Ins Offene - Netzwerk Junge Ohren

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Ins Offene - Netzwerk Junge Ohren
#7 OKTOBER 2020

Best of
   Magazin
      Ins
     Offene
Ins Offene - Netzwerk Junge Ohren
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05
                      Editorial

                                  06
                        Austausch,
                       Nähe und Agilität

                           09
                  Keine Angst!

                                  12
                         Wir sind ganz Ohr

                           13
Inhalt             Spielräume

                                  14
                         Strategien
                       für unsichere Zeiten

                           16
          Digital und draußen

                                  17
                         Aufbruch
                       in digitale Klangwelten

                           19
                   Diversität –
           Vom Konzept zur
         gelebten Realität
                                  20
                         Kultur öffnet Welten –
                        Webinarreihe

                           24
            Junge Ohren Preis

                                  34
                          Dank & Impressum
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Best of Magazin #7 Ins Offene
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Die Corona-Pandemie und die mit Einschränkungen einhergehende
Stilllegung des gewohnten Kulturbetriebs hat eindrücklich gezeigt,
wie fragil das System ist, in dem wir uns als Kulturschaffende
bewegen. Ohnehin prekäre Verhältnisse für Freiberufler*innen im
kulturellen Sektor wurden wie in einem Brennglas verdeutlicht. Die
inzwischen wieder stattfindenden Veranstaltungen können nicht
darüber hinwegtäuschen, dass vieles auch auf lange Sicht infrage

                                                                       Liebe
steht: die Chormusik-Szene, viele Bereiche der Laienmusik, Musik-
vermittlung im Kontext Schule … Die Praxis, Konzerte, Projekte und
Veranstaltungen weit im Voraus zu planen und zu finanzieren, wird
durch die gegebene Situation ad absurdum geführt, denn zu vieles

                                                                       Leserinnen
im Zusammenhang mit der Pandemie ist noch nicht genug erforscht
und erprobt.

                                                                       und
Wir müssen uns daher darauf einstellen, mit Unsicherheiten umzu-
gehen, die sich auf viele Bereiche auswirken: auf unsere wirtschaft-
liche Situation, unsere persönliche und psychische Verfasstheit und

                                                                       Leser!
auf die Routinen unserer Organisationen. Einiges wird vielleicht
unwiederbringlich verschwinden, anderes wird sich verändern, und
wenn auch sonst wenig sicher ist: Unsere Kulturlandschaft wird –
im Negativen, wie im Positiven – eine andere sein, wenn diese Krise
überstanden ist. Wir bewegen uns ins Offene …

Der Umgang mit Unsicherheiten angesichts einer unklaren Zukunft
beschäftigt uns in dieser siebten Ausgabe des Best of Magazins.
Was passiert, wenn eingespielte Arbeits- und Organisationsweisen
nicht mehr greifen, beschreibt der Intendant der Deutschen Staats-
philharmonie Rheinland-Pfalz Beat Fehlmann. Er zeigt, welche
Wege er mit seinem Team gefunden hat, um nicht nur weiterma-
chen zu können, sondern auch neue Spielräume für die Zusammen-
arbeit auszuloten. Neue Spielräume ergründen auch all jene, die mit
ihren künstlerischen Formaten das Potential des Digitalen erfor-
schen. Die Kulturstiftung des Bundes begleitet als Fördergeberin
solche Entwicklungen und skizziert ihre Beobachtungen. Eine Krise
wie Corona trifft die Institutionen hart, noch stärker aber sind es
Einzelakteur*innen, Selbstständige und Freiberufler*innen, die jetzt
um ihre Existenz kämpfen. Über Strategien, solch herausfordernde
Situationen persönlich und biografisch zu bewältigen, sprechen wir
mit der Psychiaterin und Psychotherapeutin Dr. Déirdre Cooper.

„Ins Offene“ ist auch ein ständiges Thema des Netzwerk Junge
Ohren, das sich – nicht nur in Pandemie-Zeiten – stetig weiterent-
wickelt, neue Impulse aufgreift und sich immer wieder neu erfindet.
Auch davon berichten wir in diesem Heft und wünschen Ihnen viel
Freude beim Lesen.

Herzlich

Katharina von Radowitz / Alexander von Nell
Geschäftsführung Netzwerk Junge Ohren

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Best of Magazin #7 Ins Offene

   Austausch,
                                Der Orchesterbetrieb lebt als künstlerischer Organis-
                                mus nicht nur vom gemeinsamen Musizieren. Auch
                                wesentliche Bereiche der Organisation finden im
                                Miteinander des Probenbetriebs statt. Wird dieses

    Nähe und
                                stillgelegt und zudem der Kontakt zum Publikum
                                abgeschnitten, geraten zentrale Parameter durchein-
                                ander. Wie man unter diesen Umständen den Kopf

      Agilität
                                oben hält, beschreibt Beat Fehlmann, Intendant der
                                Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz.

