     In der alltäglichen Arbeit mit Kindern               eines Jugendlichen?
     und Jugendlichen tauchen dazu
     viele Fragen und Unsicherheiten auf:                                                       Diesen Fragen wird in dem vorliegenden Handbuch         (bei Gefährdungen durch Mitarbeitende oder andere
                                                                                                nachgegangen. Ziel ist es, mit dem Handbuch             Kinder/Jugendliche) zu beschweren. Um diese Aufga-
                                                                           Bin ich eigentlich
                                                                                                alle Fach- und Führungskräfte des IB dabei zu           ben gut umsetzen zu können, liegt die Verantwortung
                                                                           zuständig für den
                                                                                                unterstützen,                                           von Führungskräften aller Ebenen darin, unterstüt-
                                                                           Schutz von jungen
                                                                                                                                                        zende Rahmenbedingungen und passende Struk-
                                                                           Menschen?            • den Blick für Gefährdungslagen von jungen
                                                                                                                                                        turen zu entwickeln. In allen Organisationseinheiten
                                                                                                  Menschen zu stärken,
                                                                                                                                                        (OE) des IB gibt es besondere Funktionsträger*innen,
              Wie kann ich
                                                                                                • einen sichereren Umgang im Falle einer akuten         von den OE festgelegte Verantwortungsbereiche und
              Gefährdungen
                                                                                                  Gefährdung und bei Verdacht auf eine Gefähr-          Strukturen zur Stärkung des Schutzes von Kindern und
              erkennen und richtig
                                                                                                  dung des Wohls von Kindern und Jugendlichen           Jugendlichen entsprechend einem IB-übergreifenden
              einschätzen?
                                              Ab wann                                             zu gewinnen,                                          Modell (siehe Seite 49).
                                              muss ich handeln
                                                                                                • die gesetzlichen Vorgaben und hilfreichen
                                              und wie?                   Ist besonders
                                                                                                  Strukturen im IB (und darüber hinaus) kennen-
                                                                         schnelles Handeln
                                                                                                  zulernen und nutzen zu können und
                                                                         wichtig?                                                                         Institution/                          Institution/
                                                                                                • auf allen Führungsebenen sowie in den ein-            Führungskräfte                        Führungskräfte
    Es heißt doch immer                                                                           zelnen Einrichtungen Strukturen zu schaffen,
    Kinderschutz und Kindeswohl-                                                                  die die Rechte und den Schutz der jungen
    gefährdung – bezieht sich das                                                                 Menschen stärken.

                                                                                                                                                                   IN

                                                                                                                                                                                                  ÄVENTION
    überhaupt auf Jugendliche?

                                                                                                                                                                TE
                                                              Kann/Darf/Muss ich

                                                                                                                                                               RVENTIO
                                                                                                                                                                             Schutz von
                                                              den betroffenen                    Damit Kinder und Jugendliche in den Einrichtungen des
                                                                                                                                                                              Kindern &
                                                              jungen Menschen                   IB einen Ort finden, an dem sie sich wohl und sicher
                                                                                                                                                                            Jugendlichen
                                                              (und seine Eltern)                fühlen können, sind ein offener Blick auf die indivi-
                                                              darauf ansprechen?                duellen Lebenslagen der jungen Menschen und ein

                                                                                                                                                                                                PR
                          Welche Verantwortung                                                  abgestimmtes Verfahren bei (dem Verdacht auf eine)

                                                                                                                                                                   N
                          trage ich als Vorgesetzte*r                                           Gefährdung des Wohls von Kindern und Jugendlichen
                          für den Schutz von Kindern                                            wichtige Voraussetzungen. Entscheidend ist aber nicht
                          und Jugendlichen in meiner                                            nur der Bereich der Intervention, d.h. das Handeln,
                          Einrichtung?                                                          wenn bereits eine Gefährdung vermutet oder bekannt           alle                                  alle
                                                                                                                                                        Mitarbeitenden                        Mitarbeitenden
                                                                                                ist. Ebenso bedeutend ist der Bereich der Prävention
                                                                              Wer kann mich     zum Schutz von Kindern und Jugendlichen – mit einer
                                                                              unterstützen?     Vielzahl von Bausteinen. Zu diesen zählen eine offene
                                                                              Wo bekomme ich    Atmosphäre und ein regelmäßiger Austausch im Team
     Wie können wir Kinder                                                    Hilfe?            über Risikofaktoren, über den Umgang mit Gefähr-        In diesem Handbuch sind im ersten Abschnitt mit den
     und Jugendliche in                                                                         dungen innerhalb der Einrichtung sowie über ein-        IB-internen Leitlinien und gesetzlichen Rahmenbedin-
     unserer Einrichtung                    Welche Ebene macht was                              richtungsbezogene, passende Standards. Ein weiterer     gungen die wesentlichen Grundlagen dargestellt. Der
     bestmöglich stärken                    zum Schutz von Kindern                              ganz wichtiger Baustein ist, den jungen Menschen in     zweite Abschnitt beinhaltet Hintergrundinformationen,
     und schützen?                          und Jugendlichen im IB –                            den Einrichtungen einen Rahmen zu bieten, in dem sie    Hilfestellungen und Standards zum Bereich Intervention.
                                            und was ist die Aufgabe                             ernst genommen werden, ernsthaft beteiligt werden       Im dritten Abschnitt werden die vielfältigen Bausteine
                                            von Führung?                                        und es zu den Zielgruppen passende Wege gibt, sich      und Standards zur Prävention näher beschrieben.

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Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund
2. Die Leitlinien zum Schutz von                                                                     3. Die rechtlichen
   Kindern und Jugendlichen im IB                                                                       Grundlagen

