Hephata Magazin Hochinklusiv: Politische Partizipation - | Nr.55
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
www.hephatamagazin.de | Das Magazin der Evangelischen Stiftung Hephata | Ausgabe 55 - November 2020 Hochinklusiv: Politische Partizipation HephataMagazin || Nr.55 November / 20 EINBLICKE - ANSICHTEN - AUSBLICKE
Inhalt Editorial HephataMagazin Ausgabe 55 | November 2020 „Ohne Angst verschieden sein“ Editorial 01 Kunst im urbanen Raum als Austausch zwischen allen Menschen 15 Ein Projekt zur kulturellen Partizipation aus dem Atelier Strichstärke „Ohne Angst verschieden sein“ Politische Partizipation als Kritik 02 von Prof. Dr. Waltraud Meints-Stender Fragen: Manchmal nicht leicht zu stellen 16 Liebe Leserin, lieber Leser, 02 Über Politische Partizipation an der EIN MENSCH, EINE STIMME Leah Besser über den Landtags- 06 Hans-Helmich-Schule das Editorial entsteht immer kurz vor Redaktionsschluss. Es muss kann nur mit Paulus daraus schließen: „Ihr seid alle durch den ja erst einmal gesichtet werden, wie die eingeworbenen Artikel Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. … Hier ist nicht Jude noch abgeordneten Bijan Kaffenberger eigentlich ausschauen. Und nun entsteht dieses Editorial zu einer Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch „Mitreden – mitgestalten“ Vanessa Strauch über einen 18 Zeit, da ist die Frage viel bedeutsamer, wie unsere nahe Zukunft Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Gal. 3, 26.28). „sent from my wheelchair!“ ausschauen wird. Nach einem praktisch ausgefallenen Osterfest Sucht man deshalb nach einem unbiblischen Begriff für den Geschlossene Gesellschaft Wie partizipativ ist die 08 Entwicklungsprozess zur Zukunft der Jugendhilfe blicken wir jetzt auf eine Advents- und Weihnachtszeit, wie sie die Zielpunkt der politischen Dimension des Evangeliums, so kann Welt wohl noch nicht erlebt hat. dieser nur „Inklusion“ heißen. Beim Gott, der bei den Hirten zur Kommunalpolitik in NRW? Welt kommt, bleibt niemand außen vor. Eine Betrachtung von Christina Baum NOCH VIEL ZU TUN... Sarah Steinfeld zu den rechtlichen 19 Die Heilige Nacht bedeutet: Gott ist uns Menschen so nahe gekommen, wie es nur ihm möglich ist. Er hat sich mit dem Sohn Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen Ihr Vorstand der Ein verhinderter Kaffee in Brüggen 10 Hintergründen politischer Partizipation von Menschen mit Behinderung eines Zimmermanns buchstäblich identi-fiziert. Wie sollen wir Menschen dem, feiernd, würdig entsprechen unter dem Gebot Evangelischen Stiftung Hephata 12 Dr. Harald Ulland im Gespräch mit der sozialen Distanz, auf dass sich niemand in-fiziere? Eigentlich evangelische stiftung Andrea Hanisch und Karl-Heinz Kellerhoff – Behindertenbeauftragte in Brüggen Wer öffnet Türen und 20 geht das gar nicht. Und es muss doch irgendwie gehen. HEPHATA baut Brücken? HEPHATA. unternehmen mensch. Partizipation als Querschnittsaufgabe der Wir bieten Ihnen in dieser Ausgabe Beiträge zum Thema der poli- Fachschulen am Hephata-Berufskolleg tischen Partizipation. Das klingt erst einmal gar nicht sehr weih- Dipl.-Kaufmann Pfarrer Und Tschö! Abschiedsworte von 11 nachtlich. Immerhin bleibt aber dieses Jahr wohl Zeit genug, um Klaus-Dieter Tichy Christian Dopheide auch anspruchsvolle Texte mit der erforderlichen Ruhe zu lesen. Christian Dopheide Sehr geehrter Herr Heinrichs… Ein Briefwechsel 22 Der Leitartikel von Waltraud Meints-Stender ist nämlich ein sol- cher. Wie üblich, möchten dann die meisten der anderen Artikel „sent from my wheelchair!“ Ein Interview mit dem Aktivisten 12 das Thema ins Licht der Praxis rücken. Lassen Sie sich überraschen von der Vielfalt, die wir hier entdeckt haben. Raúl Krauthausen – von Ingo Fulfs VISION HEPHATA Christian Dopheide über Hephata als 23 Die Ansicht, dass Partizipation, also die nicht bloß beiläufige, Menschenrechts- und Bürgerrechts- sondern mitgestaltende Teilhabe, nichts Weihnachtliches an sich Könige sind wir alle gemeinsam Ein Geistliches Wort in Leichter 14 bewegung habe, ist natürlich ein Trugschluss. Wenn Weihnachten bedeutet, Gott habe sich in Christus uns allen gleich gemacht, dann gilt Sprache von Klaus Eberl Ein CABito für jede Wohngruppe Unsere Spendenaktion zur digitalen 24 diese seine Partizipation bis in die letzte Konsequenz: „Er ernied- rigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode Teilhabe in der Hephata Jugendhilfe am Kreuz.“ (Phil. 2, 8). Wer Weihnachten mit Paulus so versteht, Titel: ©Udo Leist Das Titelbild zeigt die Wappen aller Kreise und Städte, in denen die Evangelische Stiftung Hephata aktuell mit Angeboten in den Bereichen Wohnen, Jugendhilfe, Bildung und Werkstätten aktiv ist. HephataMagazin 55 l November 2020 01
„Ohne Angst verschieden sein“ POLITISCHE PARTIZIPATION ALS KRITIK von Prof. Dr. Waltraud Meints-Stender ©PHOTOMORPHIC PTE. LTD., Stock Adobe.com „Mitmachen wollte ich nie“. Diese Aussage von Leo Löwenthal, nicht selbstverständlich davon auszuge- Krise der Demokratie – Krise der Parti- neller PR-Experten die öffentliche Debatte Demokratie und Partizipation der neben Adorno, Horkheimer und Marcuse zum inneren Kreis hen, dass hier eine demokratische Teilhabe, zipation? während der Wahlkämpfe so stark kontrol- Demokratische politische Systeme sind da- der Kritischen Theorie gehörte, aus einem Interviewband mit ein gleichberechtigtes Miteinander, was Dass die Demokratie sich in einer Krise lieren, dass sie zu einem reinen Spektakel durch gekennzeichnet, dass in ihnen die auch sozialen Voraussetzungen gegenüber befindet, scheint in gesellschaftspolitischen verkommt, bei dem man nur über eine Herrschaft des Volkes ausgeübt wird, um Helmut Dubiel am Anfang eines Leitartikels zur politischen nicht blind ist, gemeint ist. Auch antidemo- Debatten unumstritten zu sein. Umstritten Reihe von Problemen diskutiert, die die die Interessen und Bedürfnisse des Volkes Partizipation zu zitieren, mag irritieren. Es verweist jedoch darauf, kratische, nationalistische und rassistische ist jedoch, worin genau diese „Krise der Experten zuvor ausgewählt haben.“ Die zu regeln. Welche Formen von Partizipation dass der Begriff der Partizipation sich keineswegs von selbst ver- Bewegungen und Parteien wollen partizi- Demokratie“ besteht: Leben wir in der „Post- Mehrheit der Bürger*innen spiele dabei damit aber verbunden sind, korrespondiert steht. Im Gegenteil: Er hat die Eigenschaft eines Catchall-Begriffs, pieren. Sie ersetzen jedoch den Begriff des demokratie“, (Ranciere 2002, Crouch 2008), nur noch eine passive und häufig sogar mit unterschiedlichen Formen von Demo- der erst durch eine Präzisierung und Kontextualisierung zu einem Demos durch den des Ethnos. Und spätes- in „Demokratien gegen den Staat“ (Aben- apathische Rolle und reagiere nur auf die kratie. So hat z.B. Schumpeter (1950) ein positiven oder negativen Begriff wird. tens seit der Einführung von Hartz IV mit sour 2012) oder gar in einer „Demokratie Signale, die man ihr gibt. Jenseits des elitenbasiertes Konzept der Demokratie dem Prinzip von „Fördern und Fordern“ ohne Volk“ (Thélène 2011)? öffentlichen Spektakels und der politischen vertreten, in der politische Partizipation auf wird