I9. dokumentar filmwoche hamburg-24. april 2022 dokfilmwoche.com

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I9. dokumentar filmwoche hamburg-24. april 2022 dokfilmwoche.com
I9.
                       dokumentar
                       filmwoche
                       hamburg
                       20.–24. april 2022
                       dokfilmwoche.com

METROPOLIS LICHTMESS B-MOVIE FUX EG
DAS FESTIVAL                                                                                                        ENGLISH SPEAKING?

Die dokumentarfilmwoche hamburg ist das einzige Festival der              The dokumentarfilmwoche hamburg sees itself as a forum for for-
Region, das sich ganz auf den Dokumentarfilm spezialisiert hat, und       mally challenging, thought-provoking and demanding documenta-
ist Treffpunkt für Dokumentarfilminteressierte ebenso wie eine Platt­     ry films. For films that, through their critical approach, do not only
form für die ansässige Filmkultur. Das Festival versteht sich als Fo­     strive to clarify subject matters, but also question inscribed codes
rum für den formal und inhaltlich anspruchsvollen Dokumentarfilm;         and explore the aesthetic and political possibilities of the documen-
für Filme, die mit ihrem kritischen Ansatz nicht lediglich nach inhalt­   tary form.
licher Aufklärung streben, sondern künstlerische Formen finden, die
eingeschriebene Codes hinterfragen und den Möglichkeitsraum des           The festival shows a broad spectrum of productions, ranging from
Dokumentarischen ästhetisch und politisch ausloten.                       experimental documentaries made without broadcasters’ partici-
Gezeigt wird eine große Bandbreite an Produktionen, die von expe­         pation and funding to outstanding international co-productions. The
rimentellen, ohne Senderbeteiligung und Fördermittel erstellten           program provides an insight into the diverse works of the regional,
Dokumentarfilmen bis hin zu herausragenden internationalen Ko­            national and international scene and their expression in the festival
produktionen reicht. Das Programm gewährt Einblicke in das vielfäl­       landscape.
tige Schaffen der regionalen, deutschen und internationalen Szene. Da
uns neben dem Zeigen von Dokumentarfilmen das Sprechen darüber            For an English language festival program and guide please visit
wichtig ist, laden wir zu jeder Veranstaltung die Filmemacher*innen       www.dokfilmwoche.com.
ein und versuchen ihre Teilnahme zu ermöglichen.
                                                                          Please note: On the respective pages you can find the films language
Die erste dokumentarfilmwoche hamburg fand 2004 statt. Das Fes­           and subtitle version. I. e.: German (dt.) original with English subtitles:
tival wird seither kollektiv unter dem Dach des Vereins dokumentar­       dt. OmeU. Also we indicate in which language the Q&A is held.
filmwoche hamburg e. V. organisiert.

Weitere Informationen unter www.dokfilmwoche.com

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AHOI
Liebes Publikum, liebe Hamburger*innen, hallo Welt!
                                                                                                                                                  INHALT

So weit, so gut, hätte man denken wollen, ein Festival unter halbwegs
gewohnten Bedingungen, im April, zwar noch ohne unser geliebtes           Das Festival .......................................................................................................... 2
                                                                          English Guide ........................................................................................................ 3
Festivalzentrum in der fux eG, aber wir werden in unseren drei Part­      Ahoi ...................................................................................................................... 4
nerkinos Metropolis, B­Movie und Lichtmeß zusammenkommen                  Inhalt .................................................................................................................... 5
können, und das eine oder andere Bier vor der Kinotür friert uns viel­    Einführung Filmprogramm ................................................................................... 6
                                                                          Eröffnungsfilm ›Die Karte der Schönheit‹ ............................................................. 7
leicht nicht mehr an der Hand fest – aber nein!                           Filmprogramm...................................................................................................... 8
In der Ukraine herrscht Krieg. Die dokumentarfilmwoche hamburg            Programmübersicht............................................................................................ 28
ist Teil einer internationalen Gemeinschaft von Kulturschaffenden,        Special Klaus Wildenhahn: ›Institutssommer‹ ................................................... 33
                                                                          Abschlussfilm ›Looking for Horses‹ .................................................................... 39
und wir sind überzeugt, dass Solidarität und Auseinandersetzung in        Retrospektive: Trinh T. Minh-ha ......................................................................... 40
einer offenen Gesellschaft mehr als nur ein symbolisches Zeichen          freund*innen der dokumentarfilmwoche hamburg............................................. 51
                                      `
gegen Panzer, Bomben und ein militärisches     Politikverständnis sind.   Kinos / Tickets / Hygienemaßnahmen ................................................................. 52
                                                                          dokfilmclub ......................................................................................................... 53
Auch wenn die Selbstverteidigung der Menschen in der Ukraine ge­          Filmindex ............................................................................................................ 54
rade alternativlos ist, die derzeitigen Debatten über erneute Aufrüs­     Impressum / Team ............................................................................................. 55
tung sind Teil des Problems und niemals der Lösung! Angesichts der        Die dokumentarfilmwoche hamburg wird gefördert von:
konkreten Bedrohung von Menschenleben durch diesen Krieg, mag
das unzureichend erscheinen. Dennoch: Wir möchten gemeinsam
mit unseren Gästen und dem Publikum einen Beitrag dazu leisten,
uns weiterhin für eine Welt ohne Diktaturen, Krieg, Ausbeutung und
Vertreibung einzusetzen, und wir möchten Sie und euch dazu einla­
                                                                          Die dokumentarischen Produktionen aus und über die Hansestadt zeigen wir
den, sich anzuschließen.                                                  mit Unterstützung der Hamburgischen Kulturstiftung, sie sind gekennzeichnet
Wir danken der Kulturbehörde der Stadt Hamburg und der Hambur­            mit dokland hamburg:
gischen Kulturstiftung.                                                                                                                                       d o k la n d
                                                                                                                                                              hamburg
Das Team der dokumentarfilmwoche hamburg
4                                                                                                                                                                                                     5
FILMPROGRAMM                                                                                                     ERÖFFNUNG

               „Wir sehen uns im Kino!“                                  Die Karte der Schönheit
               Wir sehen uns im Kino – das ist in mehrfacher Hinsicht    Marco Kugel, D 2021, 85 min, dt. OmeU
               wahr und notwendig, denn Dokumentarfilme helfen           Wie bemisst man die Schönheit einer Landschaft?          METROPOLIS
               uns dabei, uns und unsere komplexe und verwundbare        Wie die eines ganzen Landes? Wie und wozu lassen         MI 20.04.
               Realität zu begreifen.                                    sich subjektive Eindrücke in objektiv statistisch ver­   19.30 UHR
               Wir haben Filme im Programm, die sich mit den (Spät)­     gleichbare Daten wandeln? Diese Fragen verhan­
               folgen von Krieg und Zerstörung auseinandersetzen         delt Marco Kugels vielschichtiger Film ›Die Karte        GÄSTE: MARCO
               und Stellung beziehen. Und wir können endlich die         der Schönheit‹ vor dem Hintergrund der forcierten        KUGEL UND TEAM
               Retrospektive Trinh T. Minh­ha zeigen, die seit 2020      Energiewende und dem damit notwendig einher­             Q&A: DEUTSCH
               verschoben werden musste. In der Reihe mit Filmen         gehenden Netzausbau. Der Landschaftsplaner und
               aus dem fast unerschöpflichen und zeitlosen Werk          Wissenschaftler Michael Roth wird vom Bundesamt            d o k la n d
               von Klaus Wildenhahn erwartet uns ein Film über eine      für Naturschutz beauftragt, eine Deutschlandkarte          hamburg
               Institution, die seit Beginn von Corona täglich präsent   zu erstellen, über die der bisher unberücksichtigt ge­
               ist: das Robert Koch­Institut. Und wir freuen uns sehr    bliebene Faktor der Landschaftsschönheit zukünftig
               auf den Eröffnungsfilm, der sich dem Versuch der          in Planungsverfahren eingespeist werden kann. Ein­       IM ANSCHLUSS
               Erfassung und Kategorisierung von landschaftlicher        drücklich veranschaulicht uns der Film durch eine        OPENING PARTY IM
               Schönheit angesichts der Energiewende widmet. Die         Vielzahl klug gewählter Protagonisten*innen und          DOKFILMCLUB, S. 53
               meisten der Filmemacher*innen werden persönlich           Projektvorhaben die Komplexität der Sachlage und
               bei uns zu Gast sein, und in Erwartung ereignisreicher    Interessenkonflikte. Der Film beschreibt, wie ästheti­
               Tage entlassen wir Sie und euch mit einem Zitat von       sche Landschaften zu politischen werden und befragt
               Lars von Trier in die Tiefen unseres Programmkata­        uns Zuschauer*innen nach unserer eigenen Bewer­
               logs: „Be prepared to take the Good with the Evil!“       tung von Landschaft. (bs)