    Was jetzt
                                Noch nie waren die Führungsgrundsätze in Kultur-
                                betrieben so herausgefordert wie in der gegenwär-
                                tigen Krise. Die Aspekte „Strukturen schaffen“ und
                                „für Ziele sorgen“ sind dabei grundlegende Themen,

         zählt
                                deren Verwirklichung sich jedoch durch das dezentrale
                                Arbeiten und die absolute Planungsunsicherheit in
                                neuen Dimensionen abspielt.

                                                                                   6
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die Bemühungen, möglichst weit auszuschwärmen
Kommunikation,                                            und dadurch eine breite Wahrnehmung zu erreichen.

Kommunikation,                                            Dabei lag ein wichtiger Aspekt darin, die Beziehung
                                                          zu unserem Publikum zu erhalten, zu festigen und sie
Kommunikation!                                            auf einer sehr persönlichen Ebene zu gestalten. Eine
                                                          zentrale Rolle kam dabei den Musiker*innen selbst zu,
Detaillierte Aufgabenbeschreibungen, vordefinierte Ar-    welche nicht nur die Musik zu den Menschen brach-
beits- und Entscheidungsabläufe sowie Schnittstellen      ten, sondern auch eine wichtige Botschafterfunktion
sind gelebte Praxis in Kulturbetrieben. Dennoch lebt      einnahmen. Hier kam viel Kreativität und individuelles
dieses System im Alltag ganz zentral von kurzen Wegen     Engagement seitens des Orchesters zum Tragen. Trotz
und einem mehr oder weniger beständigen informellen       – oder vielleicht auch gerade wegen – der außerge-
Austausch. Mit dem Ausbruch der Pandemie sahen wir        wöhnlichen Rahmenbedingungen dieser Zeit, wurden
als Kulturinstitution die primäre Aufgabe darin, den      ganz besondere und emotionale Erlebnisse möglich.
gemeinsamen Austausch aufrechtzuerhalten und für          Diese Vielfalt an Veranstaltungen und die große Nähe
einen geregelten Tagesablauf zu sorgen. Vor diesem        zum Publikum spiegeln sich in den unmittelbaren
Hintergrund haben wir umgehend die Kommunikation          Reaktionen und in der Tatsache, dass es uns gemeinsam
für die Tagesordnungen auf der gesamten Adminis-          gelungen ist, von Mitte Mai bis Anfang Juli 2020 ins-
trationsebene neu strukturiert. In dem teilweise sehr     gesamt 150 Live-Veranstaltungen durchzuführen und
unterschiedlichen Arbeitsrhythmus der Kolleg*innen        dabei rund 7.000 Menschen zu erreichen.
führte dies unmittelbar zu einer Beruhigung und Kon-
zentration.
                                                          Staatsphilharmonie
Die personelle Besonderheit unseres Betriebs liegt
dabei aber vor allem darin, dass die Orchestermusi-
                                                          digital
ker*innen rund 80 Prozent des Personals ausmachen.        Unsere Strategie „Musik im Anflug“ beschränkte
Durch die Aussetzung der künstlerischen Arbeit fiel ein   sich aber nicht nur auf analoge Formate. Im digitalen
ganz wesentlicher Teil der üblichen Kommunikations-       Bereich haben wir uns konsequent auf die Musikver-
kanäle zu den Mitgliedern des Orchesters aus. Um dies     mittlung konzentriert und versucht neue Entwicklun-
aufzufangen, haben wir sogenannte „Friday’s Flashs“       gen so zu konzipieren, dass sie auch über die aktuelle
eingeführt – kompakte Infomailings, die wöchentlich       Situation hinaus ihre Gültigkeit behalten. Ins Zentrum
an sämtliche Mitarbeitenden der Deutschen Staats-         dieser Bemühungen stellten wir drei Projekte. Das
philharmonie Rheinland-Pfalz versendet wurden.            erste Projekt bietet einen attraktiven Beitrag zum in
Dabei hatte jede Abteilung die Möglichkeit, sich über     diesen Krisenzeiten noch einmal deutlich häufiger aus-
die Entwicklungen und Überlegungen auf dem Lau-           gefallenen Musikunterricht in den Schulen. Das Digitale
fenden zu halten. Für mich persönlich bedeutete dies      Klassenzimmer ist ein Live-Stream, welcher jeweils ein
eine rasche Verbreitung neuer Veranstaltungsformate       Instrument ins Zentrum rückt und über die Chat-Funk-
und eine direkte Ansprache und Aktivierung sämtlicher     tion die Möglichkeit eröffnet, direkte Fragen zu stellen
Mitarbeitenden.                                           und diese von einem Profi aus dem Orchester unmit-
                                                          telbar beantwortet zu bekommen. Die Beteiligung von