die Aufforderung zur Partizipation mit Inszenierungen aber werde „die reale Politik Wahlbeteiligung reduziert wird. Er ging von Kein System, das nicht auf Partizipation teilnehmen, teilnehmen, beteiligen). Durch der Übernahme von ökonomischer Eigen- Die Diagnose der „Postdemokratie“ ist all- hinter verschlossenen Türen gemacht: von einer Art „Arbeitsteilung“ zwischen Regie- setzt: Politische Partizipation kann emanzi- „pars“ wird deutlich, dass immer auf ein verantwortung verknüpft und zu einem gegenwärtig und geht davon aus, dass die gewählten Regierungen und Eliten, die vor renden und Bürgern aus, bei der die patorisch, aber auch systemkonform oder Ganzes Bezug genommen wird, von dem Mechanismus neoliberaler Regierungs- Institutionen der Demokratie nach wie vor allem die Interessen der Wirtschaft vertre- Bürger*innen „respektieren und einsehen“ gar Teil von diktatorischen Regimen sein. es ein Teil ist, und „capere“ kann als ein technologie, die ökonomische Prinzipien in funktionieren, diese aber von den Bür- ten“ (Crouch 2008, 10). sollten, dass nach der Wahl der Eliten „die Sie kann zu einer Regierungstechnologie anteilnehmendes, teilhabendes und ein- alle Bereiche des gesellschaftspolitischen ger*innen nicht mehr unterstützt werden. politische Sache“ die des Gewählten ist, werden, die in allen Kapillaren des gesell- greifendes Element zum Ganzen verstan- Lebens bringt. Es kommt also darauf an, zu Der Begriff bezeichne, so schreibt der Sollte die Diagnose von der „Postdemo- und nicht mehr die des Bürgers (Schumpeter schaftspolitischen Systems verankert ist. den werden. In welcher Weise nun dieses prüfen, wie der Begriff der Partizipation in Politikwissenschaftler Colin Crouch, „ein kratie“ zutreffen, so wäre die Krise der 1950, 468). Diese Unbestimmtheit des Begriffs wird „capere“ zu verstehen ist, welche Formen verschiedenen Demokratiemodellen ver- Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Demokratie auch eine Krise der Partizi- Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas hat auch in der etymologischen Bedeutung es annimmt, ist aus dieser Bestimmung wendet wird. Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die pation. Zwischen beiden besteht ein inne- demgegenüber drei Demokratieverständ- deutlich. Das Wort hat seinen Ursprung im nicht weiter ableitbar. sogar dazu führen, dass Regierungen ihren rer Zusammenhang, so dass es zweifellos nisse unterschieden: das liberale, das repu- lateinischen „particeps“. Es setzt sich zu- Wenn also Aufforderungen zur Partizipa- Abschied nehmen müssen, in dem aller- richtig ist, dass eine „Demokratie ohne blikanische und das Konzept der „delibera- sammen aus „pars“ (Teil) und „capere“ (an- tion an die Bürger*innen ergehen, so ist dings konkurrierende Teams professio- Partizipation“ (B. Lösch 2011) keine ist. tiven Demokatie“. Alle unterscheiden sich 02 HephataMagazin 55 l November 2020 HephataMagazin 55 l November 2020 03
© Moritz Kosinsky / Wikipedia ©roibu - stock.adobe.com hinsichtlich der Partizipation und d.h. hier: von Demokratie hingegen begreift den Bürger*innen ihre Argumente, Meinungen Demokratie als Lebensform setzt voraus, mit ihre gesellschaftspolitischen Voraus- Waltraud Meints-Stender ist Professorin des politischen Prozesses, der Willens- und Staat nicht als „Hüter einer Wirtschaftsge- und Ansichten austauschen. Es entstehen dass es kritische Bürger*innen gibt, die setzungen und Bedingungen mitberück- für Politik und Bildung am Fachbereich Meinungsbildung (Habermas 1996, 277ff.). sellschaft“, die „die Befriedigung der priva- so diverse Foren der Öffentlichkeit, die mit das, was in ihrem Namen geschieht, be- sichtigt werden können. Zugleich ermög- Sozialwissenschaften der Hochschule Das liberale Demokratieverständnis sieht ten Glückserwartungen produktiv tätiger den politischen Institutionen in Austausch stimmen und entscheiden. Das setzt aber licht dieser Erfahrungsaustausch, Wirklich- Niederrhein in Mönchengladbach. die Funktion der politischen Willensbildung Bürger“ gewährleistet, sondern plädiert für treten und sich dem besseren Argument im auch voraus, dass demokratische Insti- keit von verschiedenen gesellschaftlichen der Bürger*innen darin, die „Durchsetzung einen intersubjektiven Kommunikations- Diskurs anschließen. Der radikalen Demokra- tutionen gegenüber gesellschaftlichen Ver- Perspektiven aus wahrzunehmen, um Fra- gesellschaftlicher Privatinteressen gegen- prozess, „eine mehr oder weniger rationa- tie wiederum liegt ein Konzept der gleich- änderungen offen sein müssen, damit den gen der sozialen Gerechtigkeit zu erörtern. über einem Staatsapparat, der auf die admi- le Meinungs- und Willensbildung“, durch berechtigten Teilhabe und eines Selbstge- Menschen diese Institutionen nicht als In dieser Form der politischen Praxis, die nistrative Verwendung politischer Macht für die kommunikative Macht erzeugt wird. staltens zugrunde, das Konflikte durch „fremde Macht“ gegenüberstehen (Jaeggi Andere im Denken und Handelns gleich- kollektive Ziele spezialisiert“ ist, durchzu- Sprache und Kommunikation bilden die Machtkonstellationen in den Fokus rückt. 2009, 543). Sie müssen in ihrem Selbst- berechtigt berücksichtigt, können soziale setzen. Die Bürger*innen der liberalen Voraussetzung für das deliberative Demo- verständnis Lern- und Transformations- und rechtliche Voraussetzungen erfasst Demokratie werden durch ihre Rechte vom kratieverständnis, um menschliche Angele- Die gesellschaftlichen Voraussetzun- prozessen gegenüber offen sein (ebd.). und Demokratie als Lebensform geübt und Staat geschützt und gleichzeitig fungieren genheiten zu regeln. Gründe müssen an- gen von Partizipation erlernt werden (John Dewey 1993, (1916)/ ihre Bürgerrechte auch als Schutz gegen gegeben werden, das Gegenüber soll durch Damit Demokratie nicht nur als Regie- PARTIZIPATION ALS KRITIK Oskar Negt 2010), um eine kritische politi- Interventionen des Staates. Sie verfolgen rationale Argumentationen überzeugt wer- rungsform, sondern als eine Lebensform Versteht man politische Bildung als politi- sche Partizipation auf allen Ebenen der ihre Privatinteressen, die sie u.a. durch den und in diesem Austausch verständigen entwickelt werden kann, bedarf es der sche Kultur der erweiterten Denkungsart Gesellschaft zu ermöglichen. Partizipation © majivecka - stock.adobe.com Wahlbeteiligung für bestimmte Parteien sich die Bürger*innen über die Ausrichtung sozialen und rechtlichen Voraussetzungen (Benhabib 2013), die eine politische Praxis in diesem Sinne wäre eine Form von Kritik sichern möchten. Im Unterschied dazu ver- des politischen Gemeinwesens. der Bürger*innen, die u. a. durch die ermöglicht, in der die Menschen „ohne an gesellschaftspolitischen Zuständen, die steht das republikanische Modell der Demo- Ungleichheitsachsen Class, Gender, Racism Angst verschieden sein“ (Adorno) können, den Menschen seiner Würde berauben. kratie die politische Willens- und Meinungs- Chantal Mouffe (2011) wiederum kritisiert und Disability bestimmt sind. Nicht alle setzt dies ein von „Anderen Gesehen- und bildung nicht als die Verfolgung von Privat- mit ihrem Verständnis radikaler Demokratie, Bürger*innen haben die