Hidden faces. The Cyborg Society and Portraiture_2.0
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1 Hidden faces. The Cyborg Society and Portraiture_2.0 "Abgesehen von einigen äußeren, behördlichen Erkennungsmerkmalen gibt es nichts, was für die Existenz eines zusammengefaßten Einzelnen spräche. Nicht einmal der Körper ist monolog (…)." - Botho Strauß, 1981.1 _2.0 Ein mit dieter_2.0 betitelter digitaler C-print (fig. 1) setzt Porträtähnlichkeit und Hyperrealität gegeneinander. Die Augen wirken artifiziell, so als läge ihnen eine gräuliche Linse auf. Farbe und Beschaffenheit der Iris schimmern hindurch. Bartansatz und Ohrring deuten dagegen Alltäglichkeit an. Es bleibt bei diesem Werk unklar, inwieweit die Gestalt eines Individuums am Prozess der Bildschaffung Anteil hatte. Es könnte sich um ein cyberface handeln, das ohne Aufruf einer realen Person2 vollständig virtuell entstanden ist.3 Jedenfalls liegt ein digitales Produkt vor, und zu den Eigenheiten dieses Mediums gehört die schwindende Nachvollziehbarkeit der darin hervorgebrachten Bilder, was diesen gegenüber eine gewisse Skepsis provoziert.4 Das Bild gehört zur Serie nexus project part I des Berliner Künstlers Michael Najjar (geb. 1966 in Landau)5. Diese entstand 1999/2000 und umfasst, in sechsfacher Edition,6 je acht digital modifizierte Gesichtsaufnahmen (fig. 1-8). Die Arbeiten sind betitelt mit dieter_2.0, dana_2.0, tayga_2.0, tamara_2.0, bettina_2.0, nadine_2.0, markus_2.0 und stephan_2.0. Es handelt sich um auf photographischem Film belichtete Bilder, die anschließend gescannt und digital weiterverarbeitet wurden (Hybrid-Fotografie). Als Lightjet-Prints sind sie auf Aludibond aufkaschiert und mit Silikon im diasec-Verfahren hinter Plexiglas versiegelt. Fünf weibliche und drei männliche Darstellungen, jede im Format 140 x 100 cm. Integraler Bestandteil der Serie ist ein Set an Merkmalen, das Najjar jedem Bild als Text beigefügt hat. Zu fig. 1: "name: dieter_2.0 / id no.: di_985836487595-mn / date of birth: 5.7.1988 / age: 36 / current employment status: cutter for neuro ad clips / neuro implant year: 2023 / chip generation: nx7-2.0 / special features: implanted nano-tracking control unit / character traits: introverted, inquisitive / enhanced skills: masters 17 different kung fu styles / multiple virtual identity capacity rating: 9 / last consciousness file back-up: 9 days ago" Zu fig. 2: " name: dana_2.0 / id no.: da_745482645848-mn / date of birth: 23.1.1999 / age: 25 / current employment status: genetic engineer / neuro implant year: 2019 / chip generation: nx7-2.0 / special features: genetically defined liver spot / character traits: reserved, sexually inactive, cyber virgin / enhanced abilities: implant to enhance pain threshold / multiple virtual identity capacity rating: 5 / last consciousness file back-up: yesterday" Zu fig. 3: "name: tayga_2.0 / id no.: ta_746587585675-mn / date of birth: 5.2.2000 / age: 24 / current employment status: head of antiviral replication unit / neuro implant year: 2021 / chip generation: nx7-2.0 / special features: 3d retina display implant / character traits: inquisitive, keen to experiment, prefers virtual sex / enhanced abilities: bioport for non-verbal exchange of knowledge structures multiple virtual identity capacity rating: 6 / last consciousness file back-up: one week ago" Zu fig. 4: "name: tamara_2.0 / id no.: ta_185722683110-mn / date of birth: 26.8.1995 / age: 29 / current employment status: remedial counsellor for people with niv syndrome (people with virus-degraded neuro implants) / neuro implant year: 2017 / chip generation: nx7-2.0 / special features: heart-shaped mole in nape of
2 neck / character traits: salt-of-the-earth type, pronounced social conscience, tends to emotion-driven sudden irrational acts / enhanced abilities: extreme sport high performer enabled with motor neuro implants / multiple virtual identity capacity rating: 8 / last consciousness file back-up: today Zu fig. 5: "name: bettina_2.0 / id no.: be_610000017856-mn / date of birth: 22.11.1997 / age: 27 / current employment status: avatar software developer / neuro implant year: 2020 / software: nx7-2.0 / special features: none / character traits: introverted, reliable, works well under duress / enhanced features: optimal mental concentration with interference-filter implants / multiple virtual identity capacity rating: 7 / last consciousness file back-up: yesterday" Zu fig. 6: "name: nadine_2.0 / id no.: na_290674946384-mn / date of birth: 29.6.1998 / age: 26 / current employment status: virtual identity designer / neuro implant year: 2021 / software: nx7-2.0 / special features: spinal chord bioport / character traits: chronic need for sleep, highly sensitive, broad emotional fluctuation, honest / enhanced features: communication implant for telepathic data transmission / multiple virtual identity capacity rating: 5 / last consciousness file back-up: today" Zu fig. 7: "name: markus_2.0 / id no.: ma_547584648445-mn / date of birth: 26.10.1990 / age: 34 / current employment status: cybernetic artist / neuro implant year: 2019 / chip generation: nx7-2.0 / special features: forearm bones replaced with surgical steel implants / character traits: withdrawn, unpunctual, ambitious / special skills: highly developed cybernetic visualisation / maximal virtual identity capacity rating: 10 / last consciousness file back-up: 4 days ago" Zu fig. 8: "name: stephan_2.0 / id no.: st_758468365846-mn / date of birth: 18.3.1999 / age: 25 / current employment status: software developer for erotic total-touch environments / neuro implant year: 2023 / chip generation: nx7-2.0 / special features: cross-gendered / character traits: very sexually active, impatient / special skills: highly developed recursive thought patterns / multiple virtual identity capacity rating: 7 / last consciousness file back-up: 6 days ago" Der Künstler hat diese Beschriftungen jeweils einem