Neue Formate am Puls                                      rund 1.000 Besuchenden pro Ausstrahlung zeigt uns
                                                          die Notwendigkeit dieses Angebots.
des Publikums                                             Das zweite Projekt Wir individuell – Wir sinfonisch
Dadurch ist es uns gelungen, unmittelbar nach dem         läuft über unsere Webseite staatsphilharmoniker.de
Lockdown wieder mit Live-Formaten auftreten zu            und vereint ganz persönliche, selbstproduzierte Bei-
können. Der größte Teil dieser Ereignisse ist mit dem     träge mit einer Aufführung des gesamten Orchesters.
regulären Orchesterbetrieb nicht vergleichbar. Doch       Die Musiker*innen wurden angefragt, ein kurzes Video
der breite Fächer an ganz unterschiedlichen Live-Ver-     mit ihrer Lieblingsstelle aus der fünften Sinfonie von
anstaltungen sorgte für eine Vielfältigkeit sowohl im     Beethoven zu produzieren und diese vorzustellen.
Publikum als auch im Angebot, das aus der aktiven         Nach diesem Einblick aus der Sicht der Musiker*innen,
Mitgestaltung sämtlicher Musiker*innen entstanden         können die Zuhörer*innen die gleichen Einzelstimmen
ist. Unser leitendes Motto „Musik im Anflug“ beschreibt   als Teil des großen symphonischen Klangs aus dem

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Best of Magazin #7 Ins Offene

Jubiläumskonzert „100 Jahre Deutsche Staatsphilhar-         pe aus unterschiedlichsten Arbeitsbereichen im Tun
monie“ nachhören. Die persönliche Ebene erlaubt es,         lernen und Ideen weiterentwickeln sowie verändern.
einen sehr individuellen Eindruck von dieser Musik zu       Ich bin voller Zuversicht, dass es uns gelingen wird,
bekommen und dabei Hinter- und Vordergründiges              die Offenheit und Flexibilität der vergangenen Wo-
über dieses herausragende Werk zu erfahren. Die             chen auch auf die Zukunft zu übertragen. So wichtig
Technik wiederum ermöglicht eine Annäherung an              es ist, wieder Planungssicherheit zu erhalten, wäre es
das Orchestergeschehen, welche im Konzert in dieser         aus meiner Sicht hilfreich, wenn wir als Kulturinstitution
Form unmöglich ist.                                         künftig deutlich agiler würden.

Auch die Seite junge-klassik.de ermöglicht den spon-
tanen Kontakt zur Musik und vermittelt mit einem
spielerischen Ansatz Wissenswertes über die musika-
lischen Inhalte: Wie wird eine Geige gebaut, was ist
eine Quinte, wer war Händel und vieles mehr. Im Drei-
klang von Entdecken, Spielen und Mitmachen können
alle Besucher*innen intuitiv einen individuellen Zugang
finden. Die vielen positiven Rückmeldungen und die

                                                                                    Beat
hohe Zahl von 180.000 Zugriffen im Zeitraum März
bis Juni bestätigen den Stellenwert dieser digitalen
Ressource.
                                                                                    Fehlmann
Wertschöpfung &
Innovation                                                          Beat Fehlmann ist seit September 2018 Intendant
                                                                    der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz
Konzertübertragungen zum Nulltarif haben wir be-                    in Ludwigshafen. Zuvor hatte der gebürtige
wusst nicht gewählt. Wir glauben daran, dass das                    Schweizer die Intendanz der Südwestdeutschen
Live-Erlebnis nicht digitalisiert werden kann. Dennoch              Philharmonie in Konstanz inne, die auf Stationen
stecken in der neuen Technik unglaubliche Möglich-                  bei der Kammerphilharmonie Graubünden und der
keiten, um Menschen ganz nahe an die Musik heran-                   Philharmonie der Nationen folgte. Beat Fehlmann
zuführen. Für mich persönlich war es aber darüber                   besitzt Musikhochschulabschlüsse in den Fächern
hinaus besonders eindrücklich, in diesen Monaten zu                 Klarinette, Dirigieren und Komposition sowie einen
erfahren, was zum Beispiel alles per Video-Konferenz                Executive Master in Arts Administration der Uni-
möglich ist und wie viele Treffen oder Besprechungen                versität Zürich. Er war Assistent von Heinz Holliger
man auch ohne aufwändige Reisetätigkeiten durch-                    beim Collegium Novum Zürich und anschließend
führen kann. Ich gehe deshalb davon aus, dass zukünf-               Gastdirigent verschiedener Orchester und Ensem-
tig überregionale Treffen vermehrt auch im Digitalen                bles. Für sein kompositorisches Schaffen wurde er
Raum stattfinden werden – wovon wohl auch die Um-                   mehrmals ausgezeichnet und als Klarinettist ver-
welt profitieren dürfte. Gleichzeitig hat für mich diese            folgte er überwiegend Projekte mit experimentellem
Technik oder vielmehr diese Form immer dann versagt,                Charakter. Seit einigen Jahren konzentriert sich Beat
wenn Weiterentwicklungen und kreative Prozesse im                   Fehlmann auf administrative Tätigkeiten und bildete
Vordergrund standen. So haben wir auch erkannt, wie                 sich dafür an der Universität Zürich, der German
wichtig es für unsere Institution ist, zukünftig vermehrt           Graduate School und dem King’s College London
auf agiles Arbeiten zu setzen. Wir haben die Zeit des-              fort. Seit diesem Jahr unterrichtet er an der Hoch-
halb genutzt, unser Phil LAB zu etablieren. Diese Start-            schule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt
Up-Einheit innerhalb der Institution soll es uns möglich            das Fach Orchestermanagement.
machen, Veränderungs- und Entwicklungsprozesse
auch in „normalen“ Zeiten voranzutreiben. Das Phil
LAB soll ein Thinktank sein, welcher nicht nur disku-
tiert und Konzepte erstellt, sondern vor allem schnell
ins Handeln kommt und versucht, neue Ideen in die
Tat umzusetzen. Dabei will diese sechsköpfige Grup-

                                                                                                                    8
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Was war die größte Herausforderung für die
                                                           Menschen, die Sie in dieser Zeit aufgesucht haben?