gleichen Voraus- Gehörtwerden“ (Arendt 1967) voraus, da- interessen, sondern als „Beteiligung an einer dass Habermas’ Konzeption zu sehr auf setzungen, um allgemein am politischen gemeinsamen Praxis, durch deren Aus- den Konsens setzt und damit gesellschafts- Leben einer modernen Gesellschaft teilzu- übung die Bürger*innen sich erst zu dem politische unterschiedliche Interessen nicht haben. Was die Politikwissenschaftlerin machen können, was sie sein wollen – zu würdigt. Der Konflikt würde machtpolitisch Birgit Sauer für die Geschlechterdemokra- Literatur: politisch verantwortlichen Subjekten einer stillgestellt und dies führe zu einer Krise der tie fordert, kann hier allgemein ausgewei- Abensour, Miguel (2012): Demokratie gegen den Staat. Marx und das machiavellische Moment, Frankfurt a.M. Arendt, Hannah (1967): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München. Gemeinschaft von Freien und Gleichen“ Demokratie eigener Art. Vergegenwärtigt tet werden, dass es nämlich gilt, „die Benhabib, Seyla (2013): Gleichheit und Differenz. Die Würde des Menschen und die Souveräntitätsansprüche der Völker im Spiegel der politischen Moderne, (Hrsg. von Volker (Habermas 1996, 279). man sich diese Verständnisweisen von De- gesellschaftlichen Verhinderungsstrukturen Drehsen), Tübingen. Crouch, Colin (2008 [2004]): Postdemokratie. Frankfurt a.M. Zusammenfassend kann man sagen: Legt mokratie: die liberale, die republikanische, von Partizipation wieder in den Blick zu Dewey, John (1993, 1916): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Weinheim/Basel. die Willens- und Meinungsbildung inner- die deliberative oder die radikale Demo- nehmen“, sie „zu untersuchen“, um „Nor- Habermas, Jürgen (1996): Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders.: Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main, S, 277 -292. Jaeggi, Rahel (2009): Was ist eine (gute) Institution, in: Sozialphilosophie und Kritik, (Hrsg. von Rainer Forst, Martin Hartmann, Rahel Jaeggi, Martin Saar), Frankfurt a.M., S. halb der liberalen Demokratie den Fokus kratie, so korrespondieren ihnen jeweils mierungs-, Schließungs-, Segregations- und 528-544. auf die „Strukturen von Marktprozessen“, spezifische Partizipationsvorstellungen. Die Hierarchisierungsprozesse“ zu identifizie- Lösch, Bettina (2011): Keine Demokratie ohne Partizipation. Aktive Bürgerinnen und Bürger als Ziel der politischen Bildung, in: Widmaier, Benedikt (Hrsg.): Partizipation als Bildungsziel. Politische Aktion in der politischen Bildung. Schwalbach: Wochenschau Verl. (2011) S. 111-124. so liegt der Fokus bei republikanischen liberale Demokratie korrespondiert mit ren und zu reduzieren, damit politische Mouffe, Chantal (2011): „Postdemokratie“ und die zunehmende Entpolitisierung. Essay. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung, Das Parlament, B 1 - 2, Demokratieverständnissen auf den „Struk- Konzeptionen der Wahlbeteiligung und Partizipation überhaupt ermöglicht wird 3. Januar, 2011. turen einer verständigungsorientierten öf- des Eigeninteresses, während die delibera- (Sauer 1994, 111; Knapp, zitiert nach Negt, Oskar (2010): Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Göttingen. Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt a. M. fentlichen Kommunikation“ (Habermas tive Demokratie den gesellschaftspoliti- Sauer 1994,111). Sauer, Birgit (1994): Was heißt und zu welchem Zwecke partizipieren wir? Kritische Anmerkungen zur Partizipationsforschung. In: Biester, Elke/Holland-Cunz, Barbara/Sauer, 1996, 282). Ein „deliberatives“ Verständnis schen Austausch fördert, in dem alle Birgit (Hrsg.): Demokratie oder Androkratie? Theorie und Praxis demokratischer Herrschaft in der feministischen Debatte. Frankfurt am Main/New York, S. 99–130. Schumpeter, Joseph A. (1950): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen. Catherine Colliot-Thèlene (2011): Demokratie ohne Volk? Plädoyer gegen Staatsversagen, Machtmissbrauch und Politik, Hamburg. 04 HephataMagazin 55 l November 2020 HephataMagazin 55 l November 2020 05
von Leah Besser EIN MENSCH, EINE STIMME Hand, zuckt und zittert, kann nicht stillsit- Kaffenberger nimmt seine Gesprächspartner so Kaffenberger. „Deswegen ist es ganz zen. Die Lehrer*innen maßregeln ihn. Seine für sich ein, erzählt mitreißend. Nur manch- wichtig, dass sich die Menschen unabhängig Großeltern und Ärzt*innen sind ratlos. mal vergisst er, was er sagen wollte. Viel- von ihrer eigenen Person in den Gebieten leicht hat das etwas mit seinem diagnosti- einbringen können, für die sie sich interes- „Mich hat es gar nicht gestört. Es war zierten ADHS-Syndrom zu tun, vielleicht sieren. Dass nicht sofort gesagt wird, wenn meine Familie, die besorgt war.“ aber schwirren auch einfach nur viele gute jemand schwarz ist, dann muss der jetzt Gedanken in seinem Kopf, die sich nicht irgendwie Anti-Rassismus machen. Wenn Die Anfälle werden schlimmer. Kinder ent- immer alle ordnen lassen wollen. jemand eine Behinderung hat, dann Inklu- wickeln gelegentlich Tics, besonders im sion. Und die Frauen machen bestimmt am jungen Alter. Doch die allermeisten legen Bijan Kaffenberger fällt auf. Wie jede*r besten immer nur Gleichstellung.“ diese wieder ab. Kaffenberger jedoch nicht. der/die anders ist. „Die Menschen sind erst- Am Ende dauert es fünf Jahre, bis Ärzt*innen mal skeptisch, wie mit allem was neu oder Die Hürden des politischen Systems, die es die Diagnose stellen: Tourette-Syndrom. Eine anders ist“, sagt Kaffenberger. „Doch ich gerade Menschen mit Behinderungen Krankheit, die auch deswegen so schwer glaube, ich hatte den großen Vorteil, dass schwer machen, politisch aktiv zu sein, die zu diagnostizieren ist, weil mit ihr so viele alles andere gestimmt hat. Und gegen das gäbe es noch immer, sagt Kaffenberger Begleitsymptome auftreten können. Betrof- Tourette-Syndrom hat sich ja keiner getraut, und fügt hinzu: „Das Allernotwendigste für fene leiden häufig auch unter Zwangs- und etwas laut zu sagen“, so Kaffenberger. Er jeden demokratischen Prozess ist, dass Aufmerksamkeitsstörungen, Suchterkran- stellt sich mit Disziplin und Humor seinen wirklich jeder Mensch, mit oder ohne kungen, Depression und Autoaggression. eigenen Tics und all jenen, die diese noch Behinderung, daran teilnehmen kann!“ überfordern. Kaffenberger bleibt vieles erspart. Sein Tourette-Syndrom äußert sich hauptsäch- lich in seinem Bewegungsmuster. Er wirft seinen Kopf zur Seite, beugt seinen Ober- körper nach vorn, läuft vor und wieder zurück, greift mit seiner Hand ins Leere. Im Grunde betreibt Kaffenberger tagtäglich Hochleistungssport: immer in Bewegung, nur nicht stillstehen. Das sind gute Voraus- setzungen für einen jungen, engagierten Politiker. Dennoch, je nervöser er ist, desto häufiger treten seine Tics auf. Und manch- Foto: privat mal ist da noch dieser Laut. Ein kurzes Hicksen, als hätte ihn jemand gezwickt. „Ich bin nicht perfekt. Dann ein Moment Stille und das Gespräch geht weiter, das Telefonat, die Rede im Doch auch wenn Kaffenbergers Tourette- Kaffenbergers Wunschvorstellung: die Ge- Die Frage ist, ob das etwas mit Landtag. Als hätte es nie einen Aussetzer Syndrom und sein Entschluss, ein Leben in sellschaft und mit ihr die Politik bunter, meinem Tourette-Syndrom zu tun hat?