    Die folgenden „Leitlinien zum Schutz von Kindern und Jugendlichen im IB“ bilden                  Es gibt verschiedene rechtliche Grundlagen zur
    das „Grundgerüst“ des gemeinsamen Dachs im IB zum Schutz von Kindern und Jugendlichen            Erfüllung des gesellschaftlichen Auftrags, die Rechte
    und bieten wesentliche Eckpunkte zu deren Umsetzung:                                             von Kindern und Jugendlichen zu achten und ihren
                                                                                                     Schutz zu gewährleisten. Die dazu zählenden Gesetze          EU-Grundrechtecharta –
                                                                                                     bzw. (Selbst-)Verpflichtungen gelten auf unterschied-         Art. 24 „Rechte des Kindes“
                                                                                                     lichen rechtlichen Ebenen und greifen ineinander.
                                                                                                                                                                  Deutschland als Mitgliedsstaat der Europäischen Union
                                                                                                     Aufgrund von immer wieder öffentlich gewordenen               hat sich dazu verpflichtet, die in der EU-Grundrechte-
                                                                                                     massiven Übergriffen bis hin zu Tötungen von Kindern          charta aufgeführten Grund- und Menschenrechte
    1. Die Wahrnehmung der Kinderrechte            die erforderlichen Verhaltensweisen aufzeigt.
                                                                                                     und Jugendlichen im familiären und sozialen Umfeld,          zu achten und zu garantieren. In Artikel 24 werden
    und des Kinderschutzes ist Standard in         Dieser ist in den Organisationseinheiten er-
                                                                                                     aber auch in (Bildungs-) Einrichtungen wurde eine            grundlegende Rechte von Kindern hervorgehoben,
    allen Arbeitsfeldern, in denen mit Kindern     arbeitet und in Kraft gesetzt.
                                                                                                     Reihe von spezifischen gesetzlichen Regelungen zur            u. a. „der Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge,
    und Jugendlichen gearbeitet wird. Im Rahmen
                                                   Mitarbeiter*innen aus anderen Arbeits-            Stärkung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen           die für ihr Wohlergehen notwendig sind“ (Art. 24 Abs. 2).
    des Qualitätsmanagements wird der Kinder-
                                                   feldern informieren in Verdachtsfällen ihre       eingeführt.
    schutz in allen Geschäftsprozessen berück-
                                                   direkten Vorgesetzten. Diese beraten sich
    sichtigt.
                                                   mit den Kinderschutzfachkräften in der
                                                                                                                                                                  Grundgesetz und
    2. Die Führungskräfte haben den Auftrag,       Organisationseinheit. Sollte dies nicht möglich
                                                                                                     UN-Kinderrechtskonvention –
    dem Schutz von Kindern und Jugendlichen        sein, informieren diese nach Eigenabwägung                                                                     Bürgerliches Gesetzbuch
    besondere Aufmerksamkeit zu widmen.            die zuständigen Stellen der öffentlichen           eine Konkretisierung der Menschen-
                                                                                                                                                                  Im deutschen Grundgesetz sind keine Altersgrenzen
    Sie schaffen ein Kinder und Jugendliche         Jugendhilfe.
                                                                                                     rechte für Kinder                                            bzw. Altersvorgaben festgeschrieben, sodass jeder
    schützendes Klima in ihrem Zuständigkeits-
                                                   Weitere Personen, die für den IB tätig sind                                                                    Mensch von Anfang an Träger der Grundrechte
    bereich. Kinderschutz ist regelmäßiges
                                                   und hier Kontakt zu Kindern und Jugendlichen                              Mit dem Unterzeichnen der            ist. Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind Kinder und Jugend-
    Thema auf Führungskonferenzen und in
                                                   haben, werden über das Engagement des IB                                      UN-Kinderrechtskonvention        liche mit ihren besonderen Bedürfnissen im Grundge-
    den Fortbildungen für Führungskräfte.
                                                   in Bezug auf Kinderrechte und den Schutz von                                    (UN-KRK), einem welt-          setz nicht erwähnt, jedoch konkretisieren sich die Vor-
    3. Alle Mitarbeiter*innen des IB, die mit      Kindern und Jugendlichen informiert.                                             weiten Übereinkommen          haben und Initiativen (auch aufgrund der Forderungen
    Kindern und Jugendlichen arbeiten, werden                                                                                       über die Rechte des Kindes,   des VN-Ausschusses für die Rechte des Kindes), diese
                                                   5. Multiplikatoren*Multiplikatorinnen
    in Bezug auf Kinderrechte und den Schutz                                                                                        verpflichtet sich Deutsch-     explizit ins Grundgesetz aufzunehmen.
                                                   für den Schutz von Kindern und Jugendlichen
    von Kindern und Jugendlichen sensibilisiert                                                                                   land seit 1992 (damals mit
                                                   sind in den Organisationseinheiten ernannt.
    sowie auf Dienstbesprechungen und Dienst-                                                                                   einigen Vorbehalten) selbst,      Die Grundlage für den Schutz von Kindern und Jugend-
                                                   Sie beraten, regen Aktivitäten in Bezug auf
    beratungen über diese Thematik und über                                                                                 die Rechte von Kindern und Ju-        lichen bilden im Grundgesetz insbesondere Art. 1
                                                   den Kinderschutz an und steuern den Infor-
    mögliche Indikatoren für Gefährdungen                                                            gendlichen zu wahren, ihr Wohl sicherzustellen und           „Die Würde des Menschen“, Art. 3 „Recht auf Leben
                                                   mations- und Erfahrungsaustausch.
    des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen                                                         es „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, (…)            und körperliche Unversehrtheit“, Art. 3 „Gleichheit vor
                                                   Sie nehmen an entsprechenden bundes-
    geschult.                                                                                        vorrangig zu berücksichtigen“ (Art. 3). Die UN-KRK           dem Gesetz“ und Art. 6 „Beziehung Kind-Eltern-Staat“.
                                                   weiten Fachtagungen des IB zum Schutz
                                                                                                     beinhaltet eine Reihe von Schutz-, Förder- und Be-
    4. Alle Mitarbeiter*innen aus Arbeits-         von Kindern und Jugendlichen teil.
                                                                                                     teiligungsrechten, für deren Umsetzung die Staaten           Auch das Bürgerliche Gesetzbuch beinhaltet eine
    feldern des SGB VIII orientieren sich an
                                                                                                     dazu verpflichtet sind, die erforderlichen gesetz-            Reihe von Regelungen in Bezug auf das Wohl
    einem Handlungsleitfaden, der bei Verdacht
                                                                                                     lichen, gesellschaftlichen und sozialen Voraussetzun-        und den Schutz von Kindern und Jugendlichen.
    auf und bei akuter Kindeswohlgefährdung
                                                                                                     gen zu schaffen.                                              Im Besonderen sind dies die Paragrafen 1626 ff. zur
                                                                                                                                                                  Pflege und Erziehung durch die Eltern, § 1631 Abs. 2
                                                                                                                                                                  zum Recht auf gewaltfreie Erziehung sowie § 1666 zu
                                                                                                                                                                  möglichen staatlichen Eingriffen in die elterliche Sorge.

