Infoeins19 Das Fremde - DSGTA-Info

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SCHWERPUNKT-THE MA:

Das Fremde
Wann ist das Fremde das Gegenteil des
Vertrauten und wann ist es eine Projek-
tion des Eigenen? Was ist der Reiz des
Fremden und wann macht es uns Angst?

Schwerpunkt-Thema: Das Fremde mit Andreas Becker S. 04, René Isenschmid S. 08, Silvia Schnorf S. 13,
Gabriela Egeli S. 24 und Tanja Kernland S. 29 | Jahresbericht des Vorstandes DSGTA S. 19
Wichtige Mitteilung S. 20 | Protokoll DSGTA-Generalversammlung 9. März 2018 S. 21
Buchrezension von Maya Bentele: Tim Marshall | Abschottung – Die neue Macht der Mauern S. 33
Infoeins19 Das Fremde - DSGTA-Info
DAS LEBENSSKRIPT IN AKTION                                       PRÜFUNGSVORBEREITUNG CTA C/E/O
Almut Schmale-Riedel, TSTA-P/C                                   Probeexamen, Teilprobeexamen, Tonbänder, professionelle
➜ 16./17. August 2019: Freitagabend + Samstag                    Selbstdarstellung u.ä.
                                                                 mit Franz Liechti-Genge TSTA-C/E, Antonia Giacomin PTSTA-E und
                                                                 Kathrin Rutz, TSTA-O
ZU VIEL UND ZU WENIG                                             ➜ 6/7. September 2019
Dr. Gudrun Jecht, TSTA-P
➜ 13./14. September 2019: Freitagabend + Samstag                 EIDG. FACHAUSWEIS AUSBILDER/IN
                                                                 Zusatzmodul nach der TA-Grundausbildung und SVEB I
POP-UP TA
                                                                 ➜ Start am 20. Mai 2019, 6 Tage
Nach der Grundausbildung oder als CTA TA-Modelle und
Konzepte auffrischen
                                                                 PTSTA-TRAINING «LEHREN LERNEN»
➜ Mi, 11. September 2019, 17.30 - 21.00 Uhr
➜ Mo, 18. November 2019, 17.30 - 21.00 Uhr                       Ausbildung Level II mit Franz Liechti-Genge, TSTA-C/E
                                                                 ➜ 1./2. Juli 2019

                                                                 BESUCHEN SIE UNSERE WEBSITE: WWW.EBI-ZUERICH.CH

                                                       Ausbildung am Institut b-weg

                               Professionalisierung in
                                    Transaktionsanalyse
                                                        > Bereiche Organisation & Beratung

                                                        > Kommunikationskompetenz
                                                          Der 101-Basiskurs in Transaktionsanalyse

                                                        > Beraterkompetenz
                                                          Grundausbildung in Transaktionsanalyse
                                                          Dreijährige Grundausbildung

                                                        > Systemische Transaktionsanalyse
                                                          Master-Gruppe

                                                        > Weiterbildung für PTSTA
                                                          Für lehrende TA’lerinnen

                                                          Institutsleiterin                                www.b-weg.ch
                                                          Maya Bentele TSTA - O/C                          www.bentele.ch
                                                          Weiterbildungen in Winterthur, Institut taat     Tel: +41 (0)44 253 23 36
Infoeins19 Das Fremde - DSGTA-Info
DAS FREMDE IST
                              LEBENSLANG QUELLE
                            MENSCHLICHEN LERNENS.

                      Liebe Leserinnen, liebe Leser.         wicklung geschehen kann? Warum
                      „Das Fremde ist lebenslang Quel-       löst Fremdes das Gefühl von Fremd-
                    le menschlichen Lernens.“ Das war        sein aus und warum macht uns Frem-
                    eine der Konklusionen, die Prof. Dr.     des so leicht Angst? Was passiert
                    Lena Lämmle an ihrem Referat an          mit uns, wenn wir mit Fremden
                    der GV der DSGTA zog. Mir gefällt        konfrontiert sind? Was geschieht,
                    diese Aussage und ich finde es sehr      wenn uns die Eltern fremd werden,
                    spannend, jedes Wort in den Kontext      weil sie eine Demenz entwickeln?
                    des Fremden zu stellen: Lebenslang       Und – was ist der Reiz des Fremden,
                    gibt es Erfahrungen, die neu sind, die   beispielsweise beim Reisen? Wann
                    uns immer wieder herausfordern,          beginnt sich der Bezugsrahmen zu
Isabelle Thoresen
                    ja sogar unsere letzte Erfahrung in      verändern? Über diese Fragen haben
                    diesem Körper ist vermutlich eine der    sich die Autorinnen und Autoren der
                    fremdartigsten. Das Fremde ist eine      aktuellen Schwerpunktbeiträge Ge-
                    Quelle. Während eine (Wasser)Quelle      danken gemacht. Garniert ist dieser
                    im Grunde genommen eigentlich ja         bunte Blumenstrauss mit einem irri-
                    auch etwas Fremdes symbolisiert,         tierenden Fremdkörper, der aneckt.
                    nämlich Wasser, das scheinbar aus        Nicht zuletzt, weil selbst der feine
                    dem Nichts aus dem Boden fliesst,        Humor in dieser Geschichte fremd-
                    ermöglicht sie dort Leben. Ein Quell     artig wirkt.
                    ist auch Inspiration: Fremdes – so-
                    fern es im richtigen Mass aufgenom-        Mit dem kommenden info (Herbst-
                    men werden kann (und uns nicht           ausgabe 2019) werden wir einen wei-
                    masslos überfordert) – inspiriert,       teren Schritt in die Fremde machen.
                    befruchtet, gibt neue Ideen, neue        Ziel davon ist, Nähe zu schaffen.
                    Sichtweisen. Das Fremde ist aber         Nähe zur Romandie. Im nächsten info
                    in gewisser Hinsicht auch etwas          werden wir die Schwerpunktartikel
                    zutiefst menschliches, denn es be-       gemeinsam mit ASAT-SR publizieren.
                    inhaltet eine Bewertung. Kein ande-      Zur Hälfte in Französisch. Und nur
                    res Lebewesen dieser Welt beurteilt      noch in digitaler Form. Wir wagen
                    (scheinbar) Fremdes so eigenartig        diesen Schritt, weg vom Vertrauten,
                    wie der Mensch. Und das Fremde           Geschätzten. Weg von der Tradition
                    lässt uns lernen, Entwicklung ge-        des Papiers. Hin in eine neue Welt,
                    schieht immer an der Grenze zum          in welcher sich neue Möglichkeiten
                    Unbekannten, zum Neuen.                  auftun, Möglichkeiten, die unseren
                                                             Bezugsrahmen erweitern und Quelle
                       In diesem info umkreisen wir das      neuer Ideen sein werden.
                    Fremde aus verschiedenen Perspek-
                    tiven. Wie steht das Fremde zum Ver-       Ich wünsche Euch viel Inspiration
                    trauten? Inwiefern benötigen sich        und neue, bereichernde Gedanken.
                    diese zwei Gegensätze, damit Ent-

                                                                                Isabelle Thoresen

info eins 19                                                                              Editorial | 1
IMPRESSUM

                                                 Herausgeberin
                                                 DSGTA, Postfach 3603, 8021 Zürich

                                                 Redaktionsschluss
                                                 info zwei19: 15. September 2019
                                                 info eins20: 15. März 2020

                                                 Erscheinungsdaten 2019/2020
                                                 info zwei19: Ende Oktober 2019 (digital, gemeinsam mit ASAT-SR)
                                                 info eins20: Ende April 2020 (voraussichtlich digital, gemeinsam mit ASAT-SR)

                                                 Auflage
                                                 900 Exemplare

                                                 Redaktion
                                                 Isabelle Thoresen
                                                 isabelle@thoresen.ch

                                                 Inserate / Werbebanner und Preise
                                                 1⁄1 Seite: Breite x Höhe | 186 × 255 mm | farbig Fr. 1000.–
                                                 ½ Seite: Breite × Höhe | 186 x 125 mm | farbig Fr. 500.–
                                                 ¼ Seite: Breite × Höhe | 90 x 125 mm | farbig Fr. 260. –
                                                 1⁄₈ Seite: Breite × Höhe | 90 x 60 mm | farbig Fr. 170.–
                                                 Farbige Inserate werden auf zweiter und dritter Umschlagseite gedruckt.
ERINNERUNG                                       infoonline / online Werbebanner:
                                                 Einfache Werbebanner Fr. 160.–
Es besteht immer wieder Unsicherheit             Animierte Werbebanner Fr. 200.–
in der Anwendung von Titeln in verschie­         Grösse: 300x250 px | max. 200 KB | mögliche Dateiformate .gif, .jpg
denen Ausbildungsstadien der Transak­            www.dsgta.ch
tionsanalyse.