               Keine
                                                           Die Beschwerden unserer Patientinnen und Patienten
                                                           bilden im Grunde ab, was gerade los ist: eine große
                                                           Verunsicherung. Das Virus kam plötzlich und niemand
                                                           weiß wirklich Bescheid, wie es funktioniert, wie lange

              Angst!
                                                           es bleibt und was die Konsequenzen für uns sein wer-
                                                           den. Wir Psychiater sind hier übrigens nicht klüger als
                                                           andere Menschen – auch wir müssen die neue Situation
                                                           erst einmal selber erfassen. Aber letztlich kommen
                                                           wir mit Corona auf ein zentrales Thema zurück, das

  Die Psychiaterin
                                                           wir im Patientenkontakt kennen: Die Notwendigkeit
                                                           zu Anpassung und Veränderung bereitet den meisten
                                                           Menschen erheblichen Stress. Unsere Aufgabe ist es,

Dr. Déirdre Cooper                                         Menschen, die in eine psychische Not geraten sind, aus
                                                           dieser Stress-Situation herauszuhelfen. Und genau das

  im Gespräch mit
                                                           tun wir jetzt seit Monaten unaufhörlich und in einem
                                                           höheren Aufkommen als vorher, weil es einfach vielen
                                                           Menschen schlecht geht.

         Katharina                                         Für viele, gerade freischaffend tätige Musikerinnen

     von Radowitz
                                                           und Musiker geht es ja gerade wirklich um die
                                                           Existenz und nicht nur darum, eine unkomfortable
                                                           Phase zu überstehen. Gibt es Strategien, um jetzt
                                                           nicht in Panik zu verfallen?
 Liebe Frau Dr. Cooper, zuallererst: Wie geht es Ihnen?
 Wie wirkt sich die Pandemie auf die Arbeit in Ihrer       Das ist nicht leicht, denn es geht hier um ganz entschei-
 Praxis aus, zu deren Patienten viele Musikerinnen und     dende, existenzielle Ängste. Wir Psychiater sprechen
 Musiker zählen?                                           hier von einem Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt: Als
                                                           Musiker bin ich davon abhängig, dass mich jemand für
 Ja, das ist auch für uns sehr turbulent. Interessanter-   ein Konzert engagiert. Wenn ich als Sängerin für eine
 weise hatten wir als selbstständige Psychiater mit ei-    „Johannes-Passion“ beauftragt bin und die findet nicht
 gener Praxis zu Beginn der Pandemie erst einmal selbst    statt, bekomme ich kein Geld. Ich bin in zweifacher
 ein wenig Existenzangst. Würden die Patienten weiter      Hinsicht abhängig: vom Auftraggeber, der absprache-
 zu uns kommen? Ist der Praxisbetrieb weiter möglich?      fähig sein muss, und davon, dass nicht gerade ein
 Schnell zeigte sich, dass unsere Sorgen unbegründet       Virus das komplette Konzertleben in seinen Bann
 waren, denn die meisten Menschen, die vorher mit dem      schlägt. Und immer, wenn Menschen sich abhängig
 Leitsymptom Angst zu uns gekommen waren, kamen            fühlen, ist die Ohnmacht nah – gefolgt von Angst und
 auch weiterhin – und auch neue Patientinnen kamen.        Panik. Um nicht in einer passiven Hilflosigkeit zu ver-
 Sie brauchten Unterstützung und eine Einordung der        harren, muss eine Strategie gefunden werden. Aufgabe
 Situation durch uns Therapeuten. Das waren übrigens       der Psychiaterin ist es also, ihre Patienten möglichst
 keineswegs nur die freischaffenden, sondern auch die      in der Aktivität zu halten. Zum Beispiel indem sie sie
 fest angestellten Künstler, die plötzlich in Kurzarbeit   dabei unterstützt, Maßnahmen zur Überwindung eines
 waren oder eine Art aktivierte Krankheitsangst be-        finanziellen Engpasses anzugehen – also das Gespräch
 kommen haben. Viel geäußert wurde die Sorge „Was          mit der Bank zu suchen, Hilfsmaßnahmen für sich zu
 geschieht, wenn ich krank werde? Was passiert, wenn       überprüfen oder Eltern temporär um Unterstützung zu
 ich wegfalle, als jemand, der das Geld für die Familie    bitten. Sobald jemand ins Handeln kommt und aktiv
 verdient?“ Es wurden alte Krankheitsbilder aktiviert      seine Probleme angeht, ist er nicht mehr passiv. Und
 – Panikattacken, Angst, Zwang, psychomotorische           dann lässt in der Regel auch die Anspannung und im
 Anspannung, Schlafstörungen –, die für viele Anlass       Idealfall auch die Panik nach. Darum geht es: ange-
 waren, den Weg zu uns zu suchen.                          sichts der gegebenen Umstände autonom bleiben.