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FILMPROGRAMM
                                              FILMPROGRAMM

                A Night of Knowing Nothing                               Sonne Unter Tage
                Payal Kapadia, F/IND 2021, 96 min, Hindi/Bengali OmeU    Mareike Bernien, Alex Gerbaulet, D 2022, 39 min, dt. OmeU
METROPOLIS      Junge Menschen tanzen ausgelassen in einem Raum.         Eine mehrstimmige Erzählung tastet sich durch die           LICHTMESS
DO 21.04.       Auf dessen Wände wird ein Archivfilm projiziert. Es      Zeiten, wie durch das Dickicht bei einer Nachtwan­          DO 21.04.
13 UHR          sind Szenen aus dem Film and Television Institute        derung. Wo ist der Anfang? Verdunkelte Ansichten,           17.45 UHR
                of India, Filmhochschule der Regisseurin Payal Ka­       erhellt durch den Schein einer Taschenlampe oder
GAST: PAYAL     padia. Diese verwebt in ihrem großartigen Film ›A        fluoreszierendes Mineral, werden zur Metapher               GÄSTE: MAREIKE
KAPADIA         Night of Knowing Nothing‹ die intimen Liebesbriefe       für zufällige Entdeckungen und Verborgenes. Die             BERNIEN, ALEX
(ONLINE-        von zwei Studierenden des Instituts mit den studen­      Bildebene führt dabei die Grenzen der Sichtbarkeit          GERBAULET
GESPRÄCH)       tischen Protesten, die Mitte 2010 als Reaktion auf die   selbst vor Augen und visualisiert so die Wirkung der        Q&A: DEUTSCH
Q&A: ENGLISCH   Machtübernahme der rechtsgerichteten Bharatiya           unsichtbaren radioaktiven Strahlen, an deren Ge­
                Janata Party entflammen. Gemeinsam kämpfen die           schichte der Film sich entlangzieht. Strahlen, die          DOUBLE
                Filmstudierenden gegen das Klassensystem, gegen          man weder fühlen noch riechen oder schmecken                FEATURE
                die Diskriminierung religiöser Minderheiten und für      kann, die aber geopolitische und körperliche Spuren         MIT FILM S. 10
                den Schutz öffentlicher, allseits zugänglicher Bildung   hinterlassen haben. Im Fokus der Geschichte stehen
                – auch und gerade in der Filmwelt. Die Erzählung der     die Uranabbaugebiete in Sachsen und Thüringen, die
                unmöglichen Beziehung zwischen den beiden Lie­           von der ehemaligen Sowjetisch­Deutschen Aktienge­
                benden, in der es in erster Linie um Kastenfragen        sellschaft Wismut zeugen, die von 1946 bis 1990 einer
                geht, zeigt dabei die schmerzhaften Trennlinien einer    der größten Uranproduzenten weltweit war. Auf be­
                zerrissenen Gesellschaft auf, deren innere Wider­        unruhigende Weise strahlt das Archiv deutscher Nu­
                sprüche im Laufe des Films zu einem Crescendo der        kleargeschichte ohne absehbares Ende bis in unsere
                Gewalt anschwellen. (fb)                                 Gegenwart und darüber hinaus. (jk)

8                                                                                                                                                     9
FILMPROGRAMM

                Arrival Points                                          Rampart
                Rheim Alkadhi, LB/GR/D 2021, 40 min, engl. OF           Marko Grba Singh, SRB 2021, 62 min, serb. OmeU
LICHTMESS       Ein unglaublich dichter Text, der organisch fließend    Der Großvater hält während des Kosovokriegs Sze­
DO 21.04.       seine (Erzähl­)Perspektive, seine Sprachform und        nen aus dem Alltag der Familie fest: Der damals
17:45 UHR       seine Fixpunkte wechselt, bildet das Herzstück von      zehnjährige Filmemacher stellt seine Hamster vor,
                ›Arrival Points‹. Die Stimme der Erzählerin legt sich   der Familienhund wird porträtiert. Die Erwachsenen
GAST: RHEIM     über Super­8­Material, Schwarzbilder oder Found­        sind um Normalität bemüht. 20 Jahre später setzt
ALKADHI         Footage­Handyfotos. Ob auf dem Majnoon­Ölfeld im        sich Grba Singh mit einem Albtraum, der ihn lange
Q&A: ENGLISCH   Südirak, dem von der Explosion zerstörten Beiruter      Zeit heimsuchte, auseinander und besucht die Orte
                Hafen, den Küstengebieten von Lesbos oder im abge­      aus der Zeit der Videoaufnahmen. Der eingebrannte
DOUBLE          brannten Flüchtlingslager Moria und dessen Nach­        Datumsstempel zeigt den 24. März 1999, den Tag, an
FEATURE         folge­Camp: Die Kamera bewegt sich suchend über         dem die ersten Bomben auf Belgrad fielen. Der Groß­   LICHTMESS
MIT FILM S. 9   Vorgefundenes und imaginär Abwesendes. Im Zen­          vater dokumentiert: „Für die Geschichte!“ Die nach­   DO 21.04.
                trum der künstlerischen, ethnografisch anmutenden       denklichen Bilder von heute des Jungen von damals     20.30 UHR
                Recherche steht die Beschreibung von Fluchtbewe­        suchen nach Anhaltspunkten, wiedererkennbaren
                gungen, Grenzpolitiken und Ankunftsprozessen an         Orten, die Kamera schweift über verblassende Kin­     GAST: MARKO
                den Außengrenzen der EU. Der mal kollektive, dann       derzeichnungen an einer Wand. Videobänder zerfal­     GRBA SINGH
                wieder subjektive Formen annehmende Text beleuch­       len in Pixel und werden mit bröckelnden Fassaden      Q&A: ENGLISCH
                tet den fluiden Charakter dieser Ankunftsorte und die   im heutigen Belgrad überblendet. Ergibt sich daraus
                an den EU­Grenzen herrschende Gewalt. Dabei wer­        ein Sinn? Wird Geschichte von den Siegern geschrie­
                den Techniken des Krieges, der Globalisierung, aber     ben? Wer siegt in einem Krieg? ›Rampart‹ bezeichnet
                auch der Bildherstellung und des Überlebens auf         sowohl eine Festungsmauer als auch „sich zu schüt­
                eine poetische Art benannt und befragt. (ek/mr)         zen“. Irgendwann hörte der Albtraum dann auf. (mg)
10                                                                                                                                          11
FILMPROGRAMM

               Köy                                                         Esquí
               Serpil Turhan, D 2021, 90 min, dt./türk./kurd. OmdU         Manque La Banca, ARG/BRA 2021, 74 min, span. OmeU
METROPOLIS     Neno, Saniye und Hevîn
                                    ˆ    – drei Kurdinnen in Berlin. Im    Bariloche ist das wichtigste Skigebiet Argentiniens
DO 21.04.      Mittelpunkt der Gespräche: das Dorf – ›Köy‹. Neno,          und zieht Tourist*innen aus ganz Südamerika an. Was
21 UHR         Serpil Turhans Großmutter, zog 1972 vom Dorf nach           mit dem weiß blitzenden Schnee zunächst wie die ge­
               Istanbul, folgte später ihrem Mann nach Deutschland.        stylte Optik eines Werbeclips anmutet, beherbergt
GAST: SERPIL   Sie erinnert sich vor allem an ihr Leid, aber das Dorf      jedoch noch eine ganz andere Realität: eine indigene
TURHAN         ist der Ort, an den sie zurückkehren möchte. Wider­         Gemeinschaft, die am Fuße der hohen, schneebe­
Q&A: DEUTSCH   sprüche empfindet auch Saniye: Da sie nie bewusst           deckten Berge unter prekären Lebensverhältnissen
               im Dorf gelebt hat, möchte sie wissen, wie es dort ist,     lebt. Der Film ›Esquí‹ von Manque La Banca zeichnet
               im Winter, wenn Schnee fällt. Dass die politischen          verschiedene Wege in diesem Spannungsfeld nach,
               Verhältnisse in der Türkei und die Situation in Kur­        verknüpft divergente Geschichten und Materialien zu
               distan ein Leben dort schwierig machen, sieht sie als       einer rhythmisch dichten Erzählung aus Tatsachen
                                        ˆ
               Herausforderung an. Hevîn,     in Berlin politisch aktiv,   und Legenden. Es sind Eindrücke aus dem Alltags­
               möchte sich keine Gedanken machen, ob sie „nach             leben zwischen Piste und marginalisiertem Viertel:      METROPOLIS
               Hause“ fliegen kann. Als ihre Eltern geboren wurden,        Urlauber*innen und Arbeiter*innen, Angereiste und       FR 22.04.
               führte die türkische Regierung bereits Krieg gegen          Alteingesessene, deren unterschiedliche Perspekti­      12 UHR
               Kurdistan, der bis heute andauert. Aus der Distanz          ven und Bedürfnisse im Skigebiet aufeinandertreffen.
               umkreisen die drei Frauen gemeinsam mit der Filme­          Ein Film, der zum Nachdenken über eine tragische        GAST: MANQUE
               macherin das Dorf, in dem die Linien kurdischer, tür­       Geschichte von Gewalt und Vertreibung anregt und        LA BANCA
               kischer und deutscher Identitäten zusammenfließen,          auf die Aktualität eines gesellschaftlichen Miss­       Q&A: ENGLISCH
               wo die Geschichte der Vergangenheit und die Gegen­          standes verweist, der bis heute nicht überwunden ist.
               wart zwangsläufig eine Haltung hervorbringt. (jk)           (fb/mr)
12                                                                                                                                              13
FILMPROGRAMM