Plexiglastäfelchen (7 x 10 x 0,05 cm) aufdrucken lassen. Jedem Gesicht der Serie ist ein solches Textobjekt beigefügt. Es ist vorgesehen, dass die zum jeweiligen Gesicht gehörige Karte vertikal zur Wand positioniert in einer Halterung steckt. Sie kann nur gelesen werden, wenn sie dazu aus der Arretierung in die Hand genommen wird. Allein diese Textebene des Werkes wäre bereits hinreichend Anlass zur Hermeneutik. Autoren, die sich mit der Serie befassten,7 kommentieren jedoch ausschließlich den vermeintlich futuristischen Gehalt. Doch verortet man die Bilder innerhalb von Najjars Œuvre, wird schnell deutlich, dass ihre Betrachtung die Ästhetik und Wirkmacht von Bilddokumentation und –reportage mit ins Kalkül ziehen muss, denn das ist Najjars durchgängiges Thema. Seit den 80er Jahren wird die Authentizitätsbehauptung gerade dieser fotografischen Genres genutzt, um das Verhältnis von Fiktion und Realität zu hinterfragen und damit die Wirklichkeitskonstruktion des Betrachters zu problematisieren.8 Vor dem Hintergrund entsteht Najjars Bildfolge ¡viva fidel! journey into absurdity (1997),9 die in der Anmutung älterer Schwarzweiß-Dokumentationen à la Magnum-Fotografie vorgibt, den kubanischen Alltag abzubilden. Die Arbeiten sind jedoch nicht Dokument, sondern Digitalisat und als solche nachbearbeitet: Beleuchtungseffekte wurden dramatisiert, Graffiti und Werbeaufschriften akzentuiert, signifikante Hintergründe eingefügt. Es handelt sich um Arrangements. Ein ähnliches Vorgehen prägt auch Najjars etwa zeitgleich mit der nexus-Serie entstandene Reihe japanese style,10 in der der Porträtfotografie eine größere Rolle zukommt. Sie enthält großformatig inszenierte Gesichter stets junger Menschen, bei denen die mit akzentuierten Reflexen markant inszenierten Augen, die modisch-exzentrischen Accessoires, die ausgefallenen Frisuren sowie die Piercings und Wimperndesigns bereits ein Niveau an Fremdartigkeit anschlagen, das Najjars Aufmerksamkeit für hyperreale Gestalten erahnen lässt (fig. 10). Japanese style nimmt sich dann auch wie eine direkte Vorbereitung der nexus- Serie aus. Zwischen 2006 und 2008 hat Najjar schließlich eine Bildfolge erstellt, die er zuweilen als nexus project part II bezeichnet, obwohl dies nicht die offizielle Betitelung ist.11 Für die Gruppe, zu der unter anderem Adaptionen idealer Körperbilder aus Antike und Renaissance,
3 Visualisierungen von Modellen neuronaler Gehirnströme und Aufnahmen von medizinischen Apparaturen, etwa einem Operationsroboter, gehören, ist vielmehr bionic angel programmatisch (2007, 150 x 150 cm, Lightjet-Print, auf Aludibond aufgezogen, fig. 9).12 Da hier ebenfalls ein Gesicht der Bildgegenstand ist, soll diese Arbeit im Folgenden vergleichend hinzugezogen werden. face Man darf also erwarten, dass auch mit nexus eine sorgsame Komposition anliegt: Auffällig sind zunächst die explizite Frontalität der Inszenierung wie auch der Umstand, dass die Bildformate nahezu vollständig ausgenutzt sind. Darin besteht ein Kontrast zum klassischen Inszenierungsmodus frontalansichtiger Köpfe, die in der Regel Halbfiguren, oder zumindest den gesamten Schulterbereich, erfassen. Sodann ist die frontale Position diejenige Ansicht, bei der einerseits am meisten von den Zügen erfasst werden kann. Dies geht andererseits jedoch auf Kosten der spezifischen Kontur eines Kopfes, die besonders im Profil zur Geltung kommt. Formen und Volumen sind verfremdet: Das Licht streicht nivellierend über die Oberflächen. Die Körper werfen keine Schatten (etwa auf eine imaginäre Rückwand). Dadurch bleibt ihre räumliche Situation ungeklärt. Der helle Grund und die Unbeweglichkeit des Bildganzen lassen an Innenräume denken. Alle Eigenschatten wirken künstlich und transparent. Sie zeichnen sich nicht als Reflex ab, sondern färben die Oberflächen ein, auf denen sie liegen. Davon zu unterscheiden ist eine andere Form schattenartigen Dunkels, die bei allen Gesichtern auf dem oberen Rand der Iris liegt, die aber auch weiter ausgreifen darf. Bei tayga_2.0 (fig. 3) etwa wird diese Unbestimmtheit zwischen der linken, die Wangenknochen betonenden Kopfpartie und dem langen Haar sichtbar. Dies sorgt für ein seltsames Fließen der Kontur, was mit der Schärfe, die in anderen Teilen des Bildes erreicht wird, unvereinbar ist. Ähnliche Stellen, die immer mit einer ungewöhnlichen Schwärzung einhergehen, finden sich auch bei anderen Exemplaren der Serie. Mit dieser Akzentuierung dunkler Bildbereiche wird graphische Abstraktion erreicht. Man darf sagen, dass die Gestalten gleichsam in den Bildgrund eingezeichnet wirken. Sie sind von Linien geprägt, weniger als Körper betont. Durch den Bildausschnitt wird sodann Nähe zwischen Gegenstand und Betrachter verursacht. Der Eindruck ist durch die Formatgröße noch gesteigert. Ein überdimensionierter Kopf war lange Zeit Malerei und Skulptur vorbehalten. Im Fotorealismus, bei Chuck Close etwa, wurde formal die großformatige Fotografie evoziert, zugleich aber konterkariert. Überdimensionierte Menschen begegnen in den blow-ups von Werbeindustrie und Walkampfkampagnen. Künstler, zumal Fotografen, setzen das Großformat heute vielfach in der auch von Najjar intendierten Absicht ein, mit Distanz- und Realitätserfahrung des Betrachters zu brechen. Auch aus einiger Entfernung gesehen erweckt die Serie den Eindruck, man schaue durch ein Vergrößerungsglas. Das kalkulierte Skalieren, in dessen Folge Unschärfe zu erwarten wäre, verunsichert dabei, denn im Ganzen ist das Gegenteil erzielt: Bildschärfe, welche die Oberfläche im Wortsinn öffnet. Brauen, Wimpern, Poren und Unebenheiten sind betont, und der Betrachter kann in diese gleichsam aus der Insektenperspektive eindringen. Es geht um Dehnung, nicht Verlebendigung. Und: wir sehen Gesichter. Sie existierten nicht a priori, sondern wurden gemacht, Gesicht-Schaffung ist Bildnis- Bearbeitung. Gesichter behaupten nicht Authentizität, sie können nicht abbilden.13 Sie sind uns latent fremd.