8                                                                                                                                                                                                                       9
Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund
lungen zur Inobhutnahme durch das Jugendamt, falls                           „Kindeswohlgefährdung“ –                                          • Wenn es im Falle einer Kindeswohlgefährdung
                                                                        ein Kind/Jugendlicher darum bittet oder „eine dringende                                                                                          bzw. einer Gefährdung des Wohls von Jugend-
                                                                                                                                                     … und Jugendliche?
                                                                        Gefahr für das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen                                                                                               lichen trotz Bemühungen der Fachkräfte nicht zu
                                                                        die Inobhutnahme erfordert“ (§ 42 ff.).                                       Sowohl im „Gesetz zur Kooperation und Infor-                        einer Abwendung der Gefahr kommt, sind die im
                                                                                                                                                     mation im Kinderschutz“ als auch im SGB VIII                        KKG § 4 Abs. 1 benannten Personengruppen wie
                                                                                                                                                     § 8a wird der Begriff „Kindeswohlgefährdung“                         Sozialpädagogen*Sozialpädagoginnen, Lehrkräfte,
                                                                        Bundeskinderschutzgesetz                                                     verwendet. Die Inhalte und die mit den Geset-                       Berater*innen, Hebammen, Ärzte*Ärztinnen und
                                                                        (BKiSchG)                                                                    zen verbundenen Ziele gelten jedoch ebenso                          „Berufspsychologen*Berufspsychologinnen“ befugt,
                                                                                                                                                     für Jugendliche, also für alle jungen Menschen                      erforderliche Daten an das Jugendamt weiter-
                                                                        Um den Schutz von Kindern und Jugendlichen in                                unter 18 Jahren. Durch die Verwendung des                           zugegeben.
                                                                        Deutschland zu stärken, trat Anfang 2012, ergänzend                          Begriffs „Kindeswohlgefährdung“ geraten –
                                                                        zu den Regelungen im SGB VIII, das Bundeskinder-                             sicherlich ungewollt – Jugendliche jedoch häu-                    • Fach- und Führungskräfte (Fallverantwortliche) aus
                                                                        schutzgesetz (BKiSchG) in Kraft. Ein wesentlicher Be-                        fig aus dem Blick. Dem IB ist es ein großes                          den Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe
                                                                        standteil des BKiSchG ist das mit ihm neu eingeführte                        Anliegen, gerade auch auf die häufig nicht so                        (SGB VIII) sind verpflichtet, an gegebener Stelle nach
                                                                        „Gesetz zur Kooperation und Information im                                   stark wahrgenommenen besonderen Gefähr-                             einer umfassenden Gefährdungseinschätzung
                                                                        Kinderschutz“ (KKG). Durch dieses haben Lehrkräfte,                          dungslagen von Jugendlichen aufmerksam                              die erforderlichen Daten an das Jugendamt weiter-
Sozialgesetzbuch (SGB) VIII –
                                                                        Sozialpädagogen*Sozialpädagoginnen, Berater*innen,                           zu machen3.                                                         zugeben (siehe Seite 20 ff.).
Kinder- und Jugendhilfe                                                 Ärzte*Ärztinnen u. v. m. im Falle einer akuten Gefähr-
                                                                        dung eines Kindes/Jugendlichen einen Anspruch auf                                                                                              • Erforderliche Daten sind nur solche, die zur Er-
In § 1 Artikel 1 des SGB VIII ist eine der wesentlichsten
                                                                        Beratung durch eine „Insoweit erfahrene Fachkraft“                                                                                               füllung der konkreten Aufgabe notwendig sind.
Regelungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
                                                                        und sind seitdem befugt, bei weiterem Handlungs-                                                                                                 Es ist daher bei jeder Datenweitergabe zu prüfen,
festgeschrieben: „Jeder junge Mensch hat ein Recht auf
                                                                        bedarf die erforderlichen Daten an das Jugendamt                                                                                                 ob diese wirklich notwendig ist.
Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu
                                                                        weiterzugeben. Weitere neue Bausteine waren die
einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen
                                                                        flächendeckende Entwicklung Früher Hilfen sowie ein                                                                                             • Die Daten dürfen ausschließlich ans Jugendamt
Persönlichkeit“.
                                                                        diesbezüglicher Aufbau von Netzwerkstrukturen.                                                                                                   weitergegeben werden und nur nach vorheriger
                                                                                                                                            Datenschutz in Verbindung mit dem                                            Information der Betroffenen, solange sich da-
Zur staatlichen Gewährleistung des Schutzes von
Kindern und Jugendlichen ist in § 8a explizit der
                                                                        Auch im SGB VIII wurden mit dem BKiSchG aufbau-                     Schutz von Kindern und Jugendlichen                                          durch das Risiko für die betroffenen Kinder und
                                                                        end auf dem bereits bestehenden Schutzauftrag an                                                                                                 Jugendlichen nicht erhöht.
Schutzauftrag für die Kinder- und Jugendhilfe
                                                                        mehreren Stellen neue gesetzliche Regelungen einge-                 Insbesondere wenn es um das Wohl von Kindern
im Zusammenspiel mit den öffentlichen Trägern fest-
                                                                        führt. Neu eingefügt wurde u. a. § 8b mit einem neuen               und Jugendlichen geht, stellt sich die Frage, wann und                     • In Extremsituationen (bei akuter Selbst- und Fremd-
geschrieben. § 8a beinhaltet eine Festlegung der Ver-
                                                                        bzw. erweiterten Anspruch auf fachliche Beratung                    welche personenbezogenen Daten an Dritte weiter-                             gefährdung sowie bei massiver bis hin zu lebensbe-
antwortungsbereiche/Aufgaben sowie Verfahrenswege
                                                                        und Begleitung, die Notwendigkeit eines erweiterten                 gegeben werden dürfen bzw. weitergegeben werden                              drohlicher Gefährdung eines Kindes oder Jugend-
bei (dem Verdacht auf eine) Gefährdung des Wohls
                                                                        Führungszeugnisses für Ehrenamtliche sowie weitere                  müssen.                                                                      lichen) sind alle Personengruppen befugt, die erforder-
von Kindern und Jugendlichen. Zudem enthält eine
                                                                        verbindliche Standards.                                                                                                                          lichen Daten direkt an das Jugendamt weiterzugeben.
Vielzahl von weiteren Paragrafen im SGB VIII gesetzliche
                                                                                                                                            Im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinder-
Regelungen rund um den Schutz von Kindern und
                                                                                                                                            schutz (KKG) sowie im SGB VIII sind die Rahmenbedin-                       • Bei einer Beratung durch „Insoweit erfahrene
Jugendlichen, wie z.B. Ausführungen zur Beteiligung                     Regionale Regelungen                                                gungen für den Austausch von Informationen                                   Fachkräfte“ dürfen die Daten nur in anonymisierter
von Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern/
                                                                                                                                            festgelegt:                                                                  und pseudonymisierter Form weitergegeben werden.
Personensorgeberechtigten2, die Verpflichtung zur Ent-                   Über die oben aufgeführten rechtlichen Grundlagen
wicklung eines Beschwerdemanagements oder Rege-                         hinaus kann es weitere regionale Regelungen geben.

                                                                                                                                            3
                                                                                                                                                Bereits 2009 führte der IB in Kooperation mit der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster unter der Projektleitung von Frau Professorin
                                                                                                                                                Dr. Karin Böllert und der wissenschaftlichen Mitarbeit von Herrn Professor Dr. Martin Wazlawik ein Projekt durch, das sich mit den besonderen
2
    Personensorgeberechtigte (PSB): Personensorgeberechtigt ist, wem allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften       Gefährdungslagen von Jugendlichen befasst. Die Ergebnisse dieses Projektes wurden in der Arbeitshilfe „Jugendliche schützen!“ zusammen-
    des Bürgerlichen Gesetzbuches die Personensorge zusteht. In der Regel sind das die Eltern.                                                  geführt und veröffentlicht.
10                                                                                                                                                                                                                                                                                       11
Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund
II.
      Interventionen           1. Wann ist das Wohl von Kindern und
                                  Jugendlichen gefährdet?
      zum Schutz von Kindern
      und Jugendlichen
                               Verschiedene Formen der                                  kommt es immer wieder zu Gefährdungen von