                 Genosse Tito, ich erbe                                     Frauenfragmente: Gini und Resi
                 Olga Kosanović, D/AUT 2020, 27 min, serb. OmeU             Sophie Gmeiner, D/AUT 2020, 44 min, dt. OmeU
METROPOLIS       „Es ist eigentlich alles ursimpel.“ Olga Kosanovićs iro­   „Eins, zwei, drei, ich bin Regina Gmeiner, ich wohne
FR 22.04.        nischen Kommentar in ihrem Kurzfilm ›Genosse Tito,         in Kössen und bin 62 Jahre alt. Nein, 61 Jahre.“ Regi­
14 UHR           ich erbe‹ könnte man höchstens ernst nehmen, wenn          na (Gini), die Mutter der Filmemacherin, erzählt von
                 man ihn auf die Leichtigkeit ihres Filmemachens            Resi, ihrer Schwester. Davon, wie diese trotz geistiger
GAST: OLGA       beziehen würde. Ansonsten sind die Dinge natürlich         Behinderung ihr Leben größtenteils autonom führen
                                                                                                                                      METROPOLIS
KOSANOVIĆ        kompliziert, vielschichtig, verwoben und verworren.        konnte, von ihrer großen Lebenslust, aber auch von
                                                                                                                                      FR 22.04.
Q&A: DEUTSCH     Diesen Verwirrungen auf den Grund zu gehen, reist          Gewalt und Diskriminierung, die sie erfahren hat. Sie
                                                                                                                                      14 UHR
                 die in Österreich aufgewachsene Filmemacherin mit          spricht auch von sich, von Schicksalsschlägen und
DOUBLE           ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer Kamera in das         zerplatzten Träumen. Anhand dieser (Familien­)Ge­
                                                                                                                                      GÄSTE: SOPHIE
FEATURE          im Süden Serbiens gelegene Haus ihrer Großeltern.          schichten entfaltet sich ein Bild der Lebensverhält­
                                                                                                                                      GMEINER, SIMON
MIT FILM S. 15   Die drei Generationen verhandeln während der Tätig­        nisse und sozialen Ungerechtigkeiten im Kontext der
                                                                                                                                      DALLASERRA
                 keiten in Haus und Garten nicht bloß die Frage, was        kleinen Tiroler Dorfgemeinschaft. Dabei wirft Sophie
                                                                                                                                      Q&A: DEUTSCH
                 mit dem in Zukunft zu vererbenden Haus geschehen           Gmeiners behutsamer Einblick in das Leben ihrer
                 soll, sondern durchspielen in Gesprächen Möglich­          Mutter und Tante nicht zuletzt relevante Fragen nach
                                                                                                                                      DOUBLE
                 keitsformen der (eigenen) Geschichte, Identität und        Inklusion und Care­Arbeit auf und entlarvt alltägliche
                                                                                                                                      FEATURE
                 des Heimatbegriffs. Die Perspektive der Kamera und         Ressentiments sowie gesellschaftliche Missstände.
                                                                                                                                      MIT FILM S. 14
                 der selbstreflexive Blick der Regisseurin vermengen        Die feinfühlig und vielschichtig erzählte Familien­
                 sich zu einer leichten Bewegung durch die Szenerie         geschichte ist zugleich ein Film über den unverwüst­
                 und lassen dabei grundlegende Fragen des Lebens            lichen Humor zweier Verbündeter. (ek)
                 an die Oberfläche einer idyllischen Landschaft tre­
                 ten. (mr)
14                                                                                                                                                 15
FILMPROGRAMM

                Uncomfortably Comfortable                                Krai
                Maria Petschnig, USA/AUT 2021, 72 min, engl. OF          Aleksey Lapin, AUT 2021, 123 min, russ./dt./engl./ital. OmeU
LICHTMESS       Maria Petschnig und Marc Thompson haben im Vor­          Ein kleines Dorf in Russland nahe der ukrainischen
FR 22.04.       feld dieses Films einen gegenseitigen Fragebogen         Grenze. Es ist Sommer, und eine Filmcrew aus Wien
18.30 UHR       erstellt, in dem ihre Erwartungen und Bereitschaften     kommt dorthin unter dem Vorwand, einen »histo­
                festgehalten sind. Maria ist eine weiße europäische      rischen Film« drehen zu wollen. Inmitten der Dorf­
GAST: MARIA     Künstlerin in New York, und Marc ist »ihr Projekt«. Er   realität von Volksfest, Kirchgang und Arbeitsalltag
PETSCHNIG       weiß das, und lässt sich darauf ein. Marc ist gebür­     entsteht ein filmisches Spiel zwischen Team und
(ONLINE-        tiger New Yorker, Afroamerikaner, und lebt auf der       Dorfgemeinschaft. Ein Casting wird abgehalten, am
GESPRÄCH)       Straße. Genauer gesagt, in seinem Jeep. Er selbst        Fluss über das Kino sinniert und der Drehprozess
Q&A: ENGLISCH   sagt, er lebt nicht, sondern er überlebt. Wir erfahren   selbst reflektiert. Die Dorfbewohner*innen – darun­            METROPOLIS
                genug von seiner persönlichen Geschichte, um zu          ter auch Verwandte des Regisseurs – erzählen von               FR 22.04.
                verstehen, warum er so fühlt. Es ist aber nun so, dass   der Vergangenheit, gegenwärtigen Problemen und                 18.30 UHR
                ›Uncomfortably Comfortable‹ nicht etwa einer dieser      Zukunftsträumen. Das Dorf scheint verhext zu sein,
                Filme ist, nach denen wir »Kaukasier« uns einmal         ein mysteriöses Gas lässt Gerüchten zufolge Autos              GAST: ALEKSEY
                schütteln und so etwas denken wie: Toll, dass dieser     liegen bleiben, Menschen verrückt werden und häu­              LAPIN
                Mann sich seine menschliche Würde bewahrt hat.           fig das Stromnetz kollabieren. Im Dazwischen von               Q&A: DEUTSCH
                Und am Ende geht es ja ganz gut aus für ihn. Nein,       bisweilen märchenhaften fiktionalen Elementen, in­
                ganz falsch: Wir sind es, die sich am Ende angesichts    szenierten Szenen und alltäglichen Beobachtungen
                dieses großartigen Lehrstücks über Rassismus un­         entsteht ein sich eindeutigen Zuschreibungen entzie­
                gemütlich in unserer Gemütlichkeit fühlen müssen.        hendes Bild der Realität. Dokumentation und Fiktion
                (mg)                                                     treffen sich in poetischen Fragmenten des Dorfge­
                                                                         schehens. (ek)
16                                                                                                                                                   17
FILMPROGRAMM