4 renaissances Vor dem Hintergrund der Komplexität post-moderner Körperbilder scheint das Gesicht als Verweismetapher jedoch anachronistisch. Warum favorisiert Najjar diesen Archetypen der Repräsentation? Der hohe Idealisierungsgrad des eingangs erwähnten bionic angel (fig. 9) erinnert an Piero del Pollaiuolos Porträt einer Florentinerin (fig. 12), wo das glatte, verklärte und übernatürlich leuchtende, tiefenlose Inkarnat des Gesichts und der Halspartie sowie die normative Reduktion der Gesichtszüge in ähnlicher Weise begegnen (um 1475). Die Zurschaustellung eines hellen Teints geht ikonographisch auf Dantes Beschreibung der "perlenhaften" Haut seiner bereits verklärten Geliebten Beatrice zurück, die ihm so übersinnlich schön erscheint, dass sogar Amor selbst sich wünscht, Gott möge in Beatrices Körper ein neues (göttliches) Geschöpf inkarnieren.14 Martin Schulz hat Najjars angel daher nicht von ungefähr als hyperreal wirkende Frau verstanden.15 Nun ist die Erscheinung aber eher androgyn. Nicht zuletzt diese Wirkung dürfte dafür verantwortlich sein, warum im Titel der Engel bemüht wird.16 Überdeckt wird er von einer transparenten, fadenartigen Struktur, die für eine gewisse Unregelmäßigkeit innerhalb der Komposition sorgt. Die Symmetrie ist gebrochen, Bewegungsmuster kommen hinzu. Dem Gebilde liegt ein mittels diffusion tensor imaging (DTI) erstellter Neuroscan zugrunde. Künstler haben die ästhetische Relevanz solcher Modelle seit längerem zu nutzen verstanden und haben sie dazu aus ihrer klinischen Zielsetzung gelöst. Auch Najjar hat Daten eines Hirnscans kontrolliert für die Visualisierung einer Struktur verwendet, die sich mit dem Gehirn und den dort situierten Erkenntnisprozessen assoziieren lässt.17 Dabei ist das Aussehen seines Modells eine Entscheidung des Künstlers. Es ist Ergebnis graphischer Aufbereitung und Filterung (Reduktionen der Strukturen, Hinzufügung von Licht und Schatten etc.).18 Die Integration dieses pseudo-wissenschaftlichen Schemas ist ebenfalls eine Referenz an einen Topos der Renaissance, nämlich Physiognomie und Geist in gegenseitiger Bindung und doch als getrennte Entitäten zu begreifen.19 In der Ineinanderblendung neuronaler und facialer Information wird suggeriert, dass es sich um die Hirnströme handele, die jener Körper produziert, den wir sehen. Anscheinend ist dies also kein Engel, sondern ein biomimetisch geschaffenes, menschenähnliches Wesen, das uns anblickt, wahrnimmt und nach biologischen Regeln denkt. Das beseelt ist. Bildnissen eine wesenhafte Aura zu verleihen, sie in diesem Sinne als beseelt zu sehen, ist seit der Antike (Pygmalion) ein wichtiges Motiv für Kunstproduktion und –theorie. Die Augen, den Organen erkennenden Sehens, dem "Fenster zur Seele"20, kommt in diesem Beseelungsprozess eine zentrale Rolle zu, deren Wirkmacht ein spätmittelalterliches Beispiel illustriert: Wenn der Priester im 13. Jahrhundert im Dom zu Siena die Hostie erhob, um die Transsubstantiationslehre am Altar zu zelebrieren, so tat er dies in unmittelbarer Verbindung mit einem Antependium, auf dem die Madonna buchstäblich die vor dem Altartisch kniende Gemeinde anstarrte (fig. 13). Nicht von ungefähr wird diese heute fragmentierte Tafel auch als "Madonna mit den großen Augen" bezeichnet.21 Das Bild der Mutter Gottes verkörperte, was auf der Altarmensa geschah: die Inkarnation Christi. Es authentifizierte damit das eigentlich Wundersame dieses Vorgangs. Das Ganze funktionierte deshalb, weil Bild und Betrachter einander spiegelten, so als erkennten sie in der Anwesenheit ihres jeweiligen Gegenübers die Ursache des eigenen Seins. Zurück zu nexus: diese Gesichter besitzen keine Augen, sondern Linsen.
5 Abgesehen von der darin angedeuteten technischer Überlegenheit gegenüber dem menschlichen Sehen,22 geht es hier darum, das menschliche Wahrnehmen als potentiell technischen Vorgang zu charakterisieren.23 Analog zur Wirkmacht der Sieneser Madonna ist das Sehen-können von Najjars Körpern die Voraussetzung dafür, dass wechselseitiges Wahrnehmen von Mensch und Bild (i.e. Maschine) verfügbar wird, dass künstliche Identität denkbar ist.24 Das Gesicht ist für Najjars Absichten demnach die leistungsfähige Metapher schlechthin, weil sich darin Idealisierungsmöglichkeiten mit der Semantik der Körperbeseelung verschränken: im Gesicht wird Körper zur Person. our trans-human past All dies hat viel mit den Bildnismodi der Renaissance zu tun. Auch aus der weiteren historiographische Dimensionierung der nexus-Serie ergibt sich, dass sie mehr Historisches denn Zukünftiges aufweist. Wir können dies in drei Abschnitten skizzieren: 1. Evoziert ist der alte Traum hybrider Gestalten: Er ist der altägyptischen Götterwelt,25 der griechischen Mythologie und dem christlichen Heiligenbildnis gleichermaßen bekannt. Es wundert daher kaum, wenn die Rede vom Transhumanen ihren Ursprung nicht in der Moderne, sondern im Spätmittelalter hat (Dante).26 Der auch in Najjars Werk präsente human enhancement-Gedanke27 greift mithin die Ideengeschichte von der Steigerung menschlicher Mechanik auf. Verdichtet gesehen, reicht diese vom Ikaros-Mythos über Leonardos Flugmaschinen zu Automatisierungs- und Beschleunigungsprozessen des 19. Jahrhunderts.28 Zahlreiche Utopien thematisieren seither Projektionen und Transformation des Menschen, mithin sein Bestreben, die Grenzen des Körpers hinauszuschieben, wenn nicht gar, ihnen zu entsteigen. Im 19. Jahrhundert erreicht dieses Streben neue Qualität, wobei nun das unmittelbar Bedrohliche transformierter Körper aufscheint. Auch dies ist ein wesentlicher Aspekt bei Najjar, wie wir sehen werden. Die materialistische Philosophie formuliert dazu Parallelen zwischen Mensch und Maschine,29 gefolgt von so verschiedenartigen Kreaturen wie E.T.A. Hoffmanns Automat Olimpia (1817), Mary Shellys Frankenstein (1818) oder Fritz Langs Roboter Maria ("Metropolis" 1926). Diesen mechanisch-technischen Entwürfen utopischer Körper treten rasch solche hinzu, bei denen die menschlichen Surrogate eine lediglich mediale Existenz führen.30 Jules Verne erdenkt 1892 im "Karpathenschloss" das mit kinematoraphischen Mitteln erzeugte Bildnis, dessen Handeln unmittelbar auf die Gegenwart rückwirkt. In etwa zeitgleich entstehen Francis Galtons anthropologische Composits31, bei denen aus verschiedenen Menschen ein einzelnes Gesicht generiert ist (fig. 11).32 Obwohl diese Bilder des 19. Jahrhunderts keine natürlichen Gestalten vertreten, sind sie ohne Bezug zum Äußeren des Menschen undenkbar. Das gilt uneingeschränkt für die nexus-Serie. 2. Im 20. Jahrhundert kommen neue Metaphern hinzu, was sich etwa an der 1968 von Robert Rauschenberg geschaffene Lithografie-Serie mit autobiographischem Inhalt exemplifizieren lässt:33 Rauschenberg behandelt mittels Röntgenaufnahme die Existenz des eigenen Körpers. Das Skelett changiert zwischen Identität und Anonymität – es könnte auch das Bild eines anderen sein. Erst im Kontext wird es bezeichnet und identifiziert. Seither gehört die Auslotungen des Verhältnisses von Körper, Medium und Identität zu den Kernfragen künstlerischen Suchens.34 Gary Schneider beispielsweise hat Rauschenbergs Ansatz aktualisiert und ein Genetic Self Portait geschaffen. Es umfasst Darstellungen seiner Zellen, getrocknetes Blut, Chromosomen,