      im IB                    Gefährdung
                                                                                        Kindern und Jugendlichen – diese können sowohl
                                                                                        von Mitarbeitenden als auch von anderen Kindern
                               Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, ge-       und Jugendlichen in den Einrichtungen ausgehen.
                               sund und sicher aufzuwachsen und in ihrer Entwicklung
                               gefördert zu werden (siehe Seite 9 f.). Einige junge     Bei vielen Problemlagen geht es darum, diese im
                               Menschen – in allen Altersgruppen und Milieus – befin-    Rahmen der (pädagogischen) Arbeit in Einzelgesprä-
                               den sich jedoch in schwierigen Lebenssituationen,        chen mit den betroffenen Kindern oder Jugendlichen
                               durch die sie körperlich und/oder seelisch gefährdet     anzusprechen und/oder in Form von Gruppenange-
                               und/oder in ihrer Entwicklung erheblich beeinträchtigt   boten o. Ä. aufzugreifen. Je nach Situation kann es
                               werden. In der alltäglichen Arbeit ist es nicht immer    hilfreich und/oder notwendig sein, die Eltern/Perso-
                               einfach zu unterscheiden, ob es ausreicht, sich um den   nensorgeberechtigten mit einzubinden. Sowohl den
                               jeweiligen jungen Menschen Sorgen zu machen und          jungen Menschen als auch den Eltern/PSB können
                               Unterstützung anzubieten, oder ob es sich um eine Kin-   innerhalb der Einrichtung – abhängig vom Auftrag,
                               deswohlgefährdung bzw. eine Gefährdung des Wohls         von den Zielen und den Rahmenbedingungen in der
                               von Jugendlichen (im rechtlichen Sinne) handelt, die     jeweiligen Einrichtung – verschiedene Formen der
                               weiterer Schritte zur Klärung der Gefährdungslage und    Unterstützung angeboten werden oder sie können
                               ggf. zur Abwendung der Gefahren bedarf.                  ggf. an Beratungsstellen bzw. spezialisierte Einrich-
                                                                                        tungen wie Drogen- und Suchtberatungsstellen o. Ä.
                                                                                        vermittelt werden.
                               Junge Menschen können verschiedensten Gefahren
                               ausgesetzt sein. Diese können von den Eltern und/
                                                                                        Besondere Handlungsnotwendigkeiten für Fach- und
                               oder dem familiären Umfeld ausgehen. Ebenso können
                                                                                        Führungskräfte entstehen, wenn Gefährdungen von
                               gefährdende Situationen in unterschiedlichster Art
                                                                                        jungen Menschen in den eigenen Einrichtungen auf-
                               im weiteren sozialen Umfeld der jungen Menschen,
                                                                                        treten. Der Umgang mit Gefährdungen in den Ein-
                               beispielsweise im Freundeskreis, in Sportvereinen
                                                                                        richtungen – durch Mitarbeitende und andere junge
                               oder Freizeiteinrichtungen entstehen. Aber auch in
                                                                                        Menschen – wird unter Punkt II.4 und II.5 beschrieben.
                               Bildungseinrichtungen und sozialen Einrichtungen
                                                                                        Die verschiedenen Maßnahmen zum institutionellen
                                                                                        Schutz in Einrichtungen sind unter III. ausgeführt.

                                                                                        Fälle, in denen die Gefährdungen von den Eltern/
                                 Von großer Bedeutung ist – unabhängig wo-              Personensorgeberechtigten selbst ausgehen oder
                                 von die Gefährdung eines jungen Menschen               Eltern/Personensorgeberechtigte ihrer Aufgabe, Ge-
                                 ausgeht –, individuelle Problem- oder Not-             fährdungen abzuwenden, nicht nachkommen können
                                 lagen frühzeitig wahrzunehmen und eine                 oder wollen, stellen ebenfalls besondere Gefährdungs-
                                 vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen,                 situationen dar, die spezielle, festgelegte Vorgehens-
                                 die es den Kindern und Jugendlichen                    weisen und Kommunikationswege erfordern. Für
                                 erleichtert, sich an Mitarbeitende                     Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gelten dies-
                                 oder Leitungen zu wenden.                              bezüglich gesetzliche Vorgaben, die auch für dieses
                                                                                        Handbuch die Grundlage bilden.

12                                                                                                                                              13
Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund
Kindeswohlgefährdung bzw. Gefährdung des Wohls
eines*einer Jugendlichen

                                                          durch das familiäre
                                                          Umfeld des Kindes/                                                                 Im Falle des Verdachts auf eine Gefährdung des Wohls                  sonensorgeberechtigten die Grundlage für die
                                                           Jugendlichen bzw.                                                                 eines Kindes oder Jugendlichen bilden die in der De-                  fachliche Einschätzung der Lebens- und Gefährdungs-
                                                          die Eltern/Personen-                                                               finition genannten Kriterien neben der professionellen                situation des jeweiligen Kindes und Jugendlichen
                                                           sorgeberechtigten                                                                 Bewertung des (Erziehungs-)Verhaltens der Eltern/Per-                 (Prozess der Gefährdungseinschätzung siehe S. 27 ff.).

                                                                   ▼                               durch andere                                        Formen möglicher Gefährdungen des Wohls von Kindern und Jugendlichen:
                              durch                          Gefährdungen                         Teilnehmende,

                                                                                 ▼
                                                 ▼

                          Mitarbeitende,                     von Kindern &                    Klienten*Klientinnen,                                  • Vernachlässigung: Mangelnde oder                            • Sexualisierte Gewalt/Sexueller Miss-
                        Teams & Leitungen                                                         Schüler*innen,
                                                              Jugendlichen                        Auszubildende,
                                                                                                                                                       unangemessene Förderung, Missachtung                          brauch: Jede sexuelle Handlung, die an oder
                                                                                                Bewohner*innen                                         der Gesundheit, mangelnde Beaufsichtigung,                    vor einem Kind oder Jugendlichen gegen
                                                                   ▼                                                                                   mangelnde Pflege und Fürsorge                                 dessen Willen vorgenommen wird oder der
                                                                                                                                                                                                                     das Kind oder der Jugendliche nicht wissent-
                                                                                                                                                     • Körperliche Misshandlung: Physische Ge-
                                                                                                                                                                                                                     lich zustimmen kann; Ausnutzung der Macht-
                                                                                                                                                       walt gegenüber Kindern oder Jugendlichen
                                                                   durch                                                                                                                                             und Autoritätsposition
                                                                                                                                                       durch Eltern oder andere Erwachsene, wie
                                                                das weitere                                                                                                                                           (nach Bange/Deegener, 1996, S. 105)5
                                                            soziale Umfeld des                                                                         z. B. durch heftiges Schütteln, durch Schläge
                                                             jungen Menschen                                                                           mit der Hand oder Gegenständen, durch Zu-                   • Erwachsenenkonflikte um das Kind oder
                                                                                                                                                       fügung von Verbrennungen/Verbrühungen,                        den Jugendlichen: Kinder und Jugendliche
                                                                                                                                                       durch Vergiftung, durch Verabreichung von                     werden bei Trennung und Scheidung der
                                                                                                                                                       medizinisch nicht indizierten Medikamenten                    Eltern direkt in den (Paar-)Konflikt miteinbe-
                                                                                                                                                                                                                     zogen und dadurch instrumentalisiert; Streit
In der Praxis stellt sich immer wieder die Frage,                                                                                                    • Seelische Misshandlung: Elterliche
                                                                                                                                                                                                                     über den zukünftigen Verbleib des Kindes
wie sich eine Kindeswohlgefährdung bzw. eine                                                                                                           Äußerungen oder Handlungen, die das Kind
                                                                                                                                                                                                                     oder Jugendlichen, ohne das Wohl des Kin-