Laut EATA dürfen folgende Bezeich­nungen         Gestaltung
verwendet werden:                                Mediamacs KG, 39100 Bozen, Südtirol, Italien

•   nach bestandenem Examen:                     Druckerei
    geprüfte(r) TransaktionsanalytikerIn
                                                 Schmid-Fehr AG, 9403 Goldach
    oder Certifizierte(r) Transaktions­
     analytikerIn oder schlicht Trans­aktions­
     analytikerIn oder ganz korrekt              Textbeiträge/Inserate:
     TransaktionsanalytikerIn CTA-P              Texte als PDF oder als Word-Datei (.doc, .docx, .rtf, .txt). Achtung:
     TransaktionsanalytikerIn CTA-C              Bei Word-Dateien sind Abweichungen in Darstellung und Schrift nicht
     TransaktionsanalytikerIn CTA-E              auszuschliessen. Bilder und Grafiken bitte zusätzlich als separate
     TransaktionsanalytikerIn CTA-O
                                                 Dateien liefern, mit Auflösung für Druck (300 ppi).
•   mit Vertrag:
    in fortgeschrittener Ausbildung             Eingesandte Inserate und Kursangebote werden von der Redak­tionsleiterin
     in Transaktionsanalyse                      bestätigt. Ohne Bestätigung ist davon auszugehen, dass sie diese nicht
                                                 bekommen hat.
•   mit Bestätigung Praxiskompetenz:
    Praxiskompetenz in Transaktions­
     analyse, z.B. BudgetberaterIn mit           Die Redaktionsleiterin Isabelle Thoresen
     Praxis­kompetenz in Transaktions­
     analyse

2 | Editorial
INHALT         SCHWERPUNKTTHEMA            AUS DEM VORSTAND
               Das Fremde                  Jahresbericht des
               (Andreas Becker)            Vorstandes DSGTA
               04                          19

               Wenn das Heimische          Wichtige Mitteilung
               fremd wird …                und Aufruf
               (René Isenschmid)           20
               08
                                           Protokoll DSGTA -
               Sichtlich getrübt –         Generalversammlung
               das Fremde                  09. März 2019
               (Silvia Schnorf)            21
               13
                                           Wichtige Termine
               Demenz - wenn aus einem     für die TA-Agenda
               vertrauten Menschen         34
               ein Fremder wird
               (Gabriela Egeli)            Neumitglieder
               24                          35

               Dem Fremden täglich
               ausgesetzt – eine Familie   REDAKTIONELLES
               reist um die Welt           Artikel gesucht
               (Tanja Kernland)            Das Hallo-Spiel
               29                          Neu aufgeschnappt
                                           Anmerkung der Redaktion
                                           32
               AUS DEN KOMMISSIONEN
               Tätigkeitsbericht 2019      Buchrezension von
               der Ausbildungs- und        Maya Bentele:
               Prüfungskommission (APK)    Tim Marshall | Abschottung –
               36                          Die neue Macht der Mauern
                                           33
               Ethikkommission der
               SGTA/ ASAT: Bericht 2018
               37                          VORSTAND
                                           39
               Bericht aus der EATA
               37

               Bericht Fachgruppe
               Beratung
               38

               Who’s who August 2018
               39

info eins 19                                                              Inhalt | 3
Andreas Becker                                                            DAS FREMDE
andreasbecker@lebensbunt.com
                                                            „WER ZUGLEICH SEINEN
                                                          SCHATTEN UND SEIN LICHT
                                                           WAHRNIMMT, SIEHT SICH
                                                             VON ZWEI SEITEN UND
                                                        KOMMT DAMIT IN DIE MITTE.“
                                                                                            (C.G. JUNG)

                   Andreas Becker

                     Das Fremde ist immer anwesend, das        gerät, weil ich z.B. „als guter Mensch“
                   Eigene auch. Interessant ist, dass mir      jemand anderen geschädigt habe, wenn
                   zum Begriff des Fremden kein Gegenteil      das Fremde sich nicht mehr ausklam-
                   einfällt. Das Bekannte? Das Vertraute?      mern lässt und auf einmal eine Wirkung
                   Das Eigene? Nein, auch das Fremde kann      entfaltet, dann entstehen oftmals schwer
                   mir bekannt und vertraut werden, auch       auszuhaltende Empfindungen wie Angst,
                   im Fremden kann ich Eigenes entdecken.      Schmerz, Scham, Ohnmacht, Orientie-
                   Und das Eigene? Das ist mir natürlich       rungslosigkeit.
                   vertraut, aber wenn ich mutig bin, dann        Ich ahne, dass es weder ein Gegenteil
                   erkenne ich in mir Anteile, die mir zwar    zum Fremden noch eines zum Vertrauten
                   vertraut sein mögen, die mir aber gleich-   gibt, sondern dass beides nur Anteile
                   zeitig immer auch etwas fremd sind. Und     eines komplexen Ganzen sind, die sich
                   immer wieder finde ich in mir Anteile,      sogar ineinander umwandeln können.
                   Bestrebungen, Bedürfnisse, Ängste, die      So z.B., wenn die Eigenart des Einen
                   mir neu sind und bis dato mir selber ver-   dem Anderen zuerst fremd, eigenartig
                   borgen, eben fremd waren.                   und später liebenswert vorkommt. Das
                     Braucht es überhaupt ein Gegenteil-       nennt man dann wohl Integration des
                   paar? Es braucht dann eines, wenn ich       Fremden. Gleichzeitig könnte man es
                   in Schwarz oder Weiss, Gut oder Böse,       aber genauso Integration des Eigenen
                   Richtig oder Falsch aufteile. Wenn Kom-     (in etwas Grösseres) nennen.
                   plexität reduziert werden muss, damit          Das Eigene. Was macht das Eigene
                   die Welt oder Teile von ihr überhaupt       aus? Individualität, Einzigartigkeit und
                   noch fassbar bleiben, ist es notwendig      Identität sind Begriffe, die mir hier ein-
                   abzutrennen, auszuklammern, zu fokus-       fallen. In den Momenten, in denen ich
                   sieren. Im Moment des dualistischen         mir meiner Einzigartigkeit bewusst bin,
                   Weltbildes braucht es Gegensatzpaare.       bin ich mir auch meiner Unterschied-
                   Wenn diese Aufspaltung aber in Gefahr       lichkeit zu Anderen bewusst. Das kann

    4 | Schwerpunktthemen
dann heissen, dass die Anderen mir in           gegenüber hat man in der Regel diese
            dem Moment fremd sind, muss es aber             Einstellung nicht, fordert häufig sogar,
            nicht. Einzigartigkeit ist ein Teil der Iden-   dass diese Mundart lernen. Wenn man
            tität von Menschen und sie konstruiert          weiss, dass Sprache Zugehörigkeit defi-
            sich auch durch Unterscheidung. Wenn            niert, wenn man weiss, dass Deutsche
            man auf das Spüren der eigenen Iden-            und Deutschschweizer sehr viele Ge-
            tität fokussiert, dann braucht es nicht         meinsamkeiten haben und wenn man
            nur Unterschiedlichkeit, sondern auch           weiss, dass das Schweizerdeutsch erst
            das Fremde. In dem Moment, in dem ich           nach dem zweiten Weltkrieg wieder die
            mich mit Anderen identifiziere, z.B. um         Sprache aller Deutschschweizer, unab-
            nachempfinden zu können, was diese              hängig von der Schichtzugehörigkeit,
            fühlen, mache ich mich gleich und ver-          wurde, so liegt die Vermutung nahe,
            liere meine Identität. Die Eigenheit einer      dass die Motivation der Reaktionen auf
            Person oder sozialen Gruppe kann also           mein Sprachlernen in einer Bewahrung
            erst an der Unterscheidung zum Anderen          der eigenen Identität als Abgrenzung zu
            empfunden werden.                               Deutschland beruht.
               Dieses Phänomen wird immer wie-                Soziale Systeme, z.B. Bevölkerungs-
            der bei Jugendlichen deutlich, die sich         teile, IT-Abteilungen, Liebespaare, Trans-
            abgrenzen, anders sein wollen, um das           aktionsanalytiker, brauchen ihre eigene
            Gefühl einer anderen, besonderen Zu-            Sprache als Abgrenzung zum Fremden,
                             gehörigkeit zu ihren           um eine eigene Gruppen-Identität
                             Peers herzustellen.            („Wir-Gefühl“) zu entwickeln. Das An-
                             Zum einen entwickeln           dere und das Fremde haben also nicht nur
   Einzigartigkeit ist       die Jugendlichen unter         einen Existenzanspruch an sich, sondern
ein Teil der Identität       sich eine andere Spra-         sind notwendig, um das Eigene empfin-
 von Menschen und            che. Die eigene Kommu-         den zu können. Gleichzeitig ist es not-
      sie konstruiert        nikation definiert das         wendig, dass die einzelnen Personen sich
                             soziale Subsystem. Nur         innerhalb dieses sozialen Systems über
     sich auch durch
                             wer genau diese Spra-          eine kritische Distanz ihre Einzigartigkeit
     Unterscheidung          che spricht, der gehört        be-wahren, damit sich das System über-
                             dazu. Die eben noch ak-        haupt lernend weiterentwickeln kann. So
                             zeptierten Eltern werden       tragen sowohl die teilweise Ausgrenzung
                             dann in dieser Sprache         als auch die teilweise Integration des
            als „Spiesser“ angesehen, indem ihnen           Fremden zum Überleben eines sozialen
            bestimmte Eigenschaften oder Vorlieben          Systems bei.
            zugeschrieben werden, die man selber              Lernen bzw. Persönlichkeitsentwick-
            ablehnt. So bildet sich die eigene Iden-        lung kann im weitesten Sinne als Aneig-
            tität über den Weg eines „anderen, sich         nung und Integration von etwas Neuem
            unterscheidenden Erwachsenen“ heraus.           und/oder etwas Ungekonnten definiert
               Ich selber bin Deutscher und lebe in         werden. Egal, ob das Lernen von etwas
            der Schweiz, meiner Wahlheimat. Ich             Neuem bewusst oder unbewusst ver-
            bemühe mich um Integration, möchte              läuft, es braucht auf jeden Fall einen An-
            sozial akzeptiert sein und dazugehören.         schluss an das Vorhandene, um gelernt
            Was läge da näher, als die Sprache zu           werden zu können (Hüther 2016). Dieser
            lernen? Dies aber ist ein Punkt, an dem         Anschluss wird darüber hinaus durch
            ich immer wieder auf eine mehr oder             eine Sinnhaftigkeit gesteuert. Das Lernen
            weniger subtile Form von Ablehnung              von etwas Neuem muss Sinn machen,
            bzw. Ausgrenzung stosse. Ich bekomme            sonst lernen wir es nicht nachhaltig.
            immer wieder mit unterschiedlichen Be-          Hat das Fremde keinen Anschluss, so
            gründungen gesagt, ich solle doch gar           wird die (meist verordnete) Integration
            nicht erst anfangen, „Schwiizzerdütsch          als überfordernd erlebt!
            z'redde“. Fremden aus anderen Regionen