               Motorcity                                                 Rock Bottom Riser
               Arthur Summereder, AUT 2021, 86 min, OmeU                 Fern Silva, USA 2021, 70 min, engl. OF
LICHTMESS      Beschleunigungsrennen sind vielleicht so etwas wie        ›Rock Bottom Riser‹ ist ein irrer psychedelisch­es­
FR 22.04.      die Überemphase einer zu Ende gehenden Epoche             sayistischer Filmtrip, der in einer assoziativen Monta­
20.30 UHR      automobilen Fortschritts. Aus heutiger Sicht glei­        ge gravitätische Lavaströme mit interstellaren Objek­
               chermaßen abseitig wie faszinierend. Summereders          ten, Vaporiser­Dampfwolken mit Dwayne »The Rock«
GAST: ARTHUR   Film porträtiert einige Detroiter*innen, die diesem       Johnson kurzschließt. Ausgangspunkt für Silvas Film
SUMMEREDER     irrwitzigen Sport ihr Leben widmen. Das Ergeb­            ist die Inselkette Hawaii und sein Interesse an traditi­
Q&A: DEUTSCH   nis ist ebenso eine Tiefenbohrung in die Geschichte       oneller polynesischer Navigationstechnologie. Diese
               einer Stadt, die wie keine andere mit der Automobil­      in Vergessenheit geratene zivilisatorische Errungen­
               industrie assoziiert wird, wie auch unfreiwillig ko­      schaft und ein trotz Protesten geplantes Riesenteles­
                                                                                                                                    METROPOLIS
               misch, ohne dabei jedoch jemals respektlos zu sein.       kop auf dem Vulkan Mauna Kea, einem heiligen Ort in
                                                                                                                                    FR 22.04.
               Dafür sorgen nicht zuletzt die US­amerikanischen          der Mythologie der Ureinwohner, sind die Spuren ver­
                                                                                                                                    21.30 UHR
               Einreisebeamten, denen die geringe Anzahl von Un­         gangener, gegenwärtiger und in die Zukunft gerich­
               terhosen im Reisegepäck des Filmemachers suspekt          teter kolonialer Praktiken, welche Fern Silva in einer
                                                                                                                                    GAST:
               erscheint und sie am Zweck seiner Einreise zwei­          oszillierenden Bewegung schrumpft, dehnt und zum
                                                                                                                                    FERN SILVA
               feln lässt. Die allgemeine Sinnfrage ist also gestellt.   Bersten bringt. Gleichzeitig hat der Film eine große
                                                                                                                                    Q&A: ENGLISCH
               ›Motorcity‹ ist ungefähr so lang, wie 1290 Beschleu­      Lust daran, klassische Erzählmuster herkömmlicher
               nigungsrennen dauern würden, und entfaltet eine           filmischer Narrative zu sabotieren und heterogenes
               Erzählung, die im Gegensatz zu ihrem behandelten          Material in einem popkulturellen Mash­up eruptiv in
               Gegenstand nicht immer wieder von vorn beginnt,           Szene zu setzen. Wir hoffen, dass die 35mm­Kopie
               sondern einige prägnante Aussagen über eine Ge­           des Films zur Vorführung in Hamburg fertiggestellt
               sellschaft und ihren Vorwärtsdrang an sich trifft. (mg)   sein wird; sonst zeigen wir die digitale Fassung. (bs)
18                                                                                                                                               19
FILMPROGRAMM

                 Notes on a Tropical Archive                              Augusts Orte
                 Valérie Pelet, AUT/IDN 2020, 27 min, engl. OF            Valérie Pelet, AUT 2021, 41 min, dt. OmeU
METROPOLIS       Eine alte Erzählung über eine Frau, die wunderschö­      Während im Monat August die Menschen innerhalb
SA 23.04.        ne Vögel besaß, die für ihren Gesang weithin bekannt     Europas konzise ihre Urlaubsreisen planen, sind
13.15 UHR        waren. Eines Tages weigern sie sich, zu singen. Auf      andere in weniger komfortabler Lage. Auch sie rei­
                 der Suche nach den Gründen für ihr Verstummen            sen, aber nicht zur Erholung, sondern aus Gründen
GAST: VALÉRIE    spielt auch eine Begegnung mit einem Affen, der          existenzieller Not. Valérie Pelet folgt den Stationen
PELET            sich im Dschungel versteckt, um sein Mensch­Sein         ihres marokkanischen Schwagers, der seit 2020 auf
Q&A: DEUTSCH     nicht zu verlieren, eine Rolle. In Valérie Pelets Film   humanitäres Bleiberecht in Österreich wartet. So
                 treffen Zitate aus überlieferten Fabeln und populä­      treffen kafkaeske Schilderungen von Auflagen der
DOUBLE           ren indonesischen Spielfilmen auf Bilder von Archi­      Schengen­Bürokratie für Nicht­Europäer*innen auf          METROPOLIS
FEATURE          tekturen und Landschaften, denen ihre imperiale          Bilder, die – zumeist am Wasser – den sommerlichen        SA 23.04.
MIT FILM S. 21   Vergangenheit anhaftet. Wer sind die Menschen in         Müßiggang derer zeigen, die schon drin sind.              13.15 UHR
                 dieser Umgebung, denen wir am Meer, auf Märkten          Das 16mm­Material scheint wie von der Augustsonne
                 und Festen oder beim Beobachten einer Sonnenfins­        ausgeblichen zu sein, vielleicht ein Hinweis darauf,      GAST: VALÉRIE
                 ternis zusehen? Valérie Pelets Essayfilm bleibt stets    dass unbeschwerter Reisebetrieb im 21. Jahrhundert        PELET
                 subtil, und die Fragen, die sie aufwirft, scheinen vor   in mehrfacher Hinsicht zu überdenken sein könnte.         Q&A: DEUTSCH
                 allem nach den richtigen Adressat*innen zu suchen:       Dennoch kein moralischer Aufruf, zu Hause zu blei­
                 Welche Rolle spielt das Regime? Sei es das der west­     ben: „Am Strand sind Menschen auf der Suche nach          DOUBLE
                 lichen Kolonisatoren oder die Suharto­Diktatur, und      einer neuen Hautfarbe“, sagt Pelet und lädt damit         FEATURE
                 wie wird Geschichte verarbeitet? Vor wem versteckte      zur Selbstreflexion ein. Das geht vielleicht sogar bes­   MIT FILM S. 20
                 sich der Affe im Dschungel? (mg)                         ser, wenn einem dabei die Kinosonne auf den Bauch
                                                                          scheint. (mg)
20                                                                                                                                               21
FILMPROGRAMM

     Goodbye, Pacific!                    Nippon-koku Ogata-mura
     Trailer und Motiv 2022               Stefanie Gaus, D 2021, 110 min, jap. OmeU
     Das Hotel Pacific beherbergte in     Es scheint ruhig in Ogata­mura, einzig Landmaschi­
     seiner Stamm­Suite unseren Eh­       nen durchbrechen die Stille. In den 60er Jahren hat
                        ˇ ˇ über viele
     rengast Werner Ruzicka               die japanische Regierung ein Landgewinnungs­ und
     Jahre. Das Haus am Neuen Pfer­       Ernährungsprogramm gestartet für den damals
     demarkt war ein geschätzter Part­    zweitgrößten See des Landes. Über Jahre wurden
     ner der dokumentarfilmwoche          Menschen angesiedelt, ihnen Land und eine Unter­
     hamburg. Ende vergangenen Jah­       kunft zugeteilt. Der Film zeigt vor allem die Fassaden
     res musste das familiengeführte      im Ort – die Häuser variieren häufig lediglich in der
     Hotel auf St. Pauli schließen. Wir   Farbe des Daches, je nach Phase des Programms, in          METROPOLIS
     feiern diesen unvergesslichen Ort    der sie erbaut wurden. Einblick geben die Stimmen          SA 23.04.
     mit Plakat und Trailer und hoffen,   der Bewohner*innen, die davon erzählen, warum sie          15.15 UHR
     dass diese Ecke nicht auch noch      oder ihre Eltern hierhergekommen sind, welche Er­
     von angestrengten Wertschöp­         fahrungen sie machten und wie sich die Realitäten          GAST:
     fungsketten zubetoniert wird.        der Frauen von denen der Männer unterschieden.             STEFANIE GAUS
     Besonderen Dank für die Um­          ›Nippon­koku Ogata­mura‹ vollzieht nach, wie sich          Q&A: DEUTSCH
     setzung des Trailers gilt Thomas     das eigentliche Projekt und die gelebte Realität vonei­
     und Sylvia van Riesen vom Hotel      nander entfernten: „Was einst von der Regierung als
     Pacific, Max Sänger (Kamera),        ‚bäuerliches Musterdorf‘ geplant war, wurde später
     Christopher Gorski und Oliver        zum Schauplatz dessen, was manche als ‚heimliche
     Eckert von den Analogfilmwerken      Revolution der Bauern‘ bezeichnen würden“ (Stefanie
     e. V. sowie Udo Engel.               Gaus). (sp)
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FILMPROGRAMM