                                                                                                                                  i
Gefährdung des Wohls von Jugendlichen von                                                                                                              oder den Jugendlichen terrorisieren und/
                                                                                                                                                                                                                     des oder Jugendlichen zu berücksichtigen
anderen Gefährdungen unterscheiden lässt.                                                                                                              oder herabsetzen und/oder überfordern und
                                                                                Um eine Kindeswohlgefährdung
Zu einer Kindeswohlgefährdung bzw. Gefährdung                                                                                                          ihm das Gefühl der Ablehnung und eigenen                    • Autonomiekonflikte: Ablösekonflikte
                                                                                bzw. Gefährdung des Wohls eines
des Wohls von Jugendlichen kann es dann kommen,                                                                                                        Wertlosigkeit vermitteln; Überbehütung und                    zwischen Eltern und ihren heranwachsenden
                                                                                Jugendlichen im rechtlichen Sinne
wenn Eltern/Personensorgeberechtigte bestehende                                                                                                        symbiotische Fesselung der Kinder (körperli-                  Kindern werden nicht bewältigt; krisenhafte
                                                                                nach § 1666 BGB handelt es sich dann,
Gefahren für ihr Kind/ihre Kinder nicht abwenden                                                                                                       che Misshandlungen implizieren immer auch                     Auseinandersetzung durch unterschiedliche
                                                                                „(…) wenn sich bei Fortdauer einer
können oder wollen. Gefährdungen des Wohls von                                                                                                         eine Gefährdung der seelischen Entwicklung)                   Normvorstellungen beider Seiten
                                                                                identifizierbaren Gefährdungssituation
Kindern und Jugendlichen stehen immer im Zusam-                                                                                                                                                                       (Aufzählung aus Schone/Tenhaken, 2015, S. 25 ff.)6
                                                                                für das Kind eine erhebliche Schädigung
menhang mit dem Erziehungsverhalten der Eltern/
                                                                                seines körperlichen, geistigen oder seeli-
Personensorgeberechtigten und der Frage, inwieweit
                                                                                schen Wohls mit hoher Wahrscheinlich-
die Eltern/Personensorgeberechtigten ihre Erziehungs-
                                                                                keit voraussehen und begründen lässt.“
verantwortung wahrnehmen (können und wollen).                                                                                                Die Tatsache, dass ein junger Mensch im familiären                    der Auswirkungen auf das Kind (oder den Jugendlichen)
                                                                                (Schone/Tenhaken, 2015, S. 20) 4
                                                                                                                                             Umfeld z. B. physische Gewalt erlebt, ist für eine Be-                zu bewerten, und es sind Prognosen aufzustellen, ob
Dabei ist nicht jedes als unerwünscht oder als                                                                                               wertung seiner Lebens- und Gefährdungssituation                       eine Gefährdung in dem Sinne besteht, dass Schäden
schädlich empfundene Erziehungsverhalten gleich-                                                                                             nicht allein entscheidend. „Tatbestände sprechen in                   zu erwarten sind.“
zusetzen mit einer Gefährdung des Wohls junger                                                                                               solchen Fällen selten für sich, sondern sind hinsichtlich             (Schone/Tenhaken, 2015, S. 21) 7
Menschen.
                                                                                                                                             5
                                                                                                                                               Bange, D./Deegener G.; 1996: Sexueller Missbrauch an Kindern. Ausmaß, Hintergründe, Folgen; Weinheim; Beltz, Psychologie Verlags Union
                                                                                                                                             6
                                                                                                                                               Schone, R./Tenhaken, W. (Hrsg.); 2015: Kinderschutz in Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe. Ein Lehr- und Praxisbuch zum Umgang
4
    Schone, R./Tenhaken, W. (Hrsg.); 2015: Kinderschutz in Einrichtungen und Diensten der Jugendhilfe. Ein Lehr- und Praxisbuch zum Umgang     mit Fragen der Kindeswohlgefährdung; 2. überarbeitete und erweiterte Auflage; Weinheim und Basel; Beltz Juventa
    mit Fragen der Kindeswohlgefährdung; 2. überarbeitete und erweiterte Auflage; Weinheim und Basel; Beltz Juventa                          7
                                                                                                                                               ebd.