6 Exzerpte seiner DNA, Röntgenaufnahmen seiner Zähne, Fingerabdrücke, Fotos seiner Netzhaut sowie elektronenmikroskopische Aufnahmen von Haaren und Sperma.35 Gleichermaßen lässt sich ein Werk des mexikanischen Künstlers Gabriel de la Mora anführen. 2007 hat er Aufnahmen vom Schädelskelett einiger Mitglieder seiner Familie mit den Signaturen und Fingerabdrücken der jeweiligen Personen kombiniert. Diese Kollagen sind dann aber nicht als Fotomontagen visualisiert, sondern aus den Haaren des jeweiligen Menschen "gezeichnet", sodass das jeweilige Subjekt gleichsam physisch über seine DNA – dem Werk eingeschrieben ist. Die als Memory titulierten Serien versteht Mora als genetisches Selbstbildnis.36 Und auch das Portrait des Genetikers Sir John Sulston, geschaffen von Mark Quinn, ist auf vergleichbare Weise erstellt (2001). In der Arbeit wird eine Porträtfotografie des Wissenschaftlers mit einem Extrakt seiner DNA kombiniert.37 Quinn hält das Werk für ein besonders realistisches Bildnis, weil es die tatsächliche Instruktion über die physische Beschaffenheit seines Subjekts enthielte.38 Einen in gleiche Richtung zielenden Ansatz verfolgt er mit seinem Selbstbildnis in Form einer Büste, die aus fünf Litern seines eigenen gefrorenen Blutes skulptiert ist.39 Die Reihe solcher Beispiele ließe sich fortführen. Thematisiert wird stets die Fremdheitserfahrung gegenüber Erscheinungen des Körpers, und damit gegenüber der eigenen Identität. Das ist auch der inhaltliche Rahmen der nexus-Serie. Indem jetzt aber nicht mehr das Äußere als Gestalt des Körpers dient, sondern Codes, die sich aus dem Innern mittels bildgebender Verfahren extrahieren lassen, werden Manipulierbarkeit, Dekodierung und Speicherung des Körpers suggeriert. Darin erhält das Porträt die Qualität, selbst zum Körper zu werden. 3. Zum gleichen Ergebnis gelangen Künstler auch mit entgegengesetztem Vorgehen: Die Chirurgie, im Besonderen die kosmetische, liefert das Rüstzeug, den Körper selbst als Medium zu begreifen. Für eine Anpassung des eigenen Aussehens an gleichsam geometrische Schönheitsideale wurde Cindy Jackson bekannt, die sich als living doll bezeichnet. Sie hat unter anderem ihr Äußeres operativ den Proportionslehren Leonardos und Dürers unterzogen.40 Konsequenter noch agitiert die Französin Orlan die Transformation des Ichs. Orlan hat ihr Gesicht operativ zur Kollage nach Bildern griechischer Göttinnen geformt.41 Ihr eigener Körper wird zum Medium, in dem sich eine Art self fashioning vollzieht. In solchen Werken scheint das Rückkopplungspotential mediatisierter Körperbilder auf die physische Welt auf. Beiden Vorgehensweisen, nennen wir sie der Einfachheit halber Extraktion hier, und Transformation dort, ist gemeinsam, dass sie über das einseitige Subjekt-Abbild-Verhältnis hinausdeuten und eine Art Bildkörper vorstellen. Auch darin liegt eine Parallele zur nexus- Serie. Es führt von hieraus ein Weg zu den Versuchen einer regelrechten Interaktion zwischen physischen und medialen Bildkörpern. Der australische Aktionskünstler Stelarc hat zunächst sein Aussehen mittels operativer Eingriffe manipuliert und sich selbst dann über Schnittstellenimplantate zum Inter-Face gemacht.42 Er träumt jetzt von einer Rückkopplung medialer Körpersurrogate mit der physischen Welt.43 In historiographischer Perspektive ruft nexus also im Gesicht Konzepte der Idealisierung und Beseelung auf, wie wir sie seit der Renaissance kennen. Sodann werden hybride Wesen, die synthetischen Ansichten vom Körperäußeren des 19. Jahrhunderts, die Fremdheitserfahrungen des 20. Jahrhunderts sowie die post-moderne Interpretation des Körpers als soft ware44 evoziert. Was aber sind die Körper, auf die Najjars nexus project verweist?
7 cyborg Ein genauerer Blick auf den erwähnten bionic angel (fig. 9) gibt Aufschluss: Der porzellanartige Eindruck der Körperoberfläche steht in auffälligem Kontrast zu den leuchtend blauen, lebendig wirkenden Augen, den prononcierten Wimpern und Lidern, den vollen roten Lippen und dem voluminös drapierten blonden Haar, das dem Kopf wie eine Kappe aufsitzt. Verstärkt wird der Eindruck künstlicher Materie durch die aufgesetzten Spitzlichter auf Haar, Augen und Lippen. Mit Bionik (auch Biomimetik) ist das Bestreben gemeint, natürliche (biologische) Prozesse oder Erscheinungen mittels Technik nachzuahmen. Najjar adressiert also in der künstlichen Wirkung wie auch im Titel der Arbeit die vollständige bionische Reproduktion des Menschen. Es sind also Zukunftsutopien künstlicher Körper gemeint, die in ihrer Effizienz und Quantität gesteigerte Abbilder menschlicher Physis sind.45 Soeben (2013) haben der Brite Sir John Gurdon und der Japaner Shinya Yamanaka in unabhängigen Laborexperimenten gezeigt, dass jede Zelle eines Organismus prinzipiell neu programmierbar ist, weil jede einzelne die dazu nötige genetische Information enthält.46 Es sind damit die Voraussetzungen für ein tissue-engeneering, für des Erschaffens von körpereigenem Ersatzgewebe und Organen aus der Retorte, konkretisiert. Im Gegensatz dazu geht es beim nexus project part I nicht um eine post-humane Seinsform, sondern um ein früheres, noch transhumanes Stadium.47 Najjar assoziiert die Serie mit einer cyborg society.48 Das Lexem "cyborg" ist dabei bekanntlich eine Derivation aus "cyb-ernetic org-anism" und meint ein Mischwesen. Der Begriff wurde erstmals 1960 von Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline verwandt49 zu einem erstaunlich frühen Zeitpunkt also, als die heutigen Level der Gen- und Nanotechnik sowie der Bionik noch utopisch erscheinen mussten. In der Zeitschrift Astronautics schlagen die Autoren mit einem als Cyborgs and Space betitelten Essay vor, dass der Mensch sich an ein Leben im Weltraum anpassen und daher zu einem "artifact organism system" werden müsse.50 Die extraterrestrischen Motivationen wie auch die evolutionsbiologischen Dimensionen jener frühen Gedanken sind inzwischen in den Hintergrund getreten. Im Ganzen ist heute unklar, welches Stadium, welche Wesenhaftigkeit mit "cyborg" eigentlich gemeint ist. Dominant ist jedenfalls die Vorstellung, dass das cyborg-Dasein ein durchaus irdisches wäre. Die zugehörige Ikonographie, wie sie eine google-Bildersuche ergibt ("cyborg"), zeigt zu einem guten Teil Wesen mit mehr oder minder abstrakten Gesichtern und Transformationen von einem oder beiden Augen, wobei die Spanne von minimalistischen Eingriffen bis zur Implantation oder Applikation gröbster Apparaturen reicht. Wenn Najjar ebenfalls die Augen zum Signet einer cyber-Identität erwählt, so entspricht dies dem aktuellen Bildgedächtnis. Die Reklamation der "zweiten Substanz"51 cyb-org funktioniert also bildimmanent über das Aussehen.52 Weiterer Erläuterungen bedarf es eigentlich nicht. Insofern kann die Zeitschrift Novo53 Najjars dana_2.0 (fig. 2) auf dem Cover platzieren und semantisch bruchlos mit "CYBORG" betiteln. Dennoch vermeidet Najjar in der unterkühlt fokussierten Dokumentation der Züge und der Ausblendung der restlichen Körperanatomie jeden weiteren Anklang an gängige cyborg- Ikonographie. Drei Kernstränge kennzeichnen diese, zwei davon sind genderspezifisch: zum einen sind cyborgs männlich-martialische Körper, versehen mit allerlei Schläuchen und Dioden, zumeist in klar aggressiver Attitüde, und zum anderen kommen weibliche Anatomien in ebenso klarer Anlehnung an die aus Fetischkultur und Aktfotografie bekannten Inszenierungsstrategien des