info eins 19                                                                                    Schwerpunktthemen | 5
Egal, in welchem
Zusammenhang und
Setting wir Menschen
begleiten, wir werden
in der Regel langsam
miteinander vertraut
und bleiben uns
gleichzeitig fremd

                Im Bezug zum Thema dieses          gel langsam miteinander ver-          Anschluss finden, was dann
              Artikels ergibt sich daraus also     traut und bleiben uns gleichzei-      insgesamt etwas Neues ergibt.
              die Frage: „Ist das jeweils Fremde   tig fremd. Zwei Fremde, die sich      Das bedeutet aber auch, dass das
              anschlussfähig an meinen Be-         immer mehr lernen können und          Fremde nicht so fremd sein darf,
              zugsrahmen und macht die In-         sich nie wirklich wissen werden.      dass es keinen Anschluss findet.
              tegration dessen Sinn für mich?“     Genau das ist für mich das Span-      Beispielsweise kann jemand, der
              Diese Fragen markieren für mich      nende an der Persönlichkeitsent-      in einer Familie mit weitgehen-
              die Grenze der Integration des       wicklung. Auch nach so vielen         der Harmonie aufgewachsen ist,
              Fremden bzw. die Grenze des          Jahren ist es immer wieder her-       nicht nachfühlen, wie sich eine
              Selbsts zu einer gegebenen Zeit.     ausfordernd für mich, eine Ent-       Paarbeziehung sicher anfühlen
                                                   wicklung fördernde Wirkung an         kann, wenn der Zusammenhalt
                Was bedeutet dies alles nun        einer Stelle in einem Beratungs-      auf ständigen Konflikten basiert.
              für uns als professionelle Be-       prozess zu haben, an dem für          Das ist dann zwar verstandes-
              gleiter/innen von Menschen? Ich      alle Beteiligten klar ist, dass die   mässig zu erfassen, nicht aber
              möchte diese Frage im Folgenden      Lösung ausserhalb des eigenen         emotional. So wird der/dem Pro-
              hauptsächlich in den Kontext der     Bezugsrahmens liegt. In die-sem       fessionellen in der Begleitung
              Einzel- und der Paarberatung         Sinne ist Persönlichkeitsent-         eines Klientensystems immer
              stellen.                             wicklung oder die gemeinsame          einiges fremd bleiben. Das zu
                Egal, in welchem Zusammen-         Entwicklung eines Paares die          akzeptieren ist sehr wichtig, um
              hang und Setting wir Menschen        Integration fremder Aspekte,          die Klienten respektvoll begeg-
              begleiten, wir werden in der Re-     indem diese an etwas Eigenem          nen zu können.

   6 | Schwerpunktthemen
seinen eigenen Bedürfnissen,         bleibt der emotionale Umgang
                                    Wünschen und Sehnsüchten zu-         des Partners zwar fremd, aber
                                    zumuten, dem Partner aber nicht      sie erkennen, wofür der jeweils
                                    die Verantwortung der Erfüllung      Andere jedem ein Leitbild der
                                    dieser aufzubürden. Wenn das         eigenen Entwicklung sein kann.
                                    paarweise gelingt, dann stehen         Transaktionsanalytisch be-
                                    zwei Menschen miteinander in         trachtet entsteht in diesen Mo-
                                    Verbindung, in der jeder sei-        menten eine Bewusstheit beider
                                    ne Identität behält. Dieses ist      Partner über das Zusammenge-
                                    in Schellenbaums Augen die           hören und ihre wechselseitige
                                    Voraussetzung dafür, dass die        Abhängigkeit von einander (Sy-
                                    Partner sich gegenseitig ein Leit-   mor 1992).
                                    bild für ihre eigene Entwicklung
                                    werden können („Leitbildspiege-        Das Fremde an sich muss also
                                    lung“). Erst diese Rücknahme der     kein Problem sein, entscheidend
                                    Projektionen in Bezug auf das        ist der Umgang damit. Frei nach
                                    „Befremdliche“ lässt Menschen        dem oberen Zitat von C.G. Jung
                                    das Gegenüber sehen, wie es ist,     könnte man sagen: „Wer zugleich
                                    so dass Zusammengehörigkeit          das Eigene und das Fremde
                                    entstehen kann.                      wahrnimmt, der sieht die Welt
                                       Noch ein Beispiel aus meiner      von zwei Seiten und kommt da-
                                    Arbeit als Paarberater: Sie be-      mit in Bezug zu ihr, so dass er sie
                                    klagt sich über seine emotiona-      im Rahmen seiner Möglichkeiten
                                    le Verschlossenheit, die sie als     erwachsen gestalten kann.“
                                    „Gefühllosigkeit“ bezeichnet. Er
                                    solle sich ändern, sonst beendet
                     © Pixabay

                                    sie die Beziehung. Ich erlebe den
                                    Mann auch als emotional ver-
                                    schlossen, oder besser ausge-
                                    drückt, als hilflos im emotiona-
                                    len Ausdruck. Gleichzeitig wirkt
  Eine wichtige Frage für unse-     er auf mich sehr zugewandt und
re Professionalität lautet also:    liebevoll seiner Frau gegenüber.
„Was muss mir (bewusst und un-      Diese bestätigt meine Empfin-
bewusst) fremd bleiben, damit       dung auch, beharrt aber darauf,      Literaturangaben:
meine Identität nicht zu stark      dass ihr Mann „emotional unter-      • Buber, M. (2008), Ich und Du. Stuttgart:
                                                                            Reclam.
bedroht wird?“ „Was ist so wich-    entwickelt“ und „empathielos“        • Cornell, W.F. / Landaiche, M., Engpass und
tig für meine Identität, dass es    sei. Sie wiederum trägt Gefühle         Intimität in der Paar-Beratung, Zeitschrift
                                                                            für Transaktionsanalyse, 24
als fremd definiert bleiben muss    zu Markte und hat die Tendenz,       • Garz, D. (2008), Sozialpsychologische Ent­
und was darf integriert werden?“    diese gross zu machen, um das           wicklungstheorien. Wiesbaden: VS Verlag
                                                                            für Sozialwissenschaften
Dieses gilt sowohl für das Klien-   Gefühl des gesehen werden            • Hendricks, G. / Hendricks, K. (2004), Liebe
tensystem als auch für die/den      zu bekommen. In diesem Dra-             macht stark. München: Goldmann
                                                                         • Hüther, G. (2016), Mit Freude lernen – ein
Professionelle(n)! Schon Peter      matischen wirkt sie zwar sehr           Leben lang. Göttingen: Vandenhoeck &
                                                                            Ruprecht
Schellenbaum (1986) hat darauf      emotional, zeigt sich aber nicht     • Kast, V. (2000), Der Schatten in uns: die
aufmerksam gemacht, dass der        wirklich mit ihrer Angst - genau        subversive Lebenskraft. Zürich und Düssel­
                                                                            dorf: Walter
Prozess der Nichtintegration des    wie ihr Mann. Dieser hat nur         • B. SCHÄFER / B. SCHLÖDER: Identität und
Fremden eben auch teilweise an-     den gegenteiligen Weg des Mi-           Fremdheit. Sozialpsychologische Aspekte
                                                                            der Eingliederung und Ausgliederung des
zustreben ist. In seinem bekann-    nimierens gewählt. Erst als die         Fremden
ten Buch „Das Nein in der Liebe“    Frau dieses zu sehen beginnt,        • Peter Schellenbaum, P. (1986), Das Nein in
                                                                            der Liebe. München: dtv
setzt er sich für Abgrenzung in     wird sie ihrem Mann gegenüber        • Symor, N. K. (1992) in: Kottwitz, G. und
                                                                            Lenhardt, V., Integrative Transaktionsanaly­
Liebesbeziehungen ein. Er plä-      weicher und fängt an, ihn emo-          se. Band 1, Berlin: Institut für Kommunika­
diert dafür, sich dem anderen mit   tionaler wahrzunehmen. Beiden           tionstherapie