14                                                                                                                                                                                                                                                                                  15
Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund
Besondere
                                                                          kann dabei jedoch dazu führen, dass kindliche Signale
Gefährdungslagen
                                                                          verzerrt und schwierig zu interpretieren sind. So kann
Sowohl im Säuglings- und Kleinkindalter8 als auch im                      z. B. die Schmerzgrenze misshandelter Kleinkinder
Jugendalter sowie bei Kindern und Jugendlichen mit                        herabgesetzt sein oder freundliche Zuwendung der
Beeinträchtigungen kommen zu den oben genannten                           Mitarbeitenden aufgrund mangelnder Gefühlsdifferen-
allgemeinen Gefährdungsformen besondere Gefähr-                           zierung beim Kleinkind Abwehr erzeugen.
dungslagen hinzu:
                                                                          Insbesondere im Säuglings- und Kleinkindalter lässt
                                                                          sich nicht immer leicht klären, ob Entwicklungsver-
               Besondere Gefährdungslagen                                 zögerungen und Verhaltensauffälligkeiten Folgen einer
               von Säuglingen und Kleinkindern                            gestörten Eltern-Kind-Beziehung sind, medizinische         In diesem Zusammenhang können Gefährdungen des                             Allgemein bei Jugendlichen und gerade auch bei
Je jünger ein Kind ist, desto abhängiger ist es von einer                 Ursachen haben oder möglicherweise eine Folge von          Wohls von Jugendlichen entstehen, wenn stark unan-                         Jugendlichen mit Behinderungen kann das zunehmen-
umfassenden Versorgung. Insbesondere bei Säuglingen,                      Vernachlässigung, sexualisierter Gewalt oder Miss-         gemessene Reaktionen (z. B. mit Gewalt oder emotio-                        de Bedürfnis nach Selbstständigkeit zu starken
aber auch bei Kleinkindern kann es sehr viel schnel-                      handlungen sind.                                           naler Ablehnung) oder ausbleibende Reaktionen der                          Autonomiekonflikten innerhalb der Familien und ggf.
ler als im Kindes- und Jugendalter zu einer lebens-                                                                                  Eltern die Gefährdungssituation verstärken9.                               zu Gefährdungslagen für die jungen Menschen führen
bedrohlichen Situation durch eine mangelnde                                                                                                                                                                     (siehe „Besondere Gefährdungslagen von Jugendlichen“).
Versorgung kommen. Der Übergang von ersten Hin-                                       Besondere Gefährdungslagen
weisen auf Vernachlässigung bis zur akuten, potenziell                                im Jugendalter                                                Besondere Gefährdungslagen
lebensbedrohlichen Notsituation kann sich rasant voll-                    Insbesondere im Jugendalter können Autonomiekon-                          von jungen Menschen mit                                                  Besondere Gefährdungslage:
ziehen, wie z. B. bei schnellem Austrocknen aufgrund                      flikte zwischen Eltern und Kindern zu Gefährdungs-                        Beeinträchtigungen/Behinderungen                                         Häusliche Gewalt
von mangelnder oder gar keiner Flüssigkeitsgabe.                          situationen führen. Nicht selten stehen im Jugendalter     Bei jungen Menschen mit Beeinträchtigungen kann es                         Das Erleben von sexualisierter, körperlicher und/oder
                                                                          der zunehmende Wunsch der jungen Menschen,                 von den Möglichkeiten, sich (sprachlich) auszu-                            psychischer Gewalt im familiären Rahmen stellt für
Auch eine mangelnde Aufsicht und/oder ein unge-                           Entscheidungen allein zu treffen, und/oder die selbst       drücken, den Lebensalltag selbstständig bewältigen                         Kinder und Jugendliche eine besondere Gefährdungs-
nügender Schutz birgt für Säuglinge oder Kleinkinder                      entwickelten Lebensvorstellungen den Werten, Vor-          (und beispielsweise nicht auf Pflege angewiesen sein                        lage dar. Die jungen Menschen erleben Familie nicht
eine besondere Gefahr, da sie Risiken nicht einschät-                     stellungen und Erziehungszielen der Eltern entgegen.       zu müssen) oder Entscheidungen selbstständig treffen                        als einen Ort, der ihnen Geborgenheit, Sicherheit und
zen können. Ein (häufiges) Auftreten von Platzwunden,                      Zu einer Gefährdung wird dies, wenn dieser Konflikt        zu können, abhängen, ob und in welcher Form sie                            Schutz bietet, sondern Angst und Unsicherheiten
blauen Flecken, Knochenbrüchen, Verbrühungen und                          gewalttätig ausgetragen oder von den Erziehungsver-        ein erhöhtes Risiko hinsichtlich der oben benannten                        hervorruft und vielfältige Gefahren für sie (und ande-
Verbrennungen kann sowohl ein Zeichen mangelnden                          antwortlichen ein hohes Maß an psychischem Zwang           Gefährdungsformen tragen.                                                  re Familienmitglieder) birgt. Auch das Miterleben von
Schutzes sein als auch einen Hinweis auf bewusste                         ausgeübt wird. Auch wenn die Eltern eine Ablösung des                                                                                 häuslicher Gewalt zwischen Erwachsenen oder gegen-
körperliche Misshandlungen geben.                                         Jugendlichen durch massive Zwangsverpflichtungen, z. B.     Ältere Kinder und Jugendliche, die nicht oder nur sehr                     über Geschwistern/weiteren Kindern im familiären
                                                                          durch die Übertragung der (alleinigen) Verantwortung für   eingeschränkt verbal kommunizieren können, sind                            Setting stellt eine große Belastung für die betroffenen
Säuglinge und Kleinkinder können ihr Befinden noch                         das Führen des Haushalts oder die Versorgung der Ge-       einem höheren Risiko ausgesetzt, dass eine Gefähr-                         Kinder und Jugendlichen dar und kann sich weitrei-
nicht verbal kommunizieren. Sofern keine massiven                         schwister oder Eltern, verhindern (wollen), kann dies zu   dung bei ihnen nicht oder erst viel später wahrge-                         chend auf ihre Entwicklung auswirken. Zudem besteht
körperlichen Anzeichen bestehen, ist es daher bei                         einer Gefährdung des Wohls eines Jugendlichen führen.      nommen wird – insbesondere bei Formen, die keine                           für sie ein erhöhtes Risiko, selbst Opfer von häuslicher
ihnen deutlich schwieriger, Gefährdungen einzuschät-                                                                                 sichtbaren körperlichen Spuren der Gewalt bzw. Miss-                       Gewalt zu werden.
zen, als im Kinder- und Jugendalter. Umso wichtiger ist                   Im Jugendalter hängen Gefährdungen – häufiger als bei       handlung hinterlassen. Für Kinder und Jugendliche
daher die Wahrnehmung von Anzeichen für Ge-                               (kleinen) Kindern – auch mit ihrem eigenen Verhalten       mit geistiger Beeinträchtigung oder psychischer Erkran-                    Enge Bindungen zu (einzelnen) Familienmitgliedern,
fährdungen in der Interaktion mit den Kindern sowie                       (z. B. „Risikoverhalten“) und/oder dem sozialen Umfeld,    kung besteht (zudem) ein erhöhtes Risiko, dass nicht                       (selbst) entwickelte Schuld- oder Verantwortungsgefühle
in der Bindung und Beziehung zwischen den Kindern                         insbesondere dem Freundeskreis zusammen. Durch             ernst genommen wird, wenn die jungen Menschen                              und/oder ein Gefühl der Ohnmacht können es den
und ihren Eltern bzw. wichtigen Bezugspersonen.                           die (unmittelbaren) Reaktionen der Eltern können           von ihren Erlebnissen berichten.                                           jungen Menschen bei häuslicher Gewalt in besonderer
Eine bereits bestehende Gefährdung von Kleinkindern                       Gefährdungen entschärft, aber auch verstärkt werden.
                                                                                                                                     9
                                                                                                                                         Weitere Hilfestellungen für die Praxis in Bezug auf die besonderen Gefährdungslagen von Jugendlichen bietet die Arbeitshilfe des IB
8
    Im ersten Lebensjahr werden Kinder auch als Säuglinge bezeichnet und im 2. und 3. Lebensjahr als Kleinkinder.                        „Jugendliche schützen!“ (siehe Fußnote 3).
16                                                                                                                                                                                                                                                                             17
Handbuch zum Schutz von Kindern und Jugendlichen - im Internationalen Bund
Weise erschweren, auf ihre Notlage aufmerksam zu ma-         (sollen). Nicht nur in institutionellen Kontexten sondern
chen. Von großer Bedeutung ist es daher, häusliche Ge-       auch im familiären Rahmen versuchen Täter*innen mit
walt frühzeitig zu erkennen und langfristig zu verhindern.   verschiedenen Strategien, es den betroffenen jungen
                                                             Menschen unmöglich zu machen, sich gegen die Hand-
                                                             lungen des*der Täters*Täterin zu wehren und andere
          Besondere Gefährdungslage:                         (Erwachsene) einzubeziehen. Oder sie suchen gezielt
          Sexualisierte Gewalt                               bestimmte Familienkonstellationen/-situationen, die
Sexualisierte Gewalt geschieht nicht zufällig. Die Band-     sexuellen Missbrauch leichter möglich machen.
breite sexualisierter Gewalt reicht von sexualisierten
verbalen oder körperlichen Grenzüberschreitungen
über sexualisierte Übergriffe bis hin zu strafrechtlich       Die Rolle der Eltern/Personen-
relevanten Formen sexualisierter Gewalt durch eine
                                                             sorgeberechtigten
oder mehrere Personen, auch in digitalen Räumen.
Mit sexualisierter Gewalt geht immer ein Machtmiss-          Auch wenn in einigen Fällen eine (sofortige) Verände-
brauch einher. Dabei werden sexuelle Handlungen              rung der Lebenssituation für das betroffene Kind oder
dazu genutzt, Macht und Gewalt auszuüben.                    den betroffenen Jugendlichen – aus persönlicher und
                                                             pädagogischer Sicht – als wünschenswert oder viel-
Ähnlich wie bei häuslicher Gewalt fällt es Kindern und       leicht sogar als notwendig empfunden wird, kann es
Jugendlichen, die im familiären Umfeld sexuellen Miss-       sein, dass keine Kindeswohlgefährdung im Sinne der
brauch erleben, meist schwer, sich anderen mitzuteilen       gesetzlichen Vorgaben vorliegt.                             Für die Einschätzung der                       Gefährdungen von volljährigen jungen Menschen
und auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Zum                                                                         familiären Situation und Möglich-              Aufgrund der gesetzlichen Regelungen spielt das Alter