“ ©Götz Schleser gegeben. Bald nach der Diagnose verord- der politischen Öffentlichkeit zu führen, vielfältiger und inklusiver aufzustellen. Und nen ihm die Ärzt*innen Neuroleptika. Er anfangs noch eine Besonderheit waren, so davon würden dann sicher alle profitieren. schluckt Tiapridex, Ritalin, Captagon. Doch ist es heute kaum noch eine Meldung in besser geht es ihm damit nicht. Er fühlt der Landtagsberichterstattung wert. Niemand ist perfekt, in und jenseits der sich müde, gedämpft, wie ein alter Mann. Politik, auch Bijan Kaffenberger ist es nicht. Bijan Kaffenberger ist SPD-Abgeordneter schen mit Schuldunfähigkeit: ihre Stimme Dennoch, Bijan Kaffenberger ist anders als Mit 14 setzt er alle Medikamente ab. „Ich Bijan Kaffenberger steht für Inklusion, dem Doch sein Tourette-Syndrom hat damit im hessischen Landtag und der einzige zählt. Sie dürfen wählen. seine Kolleg*innen im Landtag. wollte auch mal wie meine Fußballkumpel kann er vermutlich nur schwer entkom- sicherlich nichts zu tun. Politiker mit Tourette-Syndrom. ein Bier trinken“, sagt Kaffenberger. Und men. Doch seine eigentlichen politischen Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, Kaffenberger wächst wohlbehütet bei sei- dann läuft 1998 Gerhard Schröder in einem Stärken und Interessen haben nichts mit Wenn Bijan Kaffenberger das Prinzip der doch noch lange nicht am Ziel, findet Bijan nen Großeltern in der Nähe von Darmstadt SPD-Wahlwerbespot über die Bildschirme dem Tourette-Syndrom zu tun. Seine be- Leah Besser, 24 Jahre alt, lebt in Köln. politischen Partizipation erklärt, klingt es, Kaffenberger. auf. Sein Vater hat die Familie schon früh der Nation und verspricht „Menschen eine vorzugten Themen sind Mobilität und Digi- Als Journalistin arbeitet sie freiberuflich als wäre es eine simple mathematische verlassen, ging zurück in sein Heimatland Perspektive.“ Für Kaffenberger damals der talisierung. Und das ist auch gut so. für TV, Radio und Print. „Wir müssen Rechnung. Ein Mensch plus eine Stimme Bijan Kaffenberger ist SPD-Landtagsabge- Marokko. Seine Mutter verstirbt jung. Bijan erste, kleine Grundstein für die eigene poli- uns in unserer Einzigartigkeit wieder ergibt eine Wahlberechtigung und unterm ordneter in Hessen. Mit achtzehn Jahren Kaffenberger ist da gerade mal sechs Jahre tische Karriere. Das will ich auch werden, „Wenn sich Menschen mit Behinderung schätzen lernen und sie zu unser aller Strich die Gleichung Demokratie. tritt er bereits der Partei bei. Elf Jahre später alt, ein I-Dötzchen. Und so geht sein Groß- beschließt Bijan Kaffenberger. ausschließlich für das Thema Inklusion ein- Vorteil nutzen“, sagt sie über das Thema wird er jüngster Abgeordneter im hessi- vater in den Vorruhestand, um für seinen setzen, ist das das Gegenteil von Inklusion“, Inklusion und politische Partizipation. Doch so einfach war es nicht immer. Denn schen Landtag. Auf dem Papier sei er mehr Enkel da zu sein, erzieht ihn mit liebevoller erst im Februar letzten Jahres beschließt als ein guter Kandidat, sagt Kaffenberger Strenge. Kaffenberger ist aufgeweckt, clever, der Bundestag das inklusive Wahlrecht und (31) selbstbewusst über sich. Abgeschlosse- nicht immer einfach. Doch welches Kind ist Schätzungsweise 800.000 Menschen leiden in Deutschland unter dem sogenannten Tourette-Syndrom. Das Tourette- betont so das Recht auf politische Teilhabe nes Studium mit Berufserfahrung, trotz- das schon? Nur ab und an hat er diese Tics. Syndrom (TS) ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die sich in sogenannten Tics äußert. Unter diesen Tics versteht man eines jeden Einzelnen. Erst ab diesem dem noch jung, attraktiv und charismatisch Es beginnt kurz nach der Einschulung. Sie spontane Bewegungen, Laute oder Wortäußerungen. Die Symptome treten in der Regel erstmals im Grundschulalter auf Zeitpunkt bedeutet das auch für Menschen – was will Politik mehr? schleichen sich immer wieder in sein Nerven- und äußern sich durch Grimassenschneiden oder Zuckungen im Auge. Was im Gehirn vor sich geht, damit es zum mit einer schweren Behinderung oder Men- system. Er verliert die Kontrolle über seine Ausbruch des Tourette-Syndroms kommt, konnte die Wissenschaft bisher noch nicht klären. 06 HephataMagazin 55 l November 2020 HephataMagazin 55 l November 2020 07
Ge s c h l o s s e n e Ges e l l s c h a f t in NRW? is t d ie K o m munalpolitik ativ Wie partizip von Christina Baum 20 Prozent der Einwohner*innen Nordrhein-Westfalens haben tere Wege in die politischen Strukturen und sind vielerorts knapp. Auch das Finden einer Kampagne zeigt das Engagement eine Behinderung oder eine chronische Erkrankung. Das sind rund Ämter ebnen. Damit dies jedoch effektiv gemeinsamen kommunikativen Ebene in in den NRW-Kommunen 3,67 Millionen Menschen. Diese Zahl geht aus dem aktuellen geschieht, braucht es bestimmte Vorausset- einer Gruppe, in der die Bedarfe der Men- Gemeinsam mit den Kompetenzzentren Teilhabebericht des Landes NRW hervor. Die Ergebnisse des zungen. Zunächst muss es überhaupt eine schen mitunter konträr zueinander stehen, Selbstbestimmt Leben NRW hat das Projekt- Interessenvertretung, also einen Beirat, eine kann verunsichern. Und trotzdem: Eine gute team in diesem Jahr eine Kampagne mit Berichts zeigen, dass viele Menschen mit Behinderungen großes beauftragte Einzelperson, einen Selbsthilfe- Zusammenarbeit für eine inklusivere Kom- dem Titel „Dein Rat zählt! Gestalte im Interesse an Politik haben.1 In der Praxis ist der Anteil der Menschen, zusammenschluss oder ähnliches geben. mune ist – schrittweise – möglich. Das zei- Behindertenbeirat Deine Kommune für die sich politisch aktiv engagieren, jedoch klein. Dies gilt insbeson- Das ist bislang aber nur in knapp der Hälfte gen viele Beispiele in NRW. Und neben der alle mit.“ ins Leben gerufen. Der Fokus der dere für Menschen mit Behinderung. Woran liegt das und was der NRW-Kommunen der Fall, wie eine Un- rechtlichen Verpflichtung, dem stetigen Kampagne liegt auf dem vielfältigen Enga- folgt daraus? tersuchung aus dem Jahr 2019 des Zen- Älterwerden der Gesellschaft und dem po- gement der Aktiven in den Beiräten und an- trums für Planung und Evaluation der Uni- tenziellen Risiko, das jede nicht-behinderte deren Bereichen der Interessenvertretung. Die Politik ist eine Barriere an sich Die Folgen für NRW versität Siegen im Rahmen eines Projekts mit Person trägt, einmal selbst behindert zu sein, Interviews und Porträts geben einen guten © nosyrevy - stock.adobe.com Nehmen wir als Beispiel die Kommunal- Wenn eine große Gruppe der Bevölkerung der Landesarbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE ist ein Lebensumfeld, das niemanden auf- Einblick in das politische Geschehen vor politik. Sie birgt die Chance, sehr unmittel- die Politik nicht mitgestalten kann, spielen NRW zeigt.2 grund bestimmter Merkmale ausschließt, Ort. Mehr Informationen finden Sie unter: bar das eigene Lebensumfeld mitzugestal- ihre Belange bei Entscheidungen keine eines, in dem sich alle Menschen sicherer www.deinratzaehlt.de ten. Wenn das Wörtchen „wenn“ nicht oder eine untergeordnete Rolle. Das heißt Es braucht Verbindlichkeit und angenommener fühlen können. Eine wäre. Denn wer sich aktiv in der Kommunal- konkret für über drei Millionen Menschen Wenn es eine Interessenvertretung gibt, inklusive Kommune wäre somit eine starke politik beteiligen möchte, muss zunächst ei- in NRW, dass die Gefahr besteht, dass ihre bedeutet das allerdings nicht direkt, dass Kommune, die für alle ihre Einwohner*innen Christina Baum ist Referentin für nige Hürden nehmen. So braucht es Kenntnis Bedürfnisse in der Gestaltung ihres Lebens- eine effektive politische Partizipation tat- Lebensqualität schafft. Öffentlichkeitsarbeit im Projekt darüber, wie das politische System funktio- umfelds in vielen Fällen nicht bedacht wer- sächlich gegeben ist. Für diese braucht es „Politische Partizipation Passgenau!