info eins 19                                                                                                  Schwerpunktthemen | 7
WENN DAS HEIMISCHE                                                                 KAFKAS PROTAGONISTEN
                                                                                             UND CHAPLINS
FREMD WIRD …                                                                        FILMFIGUREN ERLEBEN,
                                                                                        WAS UNGEZÄHLTEN
                                                                                   MENSCHEN WIDERFÄHRT,
    Ich berichte von fremdartigen,        René Isenschmid
                                                                                    UNBEMERKT LEISE ODER
 merkwürdigen Erfahrungen eines                                                    LAUT; SIE SIND TRAGISCH
 alten Menschen. Noch vor Jahres-                                                     ODER KOMISCH, WEIL
 frist war dieser Mann nicht wirklich
 alt. Seine Pensionierung lag wenige                                                 IHNEN DAS HEIMISCHE
 Monate zurück, die uniformierten                                                      FREMD WURDE, DAS
 Kollegen der Kantonspolizei feierten                                              VERTRAUTE VERDÄCHTIG.
 seinen Abschied mit Geschenken,
 das Kader mit hohlen Reden; er aller-
 dings fühlte sich vom Himmel fallen
 wie ein unreifer Stern. Dieser Mann
 ist mein Vater.

    Die Geschichte startet in der
 Nacht – wie alle guten Geschich-
 ten. Mein Vater erwacht regelmässig
 um Mitternacht. Sein Bett steht als
 einziges im geräumigen, karg mö-
 blierten Krankenzimmer, das auch
 nachts der Dunkelheit trotzt. Monu-
 mentale Fenster widerspiegeln den
 nie erlöschenden Lichterteppich der
                                                                                                          René Isenschmid
 Stadt, die zurückliegenden Erlebnis-
                                                                                        Selbstständiger Case Manager CAS
 se schleichen sich in das Herz des
                                                                                            herzbewegend.ch/stellensuche
 Kranken wie alte Vertraute, die man
                                                                                     Praxiskompetenz Transaktionsanalyse
 missbilligen, aber nicht abweisen
 kann. Für gesunde Menschen nicht
 nachvollziehbare Impulse drängen
 den Mann aufzustehen, er rudert          Dieser Verlust ist eine Parabel über
 sich mit Armen und Beinen aus dem        mein rechtschaffenes Leben als
 Bett, als hätte er in Tonnen von Säge-   Beamter auf dem Dorf! Eigentlich
 spänen geschlafen, er zelebriert das     wollte er sich nie dem bürgerlichen
 Ritual in der Absicht, sich einmal       Klischee entgegenstellen, er wollte
 mehr mit seiner Situation zu versöh-     sich anpassen, dazugehören, seiner
 nen. Mein Vater liebt das Bild der nie   Persönlichkeit Ausdruck verleihen
 zur Ruhe kommenden Windmühlen,           und seiner farbenreichen Stimm-
 ihren Rädern bleibt die freie Bahn       melodie einen unverwechselbaren
 verwehrt und fremde, unbekannte          Charakter.
 Kräfte bestimmen die unterschied-
 lichen Geschwindigkeiten. Er liebt          Der Polizeikorporal, der längst zum
 die ohnmächtige und widersprüch-         Wachtmeister befördert sein sollte,
 liche Figur des Don Quijote, sie ist     strandet während den Sommerferien
 fatal und ihm sehr vertraut. Vaters      mit seiner Familie im kleinen Dorf-
 Ohnmacht ist die mündliche Sprach-       kern der sich weit ausdehnenden
 losigkeit, die Operation seiner Zun-     Rottal-Gemeinde. Der Zügeltermin
 ge liegt wenige Wochen zurück und        ist durch das Polizeikommando be-
 macht ihn für immer stumm. Und           stimmt. Um einer allfälligen dörf-
 jede Nacht hegt er den Verdacht:         lichen Kumpanei zuvor zu kom-

 8 | Schwerpunktthemen
men, wechseln die Ortspolizisten          ten Koloss für wenig Geld in einer
regelmässig nach sechs Jahren ihre        Zeit des billigen Benzins. Seine Frau
Posten. Wurzeln schlagen macht            schämte sich für ihn, sie schaffte
korrupt! Die Zentrale reflektiert die     es kaum, die Markenbezeichnung
Auswirkungen auf ihre uniformier-         «Chevrolet» in den Mund zu nehmen,
ten Angestellten und auf die mehr         das Wort klebte ihr auf der Zunge wie
oder weniger kinderreichen Familien       Zeltli am Papier. Die Zeit, in der die
nicht, selbst die Wohnungsgrösse          Landpolizei in einheitlichen, bunt
bleibt marginal. Das Kader negiert        gestreiften Fahrzeugen mit Alarm-
die Frage, ob der neue Polizist sich in   sirenen auf dem Dach über die Stras-
diese bäuerliche, in möglichst vielen     sen fegt, ist noch nicht angebrochen.
Facetten abschottende Gemeinschaft        Die aus den Mafiafilmen bekannte
integrieren und seinen Dienst ord-        Limousine mit ihrem runden, in das
nungsgemäss leisten kann. Mit die-        abfallende Heck eingebauten Fens-
ser Frage aber hat alles angefangen.      ter, erzielte eine den heutigen Strei-
                                          fenwagen ebenbürtige Aufmerksam-
  Über dem Dorf thront die landes-        keit. Mehr ungewollte Provokation
weit bekannte Barockkirche wie            zum Dienstantritt ging nicht. Wenige
der Pfarrherr über den Köpfen. Der        Wochen später wurde das Auto ver-
katholische Männerturnverein und          kauft, es liess sich keine Garage fin-
die katholischen Bäuerinnen treffen       den, in die man es ohne fahrerische
sich zu unterschiedlichen Zeiten in       Höchstleistung im Millimeterbereich
unterschiedlichen Lokalen und Dorf-       einparken konnte.
beizen. Die konfessionellen Attribute
werden mit der Geschichte gerecht-          Die Kette der Missverständnisse
fertigt; irgendwie spürt der Neuan-       riss nicht ab. Für die Mitglieder des
kömmling hier die letzten Atemzüge        Gemeinderates und für zahlreiche
des verlorenen Sonderbundkrieges.         Mandatsträger war das Verhalten
Dieses Trauma erklärt ausser dem          des Polizisten anmassend und dreist.
religiösen auch das politische und        Sein alltäglicher Auftritt in den Stras-
gesellschaftliche Klima in der Dorf-      sen des überschaubaren Dorfes wirk-
gemeinschaft. Die Kinder der sehr         te ungewohnt, fremd. Ausser der auf
wenigen evangelischen Mitbürger           beiden Seiten mit einem feinen Strei-
haben während des Religionsunter-         fen versehenen Hose verwies nichts
richts schulfrei, die kaum zählba-        auf die Amtsperson, der dunkelblaue
ren Wähler von politischen Parteien       oder graue Kittel wirkte immer etwas
ohne das «C» im Akronym pendeln           zu knapp, die steife Uniformmütze
in der öffentlichen Wahrnehmung           fehlte vollends. Was den Behörden
zwischen naiven Irregeleiteten und        missfiel, schätzten die Menschen. Sie
Brunnenvergiftern, in diesem Dorf         mochten ihn, sie suchten seinen Rat
sind weder schwule noch im Kon-           und die Gespräche gestalteten sich
kubinat lebende Menschen bekannt.         zusehends offener und unbefange-
Farbige Menschen gibt es keine - für      ner. Das Abbild des steifnackigen
sie ein Glücksfall.                       Dorfgendarmen verblasste, die neue
                                          Autorität benötigte zu ihrer Wahrung
  Tiefschwarz ist das Auto des an-        weder die Kopfbedeckung in den
kommenden Ortspolizisten. Mein            Staatsfarben noch die mit goldenen
Vater erwarb den alten, motorisier-       Blechknöpfen verzierte Uniformja-

info eins 19                                                                         Schwerpunktthemen | 9
cke, dessen Ledergürtel einzig dazu       ein miserabler Schütze und gleich-     sind auch mal durstig. Mein Vater
diente, die Pistole sichtbar zu tragen.   zeitig ein hervorragender Polizist     liebte den sauren Most, den dieses
Bis heute bleibt ungeklärt, wann und      war, dem die Menschen vertrauten.      Restaurant exklusiv von einer Gross-
wo und welche Behörde beschlossen         Die Gemeindevertreter fanden im        mosterei aus dem Thurgau bezog
hat, drastische Massnahmen gegen          Kommando nicht die erhoffte Unter-     und der in wulstigen, braunen Bügel-
den Ortspolizisten zu ergreifen, den      stützung, sie hatten dennoch das       flaschen ausgeschenkt wurde. Bier
sie als verkappten Sozialarbeiter ver-    Ziel, diesen Querulanten in Uniform    verschmähte er zeitlebens. Der kurze
unglimpften. Das Polizeikomman-           disziplinieren zu können.              Ausflug in den Frühling endete eher
do, die seit mehr als zwanzig Jahren                                             drollig als tragisch. Bei seiner Rück-
vorgesetzte Stelle, begnügte sich           Merkwürdige Vorkommnisse wa-         kehr in dem inzwischen auf einen
mit mündlichen Ermahnungen an             ren die Folge. Da war beispielsweise   Occasions-Renault geschrumpften
ihren Mann vor Ort, wieder einmal         dieser prächtige Maitag, Licht und     Auto standen zwei Uniformierte vor
die Verordnungen und Weisungen            Wärme durchfluteten das Tal wie        seiner Wohnung und baten ihren Kol-
zu lesen. Die Führungscrew hatte          auch die Gartenwirtschaft des Land-    legen, sie in die Kantonshauptstadt
längst akzeptiert, dass der Korporal      gasthofes «Eintracht», der wenige      zu begleiten und einer Blutentnahme
aus dem Rottal zu den monatlichen         Kilometer abseits des Dorfkerns        zur Bestimmung des Alkoholpegels
Rapporten beim Amtswachtmeister           zahlreiche Menschen zum Verweilen      zuzustimmen. Das Ergebnis war ne-
regelmässig die kleinste Anzahl an        und Geniessen einlud. Selbst Poli-     gativ, der Denunziant aus dem Wirts-
Strafanzeigen mitbrachte, dass er         zeibeamte spüren den Frühling und      hausgarten blieb anonym. Zeitgleich