                                                                                                              !
einen erschweren die (engen) familiären Bindungen                                                                        keiten sind die folgenden grundlegenden        des jungen Menschen eine entscheidende Rolle.
und Beziehungen – zum Teil zu den Tätern*Täterinnen             Ausschlaggebend für die fachliche                        Fragen entscheidend:                           Nur bei unter 18-Jährigen kann über das Jugendamt
selbst und/oder den weiteren Familienmitgliedern –              Einschätzung der Gefährdungslage                                                                        ein Verfahren zur Abwendung einer Kindeswohl-
den betroffenen Kinder und Jugendlichen, die sexua-              sind nicht nur die Form, die Häufig-                     • Was tun die Eltern/Personensorge-            gefährdung bzw. einer Gefährdung des Wohls eines
lisierten Handlungen richtig einzuordnen, d. h., se-            keit, die Intensität und der Zeitraum der                  berechtigten Schädliches?                    Jugendlichen eingeleitet werden. Bei volljährigen
xualisierte Übergriffe und Gewalt zu erkennen und zu             Gefährdung selbst, sondern ebenso ent-                                                                  jungen Menschen, die sich in einer (akuten)
                                                                                                                         • Was unterlassen die Eltern/Personensorge-
benennen. Zum anderen erleben viele junge Menschen              scheidend sind die Möglichkeiten im fami-                                                               Gefährdungslage befinden, müssen andere Wege
                                                                                                                           berechtigten Notwendiges?
bei sexualisierter Gewalt in der Familie ambivalente            liären Umfeld und der Wille der Eltern/Per-                                                             der (Krisen-)Intervention gesucht werden, wie z. B.
Gefühle (gegenüber den Tätern*Täterinnen und/oder               sonensorgeberechtigten, die Gefahr(en) ab-               • Was wollen und können die Eltern/            bei dringendem Handlungsbedarf das Einschalten
anderen Familienmitgliedern), die sie hemmen, über              zuwenden und die jungen Menschen bei der                   Personensorgeberechtigten tun, um die        der Polizei oder des Rettungsdienstes. Besteht kein
ihre Erlebnisse zu sprechen.                                    Verarbeitung der Erlebnisse zu unterstützen.               Gefährdungslage zu beenden?                  dringender Handlungsbedarf, kann neben einrich-
                                                                                                                                                                        tungsinterner Beratung und der Einbindung möglicher
                                                                                                                         • Brauchen die Eltern/Personensorge-
Hinzu kommt, dass von sexualisierter Gewalt betrof-                                                                                                                     Ressourcen aus dem Umfeld des jungen Menschen
                                                                                                                           berechtigten Hilfe, um die Gefährdungslage
fene Kinder und Jugendliche die Schuld häufig bei sich        Unterschieden wird, ob das Wohl eines Kindes oder                                                          zur Verbesserung der Lebenssituation auch die Unter-
                                                                                                                           zu beenden?
selbst suchen und große Schamgefühle entwickeln.             Jugendlichen gefährdet ist oder ob das Wohl des Kindes                                                     stützung durch spezielle Beratungsstellen angeboten
Daher ist es im Kontakt mit den betroffenen Kindern           oder Jugendlichen nicht gewährleistet ist. Ist das Wohl     • Wollen und können die Eltern/Personen-       werden. Bei Bedarf kann dem jungen Menschen
und Jugendlichen wesentlich, sie dahingehend zu (be)         eines Kindes oder Jugendlichen nicht gewährleistet,           sorgeberechtigten Hilfe annehmen?            Unterstützung bei der Suche nach einer passenden
stärken, dass sie niemals schuld an der ihnen gegen-         besteht entweder noch Klärungsbedarf, inwieweit das                                                        Therapie oder bei einem notwendigen Wechsel des
                                                                                                                         • Reichen die Maßnahmen aus, um
über verübten Gewalt haben. Das „Besondere“ in               Wohl des Kindes oder Jugendlichen gefährdet ist, oder                                                      Lebensortes angeboten werden.
                                                                                                                           eine Gefährdungslage zu beenden?
Bezug auf sexualisierte Gewalt sind die oft im Ver-          die Gefährdungseinschätzung ergab, dass dem Wohl
borgenen liegenden Täter*innen-Strategien, die ein           des Kindes oder Jugendlichen eine Gefährdung droht,
Aufdecken des sexuellen Missbrauchs erschweren               wenn bestimmte Maßnahmen nicht ergriffen werden.

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3. Klärungsstufe
2. Umgang mit (Vermutungen auf)
                                                                                                                                                                   2. Klärungsstufe
   Kindeswohlgefährdungen bzw. Gefährdungen                                                                                                                                                                   Einbindung
                                                                                                                                                                                                            des Jugendamtes
                                                                                                                                                                     Beratung mit
   des Wohls von Jugendlichen                                                                                              1. Klärungsstufe
                                                                                                                                                                    Vorgesetzter*m,
                                                                                                                                                                  Team und „Insoweit
                                                                                                                                                                 erfahrener Fachkraft“
                                                                                                                          Eigene Beobachtungen;                                                                    Einbindung
                                                                                                                             erste Beratung mit                                                                des Jugendamtes
                                                                                                                                                                                                              Einbindung
                                                                                                                           Kollegen*Kolleginnen;                                                            des nicht notwendig
                                                                                                                                                                                                                Jugendamtes
Klärungsstufen zur Einschätzung                                                                                          Einbindung Vorgesetze*r                                                            nicht notwendig
                                                                 Auch wenn der Wunsch groß ist,
der Gefährdungslage                                              für den betroffenen jungen Menschen                                                                keine gewichtigen
                                                                 die Lebenssituation so schnell wie möglich                                                         Anhaltspunkte
Eine besondere Notlage für junge Menschen ist gege-              zu verbessern, ist es wichtig, Ruhe zu be-
ben, wenn sie durch ihre Eltern/Personensorgeberech-             wahren, überlegt zu handeln und sich
tigten gefährdet werden oder die Eltern/PSB Gefahren             ausreichend Zeit für eine Einschätzung zu
für ihre Kinder nicht abwenden können oder wollen.               nehmen! Ausnahmen hierbei bilden akute
                                                                                                                                                           Einbindung des Kindes/Jugendlichen
Diese besonderen Notlagen junger Menschen in der                 Gefährdungslagen, die ein sofortiges                             (außer bei begründeter Annahme einer Erhöhung der Gefahr für das Kind/den Jugendlichen)
Praxis zu erkennen und den Grad der Gefährdung                   Handeln erfordern! (siehe Seite 28 ff.)
des Wohls des Kindes oder Jugendlichen professionell                                                                                                Einbindung der Eltern/Personensorgeberechtigten
einzuordnen, stellt eine große Herausforderung dar.                                                                               (außer bei begründeter Annahme einer Erhöhung der Gefahr für das Kind/den Jugendlichen)
Zu klären, ob es sich überhaupt um eine Gefährdung
des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen handelt,           Damit diese weitreichende Gefährdungseinschätzung
ob diese nur eine vorübergehende Gefährdungssitua-          nicht von Einzelnen getroffen werden muss, gibt es
tion ohne negative Folgen ist oder ob es sich um eine       mehrere Klärungsstufen. Abgeleitet sind diese von den     Nach einer ersten groben Einschätzung aufgrund            einem späteren Zeitpunkt eingebunden. Es braucht
gravierende Gefährdungslage für das Kind oder den           gesetzlichen Vorgaben für die Kinder- und Jugendhilfe.    eigener Beobachtungen werden der*die direkte Vor-         eine Klärung und Begründung, warum die Eltern/Per-
Jugendlichen handelt, ist ein Prozess, der ein abge-        Auf jeder Stufe sind mehrere Personen an der Ein-         gesetzte über den Fall informiert und Kollegen*Kolle-     sonensorgeberechtigten nicht hinzugezogen werden.
stimmtes Vorgehen erfordert.                                schätzung der aktuellen Situation beteiligt.              ginnen zum Austausch hinzugezogen. Darüber hinaus         Dies muss zusammen mit der Beschreibung des
                                                                                                                      wird in der 2. Klärungsstufe eine „Insoweit erfahrene     Vorgehens sowie den Gefährdungseinschätzungen
                                                                                                                      Fachkraft“ eingebunden. Mit ihrem speziellen Fach-        dokumentiert werden.
                                                                                                                      und Erfahrungswissen unterstützt die ISEF die Fach-
                                                                                                                      und Führungskräfte darin, die Beobachtungen und           Wichtig ist, die Kinder und Jugendlichen während des
     Insoweit erfahrene Fachkräfte (ISEF)
                                                                                                                      Hinweise richtig einzuordnen und zu interpretieren.       ganzen Prozesses entsprechend ihrem Alter und Ent-
                                                                                                                      Während der 2. Klärungsstufe wird zudem über das          wicklungsstand einzubinden. Auch hier gilt, dass nur in
     Allen Einrichtungen im IB stehen ISEF mit einem        Je nach regionalen Strukturen sind die ISEF für be-
                                                                                                                      weitere Vorgehen beraten und innerhalb des Teams          begründeten Ausnahmefällen entschieden werden
     spezifischen Fach- und Erfahrungswissen zur            stimmte Einrichtungen oder Arbeitsfelder zuständig.
                                                                                                                      sowie mit der*dem direkten Vorgesetzten geklärt,          kann, den jungen Menschen in dem Prozess nicht zu
     Beratung und Unterstützung zur Verfügung.              Gesetzlich vorgeschrieben ist dies für Einrichtungen
                                                                                                                      wer die Verantwortung für diesen Fall und somit für       beteiligen. Dies kann beispielsweise bei einem Ver-
     ISEF bieten Beratung und Unterstützung bei             der Kinder- und Jugendhilfe; im IB stehen jedoch auch
                                                                                                                      das weitere Vorgehen übernimmt. Aufbauend auf             dacht auf sexuellen Missbrauch in der Familie oder bei
                                                            für die anderen Arbeitsfelder ISEF zur Verfügung.
     • der Risiko- und Gefährdungseinschätzung,                                                                       diesen Einschätzungen wird dann entschieden,              häuslicher Gewalt notwendig sein, um das Kind oder
                                                            Z. T. werden in den Kommunen andere Bezeichnun-
     • der Gestaltung des Einschätzungsprozesses                                                                      ob das Jugendamt eingebunden oder (vorerst)               den Jugendlichen zu schützen.
                                                            gen für ISEF verwendet.
       und der Durchführung des Verfahrens,                                                                           nicht informiert werden muss.
     • der Beteiligung der jungen Menschen und                                                                        (Beschreibung des ganzen Verfahrens siehe Seite 28 ff.)    Insbesondere bei den Entscheidungen für geeignete
                                                            Um eine ergänzende Perspektive in den Prozess
       ihrer Eltern,                                                                                                                                                            Möglichkeiten zur Abwendung der Gefahren und zur
                                                            einzubringen, ist es notwendig, dass die ISEF aus einer
     • der Einschätzung, inwieweit das Jugendamt                                                                      Von Anfang an werden sowohl das Kind/ der*die             eigenen Entwicklung müssen die Wünsche und Vor-
                                                            anderen Einrichtung und ggf. auch aus einem ande-
       eingebunden werden soll/muss,                                                                                  Jugendliche als auch die Eltern/Personensorge-            stellungen der Kinder und Jugendlichen angemessen
                                                            ren Arbeitsfeld kommt. An einigen Orten ist es für die
     • der Erstellung von Schutz- und Hilfeplänen und                                                                 berechtigten beteiligt und das weitere Vorgehen           erfragt, gehört und einbezogen werden – auch um
                                                            Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe
     • der Überprüfung der vereinbarten Maßnahmen.                                                                    transparent gestaltet. Besteht jedoch die Gefahr,         einen (inneren) Rückzug des jungen Menschen und
                                                            sogar zwingend vorgeschrieben, dass die ISEF nicht
                                                                                                                      dass sich durch die Einbindung der Eltern/Personen-       eine dadurch mögliche Verstärkung der Gefährdung zu
     Die Fallverantwortung bleibt bei dem*der zuständigen   aus der eigenen Einrichtung und nicht vom eigenen
                                                                                                                      sorgeberechtigten die Situation für den jungen Men-       verhindern.
     Mitarbeiter*in und der zuständigen Leitungskraft.      Träger kommen dürfen.
                                                                                                                      schen verschlimmern könnte, werden diese erst zu