                    Ungenordet                                                Picnic at Hanging Rock
                    Ruben van den Belt, NL/D 2021, 22 min, niederländ. OmdU   Naama Heiman, D 2021, 46 min, engl. OmdU
B-MOVIE             Im Versuch, Aussagen über die Entwicklung der Welt        Eine Wohngemeinschaft in Köln­Bickendorf. Naama
SA 23.04.           zu treffen, kommt der Filmemacher Ruben van den           Heiman wohnt dort mit ihrem langjährigen Freund
17.45 UHR           Belt in seinem Essayfilm ›Ungenordet‹ an etwas nicht      Biniam. Sie leiht seine Kamera und richtet sie auf ihn.
                    vorbei, das von vergleichbarer Größe zu sein scheint:     Nach kurzer Zeit schon entzieht er sich, Naama filmt
GAST: RUBEN         das Selbst. In einer filmischen Reisebewegung geht        trotzdem weiter. Auf anfänglich harmonische Szenen
VAN DEN BELT        er seine autobiografischen Stationen ab, hinterfragt      folgt der Kommunikationsabbruch, fortan bleibt sei­
Q&A: DEUTSCH        ihre Konstitutionen und setzt seine persönlichen Er­      ne Zimmertür verschlossen. „The only thing left is my
                    wartungshaltungen dazu ins Verhältnis. Wie stellte er     subjective voice­over“, konstatiert die Filmemacherin
DOUBLE              sich als Kind in einem niederländischen Reihenhaus        und rekapituliert in ihren Erzählungen die (schöne)       B-MOVIE
FEATURE             seine Zukunft vor? Wie wäre sein Alltag jetzt, hätte      gemeinsame Vergangenheit, ergänzt durch mes­              SA 23.04.
MIT FILM S. 25      er sich in der holländischen Provinz niedergelassen?      serscharfe Beschreibungen des gegenwärtigen Zu­           17.45 UHR
                    Wie kommt er in seiner neuen Wahlheimat Hamburg           stands. Die Kamera lauert derweil weiterhin vor der
                    zurecht? Mittels einer dialektischen Verfahrensweise      verschlossenen Zimmertür. Dazwischen Beobach­             GAST: NAAMA
     d o k la n d   konfrontiert und reflektiert er seine Selbstfindung       tungen des bürgerlichen Alltags der Nachbar*innen,        HEIMAN
     hamburg        schließlich doch mit großen Fragen an die Gegen­          gespickt mit wütenden Reflexionen der eigenen Un­         Q&A: ENGLISCH
                    wart, indem er feinfühlig und formal geschickt die        zufriedenheit. Der humorvolle, bisweilen anmaßen­
                    Perspektiven in ihrer Bandbreite mäandern lässt.          de Film gibt einen intimen Einblick in das Verhältnis     DOUBLE
                    Das Ergebnis ist ein vom sympathischen Voiceover          zweier Menschen zwischen Freundschaft, unerwi­            FEATURE
                    getragener Kurzfilm, der als selbstkritisches Gene­       derter Liebe und Obsession. „Is this what true love is    MIT FILM S. 24
                    rationsporträt verstanden werden kann. (mr)               supposed to feel like? I really hope not.“ (ek)

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FILMPROGRAMM

                                                                             The First 54 Years – An Abbreviated
                Article 15                                                   Manual for Military Occupation
                Marie Reinert, F 2021, 40 min, franz./Lingala/Swahili OmeU   Avi Mograbi, F/FIN/ISR/D 2021, 110 min, hebr. OmeU
B-MOVIE         Kinshasa, Demokratische Republik Kongo. In den               Israelische Ex­Soldaten packen aus. Persönliche
SA 23.04.       Alltag dieser 15­Millionen­Metropole begeben sich            Erinnerungen von Menschenrechtsverletzungen und
20 UHR          Marie Reinert und ihre Kolleg*innen in ihrem be­             Übergriffen auf die Zivilbevölkerung, von Schikane
                eindruckenden Film. Der Fokus wird zu Beginn klar            mit System in den besetzten palästinensischen Ge­
GAST: MARIE     formuliert: Arbeit. Die Codes, die Gesten, die Mikro­        bieten im Westjordanland und im Gazastreifen. Es
REINERT         events im formellen sowie informellen Sektor des             sind ihre Handlungen, die zum Bestandteil eines Un­
Q&A: ENGLISCH   Wirtschaftssystems der Stadt werden unter einer äs­          terdrückungssystems geworden sind. Als Teil der Or­
                thetischen Lupe dechiffriert und erfahrbar gemacht.          ganisation »Breaking the Silence« wollen sie Zeugnis
                In einer choreografischen Bewegung lässt die Re­             ablegen, und in dem umfangreichen Archivmaterial,
                gisseurin eine Smartphone­Kamera, montiert auf               das diesen Film begleitet, finden ihre Worte eine bild­
                einem speziell angefertigten Griff, von Protagonist*in       liche Entsprechung.
                zu Protagonist*in weiterreichen. Es entfaltet sich ein       Aber der Film geht weiter. Er beleuchtet nicht nur
                schwindelerregender Rhythmus, und die Kamera­                chronologisch die historischen Ereignisse, sondern        METROPOLIS
                perspektive wird zu einer Art »Point­of­Hand­Shot«.          präsentiert sich auch als eine Art »Seminar« da­          SA 23.04.
                Denn wir sind nah an den Händen, den Händen und              rüber, wie man ein Land über einen Zeitraum von           20.30 UHR
                den Körpern in Bewegung, bei ihren unterschied­              mehr als fünf Jahrzehnten besetzt. Mit sokratischer
                lichen Tätigkeiten, ihrer Hand­Arbeit. Häufig ist es         Ironie inszeniert Avi Mograbi eine »Gebrauchsanwei­       GAST: AVI
                für die Arbeitenden ein Leben von der Hand in den            sung« aus Sicht der herrschenden Macht. Eine Satire       MOGRABI
                Mund. Aus Letzterem kommen Worte, in verschiede­             mit rabenschwarzem Humor. (as)                            Q&A: ENGLISCH
                nen Sprachen und werden ebenso zum Werkzeug, um
                die vielen Transaktionen zu verhandeln. (mr)
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PROGRAMMPLAN

             Mittwoch // 20.04.          Donnerstag // 21.04.                 Freitag // 22.04.                Samstag // 23.04.            Sonntag // 24.04.
                                                                              12.00 Uhr                                                     10.30 Uhr
METROPOLIS                                                                    Esquí                    S. 13                                Institutssommer      S. 33
                                         13.00 Uhr                            14.00 Uhr                      13.15 Uhr                   13.30 Uhr
                                         A Night of Knowing Nothing           Genosse Tito, ich erbe //      Notes on a Tropical Archive Ein Ort namens Wahala
                                                                       S. 8   Frauenfragmente       S. 14/15 // Augusts Orte S. 20/21                        S. 36
                                         Retrospektive                        Retrospektive                    15.15 Uhr                    15.30 Uhr
                                         15.30 Uhr                            16.30 Uhr                        Nippon­koku Ogata­mura       Lagerhaus G
                                         Surname Viet Given Name Nam          The Fourth Dimension                                                               S. 37
                                                                  S. 42                                S. 44                        S. 23
                                         Retrospektive                        18.30 Uhr                      Retrospektive                  18.30 Uhr
                                         17.45 Uhr                            Krai                           18.00 Uhr                      Nicht verrecken
             Eröffnungsfilm              Shoot for the Contents      S. 43                             S. 17 Forgetting Vietnam     S. 46                        S. 38
             19.30 Uhr                   21.00 Uhr                            21.30 Uhr                        20.30 Uhr                  Abschlussfilm
             Die Karte der               Köy                                  Rock Bottom Riser                The First 54 Years         21.30 Uhr
             Schönheit            S. 7                               S. 12                             S. 19                        S. 27 Looking for Horses S. 39
                                                                                                               17.45 Uhr                    13.00 Uhr
B-MOVIE                                                                                                        Ungenordet //                One Corner of Paradise
                                                                                                               Picnic at Hanging Rock       // Der Berg, den es nicht
                                                                                                                                 S. 24/25   gibt              S. 34/35
                                                                                                               20.00 Uhr                  Retrospektive
                                                                                                               Article 15                 15.30 Uhr
                                                                                                                                    S. 26 Naked Spaces          S. 47
                                                                                                               21.30 Uhr                  Retrospektive
                                                                                                               The Dunes Said // Derweil 18.15 Uhr
                                                                                                                                 S. 30/31 Reassemblage          S. 48
                                         17.45 Uhr                            18.30 Uhr
LICHTMESS                                Sonne Unter Tage // Arrival Points   Uncomfortably
                                                                    S. 9/10   Comfortable              S. 16
                                         20.30 Uhr                            20.30 Uhr
                                         Rampart                     S. 11    Motorcity                S. 18

                                                                              Retrospektive
HFBK                                                                          19.00 Uhr
                                                                              Masterclass Trinh T. Minh­ha
                                                                                                       S. 45

28                                                                                                                                                                 29
FILMPROGRAMM