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Ins Offene - Netzwerk Junge Ohren
Best of Magazin #7 Ins Offene

Schon vor Corona wussten wir um
die mangelnde Wertschätzung für viele
Facetten von Kulturarbeit. Nicht gezahlte
Ausfallhonorare oder intransparente Absagen
stärken diesen Eindruck. Bei vielen Musikerinnen
und Musikern gehen Berufs- und Selbstbild Hand
in Hand. Wie kann man dem Gefühl begegnen, ver-
meintlich nicht mehr gefragt zu sein?

Das ist ein Kernthema unserer therapeutischen Arbeit,
denn jede Krise – und jetzt eben die Pandemie – akti-
viert alte Grundüberzeugungen. Die entstehen nicht in
der Gegenwart, sondern in der Kindheit, in frühen Bin-
dungs- und Beziehungserfahrungen. Vielleicht besteht
die Erfahrung für eine Person darin, dass sie als jüngs-
tes von mehreren Geschwistern immer etwas außen            bestehen, dass man das bekommt, was einem zusteht:
vor geblieben ist und sich unerwünscht gefühlt hat. Da     Respekt, Anerkennung, Wertschätzung. Und der
kann das Resümee 20 Jahre später vor dem Eindruck          Schlüssel dazu liegt darin, zuallererst mit sich selbst
von Corona heißen „Ich spiele noch immer Aushilfe im       wertschätzend umzugehen. Nur das eigene Handeln
Orchester und bin da kein festes Mitglied“. Von hier ist   kann die ursprüngliche und negative Grundüberzeu-
es nur ein kleiner Schritt zu der alten Überzeugung „Ich   gung auflösen! Darauf wirkt Psychotherapie hin: Wir
gehöre nicht dazu, die wollen mich hier nicht haben.“      schauen genau, an welcher Stelle jemand gekränkt
Aufgabe in der Therapie ist es dann zu sortieren: Was      oder verletzt werden kann. Diese Trigger-Momente
gehört jetzt in die aktuelle Situation und was ist alter   – und Corona ist der perfekte Trigger! – bringen uns
Spuk von früher? Um eine Distanz zu negativen Grund-       auf die Spur der alten und schädigenden Grundüber-
überzeugungen wie „Ich bin ganz alleine“ oder „mir         zeugungen. Diese zu identifizieren und einzuordnen
hilft keiner“ zu schaffen, muss man lernen darauf zu       ist wichtig, noch wichtiger aber ist es dann, prospektiv

                                                                                                                10
weiterzudenken und nicht in der Vergangenheit
stecken zu bleiben. Salopp gesprochen: Was aus
meinem alten Leben darf bleiben und was muss weg?
Wir unterstützen unsere Patienten dabei, diese Ent-
scheidung zu treffen, sie für sich zu formulieren und
danach zu handeln. Wir sprechen dabei von Reframing
– ein Prozess, der dem eigenen Leben eine Art neuen
Bilderrahmen und damit eine neue Perspektive ver-
schafft.

Den Musikerberuf an den Nagel zu hängen und
sich einfach einen neuen „sicheren“ Job zu suchen
ist in Ihren Augen also keine Lösung?