8 (unbekleideten) Körpers vor. Die dritte Kategorie besteht in der Konnotation der cyborg- Thematik mit der Erscheinung von Superhelden aus Comic und Film; sie kann mit den ersten beiden Typen in Kombination auftreten. Najjars cyborgs lassen sich keiner dieser Gruppen zuordnen, sie sind zu gewöhnlich: Ihre Körper bleiben halsabwärts verborgen, es sind keine technoiden Kleidungsstücke vorhanden. Die Gesichter wirken weder aggressiv noch erotisch, sie lassen nicht an Superheroen denken. Sie wirken eher unbeteiligt, wie die Mitglieder einer zufälligen Wohngemeinschaft. Der Zustand des cyborg erhält bei Najjar also etwas unerhört Beiläufiges und – man merke Normales. Ein zweiter Kontrast zu hergebrachten cyborg-Visionen, bei denen es meist darum geht, über die Verbildlichung von Aktion und Handlung den Betrachter anzusprechen, ist die völlige Reglosigkeit von Najjars Figuren. Nachdem wir gesehen haben, warum überhaupt Gesichter als Körpermetaphern verwendet sind und wir diese nunmehr als cyborgs identifizieren müssen, drängt sich die Frage auf, was Najjar mit diesen cyborg-faces eigentlich aussagen möchte: utopia Wegen der angesprochenen Spannung zwischen Fremdheit und Alltäglichkeit beginnt der Betrachter nämlich zu fragen. Wem gehören diese Gesichter? Was machen und fühlen diese Körper? Nach längerem Hinsehen stellt sich sogar die Frage danach, ob man das ein oder andere Gesicht vielleicht schon einmal gesehen hat? Und Najjar liefert Antworten, indem die visuelle Ebene vermittels Sprache (Text) begleitet ist. Durch das bereits zitierte Set an Merkmalen, die dem Bild selbst nicht ablesbar sind, macht Najjar die Gesichter zu Charakteren, fasst Identität in Worte. Es ist erst diese Textebene, die das Gezeigte zur Utopie macht: Die Texte sind dabei wie authenticae54 als eine Art Beipackzettel mitgeliefert. Sie sind ein materieller Bestandteil des Werks und machen die Trennung von Decodierungsleistungen, dem Lesen des Bildes als Gesicht und seiner Wahrnehmung als Person, evident.55 Die Merkmalslistung ist, wie die Bildnisse selbst, in ihrer Bedeutung unscharf. Sie ist bei näherem Hinsehen weniger Biografie als vielmehr Rezeptur, einer Listung von Zutaten vergleichbar. Für deren Erstellung hat Najjar die Gesichter angesehen, sie also beschrieben, so als stellte er sich bei dieser Begegnung vor, wer (oder was) sein Gegenüber eigentlich sei. Dieser Prozess wird dem Betrachter auch mitgeteilt: Bei dana_2.0 (fig. 2), die einen kleinen Leberfleck im Gesicht trägt, der eigentlich programmatisch wäre für die Glaubwürdigkeit dieses Gesichts als menschlich (und den der Künstler für das Bild leicht hätte entfernen können), heißt es unter "special features", der Charakter habe einen "genetically defined liver spot". Dieser Hinweis dürfte direkt durch das Bild selbst angeregt worden sein. Das Äußere ist weiter mit Persönlichkeitsmerkmalen belegt. Dieter, der Mann mit dem Ohrring (fig. 1), sei beispielsweise "introvertiert" und "wissbegierig", heißt es. Nun ist für diese Charakterzüge schlicht eine Software verantwortlich ("consciousness file back-up"), denn für alle Nexus-Mitglieder wird, ebenfalls via Textinformation, ein Neuroimplantat mit einer bestimmten Chip-Generation bestimmt. Das Implantationsjahr, welches sich dabei aus Geburtsjahr plus Lebensalter errechnet, stellt die Initiierung als nexus dar: aus Dieter_1.0 wird dieter_2.0 (geboren im Juli 1988, 36 Jahre alt, neuro-implant-year 2023). dieter 2.0 zeigt demnach eine Gestalt, deren transformierte Existenz eigentlich erst ab 2023 (dem Implantatjahr) visuell erfassbar wäre. Einesteils soll sprachlich die Fiktion einer cyborg-society mit bestimmten Charakteren konkretisiert, ja personalisiert werden, andererseits wird die Listung plötzlich zum
9 Kommentar an den Betrachter: so heißt es etwa bei tamara_2.0 (fig. 4) als Berufsbezeichnung "remedial counsellor for people with niv syndrome", gefolgt von einem erklärenden Klammerzusatz, der sich an den unbedarften Leser (oder Anwender) richtet und erklärt, es handele sich bei einem "niv syndrome" um ein Leiden, das durch eine Virusinfektion von Neuro-Implantaten ausgelöst würde. Im Grunde zeigt sich schon an diesen Beispielen, dass Najjar nicht Informationen als authentifizierende Merkmale seiner Charaktere bereithält, sondern als ironische Kommentierung des Kunstwerks. Überhaupt ist Ironie das wichtigste Kriterium zur Beschreibung des sprachlichen Teils der Arbeit. So erfährt man, dass dieter_2.0, obschon Teil einer hochtechnisierten Welt, siebzehn verschiedene Kung-Fu-Stile beherrsche, oder dass nadine_2.0 (fig. 6) unter "chronic need for sleep" leide: das zugehörige Gesicht weist tatsächlich sehr betonte Augenlider auf, und erweckt den Eindruck, als möchten diese sich im nächsten Augenblick vor Müdigkeit schließen. Ironisch wird am Ende auch die berufliche Tätigkeit aller Charaktere. Sie sind in irgendeiner Form mit Existenz und Wartung der cyborg-society selbst beschäftigt, sei es als "genetic engineer" (dana_2.0), als "virtual identity designer" (nadine_2.0) oder als "cutter for neuro ad clips" (dieter_2.0). Es entsteht ein closed circuit. more human than human Die ironische Spielart des Texts wird aber konterkariert mit Hinweisen, die dem Werk eine andere Facette geben und die Utopie zur Dystopie umschlagen lassen: Ridley Scotts Science-Fiction Kultfilm Blade Runner (1982)56 entwirft eine Welt, in der täuschend echte Replikanten und normal geborene Menschen koexistieren, wobei die künstlichen Wesensformen nur durch ausgefeilte Psychotests als solche identifiziert werden können. Es folgten inzwischen zahlreiche ähnliche Szenarien, die sich mit den Konsequenzen potenziell täuschender Ähnlichkeit – und damit der Möglichkeit zur Verwechslung zwischen Mensch und Maschine beschäftigen.57 Najjar bezeichnet Blade Runner als eine wesentliche Inspirationsquelle; der director's cut ist 1999 als DVD in Deutschland erschienen. Im Film agieren als künstliche Charaktere die Angehörigen der "Nexus-6-Reihe". Daran angelehnt, hat Najjar seine Werkserie mit "Nexus I" betitelt. Auf die filmische Vorgabe verschiedener Serienspezifikationen dürfte auch das Serielle seiner Gesichter zurückgehen. Schon die Australierin Irene Andessner hat 1998 eine Bildserie mit dem Titel "Cyberface/Nexus" (gefolgt von einer Seriennummer) erstellt, für die sie explizit Scotts Film zitierte und sich mit einem Selbstporträt in die Rolle der Replikantin Rachel begab. Die so entstandenen Werke sind ebenfalls mit einer Merkmalsliste ausgestattet, die Andessner allerdings als dem Werk visuell fest zugehörig, nach Art einer Inschrift in das Bildnis hineinprojiziert (fig. 14).58 Andessners Arbeiten waren 1998 auf der Berliner Messe Artforum in der Lutz Teutloff-Galerie zu sehen. Im Gegensatz zur Umsetzung Andessners sind Najjars Gesichter nicht als Kopien des Menschen intendiert, sondern als modifizierte Menschen. Er pointiert damit die beklemmende Möglichkeit, dass Menschen, ihrer Gewöhnlichkeit und Unzulänglichkeit wegen, eines Tages wie Fehlproduktionen eingeschätzt werden könnten, die die Aufforderung zu Korrektur, in extremis gar zur Beseitigung, in sich tragen.59 Sind in Blade Runner noch die Replikanten auf der Flucht, könnten es eines Tages die Menschen selbst sein, die ihren updates weichen müssen.