10 | Schwerpunktthemen
                                                                                                                          © Pixabay
wurde ein weiterer Wohnungswech-         ein angepasster Untergebener und
sel innerhalb der Gemeinde geplant.      eine autonome Persönlichkeit, ein
Der Mietvertrag für den Polizeipos-      der Familie verpflichteter Mensch
ten und die dazugehörige Wohnung         und ein rebellischer Charakter. Das
wurde innert weniger Jahre dreimal       Auseinanderklaffen dieser Welten
gekündigt und die Familie zum Um-        blieb den Dörflern nicht verborgen.
zug gezwungen, ohne Mitsprache           Immer mehr von ihnen hörten vom
oder Anhörung. Mit in die neuen          konfliktscheuen Polizisten, der sich
Unterkünfte zogen Ohnmacht und           lieber inmitten seiner ungezählten
Enttäuschung. «Dreimal umgezogen         Bücher aufhält als kontrollierend
ist so gut wie einmal abgebrannt!»       über Parkplätze schlurft, der lieber
Das Zitat Benjamin Franklins leuch-      Albert Camus liest als Strafanzei-
tete von den neu bezogenen Wänden,       gen tippt. Die Gemeindebehörden
obwohl es dort nicht geschrieben         schäumten geräuschlos. Mein Vater
stand. In der Regel sind Buchweis-       wusste, er findet weder in Rousseaus
heiten lähmend, oft aber vermögen        Gesellschaftsvertrag noch in Platons
sie verdeckte Wahrheiten und nicht       Staat Lösungen für seine schwie-
gestellte Fragen unverblümt aufzu-       rige Situation, die guten Freunde
zeigen. Wurzeln schlagen war längst      seiner Parallelwelt entspannten
keine Option mehr, das genuine Ge-       und trösteten ihn, helfen konnten
fühl «Hier bin ich zu Hause» erstickte   sie nicht. Eine wirkliche Unter-
in willkürlichen Verwaltungsakten        stützung war nirgends in Sicht. Die
und Sachzwängen. Selbst unserer si-      grossen Psychologen der Weltlite-
amesischen Katze «Thea» ging dieser      ratur wie Nietzsche und Dostojew-
Instinkt verloren. Nach den ersten       ski wurden zu Begleitern auf dem
beiden Revierwechseln orientierte        Rückzug. Die Auseinandersetzung
sie sich entgegen ihrem natürlichen      mit ihren Ideen und Sichtweisen er-
Wesen nicht an den ihr vertrauten        setzten viele menschliche Kontakte,
Orten, sondern an den Menschen,          verwischten die einsamen Gefühle
die sie fütterten. Wenige Wochen         des Fremdseins und der Ohnmacht.
nach dem Bezug der dritten Woh-          Kluge Analysen über die Auswirkun-
nung blieb sie für immer weg. Die        gen permanenter Ohnmachtsgefühle
ausgedehnte Suche nach dem ras-          füllen heute die Bücherregale, in der
senreinen Tier, die einzige Siamkatze    Bibliothek meines Vaters existierten
in der Gemeinde, blieb erfolglos. Sie    keine Publikationen dieser Prove-
hat die bäuerliche Wildnis der Lust      nienz.
auf weitere Domizilwechsel vorge-
zogen - dachten wir.                       Mein Vater hatte keine Berufs-
                                         ausbildung, die wirtschaftliche Not
  Was schmerzt mehr, die getarnte        der Dreissigerjahre nötigte ihn, als
Kleinigkeit oder die offene Fehde?       Hilfsschreiner in der Möbelfabrik
Selbst die Landwirte streiten sich,      zu arbeiten und seine Eltern und die
ob die wenigen Krähen oder die vie-      jüngeren Geschwister finanziell zu
len Spatzen ihre Ernten schmälern.       unterstützen. Der elterliche Hof,
Die Vorstellung, dass eine dörfliche     der in der Waldlichtung an einem
Autoritätsperson mit wirkmäch-           steilen Hügel klebte und aus fünf
tigen, gesetzlichen Kompetenzen          Ziegen und einem grossen Garten
sich ohnmächtig und ausgeliefert         bestand, ernährte keine Familie, für
fühlt, irritiert nur auf den ersten      eine Ausbildung der Kinder fehlte
Blick. Hier prallten lebenslang Wel-     das Geld. Der junge Mann fand in
ten aufeinander: Ein übersicheres        der Fabrik gelangweilte, aber auch
Muss und ein untersicheres Sein,         politisch interessierte Kollegen und

info eins 19                                                                     Schwerpunktthemen | 11
und keinen zu irgendwelchen Götzen          der Zeit klar im Kopf und warm im
                                         erhobenen Institutionen folgen - ein        Herzen ist, der differenziert denkt
                                         verpflichtendes Lebensmotto. Der            und feinsinnig fühlt und gleichzeitig
                                         gute Polizist ist, bei aller inneren Zer-   stumm dem Tod entgegen segelt?
                                         rissenheit, vor allem ein Mensch. Er        Seine Spottlust hilft ihm zu leben,
                                         lebt zufrieden als eine auf die Mit-        selbst wenn der Himmel einstürzt,
                                         menschen bezogene Persönlichkeit            sind noch nicht alle Spatzen tot!
                                         und akzeptiert, dass einmal sein
                                         angepasstes, ein andermal sein re-            Kurz und bestimmt klopft es an
                                         bellisches Ich sich dem normativen          der Tür und nach wenigen Momen-
                                         widersetzen. Die Seins-Orientierung         ten tritt ein älterer, gepflegter Herr
                                         zeichnet ihn aus, die Aversion gegen        unaufgefordert in das Zimmer. Er
                                         Uniformen und Pistolengürtel bleibt         bleibt in der Raummitte unruhig ste-
                                         ein ulkiges Fragment.                       hen, schaut sich suchend um, sein
                                                                                     Blick findet das leere Bett, er dreht
                                           Inzwischen liegt das Spitalzim-           sich wieder zur Tür und - blickt in
gute Freunde. Sie erörterten mit ihm     mer im Licht der Morgensonne. Der           die Augen meines Vaters in seinem
gesellschaftliche, aber auch Fragen      pensionierte Polizist erholt sich in        blauen Stuhl. Der Herr Gemeinde-
der Gerechtigkeit und der ökono-         seinem Bett, das Gefühl, in Säge-           ammann wirkt nervös, seine Hände
mischen Missverhältnisse. Die Ge-        spänen zu liegen, lässt ihn nicht           nesteln am mitgebrachten Päckchen
werkschaften luden sonntags ein zu       los. Frühstücken tut er seit langem         und er entschuldigt sich bei dem ab-
Lesegruppen für Arbeiter, die jungen     nicht mehr, der ihm täglich mehr-           gezehrten Mann für die Störung. Er
Menschen hörten zum ersten Mal die       fach verabreichte, zähflüssige Brei         suche den ehemaligen Polizisten
Namen von Proudhon und Lassalle,         ist ihm zuwider. Er wird über eine          seines Dorfes und vielleicht könne
Bebel und Marx. Ideale Welten blüh-      Magensonde mit Stöpsel ernährt,             er ihm die Zimmernummer verraten?
ten auf, neue Impulse erleichterten      die routinierte Vorgehensweise der          Der Mann im Stuhl bleibt stumm,
wohl die harte Arbeit in der Fabrik      Pflegehilfskräfte erinnert ihn daran,       der Gast lässt es sich deutlich an-
und auf dem Heimetli, nicht aber         wie er vor Jahren seine amerikani-          merken, wie unhöflich und dreist
die persönlichen wirtschaftlichen        sche Grosslimousine tankte. Der             er ihn aufgrund der verweigerten
Schwierigkeiten. Die Chance, diese       einst zu leichtem Übergewicht nei-          Antwort einstuft und verlässt die
hinter sich zu lassen, kam kurz vor      gende Mann wiegt noch knapp fünf-           kleine, letzte Welt meines Vaters,
dem zweiten Weltkrieg, mein Vater        zig Kilogramm, seine schon längst           bevor dieser ihm seine Identität er-
bewarb sich erfolgreich als Polizeian-   schütteren Haare sind noch karger           öffnen kann. Die Katze «Thea», diese
wärter, zusammen mit mehr als 600        geworden, einzig die blauen Augen           schöne und stolze Siamesin, wurde
weiteren Kandidaten. Was bedeutete       haben nichts von ihrem Glanz ver-           wenige Tage später gefunden. Der
dieser Erfolg? Das grosse Glück oder     loren. Die Tage verbringt er grössten-      Bauunternehmer, der seinen Lager-
der Tod grosser Träume? Er absolvier-    teils im Stuhl, der in der Ecke neben       platz gegenüber dem Polizeiposten
te die Ausbildung für den Polizei-       dem Fenster steht. Dieser hat eine          räumte, fand ihren mumifizierten
dienst, startete ein bürgerliches Be-    hohe Lehne, ist gut gefüttert, mit          Kadaver unter einem Holzstapel, ein-
amtenleben, heiratete und versorgte      blauem Plastik überzogen und wird           gerollt, den Brustkorb durchbohrt mit
seine Familie vorzüglich. Und doch       an guten Tagen mit einer Decke wär-         der Kugel aus einem kleinkalibrigen
vermochten die stabilen finanziellen     mer und weicher hergerichtet. Die           Gewehr. Mein Vater starb 1982.
Verhältnisse zeitlebens die Zweifel      guten Tage werden durch das Pfle-
nicht zu bändigen, den falschen Weg      gepersonal verordnet und zeichnen
eingeschlagen zu haben. Die wirt-        sich zusätzlich zur Decke dadurch
schaftliche Not von damals prägte        aus, dass der Patient über seine mit-
seinen Charakter weit mehr, als er       gebrachte Schiefertafel mit Kreide
zuzugeben bereit war. Sich als Ak-       verfügen darf, um Bedürfnisse oder
teur erleben, sich als Subjekt sei-      Wünsche aufzuschreiben, vielleicht
ner Kräfte empfinden und diesen          auch mal seinem subtilen Zynismus
Kräften nicht entfremdet sein, keine     zu frönen. Welche Ausdrucksweise
fremden Masken aufsetzen müssen          bleibt einem Menschen, der zu je-