                 The Dunes Said                                           Derweil
                 Maya Connors, D/ARG 2021, 23 min, engl./span./dt. OmeU   Samuel Parkes Heinrichs, D 2020, 45 min, dt. OmeU         d o k la n d
                                                                                                                                    hamburg
B-MOVIE          Ffffffffftttt, Krkkrkrk, Shhhhh – lautmalerisch, um      Welzow in der Niederlausitz, umgeben von Braun­
SA 23.04.        die Bewegung von Wind und Sand kognitiv erfass­          kohlebrachen, eine Gegend, zu der es keine aktu­
21.30 UHR        bar zu machen. Der Mensch steht in der Sanddüne          ellen Landkarten gibt. 17 Dörfer haben die riesigen
                 und fragt nach ihrer Beschaffenheit, ihrem Wesen.        Tagebaubagger bereits verschlungen. Das Ende der         B-MOVIE
GAST: MAYA       Auf der einen Seite liefert das helmholtzsche Gesetz     Förderung ist beschlossen, doch Jahre noch wird          SA 23.04.
CONNORS          eine wissenschaftliche Erklärung für die Bildung von     die größte bewegliche Maschine der Welt sich weiter      21.30 UHR
Q&A: DEUTSCH     Sanddünen, auf der anderen Seite steht eine fiktive      durch die Erde fressen. Die Kamera verfolgt beob­
                 Erzählung über eine auf Sanddünen erbaute Stadt. In      achtend Raum und Menschen, durchmisst eine Land­         GAST: SAMUEL
DOUBLE           den 1930er Jahren gründet Carlos Gesell den Ort Villa    schaft, die in Jahrzehnten einmal blühen, mit großen     PARKES
FEATURE          Gesell an der argentinischen Ostküste. Es gelingt ihm    Seen und Wäldern zum Freizeitparadies werden soll.       HEINRICHS
MIT FILM S. 31   in langjähriger Arbeit, spezielle Pflanzenarten sowie    Und derweil: Junge Männer unterwegs auf Fahrrä­          Q&A: DEUTSCH
                 Bewaldung auf den Wanderdünen zu kultivieren. Sein       dern, auf Motorrädern, aus der Luft tastet die Kame­
  d o k la n d   Interesse gilt dabei nicht nur der wirtschaftlichen      ra die zerklüftete Topografie ab, ein Touristenbus auf   DOUBLE
  hamburg        Nutzung der Bäume, sondern vielmehr der Ver­             Sightseeing an der Abbruchkante, das Fußballspiel        FEATURE
                 wirklichung einer alternativen Arbeits­ und Lebens­      lokaler Vereine, Feierabendrausch… In der driftenden     MIT FILM S. 30
                 gemeinschaft. Maya Connors begibt sich in ihrem          Form, im Nebeneinander der Szenen, im Wechsel von
                 essayistischen Film in einer materiellen Verdichtung     Bewegung und Stillstand, im Umkreisen und Erkun­
                 an den Gründungsmoment des Ortes und fragt nicht         den von Mensch und Raum gelingt eine Betrachtung
                 nur nach dem Beginn einer Geschichte, dem Verhält­       von Zwischenräumen und Übergängen, die sich dem
                 nis von Mensch und Natur, sondern auch nach alter­       Erwarteten und dem Klischee immer wieder verwei­
                 nativen Formen des kollektiven Erinnerns. (mr)           gert – und zuweilen auch hingibt. (tg)
30                                                                                                                                                 31
SPECIAL

                                                    Institutssommer
                                                    Klaus Wildenhahn, D 1969, 92 min, dt. OF
                                                    Im Sommer 1969 beobachtet Klaus Wildenhahn mit
                                                    der »Gruppe Wochenschau« der Deutschen Film­ und
                                                    Fernsehakademie Berlin eine Arbeitsgruppe meist
                                                    beamteter Forschender, die am Robert Koch­Institut       METROPOLIS
                                                    (RKI) in Berlin­Wedding mit teils grausam anmuten­       SO 24.04.

    S E - U P                                       den Tierversuchen nach dem Hepatitis­Erreger su­
                                                    chen. Es gibt Streit unter den Wissenschaftler*innen
                                                                                                             10.30 UHR

C LO                                                um Investitionen und Perspektiven. Lakonisch sind
                                                    die Szenen aneinandergereiht. Es geschieht nichts
                                                    Spektakuläres, deutlich werden die Binnenstruktu­
                                                                                                             GÄSTE: DR. IRINA
                                                                                                             LINKE, DR. ANDY
                                                                                                             MICHAELIS
                                                    ren in der Gruppe, ihre Routine und ihre Isolation.      Q&A: DEUTSCH
                                                    Wildenhahn gelingt eine Innenansicht des RKI, das
                                                    sich heute nach außen offen gibt, aber einen Blick auf
                                                    die weiterhin dort praktizierten Tierversuche verwei­
                                                                                                                  In Zusam-
                                                    gert. Ein erhellender Hintergrundbericht über eine          menarbeit m
                                                                                                                             it
                                                    Institution, die derzeit so sehr im Fokus steht.           der Ausstellu
                                                                                                                             ng
                                                                                                                 CLOSE-UP
HAMBURGER FILM- UND KINOGESCHICHTEN                 Von der »Welt« 1970 als „dokumentarfilmisches               im Altonaer
08.12.2021 – 18.07.2022                             Kabinettstück“ eingeordnet.                                   Museum
                                                    Plus: ›Schwierigkeiten beim Dokumentarfilmma­
             Stiftung Historische Museen Hamburg,   chen‹, eine 16mm­Rolle mit 30 Minuten ergänzenden
             Altonaer Museum, Museumstraße 23,      Szenen zum Film. (rg)
shmh.de
32           22765 Hamburg, S-Bahnhof Altona                                                                              33
FILMPROGRAMM

                 One Corner of Paradise                                      Der Berg, den es nicht gibt
                 Lisbeth Kovacic, AUT 2022, 28 min, dt./ital./slowen. OmeU   Leonid Kharlamov, Michael Steinhauser, D 2021, 24 min, dt. OF
B-MOVIE          Das Paradies war schon immer ein umkämpfter Ort.            Der Filmessay thematisiert die Namensgebung einer               B-MOVIE
SO 24.04.        So auch im Dreiländereck zwischen Österreich, Slo­          der berühmtesten Straßen Hamburgs: Der »Hambur­                 SO 24.04.
13 UHR           wenien und Italien. Ein idyllisches Stückchen Erde am       ger Berg« ist ein Markenzeichen der Stadt, vor der              13 UHR
                 Fuße der malerischen Karawanken. Seitdem es die             Corona­Pamdemie eine Partymeile, und die Men­
GAST: LISBETH    Autobahn gibt, bleibt immer mehr Kundschaft in den          schen treffen sich hier weiterhin zum Feiern. Aber              GÄSTE: LEONID
KOVACIC          Gaststätten und Geschäften aus. Schuld daran? Die           eben diese Straße wurde früher als »Heinestraße«                KHARLAMOV,
(ONLINE-         Antwort kommt reflexhaft und ergibt wie so oft kei­         bezeichnet, dann benannten sie die Nazis um, ein                MICHAEL
GESPRÄCH)        nen Sinn – dafür wird liebevoll von den „Onkeln Adolf       antisemitischer Akt. Inzwischen wurde die Rückbe­               STEINHAUSER
Q&A: DEUTSCH     und Benito“ gesprochen. Andere Ureinwohner*innen            nennung des Hamburger Bergs in einer klandestinen               Q&A: DEUTSCH
                 erinnern dankbar an die Geschichte der Kärntner             Aktion durch ein neues Schild »Heinestraße« vor­
DOUBLE           Slowenen und deren Kampf gegen die Faschisten,              weggenommen. Tatsächlich hatte sich die Bezirks­                DOUBLE
FEATURE          pflegen die alten Lieder und sind überzeugt, dass es        versammlung schon einmal dazu bekannt, der Stra­                FEATURE
MIT FILM S. 35   wundervoll ist, sich Sprachen zu teilen und Grenzen         ße ihren früheren Namen geben zu wollen. Doch das               MIT FILM S. 34
                 (auch die in den Köpfen) zu überwinden. Die Filme­          neue Schild stammt nicht von der Behörde.
                 macherin, so scheint es, muss nicht tief graben, um         Zum Film findet eine Diskussion mit den Filme­                    d o k la n d
                 diese bis heute widerstreitenden Geschichten zu hö­         machern Leonid Kharlamov und Michael Steinhau­                    hamburg
                 ren zu bekommen: Es liegt alles da, allen Staatsver­        ser statt, die über die Straßennamensfrage nun ein
                 trägen zum Trotz, ganz knapp unter der Oberfläche.          Theaterstück entwickeln. (rg)
                 Das Schlusswort hat jemand, der ganz neu in der Ge­
                 gend gelandet ist, auf der Flucht vor einem Krieg. Es
                 ist auf Arabisch. (mg)
34                                                                                                                                                            35
FILMPROGRAMM