10 Schon heute sind wir Vorgaben ausgesetzt, die von maschinellen Wahrnehmungsparametern gemacht werden. Der Umstand begegnet beispielsweise mit den Vorschriften zum Aussehen des biometrischen Passbildes, für das die Aufnahme des Gesichts normiert ist.60 In der von der Bundesdruckerei herausgegebenen, offiziellen Foto-Mustertafel61 ist von maximal und minimal tolerierter "Gesichtshöhe" die Rede, von der Behandlung der Frisur, von der Unzulässigkeit der Kopfneigung oder Drehung des Kopfes, ja davon, dass das Subjekt mit "neutralem Gesichtsausdruck und geschlossenem Mund" in die Kamera blicken müsse, wobei die Augen deutlich sichtbar und nicht durch Haare oder Brillengestelle verdeckt sein dürfen. Es müssen Schatten auf dem Gesicht vermieden werden. Najjar nimmt ähnliche Standardisierungen vor und ist auch in der Wahl des Ausschnitts sowie in der Hintergrundgestaltung den Vorgaben für die biometrische Gesichtsablichtung verpflichtet. Zwar wird diese Form des Lichtbildes erst seit November 2005 im Rahmen der Einführung des ePasses verlangt und in dessen Chip integriert, doch die zur Merkmalsextraktion und zum Merkmalsvergleich angelegte Kodifizierung wird in polizeilichen Ermittlungswerkzeugen bereits seit langem eingesetzt.62 1999 testete die Dresdner Bank an Frankfurter Geldautomaten die Nutzererkennung via Netzhautscan.63 Die nexus-Serie erhält damit eine weitere inhaltliche Dimension: es sind nicht nur post- humane Körpermetaphern als künftig mögliche Perspektive entworfen, sondern dies ist bildkompositorisch derart vollzogen, als wäre die fotografische Arbeit selbst ein Datensatz im Rahmen einer biometrischen Datenbank. nexus betrifft insofern unterschwellig auch die zukünftigen Auswertungspotenziale als Folge von Merkmalsklassifikationen. Sicherheit und Statistik, Kontrolle und Paranoia werden auf den Plan gerufen. Dass Najjar Entwicklungen im Zuge der Einführung des biometrischen Lichtbildes mehr als aufmerksam verfolgt hat, und dass ihn visuelle Standardisierungsprozesse interessieren, lässt sich durch eine weitere Arbeit zeigen, die er ebenfalls als Teil des nexus projects angelegt hat: In vergleichbarer Strategie wie der polnische Künstler Rafael Bujnowski, der für sein Visa- project den eigenen Einreiseantrag in die USA mit dem Foto eines gemalten Selbstporträts versah,64 hat Najjar sich selbst für ein biometrisches Lichtbild als nexus-I-Replikant inszeniert. Das daraus resultierende Dokument bezeugt nicht mehr allein die eigene Identität, sondern setzt diese seiner fiktiven cyborg-society ein (fig. 15). Schließlich hat Najjar jedem nexus-Charakter auch eine "identity document number" angehängt. Sie beginnt mit den Initialen des Namens, zu dem das Gesicht gehört, und endet in "mn", dem für Michael Najjar stehenden Kürzel, das den Künstler als Schöpfer der synthetischen Persona ausweist.65 Damit schreibt er sich erneut der eigenen Fiktion mit ein. Zugleich legt Najjar hierin auf subtile Weise die fiktive Natur seiner Geschöpfe offen. Mit den Merkmalslisten hat Najjar seinen Charakteren demnach einen problematischen Beigeschmack verliehen. Auch deshalb, weil er schließlich die Anzahl möglicher Identitäten festlegt, die der jeweilige Charakter annehmen könne ("multiple virtual identity capacity rating"). Die nexus-Folge lässt sich also kaum zu der seit der Renaissance gebräuchlichen Kategorie der Transformationsporträts rechnen,66 bei der es zur piktoralen Verschmelzung einer Person mit einer anderen kommt. Vielmehr postuliert sie die Ablösung des Identitätsbegriffs vom Äußeren. Najjar steigert darin Thomas Ruffs Eingriff, der einer Reihe seiner älteren fotografischen Porträts im Nachhinein "Blaue Augen" verlieh (1992). Durch diese im Grunde minimale Geste, die nicht frei von politisch-ideologischen Implikationen ist, sind Identität und Erscheinung des Menschen in ein unlösbares Dilemma geraten: das Aussehen entspricht nicht länger der Person, diese ist aber keine andere. Die in das Gesicht geschriebene Identität wird zugunsten einer fluiden, offenen Identitätsform abgelöst. Identität wird zu einer rein bewusstseinsabhängigen Größe. Sie ist beständig wandelbar und speist sich aus Wahrnehmung und Erinnerung. Auch darin ist das Blade Runner-Szenario
11 Vorbild, denn die Replikanten verfügen über technisch eingegebene, im Wortsinn programmierte, Identität. Sie erinnern sich, weil auch ihre Erinnerungsbilder kybernetisch erzeugt sind. Doch während die Replikanten vollständig künstliche Organismen sind, stellt Najjar Menschen mit Extensionen und Implantaten an den Anfang dieser Entwicklung. Während noch nachvollziehbar scheint, dass Dieter_1.0 vielleicht mit der Steigerung bestimmter Körperfunktionen einverstanden wäre, kann man sich nur schwer vorstellen, dass steuerbare Identität auf freiwilliger Basis akzeptiert würde. Denkt man diese Gedanken weiter, so stellt sich die Frage, wer in einer Welt mit derartigem Potenzial die Opfer solcher Manipulation auswählt. Wer darüber entscheidet, wann ein cyborg ein Bewusstseins-update erhält, oder wann seine Identität modifiziert wird. Das ist die explizit dunkle Seite dieser Gesellschaftsutopie, die Gewalt- und Mindcontrol- Szenarien anspricht. Trotz dieser Referenzen auf Blade Runner hat Najjar ein durchaus ambivalentes, wenn nicht gar positives Verhältnis zum Slogan "more human than human" der Tyrell Corporation, die in Blade Runner die Replikanten produziert. Nähe und positive Bewertung transhumanistischer Philosophie bringt der Künstler jedenfalls in zahlreichen eigenen Statements zum Ausdruck,67 sowie darin, dass er für die Publikation zur bionic angel-Werkfolge den anerkannten Transhumanisten Ray Kurzweil um einen Essay bat.68 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Najjars Bildaussage im Entwurf einer fiktiven cyborg society besteht, deren Verhältnis zur Gegenwart mittels Textebene thematisiert wird. virtual becoming real Hinter Najjars Bildern steht aber nicht nur Fiktion, sondern es finden sich dort reale Menschen. Teils handelt es sich um Freunde und Bekannte, Dieter beispielsweise ist ein ehemaliger Kommilitone des Künstlers (fig. 16). Teils hat Najjar auch Menschen angesprochen, die ihm aufgefallen sind, und um die Möglichkeit eines Porträts gebeten; das gilt beispielsweise für Dana. Andere Modelle wurden im Rahmen eines regelrechten Castings, durch Sichtung von Setcards (!), ausgesucht. Für das Shooting wurden sie von professionellen Maskenbildnern