“ niert. Dazu gehört es beispielsweise, Ent- den. Und das heißt im schlimmsten Fall: sie Verbindlichkeit. Allein über Vorgänge infor- Unterstützungsangebot bei der der Landesarbeitsgemeinschaft scheidungsprozesse und Verwaltungswege werden ausgeschlossen aus Bereichen des miert zu werden, ermöglicht beispielsweise Entwicklung oder Verbesserung SELBSTHILFE NRW. nachzuvollziehen und sich in die politische gesellschaftlichen Lebens. Das Land NRW noch nicht politische Teilhabe, sie ist aber partizipativer Strukturen Kultur einzufinden. Wenn ich nun aber etwa hat bereits 2003 mit dem Behindertengleich- eine der Voraussetzungen für diese. Ver- Ein Unterstützungsangebot, um die politi- auf Leichte Sprache angewiesen bin, Infor- stellungsgesetz NRW rechtliche Schritte lässliche und gültige Regelungen spielen bei schen Teilhabemöglichkeiten in der eigenen mationen aufgrund meiner Sehbehinderung ergriffen, um die Teilhabemöglichkeiten zu der Effektivität einer Interessenvertretung Kommune zu verbessern, bietet die Landes- barrierefrei benötige, oder wenn ich Diskus- verbessern. 13 Jahre später konkretisierte das außerdem eine wesentliche Rolle. Auch der arbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE NRW. sionen nicht verfolgen kann, weil die Gebär- Inklusionsgrundsätzegesetz NRW die Vorga- Gesetzgeber sieht diese Verbindlichkeit vor: Mit dem Projekt „Politische Partizipation densprach-Übersetzung fehlt – ja, dann wird ben. So sind etwa Träger öffentlicher Belange So ist jede Kommune nach dem Behinder- Passgenau!“ können Kommunen auf ver- der Weg in die Kommunalpolitik steinig oder nun seit fast 17 Jahren dazu verpflichtet, tengleichstellungsgesetz verpflichtet, eine schiedene Angebotsformate zurückgreifen, bleibt unter Umständen versperrt. Dazu partizipative Strukturen zu schaffen und zu Satzung zu erarbeiten, die der vollen, wirk- die auf die jeweilige Situation vor Ort abge- kommt ein weiterer wesentlicher Aspekt. unterstützen. Dies betrifft auch die Kom- samen und gleichberechtigten Teilhabe stimmt sind – von einer Beratung hin zu Sich politisch zu beteiligen, setzt folgendes munalpolitik. dient. Aktuell haben jedoch nur 18,7 Prozent Informationsveranstaltungen und themen- Wissen voraus: es ist wichtig, dass ich mich der Kommunen mit Interessenvertretung spezifischen Workshops. Das Ziel ist hierbei beteilige. Dass also meine Stimme zählt, Über die Interessenvertretung in eine solche Satzung. immer, eine gute Zusammenarbeit von Ver- gleichwertig mit denen anderer. Es setzt die Politik treter*innen der Selbsthilfe, Politik und Ver- 1vgl. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2020): somit ein Selbstbewusstsein und die Erfah- Interessenvertretungen spielen hier eine Wieso die Zurückhaltung in den waltung zu unterstützen, damit gemeinsam Teilhabebericht Nordrhein-Westfalen. Bericht zur Lebenssituation von Menschen mit Beeinträchtigungen rung von Selbstwirksamkeit voraus. Dieses wesentliche Rolle. Sie ermöglichen einen Kommunen? effektive Wege der politischen Arbeit für und zum Stand der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Düsseldorf. (online verfügbar unter www.mags.nrw/teilhabebericht_nrw). Bewusstsein zu entwickeln, ist in vielen niedrigschwelligen Zugang zur Politik, kön- Die Gründe sind vielfältig. Sicher bringen mehr Inklusion gefunden werden können. Unterstützungssettings, bei denen die Für- nen auf diese Weise dafür sorgen, dass Sicht die Themen Inklusion und politische Partizi- Das Projekt wird finanziert vom Ministerium 2vgl. Landesarbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE NRW e. V. mit dem Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer sorge statt der Ermöglichung von Selbst- und Belange von Menschen mit Behinderun- pation Herausforderungen mit sich. Die für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Dienste der Universität Siegen: Abschlussbericht zum Projekt „Mehr Partizipation wagen!“ – Mai 2016 bis April bestimmung im Zentrum steht, schwierig. gen in die Politik einfließen und auch wei- personellen und finanziellen Ressourcen Landes Nordrhein-Westfalen. 2019. Münster/Siegen. Der Bericht ist bald online unter www.politische-partizipation-passgenau.de verfügbar. 08 HephataMagazin 55 l November 2020 HephataMagazin 55 l November 2020 09
Ein verhinderter Kaffee in Brüggen Fotos: Udo Leist Interview mit Andrea Hanisch und Karl-Heinz Kellerhoff Und tschö! von Christian Dopheide von Dr. Harald Ulland Die Burggemeinde Brüggen ist eine kleine, hoch attraktive Gemeinde an der Grenze zu den Die Bäckersfrau in Iserlohn, unserem ersten Als Theologe, der schon im zarten Alter von Niederlanden. Der romantische Ortskern mit seiner malerischen Burg zieht Jahr für Jahr viele Touristen Wohnsitz, hat sich mittlerweile dran ge- 36 Jahren von der klassischen Kirchenge- an. Aber das Kopfsteinpflaster und die Stufen vor fast jedem Lädchen stellen nicht nur Menschen mit wöhnt, dass ich mitten in Westfalen rheinisch meinde zur Diakonie gewechselt war, hatte Behinderung vor Herausforderungen, sondern auch jene, die berufen wurden, deren Interessen zu grüße. Ich mache das nicht mit Absicht. Es ich bereits ein wenig Erfahrung, vor allem vertreten. Harald Ulland hatte sich bereits mit Andrea Hanisch und Karl-Heinz Kellerhoff, den passiert einfach. 14 Jahre Mönchengladbach aber Freude an der Gestaltung von Verände- Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderung in Brüggen, auf einen Kaffee verabredet, hinterlassen eben Spuren, zu denen übrigens rungsprozessen in der unternehmerischen als Corona dazwischen kam und das Interview schriftlich geführt werden musste. auch unsere Mitgliedsausweise gehören. Diakonie. Weshalb mich am Ende meiner Antrittsbesuche, die fast ein Jahr brauch- Was ist eigentlich Ihre konkrete Aufgabe Seite zu stehen bei allem, was das Leben mit Der Grund meines Kommens war so unspek- ten und mich zu jeder Adresse führten, an in der Burggemeinde Brüggen? Behinderung leichter macht. Insbesondere Es gibt etliche Erfolgserlebnisse. Zum Bei- Welche Pläne haben Sie, welche Hoffnun- takulär wie nun der Grund meines Abschieds: der Hephata vertreten ist, weshalb mich am Wir vertreten die Interessen von circa 3000 bei der Erstellung von Anträgen oder bei der spiel: Sitzungen sind mittlerweile barriere- gen verbinden Sie mit den Kommunal- Ruhestand. Zuerst der meines geschätzten Ende dieser fundamental wichtigen Rund- Menschen mit anerkannten Behinderun- Formulierung von Widersprüchen gegen frei zugänglich, da ein Aufzug eingebaut wahlen? Vorgängers Prof. Johannes Degen und nun reise die Frage bewegte: „Was werden wir gen, das sind immerhin 18 Prozent unserer Verwaltungsentscheidungen. Dafür bieten wurde. 