12 | Schwerpunktthemen
SICHTLICH
                                  GETRÜBT –
                                  DAS FREMDE

                                  Silvia Schnorf

                                     Was wir als fremd empfinden,          abgewehrt, bzw. angestrebt wird.
                                  halten wir uns erst mal vom Leibe        Weil es ja so blanko fremd ist, bietet
                                  und produzieren gerade dadurch           sich das Fremde in seiner Leere als
                                  Fremdheit. Dazu reicht ein Blick         Projektionsfläche an. Wir kennen die
                                  des Befremdens, die Reaktion da-         Trübungen von Exotik (positive Pro-
                                  rauf entspricht der Blockierung          jektionen, Illusion, Wunschdenken)
                                  einer gekreuzten Transaktion. Auf        und jene von Xenophobie und Rassis-
                                  dieser visuellen Ebene hatten wir die    mus (Vorurteile, negative Projektio-
                                  Möglichkeit, parallel zu interagieren    nen, Hass). Natürlich handelt es sich
                                  (‘transagieren’) aus dem wortwört-       hier um Abwertungen (Discounts).
                                  lich geteilten Augenblick heraus. Das    Zu verhindern sind diese Vor-Urteile
                                  Fremde trat uns entgegen und statt       und anfänglichen Verzerrungen in
Silvia Schnorf, lic. phil. I      es in seiner Unbekanntheit anzuneh-      ihren milderen Formen bei nieman-
Englischlehrerin/                 men, reagierten wir befremdet, ver-      dem, sie dienen uns zu einer groben
Erwachsenenbildung                schreckt vielleicht und abwehrend.
In fortgeschrittener Ausbildung   Unter diesem Fremdeln können wir
in Transaktionsanalyse            ein Schutzbedürfnis aus dem Kind-           Soziale Zugehörigkeit
s.schnorf@bluewin.ch              Ich sehen, eine warnende Stimme
                                                                                  und Bindungen
                                  aus dem Eltern-Ich hören oder gar
                                  eine urmenschliche Instinktreaktion
                                                                               bedeuten Sicherheit.
                                  vermuten, auf alle Fälle fehlt eine          Im Fremdsein fallen
                                  bewusste und integrierende Antwort          diese weitgehend weg.
                                  aus dem Erwachsenen-Ich, die der
                                  Situation und den Umständen Rech-
                                  nung trägt.
                                     Das Fremde ist ein Skript-Trigger,    Orientierung. Doch Bewusstheit über
                                  Begegnungen mit Fremden oft ge-          diese Prozesse und die Bereitschaft
                                  radezu eine Miniskript-Achterbahn.       zu reflektieren können vermeiden
                                  Kein Wunder, wehren wir Fremdes,         helfen, dass gleich aufs Dramadrei-
                                  wo immer möglich, mit bekannter          eckskarussell aufgesprungen wird
                                  Vehemenz ab - oder suchen es, ganz       und man persönlich und politisch
                                  im Gegenteil, als etwas Ideales. Dabei   manipulierbar oder selbst manipu-
                                  geht vergessen, dass das Fremde be-      lativ wird.
                                  zeichnenderweise ja unbekannt ist,         Das Befremden auf der einen Seite
                                  sich also die Frage stellt, was denn     charakterisiert das Fremdsein auf

info eins 19                                                                             Schwerpunktthemen | 13
der anderen. Ich denke, es ist viel       verfüge und Zugehörigkeit erfahre,
                         Autonomie nötig, mit den (meist           habe ich es weniger nötig, Fremde als
                         unausgesprochenen) Annahmen               Eindringlinge auszugrenzen. Dort je-
                         über einen selbst als Fremden um-         doch, wo sie fehlen, werden Fremde
                         zugehen. Es kostet Kraft, sich nicht      unweigerlich als Konkurrenten emp-
                         über sie definieren zu lassen und         funden – wie will ich sie integrieren,
                         ist in gewissen Fällen unmöglich.         wenn ich es selbst nicht bin? Das
                         Eine immer wieder zu erbringende          würde die Empfindlichkeit gegen-
                         Integrationsleistung von Migrierten       über Fremden in strukturell schwa-
                         ist es, zu beweisen, dass sie nicht       chen Gegenden erklären. Menschen
                         ‘so’ sind, nicht sind, wie sie in den     in bedrängter (oder so empfundener)
                         Köpfen spuken. Nationalitätenkli-         Lage wechseln gegenüber Schwä-
                         schees halten sich oft hartnäckig,        cheren auch mal aus der Opfer- in
                         die wahren Identitäten fallen Dis-        die Verfolgerposition. Das ist kein
                         counting zum Opfer. Wer hätte, bis zu     problemlösendes oder ethisches
                         jenem Notfall, wo sie in Aktion trat,     Verhalten. Die knappen Ressourcen
                         vermutet, dass die Dame hinter dem        (auch die psychischen) mit völlig
                         Tresen eine albanische Ärztin war,        Fremden zu teilen und damit den
                         die sofort auch erklärte, dass sie hier   Eigenen vorzuenthalten, wird im ge-
                         nicht praktizieren darf. Das Fremde       gebenen Kontext meist auch keine
                         in Schranken zu halten, bedeutet es       Option sein. Es ist folglich weniger
                         fremd zu halten. Fremdsein bedeutet       eine Frage der Kultur, sondern eher
                         nicht gesehen zu werden, sich nicht       der Begegnungsrahmen, der eine
                         einbringen zu dürfen.                     Annäherung und Überwindung der
                           Im Fremden wehren wir unbe-             Fremdheit verunmöglichen kann. Es
                         wusst die Möglichkeit eigenen             sind hier nicht kulturelle Differen-
                         Fremdseins ab, denn Fremdsein ist         zen, sondern mangelnde Ressourcen,
                         bedrohlich und mit Schmerz verbun-        die Animositäten auslösen und den
                         den. Ausserhalb stehen zu müssen          Blick auf Gemeinsamkeiten versper-
                         löst Gefühle des Nicht-OK-Seins (-/+)     ren.
                         oder die Abwertung vonseiten der            Über Fremdes definieren wir Eige-
                         Zugehörigen (+/-) aus. Wir sind auf       nes, setzen Grenzen, erleben inner-
                         Anerkennung angewiesen. Über den          halb Zugehörigkeit. Wenn die eigene
                         Austausch von Strokes vergewissern        Identität nicht stabil ist oder unter
                         wir uns unserer sozialen Existenz.        Druck gerät, provoziert das Fremde
                         Was bei Ausgrenzung hirnphysio-           leicht nachvollziehbar Reaktionen
                         logisch abläuft, erklärt z.B. Joachim     aus dem Skript. Es irritiert z.B., indem
                         Bauer schlüssig und unter Verweis         es unser Selbstbild in Frage stellt,
                         auf eine Fülle von sozialen und his-      was es nicht sympathischer macht.
                         torischen Beispielen.1                    Wir verteidigen unsere Grenzen ve-
                           Soziale Zugehörigkeit und Bindun-       hementer mit starrem Bezugsrah-
                         gen bedeuten Sicherheit. Im Fremd-        men, merken vielleicht nicht mehr,
                         sein fallen diese weitgehend weg.         wo wir diskriminierend ausgrenzen,
                         Wenn ich selbst über Beziehungen          statt uns selbstbewusst und fair