Das finde ich ganz problematisch. Eine freischaffende                     Dr. Déirdre
                                                                          Cooper
Pianistin oder ein Sänger – die haben tausende von
Übekilometern in diese hochqualifizierte Ausbildung
gesteckt. Wir reden hier von Kulturschaffenden, die ei-
nen essentiellen Beitrag zur Lebensqualität in unserer
Gesellschaft leisten. Wer jetzt hinschmeißt, negiert        Dr. Déirdre Cooper ist Fachärztin für Neurologie
nicht nur den Stellenwert von Kultur für unser Zusam-       sowie Psychiatrie und Psychotherapie. Von 2009
menleben, sondern viel schlimmer: Er fällt sich selbst in   bis 2014 leitete sie als Oberärztin an der Klinik für
den Rücken. Ich ermutige lieber zum Durchhalten und         Psychiatrie und Psychotherapie der Universitäts-
dazu, an der eigenen Kernkompetenz festzuhalten.            klinik Bonn die Akutpsychiatrische Station und die
Diese über Bord zu werfen, ist immer selbstwertschä-        Opiatentgiftungsstation. Dort baute sie die Lampen-
digend.                                                     fieberambulanz für Musiker*innen auf, wofür sie
                                                            2013 mit dem Antistigma-Preis der Fachgesellschaft
Was würden Sie unseren Leserinnen und Lesern                für Psychiatrie ausgezeichnet wurde. 2014 gründete
raten, die sich vielleicht von diesen oder ähnlichen        sie zusammen mit dem Psychiater Alexander Klick
Fragen bedrängt fühlen? Was kann man selber                 eine eigene Praxis in Köln. Seit 2015 betreut
leisten und ab welchem Punkt sollte man sich                Dr. Déirdre Cooper diverse Orchesterakademien
professionelle Hilfe holen?                                 (WDR Sinfonieorchester, Gürzenich Orchester Köln).
                                                            Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der Prävention
Ich bin grundsätzlich eine große Anhängerin von Pla-        von Angsterkrankungen bei Musiker*innen.
ton, der den Dialog über alles gestellt hat: Sprechen
hilft! Im Gespräch mit vertrauten Menschen verliert der     praxis-cooper-klick.de
Schrecken viel von seiner Größe und es eröffnen sich
andere Sichtweisen und meistens auch Lösungsan-
sätze. Wenn aber die Symptome so bedrohend und
raumfordernd sind, dass man seinen Alltag gar nicht
mehr bewältigen kann, sollte man sich professionelle
Hilfe holen. Wenn man permanent Angst hat, schlechte
Nächte durchlebt und ständig mit Panikattacken auf-
wacht, ist das ein Grund. Dann sollte man zunächst zu
seiner Hausärztin gehen und dann vielleicht auch mal
eine Kurzzeit-Therapie beim Psychiater und Psycho-
therapeuten beginnen. Häufig geht es wirklich darum
Spannung abzubauen und einen Umgang mit Unwäg-
barkeiten zu finden. Das ist in einer kurzen therapeuti-
schen Intervention in der Regel auch gut zu bewältigen

Vielen Dank für das Interview!

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Best of Magazin #7 Ins Offene

                                                                zur Musik neu zu erschließen. Oftmals sind geförderte
                                                                Projekte zunächst ihrer Zeit voraus, sie reagieren seis-
                                                                mografisch auf Tendenzen und Strömungen in Gesell-

  Wir sind ganz Ohr
                                                                schaft und Kunst und entwickeln daraus Projektvor-
                                                                haben, an denen sich später auch andere Szenen und

Die Kulturstiftung des
                                                                Kulturinstitutionen orientieren können. Wir als Förder-
                                                                einrichtung sind dabei in der glücklichen Situation, dass
                                                                wir in der Begleitung dieser Projekte frühzeitig erfah-

Bundes begleitet den                                            ren und gemeinsam mit den Akteur*innen reflektieren,
                                                                was die Musiklandschaft beschäftigt und benötigt.

   (digitalen) Wandel                                           Dies hilft uns, unsere Förderpraxis beweglich zu halten
                                                                und neue Förderinstrumente zu entwickeln. In diesem

     des Musiklebens                                            Sinne unterstützen wir beispielsweise Ooorchestra –
                                                                ein Projekt des STEGREIF.Orchesters, das zusammen
                                                                mit bekannten YouTubern den digitalen Kanal [plu‘-ra:l]
  Seit Beginn ihres Bestehens fördert die Kulturstiftung        entwickelt hat, um jungen Menschen klassische Musik
  des Bundes zeitgenössische internationale Musikpro-           dort nahezubringen, wo sie zuhause sind. Gefördert
  jekte und initiiert darüber hinaus eigene Programme,          wird das Fellowship-Programm #bebeethoven, in
  die der Sparte Impulse geben und auf die jeweiligen           dem zwölf Künstler*innen interdisziplinär zur Zukunft
  Bedürfnisse der Musikszenen eingehen. Dabei enga-             der Kunstmusik im 21. Jahrhundert forschen und in-
  gieren wir uns auch in der Förderung von Musikver-            novative Stilmittel und Formate erproben. Mithilfe
  mittlungsprojekten, die über zeitgemäße Zugänge zur           digitaler Technologien ermöglichen die Fellows Inter-
  Kunstmusik nachdenken – in den letzten Jahren natürlich       aktionen wie Crowdcomposing oder Aufführungen mit
  befeuert durch die zunehmende Digitalisierung. Es             Echtzeitbeteiligung und weiten so die Bandbreite und
  interessiert uns, wie die „Kultur der Digitalität“ (Felix     Vorstellung von Teilhabe enorm. In unserem jüngsten
  Stalder), die durch „Gemeinschaftlichkeit, Referentiali-      Programm Kultur Digital entwickeln die Komische
  tät und Algorithmizität“ 1 charakterisiert ist, die Sparte,   Oper Berlin und das Berliner Ensemble derzeit gemein-
  ihren Kunstbegriff und ihre Produktions- und Auffüh-          sam künstlerische „Spielräume“ und Erlebniswelten,
  rungspraktiken verändert und welche Bedeutung dabei           die Oper und Schauspiel in Games erlebbar machen.
  den Formaten der Vermittlung zukommt. Wie erreicht            Die Deutsche Oper am Rhein und das FFT Düsseldorf
  die Kunstmusik in Zeiten von Streaming-, Remix-                                                                       >
  und Mashup-Kultur und unter den Bedingungen der
  Corona-Pandemie ihr Publikum? Welche neuen Allian-
  zen müssen gebildet, welche Arbeitsweisen und Struk-
  turen gefördert werden, um die Kunstmusik und ihre
  Akteur*innen zu stärken?

  Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten und
                                                                                      Juliane
  einen Einblick in die Entwicklungen innerhalb der                                   Köber
  Kunstmusik zu gewinnen, lohnt ein Blick auf die aktuell
  von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Projekte
  im Bereich Musik und Kulturelle Bildung: Viele der
  Projekte spiegeln die Veränderungen, Chancen und                   Juliane Köber ist seit 2011 Mitarbeiterin für Digitale
  Herausforderungen, denen sich (auch) die Kunstmusik                Kommunikation der Kulturstiftung des Bundes
  stellen muss – vom Einsatz digitaler Technologien bis              und dort derzeit u.a. verantwortlich für die
  hin zur Öffnung ihrer Institutionen für die diverse Ge-            Kommunikation des Programms Kultur Digital sowie
  sellschaft. Wir fördern programmatisch modellhafte,                verschiedener Musikprojekte. Sie studierte Politik-
  richtungsweisende Vorhaben (abgeschlossen, aber                    wissenschaften, Journalistik und Frankreichstudien
  noch immer nachwirkend z.B. Netzwerk Neue Musik)                   an der Universität Leipzig und der Universität
  ebenso wie hochdynamische Kooperationsprojekte                     Aix-Marseille I, Frankreich.
  wie Trikestra und möchten sie motivieren, mit Ver-
  mittlungsansätzen zu experimentieren und Zugänge

                                                                                                                      12
wiederum kreieren „Digitale Foyers“, um Schnittstellen     Mit herausragenden Ideen, Offenheit, ästhetischem
                                                                                                        zur Stadtgesellschaft zu schaffen und Gemeinschaft zu      Gespür und künstlerischer Exzellenz gestalten die
                                                                                                        stiften. Allein die hier vorgelegte Auswahl an Projekten   Akteur*innen der Musik den (digitalen) Wandel längst
                                                                                                        macht deutlich: Die Sparte ist in Bewegung. Die Musik-     aktiv mit. Wir bleiben neugierig!
                                                                                                        szenen differenzieren sich aus und arbeiten enger mit
                                                                                                        Communities und temporären Partnern aus Gesellschaft,      Weitere Informationen zu den geförderten Projekten
                                                                                                        Wissenschaft, Kunst und Technik zusammen. Sie suchen       finden Sie unter kulturstiftung-bund.de
                                                                                                        den sparten- und themenübergreifenden Austausch.           1
                                                                                                                                                                       Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Berlin. Suhrkamp. 2016.

                                                                                                                                                                   Im weiteren Prozess sollen Arbeitsabläufe der digitalen
                                                                                                                                                                   Spieleentwicklung (Game Jams, Testings, Labs, aber
                                                                                                                                                                   auch neue Kommunikationstools etc.) Anwendung

                                                                                                              Spielräume ...
                                                                                                                                                                   finden, erprobt und hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit
                                                                                                                                                                   auf die bisherigen Produktionsweisen der Komischen
                                                                                                                                                                   Oper Berlin und des Berliner Ensembles überprüft

                                                                                                       ... zum Ausprobieren,                                       werden. Das Projekt dient somit nicht nur der Kreation
                                                                                                                                                                   von neuen digitalen Formaten, sondern auch dem An-

                                                                                                                   Scheitern                                       wenden und dem Test von agilen Arbeitsweisen, die
                                                                                                                                                                   in der Spieleentwicklung bereits gute Praxis sind. Der

                                                                                                                 und Lernen                                        Weg zu den neuen digitalen Erlebniswelten erscheint
                                                                                                                                                                   innerhalb des Projekts letztlich ebenso wichtig wie das
                                                                                                                                                                   Ziel. Dabei sollen auch neue Zugänge für das Publikum
die eine spielerische Erfahrung für ihre Teilnehmenden schaffen, dazu einladen oder sie ermöglichen.

                                                                                                        Die Spielräume von Oper und Schauspiel im Analogen         geschaffen werden, die eine aktivere Teilhabe implizie-
                                                                                                        sind unermesslich. Mit Darsteller*innen, Musik, Spra-      ren. So partizipiert das „Publikum“ der playful media
                                                                                                        che und Ausstattung können auf einer leeren Bühne          per se nie nur wahrnehmend, sondern als Spielende
                                                                                                        die unterschiedlichsten Erlebniswelten im Hier und         auch stets agierend. Dies auf das Prinzip „Oper“ bzw.
                                                                                                        Jetzt geschaffen werden. Doch wie sehen die Möglich-       „Schauspiel“ zu übertragen, ist besonders reizvoll: Wie
                                                                                                        keiten für Oper und Schauspiel im Digitalen aus? Wie       können Menschen über geographische, sprachliche
* Als playful media werden alle Objekte, Räume und Technologien bezeichnet,