2017 haben wir ein Netzwerk für Was die nächsten Kommunalwahlen brin- mein eigener. Und so traf ich hier in eigentlich sein, wenn wir aufgehört haben, Mitbürgerinnen und Mitbürger. wir regelmäßig Sprechstunden an. Wir haben Menschen mit Behinderung in der Gemein- gen, wissen wir natürlich nicht. Unsere Mönchengladbach auch nicht eine Situation eine aufgelöste Anstalt zu sein?“ uns auch ein Netzwerk von verschiedenen de gegründet, das uns wunderbar unter- Amtszeit ist immer nur auf eine Wahlperiode an, wie ich sie in meinen 15 Diakonie-Jahren Die Antwort ist bekannt. Heute sind wir Seit wann sind Sie als Beauftragte tätig? Organisationen und Verbänden aufgebaut. stützt. Wir machen regelmäßig Ortsbege- begrenzt und muss immer neu bestimmt zuvor meist vorgefunden hatte: „Hier ist HEPHATA. unternehmen mensch. Seit 2009 sind wir deren Sprachrohr hungen, um auf Missstände hinzuweisen. werden. Und ob unsere Gesundheit es alles total durcheinander. Können Sie bitte Ich blicke mit einer Dankbarkeit auf diese 14 gegenüber Rat und Verwaltung. Würden Sie Ihr Engagement als „politi- Das stößt mittlerweile auf großes Interesse zulässt, weiter zu machen, das müssen wir helfen, zu retten, was zu retten ist?“ Hier bei Jahre zurück, die sich nicht beschreiben lässt. sches Engagement“ bezeichnen? Ist es in bei Verwaltung und Rat. erst einmal sehen. Hephata war stattdessen die Richtung völlig Den Menschenschlag hier an der Niers, zwi- Hauptberuflich? Ihrem Amt sinnvoll, nebenbei auch partei- Wir sind vor elf Jahren angetreten mit der klar und alles längst im Fluss. Allerdings mit- schen den Nasen, die man in Düsseldorf ein Nein. Wir machen das ehrenamtlich. politisch aktiv zu sein? Wir sind ja ein touristischer Ort. Da gibt es Ambition, Brüggen zum behinderten- ten im Fluss, in dem man ja die Pferde eigent- wenig zu hoch trägt und jenen, die man in „Hauptberuflich“ sind wir in Rente. Natürlich findet unsere Arbeit auch im poli- barrierefreie Führungen auch in Gebärden- freundlichsten Ort im Kreis Viersen zu lich nicht wechseln soll. Köln zum Klüngel ein wenig zu eng zusam- tischen Raum der Gemeinde statt. Wir ver- sprache und für Nichtsehende. In der Tourist- machen. Davon sind wir noch weit ent- Zehn Jahre der Abkehr vom Anstaltsmodell mensteckt, den habe ich lieben gelernt. Und wie sind Sie zu diesem Amt gekommen? stehen unsere Arbeit aber nicht als „politi- Info können zwei Rollstühle und Rollatoren fernt. Wir haben zwar einiges erreicht. lagen hinter der Stiftung, den Mitarbeitenden Wenn meine Frau und ich mal zum Heimspiel Wir wurden vom damaligen Bürgermeister sches Engagement“, sondern als Hilfe für zur kostenlosen Nutzung ausgeliehen wer- Aber der Weg ist noch lang. Wir hoffen und den „Bewohnern“, wie man sie damals kommen werden, dann wird das, trotz mei- angesprochen. Er meinte, wir könnten die jedermann. Wir glauben, dass es sinnvoll den. Im Stadtführer ist alles gekennzeichnet, und erwarten, dass alle es verinnerlicht nannte. Und das gegenüberliegende Ufer ner Geburt in Bielefeld, ein richtiges Heim- Richtigen sein, um als Behindertenbeauf- ist, nicht parteipolitisch gebunden, sondern was barrierefrei zugänglich ist. Es gibt Veran- haben: Menschen mit Behinderung sind in lag noch gut zehn Jahre weit entfernt. Nun spiel sein. tragte in der Gemeinde ehrenamtlich tätig neutral tätig zu sein. staltungen, z.B. „Brüggen hochinklusiv“, mit unserer Gemeinde ernst zu nehmen. wird der Karren Hephata günstigerweise von Für Hephata ist es nun wieder einmal Zeit, die zu werden. Trotz unserer Vorerfahrungen, Sport, Kultur und Informationsveranstaltun- zwei „Pferden“ gezogen. Und weil mein Pferde zu wechseln. Ich bin mir ganz sicher, Karl-Heinz Kellerhoff als Betriebsrat und Haben Sie das Gefühl, dass Politik und gen. Im historischen Ortskern von Brüggen Mittlerweile wurde gewählt. Wie in allen Kommunen Kollege Klaus Dieter Tichy vergleichsweise dass das sehr gut funktionieren wird. Es sind Andrea Hanisch als Behindertenbeauftragte Verwaltung Sie als Gesprächspartner ein- sind viele Geschäfte nicht barrierefrei zu- Nordrhein-Westfalens, so auch in Brüggen. Die jung war, als er sich für Hephata einspannen mittlerweile so viele Menschen im Dienst bei bei Borussia Mönchengladbach, hatten wir beziehen? gänglich. Da haben wir zusammen mit der Bürger haben auf Überraschungen verzichtet und ließ, reicht seine Spanne recht genau von Hephata, die von innen heraus verstanden zunächst überhaupt keine Ahnung, was uns Es hat tatsächlich lange gedauert, mit Lebenshilfe Viersen e.V. Service-Klingeln ihren Bürgermeister mit 72,62 % im Amt bestätigt. einem Ufer zum anderen. Zur Kontinuität haben, was wir meinen mit dem Satz: „Jeder da erwartet. Es ist ja eine Aufgabe irgendwo Politik und Verwaltung auf Augenhöhe zu und Rampen an Geschäfte und Dienstleister Mittlerweile ist auch klar, dass Andrea Hanisch und trugen zudem etliche erfahrene Fahrensleute Mensch kann einen Beitrag leisten.“ Es sind zwischen Kommunalpolitik und Gemeinde- kommen und dann auch akzeptiert zu wer- verteilt. Auch die Zugänge zum beliebten Karl-Heinz Kellerhoff ihr Amt in andere Hände legen bei, die mutig in die Speichen griffen, selbst enorm viele Frauen und Männer bei uns verwaltung. den. Aber wir haben uns schließlich durch- Naherholungsgebiet werden barrierefrei möchten. Das könnten unter Umständen sehr viele wenn ihnen dabei auch mal das Wasser bis tätig, nicht nur in Gladbach, sondern im ausgebaut. Hände werden. In Brüggen wird zurzeit die Gründung zum Halse stand. Wolfgang Wittland, Jürgen ganzen Rheinland, für die nicht nur auf dem Besonders viel Freude bereitet uns die Zu- eines Beirates für Menschen mit Behinderung heiß Peters, Ralf Horst, Christoph Lüstraeten, Platz, sondern auch im Dienst, sei er am Tage sammenarbeit mit der niederländischen Ge- diskutiert. In großen Städten ist das Standard. In Dieter Kalesse, Dieter Köllner, Hans-Willi oder in der Nacht, am Werk- oder am Feier- meinde Beesel. Wir sind mit denen auf dem kleinen Gemeinden aber nicht. Wie auch immer die Pastors: das sind Namen, die genannt wer- tag: die Seele brennt. Weg, ein Netzwerk „barrierefrei ohne Gren- Diskussion ausgehen wird: im Rückblick werden den müssen, wenn man sich fragt, wie das Euch allen möchte ich danken für dieses zen“ auszubauen. Andrea Hanisch und Karl-Heinz Kellerhoff hoffentlich alles eigentlich gut gehen konnte.1 Feuer, das dafür sorgt, dass das Licht nicht zufrieden feststellen, dass sie mit ihrem Engagement aus geht, nur weil einer geht. Das ist eine ganze Menge. Aber jetzt auch für ihr Gemeinwesen sehr viel in Bewegung gebracht 1Keine einzige Frau dabei – ich weiß. Und wenn man heute die 1. und 2. Ebene zusammenfasst, sind sie in der Mehrheit. Trotz dieser Ungewissheit haben Sie gesetzt und sind nun auch als beratende mal ein Blick auf die Rückseite. Welche haben. Und tschö! zugestimmt? Mitglieder in Ausschüssen vertreten. Wir Frusterfahrungen wiederholen sich und Ja. Wir sind ins kalte Wasser gesprungen. Wir haben sogar Rederecht in Ratssitzungen! müssten dringend abgeschafft werden? Dr. Harald Ulland ist ab 1. Januar 2021 sehen uns einfach in der Pflicht, der Gemein- Es gibt es auch Frust. Vor allem, weil Dinge, neuer theologischer Vorstand der de, vor allem aber unseren Mitbürgerinnen Welche Erfolgserlebnisse machen Ihnen die wir bemängeln, einfach nicht schnell Evangelischen Stiftung Hephata. und Mitbürgern, beratend und hilfreich zur Freude? genug abgestellt werden. 10 HephataMagazin 55 l November 2020