20                                                                                                                                                                                                                                   21
Formen von Hinweisen
     auf eine Gefährdungslage:   Anhaltspunkte für eine                                  Die folgenden Anhaltspunkte können Hinweise auf eine Gefährdung
                                 Gefährdungslage                                         des Wohls von Kindern oder Jugendlichen geben, hängen jedoch sehr
                                                                                         vom Alter und/oder Entwicklungsstand des jungen Menschen ab:
                                 Hinweise auf eine Gefährdung des Wohls junger
           geäußerter
                                 Menschen können sowohl von den Kindern und
            Hinweis                                                                      Beispiele für Anhaltspunkte in der äußeren Erscheinung
                                 Jugendlichen selbst als auch von Eltern/Personen-
                                                                                         und dem Verhalten eines jungen Menschen:
                                 sorgeberechtigten oder Dritten geäußert werden.
                                 Zudem ist der eigene geschulte Blick für diese be-
                                                                                         •   nicht herzuleitende/erklärbare Verletzungen (auch Selbstverletzungen)
                                 sonderen Gefährdungslagen von jungen Menschen
                                                                                         •   starke Unterernährung/-versorgung (Flüssigkeiten/Lebensmittel)
                                 ein wichtiges „Hilfsmittel“, um auch ohne geäußerte
           beobachtete                                                                   •   mangelnde/fehlende Körperhygiene
                                 Hinweise zu erkennen, dass das Wohl eines jungen
            Anzeichen                                                                    •   nicht dem Wetter entsprechende und/oder stark verschmutzte Kleidung
                                 Menschen bedroht und professionelles Handeln
                                                                                         •   unzureichende ärztliche Versorgung
                                 erforderlich ist. Deutliche Zeichen für eine Gefähr-
                                                                                         •   Einnahme bzw. Verabreichung gesundheitsgefährdender Substanzen
                                 dungslage können natürlich auch konkrete, mit-
                                                                                         •   mangelnde Beaufsichtigung und/oder (zeitweise) unbekannter Aufenthalt
                                 erlebte Situationen sein.
            konkrete,                                                                    •   psychische Auffälligkeiten: Ängste, Zwänge, Apathie
            miterlebte           Um die Lebenssituation des jungen Menschen gut ein-     •   hohe Aggressivität, gewalttätige und/oder sexualisierte Übergriffe
            Situation            schätzen zu können, geht es darum, (weitere) Anhalts-       gegen andere Personen
                                 punkte für eine Gefährdung wahrzunehmen und auf             … u. v. m.
                                 den unterschiedlichen Klärungsstufen zu beraten.

                                                                                         Beispiele für Anhaltspunkte in Bezug auf die familiäre Situation:

                                                                         !
                                                                                         • gesundheitsgefährdende Wohnsituation, mangelnde Hygiene,
                                                                                           starke Beschädigungen, Obdachlosigkeit
                                    Eine Ausnahme bildet der
                                                                                         • psychische Erkrankungen und/oder Suchterkrankungen der Eltern/
                                    Fall einer akuten Gefährdung
                                                                                           Personensorgeberechtigten
                                    eines jungen Menschen, bei dem
                                                                                         • Gewalt im häuslichen Kontext (auch verbale Gewalt wie Erniedrigungen und
                                    ein dringender Handlungsbedarf
                                                                                           massive Beschimpfungen)
                                    besteht und die Gefahr sofort
                                                                                         • keine bzw. mangelnde Wahrnehmung der Aufsichtspflicht und/oder
                                    abgewendet werden muss
                                                                                           Beaufsichtigung durch ungeeignete Personen
                                    (siehe Seite 30 f.).
                                                                                         • mangelnde Versorgung der jungen Menschen (bezüglich Nahrung, Krankheits-
                                                                                           behandlung, Förderung von jungen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung)
                                                                                         • Ausnutzen der jungen Menschen für Straftaten oder Gelderwerb (u. a. Betteln)
                                                                                         • Zugang zu unangemessenem Medienkonsum (insbesondere gewaltverherrlichend,
                                                                                           pornografisch)
                                                                                         • Isolierung des jungen Menschen
                                                                                         • Zwang zur Heirat
                                                                                           … u. v. m.

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