14 | Schwerpunktthemen
abzugrenzen. Wir lassen eine sehr          Wie anders sähe ein gleichwertiger
        wohl mögliche Verbindung zu diesen      Umgang aus! Zumindest könnten wir
        anderen Menschen nicht, oder nur        OK-OK realistisch (Fanita English)
        bedingt zu. Statt uns mit dem Frem-     anstreben und im Dialog über Ver-
        den vertraut zu machen, um es evtl.     tragsarbeit – in Anerkennung beider-
        schrittweise als nun Vertrautgewor-     seitiger Interessen und unter Respek-
        denes zu integrieren, betreiben wir     tierung bleibender Unterschiede – zu
        ‘Othering’. Othering ist ein Begriff    kooperativen Lösungen finden. Dass
        aus dem postkolonialen Diskurs, der     der Umgang mit kulturell Fremden
        treffend darauf hinweist, dass An-      komplexer ist als der mit dem alt-
        dersartigkeit auch konstruiert wird.    bekannten Nachbarn, versteht sich
        Indem ich Andere zu solchen erkläre,    von selbst. Wenn wir aber bedenken,
        grenze ich sie aus und werte sie ab     was wir sonst alles zu lernen bereit
        – mit TA gesprochen handelt es sich     sind, dann ist es erstaunlich, dass
        um Grandiosität aus einer Abwehr-       wir unsere kulturellen Prägungen
        position. Mit dieser Abwertung kann     (und die der anderen) generell für so
        ich das Fremde nun für mich legitim     absolut halten, zumal wir genügend
        abwehren und muss mich nicht mit        Beispiele haben für gelungene sozia-
        ihm auseinandersetzen.                  le Integration und sicher im eigenen
          Unser Blick bleibt in diesem Fall     Leben auf Erfahrungen zurückgrei-
        an Differenz haften und versperrt       fen können, wo wir gelernt haben,
        jenen auf Gemeinsamkeiten. Das          mit disparaten Elementen unserer
        kann dazu führen, dass wir uns in       eigenen Kultur und Herkunft konst-
        Verstrickungen und Abhängigkeiten       ruktiv umzugehen – vielleicht gerade
        in Form von Symbiosen begeben. Ot-      über TA und Skriptarbeit.
        hering ist diskriminierend. Es fin-        Das Fremde in den Köpfen hält sich
        den Machtspiele statt. Mechanismen      neben kollektiven Stereotypen vor
        wie Opferabwertung und die Ver-         allem in Form einiger einflussreicher
        kehrung von Opfern in Täter dienen      Trübungen, die auch damit zu tun
        ihrer Rechtfertigung. Daher lohnt es    haben, dass Kultur und Identität als
        sich, mit offenem Blick hinzusehen.     Konzepte fast ebenso schlecht fass-
        Wir alle kennen genug soziale und       bar sind wie das Fremde selbst.
        politische Beispiele dieser Dynami-
        ken. Vielleicht geben wir uns mit       • Da ist einmal die statische Auf-
        Rettermentalität Mühe, den ‘armen         fassung von Kultur, mithilfe derer
        Menschen’ zu helfen, während wir          wir, wie schon erwähnt, unsere
        ihnen gleichzeitig ihre Ressourcen        Lernfähigkeit in Bezug auf Kul-
        aberkennen, sie aus verdeckten (un-       tur ausblenden. Die TA postu-
        bewussten?) Motiven in der Opfer-         liert, dass jeder Mensch denken
        position halten, für die wir (nun als     und sich verändern kann – auch
        Verfolger) sie dann auch noch ver-        kulturell möchte ich hinzufügen.
        antwortlich machen.                       Kulturen wandeln sich mit geleb-
                                                  ter Praxis und wir uns mit ihnen.
                                                  Der Prozess der Digitalisierung

info eins 19                                                                            Schwerpunktthemen | 15
führt uns das deutlich vor Augen.    hysterischen Überhöhung einer         • Die Annahme kultureller Homoge-
  Mir gefällt als Illustration auch    Exklusivität, die so nicht exis-        nität steht im Zusammenhang mit
  das Beispiel der Historizität von    tiert. Amartya Sen weist darauf         dem oben Genannten. Wir leben
  Emotionen2. Unsere Kultur und        hin, dass auf diese Weise Feind-        in einer globalisierten Welt und
  Lebenswelt bestimmt uns bis in       bilder mit katastrophalen Folgen        einer Einwanderungsgesellschaft:
  unsere Gefühle – und zwar dyna-      stilisiert werden, während ausge-       In allen Lebenssphären empfan-
  misch. Wir ändern uns persönlich     blendet wird, dass jeder Mensch         gen wir Impulse aus anderen Kul-
  und kulturell, auch im Kontakt mit   im realen Leben vielfältigen Grup-      turen und schaffen gemeinsam
  anderen Kulturen.                    pierungen angehört und über ver-        Neues - ob Lösungen oder Proble-
                                       schiedene Teilidentitäten und ent-      me. Der Mythos kultureller Homo-
• Die Idee singulärer Zugehörigkeit    sprechende Beziehungen verfügt3.        genität hält sich als grobe Simpli-
  schürt Konflikte und lässt Kon-      Plötzlich zählt nur noch ein ein-       fizierung jedoch hartnäckig (meist
  frontationen eskalieren. Unsere      ziges Identitätskriterium – meist       in Form von Nationalismus) und
  Zugehörigkeit zu einer Gruppe        Ethnie oder Religion - und es ist       will etwas bewahren, das längst
  bedingt notwendigerweise die         egal, ob die Trennlinie sogar durch     aufgegeben worden ist zuguns-
  Abgrenzung von anderen Grup-         Familien verläuft. Fremd ist dann       ten einer, auch problematischen,
  pen. Problematisch wird es dort,     ganz klar Feind, und es reicht, den     Offenheit in der gegenwärtig so
  wo dies nicht (selbst-)bewusst       falschen Namen zu haben, um ver-        vernetzten Welt. In einer pluri-
  geschieht, sondern mittels dest-     folgt zu werden. Wie viele tragen       kulturellen Gesellschaft unter
  ruktiver Spiele gegen Andere agi-    solch traumatische Erfahrungen          Veränderungsdruck soll dieser
  tiert wird. Hierher gehört dann      in ihrem kulturellen Skript und         Mythos Überfremdungsgefühle
  das Hochspielen einer singulä-       reagieren auf Fremde mit grossem        erklären und produziert sie dabei
  ren Zugehörigkeit, oft benutzt zur   Misstrauen.                             gleich selbst.

16 | Schwerpunktthemen
© Silvia Schnorf

• Das Ausblenden von Gemein-             als seine kulturelle Identität.       Die TA handhaben wir generell als
  samkeiten ist die Folge der oben       Dies wird ausgeblendet, wo sei-       universell anwendbare Kommuni-
  genannten Trübungen. Im Banne          ne Fremdheit im Fokus ist. Dazu       kationsmethode. Sie bietet in ihren
  des Differenz- und Diversitätsge-      ein Gedankenexperiment: man           Modellen auch einigen Spielraum für
  dankens übersehen wir, was wir         stelle sich Personen identischer      den Ausdruck kulturell unterschied-
  teilen – seien dies gemeinsame         Herkunft als ‘Expats’ oder Asyl-      licher Ausprägungen menschlicher
  Interessen und Ziele, eine Berufs-     suchende vor, als Nachbarn oder       Erfahrungen und Werte. Sie liefert
  identität oder Familienrolle, ganz     Geschäftspartner. Der Kontext         ebenso das Instrumentarium für
  zu schweigen von universellen          bestimmt, welches Bild wir von        einen Austausch darüber und wird
  menschlichen Bedürfnissen. Mit         diesen Menschen gewinnen und          mittlerweile quer über den Globus
  Gemeinsamkeiten im Blick wür-          wie wir ihnen begegnen.               praktiziert. TA nimmt Menschen in
  den wir viel eher Schritte zu Be-                                            ihrem Kontext wahr und begleitet
  kanntschaft und Beziehung in die        All diese Trübungen suggerieren      sie hin zu grösserer Autonomie. Ein
  Wege leiten und damit Fremdheit      im Fremden etwas Absolutes und          schönes Beispiel dafür liefert Ka-
  und das mit ihr verbundene Un-       Unüberwindbares. Sie stellen kogni-     ren Pratt in einem Beitrag über ihre
  behagen reduzieren.                  tive Barrieren dar, die wir abwehrend   Arbeit in Südafrika4.
                                       errichtet haben. Wo wir Differenz
• Ein zentraler Punkt in der Begeg-    suchen, werden wir sie auch immer         TA fördert Selbst- und Sozialkom-
  nung mit Fremden schliesslich        finden, Gemeinsamkeiten jedoch          petenz und trägt damit zur Verständi-
  betrifft die Vernachlässigung des    übersehen. Hier können wir mit TA       gung und Verringerung von gefühlter
  Kontexts. Die Lage eines Men-        ansetzen in Anerkennung mensch-         Fremdheit bei. Wir können sie einset-
  schen bestimmt sein Verhalten        licher Grundbedürfnisse und durch       zen zur Förderung von Fremdheits-
  und seine Möglichkeiten oft mehr     Anstreben einer OK-OK-Haltung.          kompetenz: Nach innen zur Förde-