geschminkt und frisiert. Najjar hat die so präparierten Menschen anschließend gebeten, sich vorzustellen, ein synthetisches Wesen zu sein, sich in diese Rolle hineinzuversetzen und einen möglichst emotionslosen Gesichtsausdruck zu demonstrieren. Die jeweils ausgewählte Aufnahme wurde mit gängiger Bildbearbeitungssoftware nachbearbeitet. Für bionic angel hat Najjar das Model nicht nur maskenbildnerisch verändert (fig. 17), sondern es zusätzlich mit einer Perücke versehen. Schon für die fotografische Aufnahme sind Faltenzüge, Schatten und Farbvarianzen im Inkarnat beseitigt worden, sodass die Haut im Bildnis unplastisch, gehärtet und tiefenlos erscheint. Dennoch bleiben auch hier individuelle Züge eindeutig. Jedes Gesicht lässt sich auf ein spezifisches Individuum zurückführen, dem es ähnlich ist. Jedes Gesicht verrät Charakter und Persönlichkeit, und jedes Individuum posiert für den Künstler: die Bilder sind porträtähnlich. Für das gegenseitige Spiegeln von Realität und Fiktion – die Wirklichkeit als Puppe, die Puppe als Wirklichkeit – spielen Hiroshi Sugimotos Arbeiten eine Vorreiterrolle, mit der auch Najjars Arbeitsprozess zu tun hat. Sugimoto hat bereits 1976 im American Museum of Natural History (New York) die Diorama-Displays von situativ arrangierten Präparaten abfotografiert. Die Fotos sehen wie Tieraufnahmen aus, lassen auf den zweiten Blick aber den künstlichen Status ihrer
12 Gegenstände erahnen und stellen damit das Medium als Bild der Wirklichkeit in Frage. Pointierter noch prägt dieser Ansatz die Porträt-Arbeiten des Japaners. 1999 fotografierte er in diversen Wachsfigurenkabinetten die dort ausgestellten Figuren, die ihrerseits oftmals auf Porträts der jeweiligen historischen Personen basieren. Die Ergebnisse sehen aus, als wären reale Menschen porträtiert worden. Dabei weist Sugimoto in der farbigen Anmutung wie auch im Format auf die Anfänge der Fotografie zurück und bekräftigt die Illusion einer historischen Aufnahme. Der Realitätsbruch besteht darin, dass es sich um Menschen handelt, die weit vor der Erfindung fotografischer Verfahren lebten. Doch während Sugimoto das Bild als Realität verkleidet, hat Najjar die physische Welt für seine Fiktion gecasted. Es blicken uns Gesichter an, die utopisch erscheinen, tatsächlich aber die natürliche Welt evozieren, und die darin Ähnlichkeit und Individualität aufrufen. Sie fügen sich damit zugleich nahtlos in virtuelle Bilderwelten ein, und zwar weil sie das menschliche Gesicht verfremdet zeigen; sie erscheinen paradoxerweise wegen ihrer Verfremdungsleistung glaubwürdig. dieter_2.0 ist also keine Fiktion, die vorgibt ein Porträt zu sein, sondern ein Porträt, das auch ein fiktives Dasein Dieters als cyborg enthält. Es fragt also nicht danach, wie sich die Porträtaufgabe unter dem Einfluss digitaler Bildmedien verändert, sondern welche Qualitäten und Eigenschaften Bilder haben müssen, damit man in ihnen Personen erkennt. Auch diese Frage wurde seit der Renaissance als Problem aufgeworfen. Eine von Donatello aus vergoldeter Bronze geschaffene Reliquiar-Büste soll den Heiligen Luxorius darstellen (um 1425, fig. 18).69 Ohne dass dem Künstler die Physiognomie dieses frühchristlichen Heiligen bekannt war, hat er dem Bildnis dennoch ein Gesicht gegeben. Mit hohen Wangenknochen, Stirnfalten, Bartansatz und buschigen Brauen zeigt es individuelle Züge, ist aber entweder auf einen Zeitgenossen des Künstlers zurückzuführen, ein Selbstbildnis in der Rolle des Heiligen, oder zur Gänze erfunden. Gerade die Individualität dieser Züge sorgt für die Glaubwürdigkeit der Repräsentation, der zufolge die Büste zum Stellvertreter des abwesenden Körpers werden kann.70 Kaum zufällig verbindet sich diese Plastik der Frührenaissance auch über die Behandlung der Augen mit den nexus-Charakteren. Luxorius' heute dunkle, aus Silber getriebene Augäpfel, besaßen einstmals ein ähnliches Leuchten, wie es bei nexus die Züge der Gesichter künstlich verfremdet. Nur wegen der Augen gewinnen die nexus-Gestalten ihre stark auratische Qualität. Einige von Najjars Porträtierten haben die Augen dazu weit geöffnet, so dass man das ganze Rund der Iris erkennt, bei anderen schneiden die Lider darüber. Kompositorisch spannend ist, dass Najjar den Hintergrund im gleichen hellen Farbton hält, wie die Augäpfel, auf denen die gräulich schimmernden Iris/Linsen aufsitzen. Man hat damit das Gefühl, als könne man in den Augen den Bildgrund erblicken. Dies ist eigentlich für die befremdliche Wirkung der Augenpartien verantwortlich, und zwar stärker noch als die Helligkeit der Iris. Dass der Blick des Betrachters im Auge seines Gegenübers nichts erblickt, was ihn an Blickkontakte aus der physischen Welt erinnert, dass er darin keinen Halt findet, sondern dass er im Gegenteil auf den Bildgrund abrutscht, bedeutet im Wortsinn, dass er gezwungen wird, durch das Gesicht hindurchzusehen. Eine perfekte künstliche Identität würde hingegen solche Brüche vermeiden und den Blick des Betrachters erwidern. dieter_2.0 würde wie Dieter 1.0 (fig. 16) aussehen. crossings Betrachtet man Najjars nexus-Serie als Kunstwerke, wie es hier auf der formalen, inhaltlichen und medientheoretischen Ebene versucht wurde, können wir zusammenfassen:
13 1. Form: Die Bildgeschichte des Körpers ist im 20. und 21. Jahrhundert nicht an der Körperoberfläche orientiert. Künstler setzen vielfach den Blick in das Körperinnere für die Evokation von Porträtähnlichkeit um, oder nutzen makro- wie mikrobiologische Körperextrakte, wie Blut, Sperma oder DNA als Stellvertreter und Medium. Identität wird darin zwar vom Äußeren gelöst, nicht aber von der menschlichen Materie an sich. Die Gesichtsmetapher verliert als Bild der Persönlichkeit an Bedeutung. Es stellte sich daher die Frage, warum Michael Najjar sich nach wie vor mit dem Gesicht befasst, wo es doch um transhumane Körper geht? Die Antwort konnte in Porträtstrategien gefunden werden, die älteren Ursprungs sind, aber in der Renaissance mit besonderer Insistenz auf den Kopf, in Form von Büste und gemaltem Bildnis, übertragen wurden. Najjar hat beide Traditionen, jene der "neuen Körpermetaphern" und jene der "alten Gesichtsmetaphern" in seinen cyborgs vereint, die sowohl darauf zielen, neue Körperbilder zu schaffen (etwa durch die Inkludierung von Modellen neuronaler Gehirnströme, oder durch die Transformation des Körpers selbst), als auch mit Interpretationsmustern spielen, die unseren gängigen Konzepten von imago71, Person (Maske) und Persönlichkeit entsprechen. Das ist als besonderer Charakter seiner Gesichter und als Grund der Insistenz auf dem Bildgegenstand Gesicht festzuhalten. 