               Ein Ort namens Wahala                                  Lagerhaus G
               Jürgen Ellinghaus, D 2021, 56 min, OmeU                Markus Fiedler, D 2022, 102 min, dt. OF
METROPOLIS     1903 schuf die deutsche Kolonialadministration beim    Zwischen der Hamburger Hafencity und der Veddel            d o k la n d
SO 24.04.      Flüsschen Chra in Togo eine »Besserungssiedlung«,      liegt der Kleine Grasbrook. Hier treffen altes Hafen­      hamburg
13.30 UHR      in der Personen, die der kolonialen Ordnung wegen      gebiet und große Pläne von Stadt und Investor*innen
               »Unbotmäßigkeit« im Wege waren, zwangsange­            aufeinander. Mittendrin: das Lagerhaus G am Des­          METROPOLIS
GAST: JÜRGEN   siedelt wurden. Kabiye, Losso, Konkomba, Gurma,        sauer Ufer. Der Speicher wurde 1903 erbaut, hier          SO 24.04.
ELLINGHAUS     Mossi, Kotokoli, Akposso und Moba wurden aus ihren     lagerte einst Reemtsma­Tabak und während des              15.30 UHR
Q&A: DEUTSCH   Heimatorten, meist Hunderte Kilometer entfernt,        Zweiten Weltkriegs war er Außenlager des KZ Neu­
               hierher nach Wahala gebracht. Ihre Stimmen aus der     engamme, in dem italienische Militärinternierte und       GÄSTE: MARKUS
               Vergangenheit brechen sich in Bildern der Gegen­       Jüdinnen für Zwangsarbeit im Hafen untergebracht          FIEDLER & TEAM
               wart. Am 11. November jeden Jahres wird am Sol­        waren. Der persönliche Kontakt zum langjährigen           Q&A: DEUTSCH
               datenfriedhof von Wahala feierlich der 1914 hier ge­   Besitzer des Lagerhauses ist Ausgangspunkt für den
               fallenen Soldaten und des Waffenstillstands, mit dem   Filmemacher, um auf Spurensuche nach Geschich­
               1918 der Erste Weltkrieg endete, gedacht. Im August    te und Gegenwart des Speichers zu gehen. Zeitzeu­
               1914, kurz nach der Schlacht an der Chra zwischen      ginnen und Historiker werfen einen Blick auf die im
               deutschen und französisch­britischen Kolonialtrup­     Hafen unsichtbare Geschichte der Zwangsarbeit. Der
               pen, wurde die erste deutsche Kapitulation des Ers­    Publizist und Mäzen Jan Philipp Reemtsma und die
               ten Weltkriegs unterzeichnet. Sie bedeutete die Auf­   Aktivitäten der »Initiative Dessauer Ufer« reflektieren
               gabe des damals als »Musterkolonie« bezeichneten       die Frage, ob – und wenn ja wie – in einem solchen
               Deutsch­Togoland. Aber die Geschichte von Wahala       Planungsgebiet würdiges Gedenken möglich ist. Da­
               reicht weiter zurück, und schon der Name des Ortes     bei wird deutlich, wie weitreichend die stadtpoliti­
               erinnert an seine schmerzhafte Vergangenheit. (rg)     schen und gesellschaftlichen Dimensionen sind. (sp)
36                                                                                                                                              37
FILMPROGRAMM                                                                                                      ABSCHLUSSFILM

                Nicht verrecken                                        Looking for Horses
                Martin Gressmann, D 2015-2021, 110 min, OmdU           Stefan Pavlović, NL/BIH/F 2021, 88 min, bosn. OmeU
 METROPOLIS     KZ Sachsenhausen, der Belag der Lagerstraße wech­      Auf der Suche nach dem Haus seiner Großmutter
 SO 24.04.      selt von Stein zu Asphalt, von Schotter zu Kies. Da­   in Bosnien begegnet der Filmemacher einer loka­
 18.30 UHR      rüber lässt man Gefangene laufen, erst 32, dann 48     len Legende: Am See lebt ein Mann allein auf einer
                Kilometer am Tag. Sechs Reichsmark pro »Läufer«        verlassenen Insel. Zdravkro ist Kriegsveteran, der in
 GAST: MARTIN   kassiert die SS von Schuhherstellern wie Salaman­      der Einsamkeit Zuflucht gefunden hat und seine Tage
 GRESSMANN      der, Bata und Co., die ihre Produkte dann auf Ab­      mit dem Fang von Welsen verbringt. Der See, sagt er,
 Q&A: DEUTSCH   rieb, Festigkeit und dergleichen untersuchen las­      habe ihn damals gerettet.
                sen. Später, die Rote Armee nähert sich den Lagern,    Zdravkro hat im Krieg sein Gehör verloren. Stefan,         METROPOLIS
                müssen die Häftlinge wieder laufen. In Kolonnen zu     der Regisseur, hat Schwierigkeiten beim Sprechen.          SO 24.04.
                500 werden sie auf Todesmärsche durch Branden­         Seine Muttersprache ist ihm nicht mehr vertraut,           21.30 UHR
                burg und Mecklenburg getrieben, durch Dörfer, wo       manchmal stottert er. Während ihrer gemeinsamen
                die Bewohner*innen verstohlen hinter den Fenstern      Zeit, in der sie Zdravkos Inselhütten besuchen, über       GAST: STEFAN
                stehen, die Erschießungen von Zurückbleibenden         die Vergangenheit sprechen und die Landschaft vom          PAVLOVIĆ
                beobachten. Schaut man genau hin, zeigt sich das       Wasser aus betrachten, lernen sich die beiden einsa­       (ONLINE-
                Schicksal der Gepeinigten noch im Gelände. Und die     men Männer kennen und kommen sich näher. Trotz             GESPRÄCH)
                Geschichte zeichnet auch die Menschen, die Über­       aller Verständigungsprobleme entwickelt sich eine          Q&A: ENGLISCH
                lebenden oder die »Bystander«: Geschehenes und         Freundschaft. Den Prozess ihrer Annäherung, eine
                Gesehenes ist allen eingebrannt … Sechs Jahre hat      Kette geteilter alltäglicher Momente, beobachtet der
                Martin Gressmann an dieser dichten Recherche ge­       Film mit Sensibilität und Sorgfalt und nimmt uns mit
                arbeitet, die uns wie eine präzise Tiefenbohrung das   auf eine persönliche Reise zwischen der Gegenwart
                Grauen der letzten Kriegstage vor Augen führt. (tg)    und der Vergangenheit. (fb)
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RETROSPEKTIVE TRINH T. MINH-HA

     “I do not intend to speak about,                          in ihrem Erstlingsfilm ›Reassemblage‹ proklamierte
     just speak nearby”                                        »speaking nearby« als poetische Form eines sprach­
                                                               lichen Handelns zu verstehen, als eine politische Hal­
     Seit den frühen 80er Jahren entwickelt Trinh T. Minh­     tung gegenüber sich selbst und der Welt.
     ha ein theoretisches, filmisches und poetisches Werk,     Diese Retrospektive widmet sich allen acht Filmen
     das als grundlegend für postkoloniale und feminis­        von Trinh T. Minh­ha, die zwischen 1982 und 2015
     tische Debatten gilt. 1952 in Hanoi geboren und in        entstanden sind und die stetig zwischen dem Doku­        KURATIERT
     Saigon aufgewachsen, emigrierte Trinh 1970 während        mentarischen und dem Fiktionalen transzendieren.         UND TEXTE VON
     des Vietnamkriegs in die USA. Nach einem Studium          Ihre Auffassung zum Filmemachen entwickelt sie aus       MAREN GRIMM,
     der Musikethnologie, Komposition und Französischer        einer manifesten Dringlichkeit: „Ich würde sagen,        JOHANNA KLIER,
     Literatur lehrt sie für drei Jahre im Senegal. Von 1992   dass meine Filme unsere Wahrnehmung der Realität         SOPHIE PETERSON
     bis 2022 war sie Professorin für Rhetorik sowie Gen­      und unsere Erfahrung des Kinos verändern sollen –
     der­ und Frauenforschung an der UC Berkeley. Die          was die Gesamtheit unseres Körpers involviert.“ Die
     Autorin, Theoretikerin, Künstlerin, Komponistin und       Betonung der körperlichen Erfahrung ist in diesem
     nicht zuletzt Filmemacherin bezeichnet ihre filmische     Kontext entscheidend, denn Trinhs Filme stellen hohe
     und textliche Arbeit als Grenzereignis, das im Dazwi­     Erwartungen an die Seh­ und Hörgewohnheiten des
     schen von Kategorien stattfindet und somit den Deu­       Publikums. Sie begreift den Raum des Kinos als einen
     tungsanspruch autoritärer Formen herausfordert und        Ort, der diese Körperlichkeit aktivieren kann, hier
     dekonstruiert. 1989 erscheint ihr einflussreiches Buch    entfalten die Filme ihre subtile, aber nicht minder
     ›Woman, Native, Other‹, mit dem sie einen transdis­       radikale, politische Haltung.
     ziplinären Denkraum eröffnet, in dem Trennlinien von      Trinh T. Minh­ha kann leider beim Festival nicht an­
     Kunst und Wissenschaft verwischen und der vorherr­        wesend sein. Sie wird die Q&As sowie die Masterclass
     schende Kanon enthierarchisiert wird. So ist auch das     live per Video abhalten.
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RETROSPEKTIVE TRINH T. MINH-HA