info eins 19                                                                                Schwerpunktthemen | 17
rung des Bewusstseins für eigene        hatten und aufeinander angewiesen         Mit TA können wir ergründen,
Reaktionen auf Fremdes und Fremde,      waren5. Diese drei Kriterien finden     welche Umstände und inneren Fak-
sowie zur Reflexion eigener Erfah-      wir auch in den meisten erwach-         toren unser Verhältnis zum Fremden
rungen des Fremdseins; nach aussen      senenbildnerischen Kontexten. Wir       bestimmen. Mir scheint ein selbst-
zu einer achtsamen Verständigung        können einen solch ko-kreativen         und sozialkompetenter Umgang mit
auf OK-OK-Basis, die dem fremden        Rahmen ideal mit TA begleiten, um       dem Fremden vielversprechender
Gegenüber die gleiche Menschlich-       mehr soziale Kohärenz anzustreben.      als interkulturelle Verhaltenstrai-
keit zugesteht wie den Eigenen. Die     (Als TA-ler haben wir ja die Wirk-      nings für einzelne Kulturen. Wo wir
Kombination der Innen- und Aussen-      samkeit solcher Gruppenarrange-         es schaffen, Lernen situativ und in
perspektive schliesslich verhilft den   ments in der Ausbildung auch selbst     geschütztem Rahmen (Permission,
sich Fremden in der Begegnung zu        erlebt.) Positive Lernerfahrungen in    Protection, Potency!) im konstruk-
mehr Autonomie: Wir wahren einen        einer kulturell gemischten Gruppe,      tivistischen Sinn anzuleiten, ent-
flexiblen Bezugsrahmen, der dem         in der mit jeder Lektion mehr Ge-       steht Neugier und Entdeckerlust,
Lernen über Andere und über uns         meinsamkeiten und auch grösseres        die Kommunikation wird klarer, die
selbst zugänglich ist und uns immer     Verständnis für Unterschiede entste-    eigene Identität gewinnt in Ausein-
wieder neu Orientierung verschafft      hen, dienen konkret der Enttrübung      andersetzung mit dem Fremden an
(Bewusstheit); wir können Beziehun-     und Bezugsrahmenerweiterung und         Kontur. Anstelle von Fremdeln tritt
gen herstellen und freier gestalten,    liefern damit ein Gegenmittel zu        Vertrauen in Selbst und Andere. Und
die uns Skriptreaktionen (auch kol-     den Negativschlagzeilen, die unser      nicht zuletzt erlangt in solchen Dia-
lektive) bis dahin verunmöglichten      Bild vom Fremden stärker zu prägen      logen auch ‘das Fremde’ eine Stimme
(Intimität); über kooperatives Vorge-   scheinen als die weit häufigeren pro-   mit Resonanz, die einer nachhaltigen
hen können wir unsere Ressourcen        blemlosen, damit aber unauffälligen,    Verständigung dienen wird und das
komplementär einbringen und ge-         Begegnungen.                            Eigene bereichern kann.
meinsam nutzen (Spontaneität). Stu-
dien und Versuchsanlagen im Zuge
der Desegration in den USA zeigten,
                                                                                1. Bauer, J. (2011). Schmerzgrenze - Vom
dass Begegnungen mit einzelnen                                                     Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt.
Vertretern einer kulturell fremden                                                 München: K. Blessing.

Gruppe zumeist keine Vorurteile ent-                                            2. Siehe: History of Emotions: https://www.
                                                                                   ted.com/talks/tiffany_watt_smith_the_
kräfteten, sondern sie im Gegenteil                                                history_of_human_emotions und https://
noch verstärkten, da solche Einzel-                                                www.mpib-berlin.mpg.de/en/research/
                                                                                   history-of-emotions
personen offenbar gemeinhin als
                                                                                3. Sen, Amartya. (2006). Identity & Violence,
die Regel bestätigende Ausnahmen                                                   The Illusion of Destiny. London: Penguin.
gesehen werden. Erfolgreichere Ar-
                                                                                4. Pratt, Karen. (2016). Building Community.
rangements gestalteten mit dem                                                     In: G. Barrow & T. Newton (Eds.)
                                                                                   Educational Transactional Analysis.
«jigsaw classroom» ein kooperatives                                                (pp. 251-264). London: Routledge.
Lernsetting, innerhalb dessen beide,
                                                                                5. Aronson, E. et al. (2016). Reducing
bzw. alle Seiten gleichberechtigt wa-                                              Prejudice. In: Social psychology.
                                                                                   (pp. 442-450). Boston: Pearson.
ren, gemeinsame Ziele anzustreben

18 | Schwerpunktthemen
Jahresbericht des
Vorstandes DSGTA
März 2018 – März 2019

Im März 2018 haben Maya Bentele             stellen. Barbara Heimgartner tritt nach    wir künftig Platz für kurzen aktuelle
(EATA-Delegierte) und Kathrin Rutz          2 Amtsperioden ebenfalls aus dem           Beiträge und Downloads schaffen.
(Öffentlichkeitsarbeit) den Vorstand        Vorstand aus. Wir danken den beiden
verlassen. An dieser Stelle noch einmal     herzlich für ihren wertvollen Einsatz zu   Der Kongress konnte kostenneutral
ein herzliches Dankeschön an Maya           Gunsten des Verbandes. Ebenfalls tritt     bewältigt werden, und die vorsichtige
und Kathrin für ihr grosses Engagement      Daniel Gerber nach 6 Jahren von seinem     Finanzarbeit der letzten Jahre wurde
in den letzten Jahren. Die General-         Amt als Delegierter der Mitgliederver-     erfolgreich fortgesetzt. Das Finanz-
versammlung hat Isabelle Thoresen,          sammlung zurück. Ein herzliches Danke      jahr 2018 wurde deutlich besser als im
Roberto Giacomin und Andreas Becker         an ihn für seinen wertvollen Einsatz.      Budget veranschlagt und nur mit einem
neu in den Vorstand gewählt. Danach         Der Höhepunkt des vergangenen Jahres       minimalen Verlust abgeschlossen. Das
hat sich der Vorstand wie folgt zusam-      war sicherlich der Kongress, welchen wir   Sonderbudget des Vorstandes musste
mengesetzt:                                 im März 2018 in Luzern durchgeführt        im vergangenen Jahr nicht beansprucht
                                            haben. Das Motto lautete:                  werden.
• Cornelia Zimmermann                       “Professionalität und Profession als
  Präsidentin                               Transaktionsanalytikerin und Trans-        Anfragen die im Ressort Mitglieder-
• Tanja Kernland                            aktionsanalytiker“.                        betreuung eingingen, werden weiter-
  Vizepräsidentin, DSGTA-Tag                Die spannenden Workshops und inte-         geleitet oder direkt beantwortet. Wir
• Mike Kercher                              ressanten Referenten lockten über 130      wollen unseren Mitgliedern einen
  Finanzen                                  Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach        guten und vor allem schnellen Service
• Andreas Becker                            Luzern. Ein riesiges Danke an dieser       bieten. Die Zahl der Mitglieder ist
  EATA-Delegierter                          Stelle an Nicole Triponez und Christian    aktuell bei 490. Letztes Jahr waren 35
• Isabelle Thoresen                         Grütter. Sie haben mit grossem Engage-     Austritte gegenüber 31 Neueintritten zu
  info Redaktion                            ment, viel Herzblut und Professionalität   verzeichnen.
• Hanna Eyer                                den Kongress organisiert und begleitet.
  Aktuarin                                                                             Die beiden Ausgaben unseres infos
• Barbara Heimgartner                       Im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit       waren im letzten Jahr den Themen
  Mitgliederbetreuung                       wird der Flyer "Was ist Transaktionsana-   Professionalisierung und Intuition
  und info Redaktion                        lyse?" überarbeitet. Eingebrachte Rück-    gewidmet. Das Thema Professionali-
• Roberto Giacomin                          meldungen und Wünsche sollen dabei         sierung haben wir für uns zum Anlass
  Öffentlichkeitsarbeit                     berücksichtigt werden. Da wir Inhalt       genommen das info neu gestalten zu
                                            und Design mit der ASAT-SR absprechen      lassen. Es erscheint nun in einem neuen,
Der Vorstand traf sich zu vier Sitzungen.   möchten, brauchen wir mehr Zeit.           moderneren Kleid und in einem griffi-
                                            Auf der Website wollen wir Literaturan-    geren Format.
Cornelia Zimmermann wird sich aus           gaben unter «Grundlagenliteratur inkl.
beruflichen Gründen nicht zur Wieder-       Literaturliste» zusammenfassen und         Der Wandel des info geht jedoch noch
wahl als Präsidentin zur Verfügung          erweitern. Unter «Marktplatz» wollen       weiter. 1. ist im Moment im Sinne eines

info eins 19                                                                                             Aus dem Vorstand | 19
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