2. Inhalt: In dieses Gefüge aus zwei diametralen Traditionssträngen der Auflösung des Körpers hier und seiner materiellen Fixierung im Gesicht dort setzt Najjar dann die inhaltliche Ebene ein, die ihrerseits eine Voraussetzung in der skizzierten Ambivalenz der Gesichtsdarstellung hat: Er kombiniert filmische Utopie mit realer biologischer Denkbarkeit derselben. Die nexus- Charaktere sind nicht als Replikanten (oder gar Kopien) gedacht, sondern als reale Menschen, um wenige Jahre in die Zukunft projiziert, in eine Zukunft, in der transhumane Möglichkeiten von so banaler Alltäglichkeit sind wie der Ohrring von dieter_2.0. Unter dieser Oberfläche liegt eine weitere bildinhaltliche Ebene, auf der die Serie einen sozio- kulturellen wie gesellschaftspolitischen Diskurs anschlägt, den Najjar aber nur durch die Textebene erreicht, die er den Charakteren beigibt: Wir sehen im Seriellen nicht das Ergebnis eines Experiments, wir sehen keine Sonderfälle, sondern units einer cyborg-society. Ikonologisch ist damit die ethisch-moralische Dimension des Eingriffs in den menschlichen Körper präsent, sie wird sprachlich teils ins Ironische gebrochen, teils zu dystopischem Ernst gesteigert. Und noch eine letzte Deutungsebene lässt sich beschreiten: Die nexus-Serien thematisieren die (alte) Suche nach mechanischer Objektivität, nach Möglichkeiten, Wissenschaft und Kunst zu verschränken.72 Ihre Körper stellen aber dennoch letzten Endes Vergänglichkeit und Fragilität als das eigentlich Kostbare des Menschseins aus. Der Philosoph Hermann Lübbe hat unlängst das Streben des Menschen, durch Archivierung Erinnerung seiner selbst zu ermöglichen, auf Kontingenzerfahrungen zurückgeführt, die der Mensch beständig mache (Lübbe 2013). Greift man diesen Gedanken auf, so kommt gerade im Anwachsen von Bildern (Dokumenten des Erinnerns par excellence), in denen sich transformative Körperbilder manifestieren, eine Steigerung dieser Erfahrungen zum Ausdruck. 3. Medium: Die Verschränkung diverser Bildtraditionen und ikonographischer Konzepte, wie sie bei Najjar erfolgt, kann aber die wesentlichen formalen Eigenheiten, die der Künstler verwendet – Format, Ausleuchtung und Frontalität auf der einen Seite und medialer Status des Kunstwerks (Hybrid-Fotografie) auf der anderen Seite , noch nicht ausreichend erklären. Sucht man nach Gründen für die Inszenierung der Gesichter, so wird ein drittes Feld von Verschränkungen eröffnet:
14 Bei dieter_2.0 ist die eingangs erwähnte Spannung sowohl im unklaren Maß an faktischer Porträthaftigkeit aufgebaut, als auch durch die inhaltliche Suggestion, das Bild habe die Sphäre des Erinnerungsbildes verlassen und würde der Zukunft angehören. Damit aber nicht genug. Das Medium thematisiert sich selbst und generiert eine weitere Fiktion: Der Betrachter wird gezwungen, die Divergenz zwischen Bild und Erfahrungswelt als Ergebnis manipulativer Bildbearbeitung zu interpretieren. Das ist eine banale Feststellung, die in ihrer Relevanz gleichwohl nicht unterschätzt werden sollte. Denn der Betrachter kategorisiert unter diesem Vorzeichen auch den Bildinhalt: er sieht tatsächlich ein virtuelles Gesicht, und verkennt, dass auch dieses historisch sein kann. Najjar macht sich, wie andere Künstler auch, diese aus dem Medium erwachsende Determinierung der Betrachtungsweise zunutze, indem er die digitale und die reale Körperwelt verschränkt. Das Vorkommen realer Körper, man könnte auch sagen, das Vorkommen des Porträts, bleibt unauffällig, weil es hinter der inhaltlichen Fassade, die sagt: "dies ist ein virtuelles Gesicht", zurücktritt. Dahinter wird die im Atelier situierte Begegnung des Künstlers mit seinen Modellen verborgen, wobei sie es eigentlich ist, mit der sich die Geschichte des Porträts fortschreibt. Die nexus-Serie entzieht sich mit diesen Verschränkungen der Beschreibbarkeit unter den herkömmlichen Kategorien des Porträts. Es handelt sich weder um Krypto-Porträts, denn die Dargestellten sind keine frei erfundenen cyborg-Fictions à la virtual reality-Personal aus Film und digitaler Animation. Noch handelt es sich um Transformations-Porträts, denn es geht nicht darum, dass eine Person zu einer anderen wird. Vielmehr erfolgt eine Charakterisierung des Äußeren als sich Wandelndes, in Bewegung Befindliches. Porträt_2.0 meint das Bildnis einer offenen Person, das Substanz als zweite Größe neben dem Äußeren etabliert.73
16 Fig. 17: Michael Najjar, Maske währen des Produktionsprozesses zu bionic angel, 2007 (vgl. Fig. 9), Digitalfotografie, C-Print, Maße, Besitz des Künstlers. © Michael Najjar. Fig. 18: Donato di Nicclò di Betto Bardi (gen. Donatello), Reliquiary bust of Saint Rossore, gilded bronze, 50 cm, Pisa, Museo Nazionale di San Matteo, Foto: Museo Nazionale di San Matteo, Pisa. Literatur Amrhein 2013 Christine Amrhein, Das vermessene Selbst, in: Psychologie Heute, 40, 5, 2013, S. 46-49. Baader 1999 Hannah Baader, Marcus Tullius Cicero: Der Körper als ein Gefäß der Seele. Transformationen einer Metapher (45 v. Chr.), in: Preimesberger / Baader / Suthor 1999, pp. 91-95. Barbi 1932 Michele Barbi (Hg.), Edizione nazionale delle opere di Dante, vol. I, La vita nuova, Florence 1932. Belting 2013 Hans Belting, Faces, Eine Geschichte des Gesichts, München 2013. Butta 2002 Carmen Butta, Die Handgemachte Frau, Die Zeit (Dossier), 2, 2002. Cary 1844 Henry F. Cary (transl.), The Divine Comedy of Dante Alighieri, Hell, Purgatory, Paradise (=rev. edition, Harvard Classics, 20), Kessinger reprint, Whitefish (Montana) 2004. Campanelli 2010 Vito Campanelli, The Centrality of the Eye, in: Web Aesthetics. How Digital Media affect Culture and Society, Rotterdam 2010. Caulfield/Gillespie/Caulfield 2011 Sean Caulfield, Curtis Gillespie, Timothy Caulfield (eds.), Preception of Promise, Biotechnology, Society and Art, Edmonton 2011. Clynes / Kline 1960 Manfred E Clynes, Nathan S. Kline, Der Cyborg und der Weltraum, in: Karin Bruns (Hg.), Reader Neue Medien, Texte zur Digitalen Kultur und Kommunikation, Bielefeld 2007, S. 467-475 (engl. Originaltext in: Astronautics, September 1960, pp. 26-27 and 74-76). Collareta 2011 Marco Collareta, Donatello, Reliquiary of San Rossore, in: Kat. Berlin / New York 2011, pp. 86-88. Drück 2002
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