             Surname Viet Given Name Nam                              Shoot for the Contents
             Trinh T. Minh-ha, USA 1989, 108 min, vietn./engl. OmeU   Trinh T. Minh-ha, USA 1991, 101 min, engl. OF
METROPOLIS   Das Verhältnis von Nation und weiblicher Identität       Zitate und Allegorien ziehen sich durch den Film; eine
DO 21.04.    ist das Thema des Films. Fünf Frauen berichten in        fragende Vielstimmigkeit bleibt bis zuletzt. Die Blicke
15.30 UHR    experimentellen Porträtsituationen von den tiefen        suchen zunächst das Exotische, „Typische“: die tradi­
             Gräben des Misstrauens in der vietnamesischen            tionellen Künste Chinas – Kalligrafie, Malerei, Oper,
             Gesellschaft, die von Kolonialherrschaft und Krieg       Gartenkunst –, die ländliche Lebensweise, in Erd­
             gezeichnet ist. Sie erzählen von ihrer Arbeit, ihren     bauten, Stelzendörfern, Kanalstädtchen. Die Kamera
             Erinnerungen und den Familienkonstellationen, von        scheint hier seltsam stumm, mäandernd, unbeteiligt.
             den Schwierigkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu       Gespräche, teils inszeniert, teils überlappend und
             führen. Archivbilder unterschiedlicher Zeiten, die von   asynchron geschnitten, finden in separaten Settings
             Berichten und Gesängen aus dem Off begleitet wer­        statt; sie berühren Filmzensur, Tian’anmen und Chi­
             den, verdichten sich zu einer großen Erzählung über      nas Afrikapolitik.
             die Frauen in Vietnam. Die Porträts werden immer         China als mysteriöses Gebilde, das, dem alten, in          METROPOLIS
             wieder durch Irritationen auf der Bild­ oder Tonebene    der Elite beliebten Gesellschaftsspiel gleich, durch       DO 21.04.
             gestört. Brüche in der Übersetzung und das Inein­        wiederholtes Raten entschlüsselt werden soll: „Den         17.45 UHR
             anderfließen von gesprochenem, gesungenem oder           Inhalt (verschlossener Kästen) erraten“, auch: ›Shoot
             schriftlichem Wort verwischen, was Fiktion und was       for the Contents‹ kann somit auf dokumentarische           GAST: TRINH T.
             Wirklichkeit ist. Die Frage „Was ist ein Interview?“     Praxen per se verweisen oder in Bezug auf das Nie­         MINH-HA
             lädt schließlich dazu ein, die komplexen Bedingungen     derschießen der Tian’anmen­Proteste gelesen wer­           (ONLINE-
             und Verhältnisse von Repräsentation zu reflektieren.     den. „They couldn’t distinguish all the different forms,   GESPRÄCH AUF
                                                                      so they were aiming blindly at the contents.“              ENGLISCH)

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RETROSPEKTIVE TRINH T. MINH-HA

             The Fourth Dimension                                       The Politics of Form and Forces
             Trinh T. Minh-ha, USA/JPN 2001, 97 min, engl. OF           Onlinevortrag von Trinh T. Minh-ha
METROPOLIS   Für diesen Film arbeitet Trinh erstmalig mit digitaler     „Für mich durchzieht Politik das tägliche Leben; sie        AULA DER
FR 22.04.    Kamera. Das Ergebnis ist, wie sie selbst sagt: „Ein        ist Dimension des Bewusstseins der eigenen Exis­            HOCHSCHULE
16.30 UHR    Bild von Japan, vermittelt durch die Vision einer digi­    tenz. [...] Die Form stark zu machen, heißt, den wich­      FÜR BILDENDE
             talen Maschine, die die Zeit dehnen und modellieren        tigen Beitrag [des] Lebens als kontinuierlichen krea­       KÜNSTE
             kann.“ Sie kompiliert Szenen aus dem öffentlichen          tiven Prozess anzuerkennen.“                                FR 22.04.
             Leben, in Städten, an religiösen Orten, profanes All­      In diesem Vortrag geht es um Politiken der Form und         19 UHR
             tagsgeschehen und traditionelle Tänze und Rituale.         damit um eine Konstante in Trinhs Gesamtwerk. Für
             Dazu denkt die Filmemacherin aus dem Off über              ihre Filme bedeutet das, die Auseinandersetzung mit         VORTRAG UND
             Wahrnehmungsapparate, die Rolle der Technologie            der Form in ihrer jeweiligen Anwendung sichtbar zu          DISKUSSION
             und sich wandelnde Beziehungen nach: zu und zwi­           machen und das Bewusstsein des Publikums immer              AUF ENGLISCH
             schen Bildern und ihren Bedeutungen, zwischen Zeit         auch auf den Prozess der Herstellung zu lenken.
             und Erinnerung und darüber, wie die Produzent*innen        Form und Inhalt befinden sich Trinh zufolge in einer        IN KOLLABORATION
             der Bilder zugleich individuell und kollektiv ein Archiv   untrennbaren Wechselwirkung zueinander. Die darin           MIT PROF. ANJA
             dieser Beziehungen erstellen. Nicht zuletzt hat sich       liegende Bedeutung kann nur politisch wirksam wer­          STEIDINGER UND
             der kunsthistorische Diskurs des Westens schon im­         den, wenn sie beweglich und unabhängig von Auto­            PROF. NORA
             mer besonders für das »Andere« in der Perspektive          ritäten bleibt. „In seiner Forderung nach Bedeutung         STERNFELD
             der fernöstlichen Bildgebungstechniken interessiert        vergisst das Dokumentarische häufig, wie es entstan­
             – gewissermaßen führt Trinh auch diese Auseinan­           den ist, und dass das Ästhetische und das Politische
             dersetzung mit den Mitteln des Digitalen fort.             in ihrer Beschaffenheit untrennbar sind.“ Vortrag und
                                                                        Diskussion finden in englischer Sprache statt. Anmel­
                                                                        dung erbeten über einladung@dokfilmwoche.com.
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RETROSPEKTIVE TRINH T. MINH-HA

               Forgetting Vietnam                                       Naked Spaces – Living Is Round
               Trinh T. Minh-ha, USA 2015, 90 min, engl. OF             Trinh T. Minh-ha, USA 1985, 135 min, engl. OF
METROPOLIS     ›Forgetting Vietnam‹ ist eine filmische Auseinander­     In einer Kreisbewegung führt Trinh uns durch die B-MOVIE
SA 23.04.      setzung mit dem Erbe des Vietnamkriegs, 40 Jahre         Kulturgeschichte des Bauens und Wohnens in sechs SO 24.04.
18 UHR         nach dessen Ende. Trinh baut ihre Erzählung auf den      Ländern Westafrikas. Die Bewegungen der Kame­ 15.30 UHR
               zentralen Mythen Vietnams auf und entfaltet den Film     ra, die Montage und der Einsatz von Sound erinnern
GAST: TRINH    als einen Dialog zwischen Land und Wasser. Land          an ihr Debüt ›Reassemblage‹ – doch stellt die Film­
T. MINH-HA     (đất) und Wasser (nứớc) bilden im Vietnamesischen        länge andere Anforderungen an das Publikum. Drei
(ONLINE-       den Begriff der Nation (đất nứớc) und sind somit in      Frauenstimmen aus dem Off stellen Informationen,
GESPRÄCH AUF   der Entstehung Vietnams untrennbar. Dieser ele­          Erfahrungen, Sprichwörter oder Redensarten zur Ver­
ENGLISCH)      mentare Gegensatz ist zugleich kulturelles Konzept       fügung. Sie vollziehen eine behutsame, umkreisende
               und ordnendes Prinzip des Films. So changiert ›For­      Bewegung im Denken, eine Annäherung nah an das
               getting Vietnam‹ zwischen Aufnahmen von 1995 und         Gezeigte heran: ›Living is Round‹. Es bleibt dennoch
               2012 – zwischen Vergessen und Erinnerung, Altem          unmöglich, sich die Bilder anzueignen, das Gesehene
               und Neuem. Im Alltag ihrer Protagonistinnen spielen      klar einzugrenzen, zu verstehen, worum genau es geht.
               diese Dualitäten eine wichtige Rolle. So erwachen        Mehr als einmal sind Aussagen in einem jeweils ande­
               die alten Kriegstraumata im kollektiven Gedächtnis       ren visuellen Kontext zu hören. Es entstehen Bedeu­
               immer wieder neu, sobald aktiv versucht wird, sie        tungsverschiebungen; Bedeutungen beeinflussen sich
               zu vergessen. Gleichwohl hinterfragt der Film durch      gegenseitig, weiten sich aus und ergänzen sich. Somit
               das Aneinanderfügen der verschiedenen Aufnahme­          führt Trinh den radikalen, konfrontativen Einschnitt,
               zeiträume den Imperativ einer linearen Zeitlichkeit in   den ›Reassemblage‹ im wissenschaftlichen und im
               Bezug auf Vergangenes und Gegenwart. Beide sind          experimentellen Dokumentarfilm markiert hat, in einer
               immer Ausdruck des jeweils anderen.                      ausladenden Geste fort.
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