„sent from my wheelchair!“ von Ingo Fulfs ©Anna Spindelndreier Fotografie In gesellschaftlichen Debatten werden oft Weil Betroffene auch heute noch systema- Fehlt den Journalisten hier die notwendige Mehrheitsgesellschaft scheint es nur zwei die Begriffe Integration und Inklusion durch- tisch aus der Mehrheitsgesellschaft aussor- Rollstuhlperspektive? Möglichkeiten zu geben: Menschen mit einander gebracht. Helfen Sie uns bei der tiert werden: sie werden in Sondereinrich- Nein, denn das Thema betrifft nicht nur Behinderungen sind zu behindert, um wirk- Unterscheidung? tungen, Förderschulen, Behindertenheime, Rollstuhlfahrer, sondern alle Menschen mit lich teilhaben zu können, oder aber nicht Bei der Integration sagt die Mehrheitsge- Behindertenwerkstätten gedrängt – und Mobilitätseinschränkungen. Also auch Müt- behindert genug, um Leistungen in An- sellschaft, was für Menschen mit Behinde- sind deswegen eben nicht in der Mitte der ter mit Kinderwagen. Oder auch ältere Men- spruch nehmen zu dürfen. rung gemacht werden kann. Und erwartet Gesellschaft. schen mit Rollatoren. Wenn man die Über- Immerhin gibt es seit dem Frühjahr 2019 dafür ewige Dankbarkeit. Die Inklusion geht alterung der Gesellschaft im Blick hat, das inkludierte Wahlrecht für Menschen hingegen davon aus, dass es gar keine Bisweilen ist die Rede davon, dass man im dann wird ganz klar, dass früher oder spä- mit Behinderung. Diese sind aufgefordert, Mehrheit gibt. Vielmehr setzt sich eine Ge- Umgang mit Menschen mit Behinderung ter jeder eine Behinderung haben kann. sich politisch zu engagieren. sellschaft aus vielen Minderheiten zusam- die Barrieren in den Köpfen durchbrechen Was ja auch nicht so einfach ist! Es fängt men. Unterschiedliche Menschen, egal wel- soll. Ein frommer Wunsch. Aber Sie sind Sie beklagen, dass Menschen mit Behinde- schon in den Lokalen an, in denen Parteien cher Nationalität oder Bildung, ob Mann mit Ihren Forderungen konkreter, oder? rung ständig in einer Art Beweispflicht ihre Stammtische abhalten. Besonders im oder Frau, arm oder reich, behindert oder Ja, es bleibt die Forderung nach einer flä- seien. Was meinen Sie damit? ländlichen Raum mangelt es hier an Barrie- nicht. Sie alle haben ein verbrieftes Recht: chendeckenden Barrierefreiheit. Es geht Menschen mit Behinderung stehen immer refreiheit. Zudem gibt es beispielsweise für die gesellschaftliche Teilhabe. Und damit nicht (nur) um die Barrieren in den Köpfen, unter einer Art Generalverdacht: Wenn es Gehörlose keine Übersetzer der Partei- einen Anspruch auf Mitgestaltung. es geht auch um die physikalischen Barrie- um Unterstützungen geht, etwa um die debatten. Auch Wahllokale sind häufig ren. Es reicht nicht, wenn Lokalzeitungen sogenannten Nachteilsausgleiche, müssen nicht barrierefrei, ich kenne viele Menschen Vor elf Jahren trat die UNO-Behinderten- ab und an vermelden, dass ein Rathaus sie in regelmäßigen Zeitabständen bewei- mit Mobilitätseinschränkungen, die zur rechtskonvention in Kraft. Hier wurde der eine Rampe bekommen hat, eine Bushalte- sen, dass ihnen diese Vorteile zustehen, Briefwahl gezwungen sind. Politiker for- Rechtsanspruch formuliert, dass Menschen stelle barrierefrei ist oder sich ein pfiffiger dass sie sich keine Leistungen erschleichen dern Menschen mit Behinderung auf: En- mit Behinderungen selbstverständlich in- Nachbar eine Rampe aus Legosteinen ge- wollen. Sie müssen der Mehrheitsgesell- gagiert Euch! Drücken sich aber vor der ©Anna Spindelndreier Fotografie mitten der Gesellschaft leben können. Mit bastelt hat… schaft beweisen, dass sie krank genug Verantwortung, notwendige Vorausset- Ihrem Verein Sozialhelden setzen Sie sich sind, um einen Rollstuhl und/oder Assi- zungen zu schaffen. für dieses Ziel schon viel länger ein, seit Klingt aber doch ganz gut gemeint! stenzleistungen zu beanspruchen. über 15 Jahren. Ist die Akzeptanz im Aber solche Aktionen stellen nicht mehr dar Gleichzeitig aber müssen sie auch zeigen, Ingo Fulfs ist TV-Journalist, der in Umgang mit diesen Themen gewachsen? als kleinste Reparaturen in einer Welt, die dass sie gesund genug sind, um beispiels- München und Köln lebt und bereits für Man könnte das mit der Frauenbewegung mit Barrieren behaftet ist. Die Zivilge- weise eine Regelschule besuchen zu dürfen. verschiedene öffentlich-rechtliche vergleichen: Wir sind längst nicht am Ziel, sellschaft bügelt aus, was die Politiker ver- und private Fernsehsender kommen aber Millimeter für Millimeter säum(t)en. Über solche minimalsten Scha- tätig war. Derzeit CC by Andi Weiland | Sozialhelden e.V. Interview mit dem Aktivisten weiter. Junge Menschen mit Behinderungen densbegrenzungen berichten Lokalblätter arbeitet er als Redakteur politisieren sich zunehmend, die sozialen gerne, so als ob die Barrierefreiheit etwas für eine Talkshow. Medien ermöglichen es, aus Einzelkämpfern Besonderes sei. Ein Geschenk, eine Gabe, Raúl Krauthausen Netzwerker zu machen. Aber auch junge Menschen, die keine Behinderung haben, die vom Himmel fällt. Besser wäre es, wenn wir danach fragen, warum wir nicht von stehen dem Thema mittlerweile offener Anfang an barrierefrei bauen bzw. umbau- Sein Ziel ist es, Bewegung in das Thema Inklusion zu bringen: Raúl gegenüber. Vielleicht auch deswegen, weil en. Keine Zeitung würde darüber schreiben, Krauthausen setzt auf Netzwerke in der Internet- und Medienwelt. Den es heute schon in Kindergärten und Schulen wenn irgendwo eine Frauentoilette gebaut 40jährigen Kommunikationswirt kennt man vor allem als Redner, als zu mehr Kontakten kommt, als es noch vor wird. Muss sie auch nicht. Aber sie sollte einigen Jahren der Fall war. berichten, wenn irgendwo eine fehlt! Mit Blogger sowie als Talkshow-Moderator. Und als unermüdlichen Aktivisten fehlenden Rampen, kaputten Aufzügen Das klingt nach einem Leben, in dem man für eine barrierefreie und inklusive Gesellschaft. Seine Erinnerungen Dennoch: Ignorieren, wegschieben, aus- und sperrigen Bahnsteigkanten ist das permanent mit Skepsis konfrontiert wird? „Dachdecker wollte ich eh nicht werden“ wurden zum Bestseller. Die grenzen – das sind einige der Begriffe, mit auch nicht anders. Bei Barrierefreiheit han- Ja, bei den Krankenkassen, bei Behörden- Anfrage für dieses Interview bestätigte er übrigens per Mail – mit der denen Sie eine immer noch gängige Praxis delt es sich um ein Grundrecht. Fehlende gängen, in Gesprächen mit Lehrer*Innen. elektronischen Signatur „sent from my wheelchair!“. im Umgang mit Menschen mit Behinderung Zugänge bilden ihrerseits eigene Wege, Es wird das Gefühl vermittelt, dass man umschreiben. Warum? nämlich ins Abseits. nicht willkommen ist. Nach Meinung der 12 HephataMagazin 55 l November 2020 HephataMagazin 55 l November 2020 13
KÖNIGE von Klaus Eberl sind wir alle gemeinsam Geistliches Wort zu 1. Samuel 16, 1-13 (in Leichter Sprache) ©Hephata Die Bibel erzählt: Samuel ist ein weiser Mann. Fotos: Udo Leist Gott und die Menschen vertrauen ihm. Kunst im urbanen Raum als Austausch zwischen allen Menschen Samuel soll einen neuen König für Israel finden. Wie ist es heute? Kulturelle Partizipation als Weg aus der Isolation Gott sagt: Suche in Bethlehem. Noch immer sehen Menschen oft nur das Äußere. Suche mit meinen Augen. Sie sehen: Der ist groß. Die ist schlau. Kunst als Motor, Kunst als integratives durchaus in der Lage sind, öffentliche Am Ende wurde ein 32 Meter langer Teppich Denn ich sehe mehr als die Menschen sehen. Der ist stark. Die ist schön. Moment, Kunst als Austausch zwischen Räume neu zu gestalten. Das ist dann gewebt, der aus dem Ladenlokal bis weit Menschen. Das ist in einfachen Worten das gelebte politische Partizipation. Die bedeu- auf die Straße reichte. Nach anfänglicher Achte auf das Herz der Menschen! Sie bewundern diese Menschen. Konzept des Atelier Strichstärke. Dass die- tet nämlich nicht nur, dass behinderte Scheu kamen immer mehr Passanten und Aber Gott sieht mehr. ser Ansatz nicht nur erfolgreich, sondern Menschen zur Wahlurne begleitet werden.“ auch Anwohner, alle unterschiedlichster Samuel kommt in das Haus von Isai. Gott schaut auf das Herz. auch richtungsweisend ist, zeigt unter kultureller Heimat, ins Gespräch. „Das traf Isai hat Söhne. Er sieht die Kleinen. Er sieht die Schwachen. anderem die Zusammenarbeit mit der Die Arbeit des Atelier Strichstärke und der und trifft unsere Absicht. Wir wollen da Samuel denkt: Vielleicht kann einer von ihnen König Er sieht, wer Hilfe braucht. Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft. Stiftung kann nicht annähernd angemes- sein und zuhören: Was braucht es, was gibt sein. Er soll Verantwortung übernehmen für Israel. Er sieht, was jemand tun kann. sen beschrieben werden, ohne über den es, was möchten die Menschen? Wir wol- Genauer gesagt haben sich mit der Stif- Teppich zu sprechen, Teil des Stiftungspro- len Fragen sichtbar machen. Daher sind wir Samuel lernt sie kennen. tungsvorständin Ruth Gilberger sowie mit jekts Neuland, an dem das Atelier teilge- ganz bewusst analog vor Ort in Leerständen. Einen nach dem anderen. Gott findet: Alle sind wichtig. Barbara John und Yvonne Klaffke (beide nommen hat. Ein künstlerisches Angebot, Das ist gerade in diesen Corona-Zeiten für Samuel fragt sich immer wieder: Ist das der neue Vielfalt ist wichtig. Hephata) verwandte Seelen getroffen. Bild- das im vergangenen Jahr in einem Laden- Menschen wichtig, die ohnehin nur selten König? Die Welt soll gut werden. hauerin Ruth Gilberger, seit vielen Jahren ne- lokal in der Rheydter Innenstadt von sich sichtbar sind.“ Es gehe nämlich nicht nur Einer ist stark, einer ist klug, Das ist versprochen. ben anderen Tätigkeiten in der Erwachsenen- reden machte. Angestoßen von Ruth Gil- um Kunst, es gehe um Gemeinschaft. So einer ist schön, einer ist groß, In der Stadt, in unserem Land und auf der ganzen bildung aktiv, bringt es auf den Punkt: berger: „Dabei haben uns Menschen ganz heißt das aktuelle Kunstprojekt der Montag einer ist schnell, einer kann viel, Erde soll jeder gut leben können. besondere Textilien gebracht, die dann Stiftung Kunst und Gesellschaft nicht ohne „Uns eint die Hingabe zur gemeinsam verwebt wurden. Wir haben Grund: Rheydter Resonanzen. einer ist erfahren. Dazu können viele etwas beitragen. Kunst und zu den Menschen. Als zum Beispiel auch Kleidung Verstorbener Sieben Söhne - aber der neue König ist nicht dabei. Ich werde gebraucht. Stiftung setzen wir auf das Handeln bekommen. Ein besonderer Vertrauensbe- Barbara John und Yvonne Klaffke genießen Samuel fragt Isai: Sind das alle deine Söhne? Du wirst gebraucht. Gott braucht uns. und Gestalten in sozialer weis.“ regelrecht diesen künstlerischen Austausch: Isai antwortet: Da ist noch David. Das ist ein gutes Gefühl: Wenn Gott uns sieht. Verantwortung. Dabei realisieren wir „So sind aus dem Teppich ganz viele andere Er hütet aber nur die Schafe. Wenn unsere Freunde uns sehen - bis in unser Herz eigene (Kunst-) Projekte stets mit Ideen entstanden. Und ja, etwas Urbanes Er ist anders als seine Brüder. hinein. Dann spüren wir: Die Kraft wächst. Kooperationspartnern.“ entsteht, ein heimatliches Gefühl.“ Schon jetzt sind über die aktuellen (Kunst-) Samuel bittet Isai: Zeige mir auch deinen jüngsten Die Ideen fallen vom Himmel. Barbara John ist von diesem bereits seit drei Projekte hinaus bis in das Jahr 2021 hinein Sohn. Ich will ihn sehen. Wir können etwas tun. Jahren bestehenden Austausch sehr ange- Workshops geplant, an denen sich auch Wir können etwas beitragen zum guten Leben. tan: „Wir haben eine gute Basis. Wir mixen das Atelier Strichstärke beteiligt. Da kommt David. Mit guten Vorschlägen, mit gerechten Gesetzen, mit in den Projekten die verschiedenen Stärken Samuel sieht sofort: Er ist nicht so groß wie seine einem Frieden, der alle frei macht. und Schwächen der Menschen. Aber nicht Arnold Küsters ist freier Journalist, Autor Brüder. nur das. Durch das Heranführen an die ver- von Kriminalromanen und Bluesmusiker. Er ist schwach und unerfahren. Gott schaut nicht auf das Äußere. schiedensten Themen und Materialien stär- In seiner Arbeit nimmt das Menschliche ken wir das Selbstbewusstsein unserer Künst- einen hohen Stellenwert ein. Aber Gott sagt zu Samuel: Die Menschen sehen oft Er weiß: Jeder Mensch trägt unsichtbar eine Krone. lerinnen und Künstler. Nach dem Motto: Ich nur das Äußere. Manchmal wissen das die Menschen selbst nicht. kann ja tatsächlich auch mit ungewohnten Ich aber sehe mehr. Ich sehe das Herz. David ist es! Jeder ist ein König. Jede ist eine Königin. Dingen umgehen und mich auf vielfältige David hat ein gutes Herz. Weniger wird uns nicht zugetraut. Weise ausdrücken.“ Er soll für Israel ein guter König sein. Wir sollen Verantwortung übernehmen. Dabei ist allen Beteiligten wichtig, dass die Der Teppich ist im Textil Technikum, Schwalmstraße 301 Er wird gut sorgen für sein Land. Wir können das. / Monforts Quartier 31, 41238 Mönchengladbach vom Vermischung unterschiedlichster Ansätze Wir sollen für ein gutes Leben sorgen. 29.09.2020 bis 31.01.2021 zu besichtigen. und Talente ausdrücklich im urbanen Raum Öffnungszeiten: Montag-Freitag 11-15 Uhr (an So erzählt die Bibel. Wir können das. Für uns selbst und für andere. Feiertagen geschlossen) und jeden 3. Sonntag im stattfindet. Yvonne Klaffke bringt es auf Eine alte Geschichte. Denn Könige sind wir alle gemeinsam. den Punkt: „Das hat auch mit Stadtentwick- Monat 13-17 Uhr. Aufgrund der neuen Corona-Beschränkungen beach- lung zu tun. Zu zeigen, dass die Menschen ten Sie bitte die Hinweise auf der Internetseite Klaus Eberl ist Oberkirchenrat i.R. in unseren Projekten und in unserem Atelier unter:www.textiltechnikum.de ©Udo Leist und Mitglied des Beirats des HephataMagazins. 14 HephataMagazin 55 l November 2020 HephataMagazin 55 l November 2020 15
Sie können auch lesen