                                                                                                        lassen sich Spiele bzw. neue künstlerische Formate im      und physische Barrieren hinweg an digitalen Opern-
                                                                                                        Bereich des Digitalen entwickeln, ohne die analogen        und Schauspiel-Ereignissen nicht nur teilnehmen,
                                                                                                        Parameter einfach nur 1:1 zu übersetzen? Was könnte        sondern sie aktiv mitgestalten? Die neu entstehenden
                                                                                                        z.B. die Kopräsenz von Darstellenden und Publikum für      „Spielräume“ sollen auf diese Weise neue Zielgruppen
                                                                                                        die digitale Spielewelt bedeuten? Inwiefern könnte der     erreichen, insbesondere Gamer*innen und Digital
                                                                                                        V-Effekt oder das Durchbrechen der Vierten Wand für        Natives.
                                                                                                        die „playful media“* fruchtbar gemacht werden? Und
                                                                                                        welchen Beitrag können Mackie Messer, Don Giovanni         Die Komische Oper, wie auch das Berliner Ensemble
                                                                                                        oder Salome hierzu leisten?                                begreifen sich in diesem Projekt als lernende Organisa-
                                                                                                                                                                   tionen mit zunächst geringer Expertise in der kreativen
                                                                                                        Seit dem Frühjahr 2020 – eine Zeit in der die Digi-        Welt der playful media. Ihr gemeinsames Anliegen ist
                                                                                                        talisierung aufgrund des Corona-Lockdowns einen            es, sich für die digitalen Ästhetiken, Diskurse, Forma-
                                                                                                        weiteren Schub erfahren hat – setzen sich die Komi-        te und insbesondere auch Technologien (Augmented
                                                                                                        sche Oper Berlin und das Berliner Ensemble im Pro-         Reality, Virtual Reality etc.) zu öffnen und den Projekt-
                                                                                                        jekt „Spielräume“, das im Programm Kultur Digital der      ablauf daher möglichst ergebnisoffen zu gestalten.
                                                                                                        Kulturstiftung des Bundes gefördert wird, mit diesen       Selbst wenn manches scheitern sollte, wird doch alles
                                                                                                        Fragen auseinander. Zwei neue Projektleiter*innen mit      ein Gewinn im Sinne neuer Wissens- und Erfahrungs-
                                                                                                        digitaler Expertise wurden dafür engagiert und für die     horizonte sein.
                                                                                                        nächsten dreieinhalb Jahre Förderphase ein Fahrplan
                                                                                                        entwickelt, der bereits im Jahr 2021 erste künstlerische   Dr. Rainer Simon
                                                                                                        Umsetzungen vorsieht.                                      Referent des Intendanten der Komischen Oper Berlin

                                                                                                        13
Best of Magazin #7 Ins Offene

   PODIUM.
                                Die Lage ist unübersichtlich und wird es bleiben. Nicht
                                erst seit der Corona-Pandemie wird immer deutlicher,
                                dass unsere Normalität weit weniger stabil ist, als sie

      Digital
                                oft erscheint. Das gilt für viele Bereiche, für den digi-
                                talen Wandel als gesellschaftlichen Transformations-
                                prozess erst recht. Als Produktionsplattform, die sich

   Strategien
                                Fragen der musikalischen Gegenwart widmet, stellen
                                diese Entwicklungen für PODIUM Esslingen schon seit
                                der Gründung 2009 ein wesentliches Handlungsfeld
                                dar. Dabei treibt uns die große Frage an, wie es ausge-

für unsichere
                                hend von der Musik gelingen kann ein positives, selbst-
                                bestimmtes Narrativ des Digitalen zu entwickeln und
                                einen optimistischen Handlungsraum zu erobern.

       Zeiten                   Digitalität war nicht weniger als Gründungsvoraus-
                                setzung von PODIUM. Seit Beginn arbeitet das Team
                                dezentral über Deutschland und Europa verteilt und die
                                Community aus Musiker*innen, Publikum und Organi-
                                sationsteam konnte nur mit Hilfe der ausgeprägten
                                Nutzung von Social-Media überhaupt so schnell
                                wachsen. Auch Video-Podcasts und das YouTube
                                Format PODIUM Sessions entstanden schon kurz
                                nach der Gründung – gerade weil für uns als junges
                                Team die digitale Welt selbstverständlicher Teil unserer
                                Lebensrealität ist.

                                                                                      14
Mit der Entwicklung von Henry als digitalem Musik           davon entfernt sind, auf die vielen neuen Möglichkei-
Kurator begann 2016 der gezielte Aufbau von                 ten und Herausforderungen passgenaue Antworten
PODIUM.Digital als eigene Sparte, in der wir die            zu haben. Dabei sind wir überzeugt davon, dass wir
digitalen Projekte von PODIUM gebündelt haben.              diese Fragen nicht alleine beantworten können und
Schnell wurde aber deutlich, dass es nicht im klas-         suchen immer wieder den Austausch mit anderen
sischen Sinne eine solitäre Sparte braucht, sondern         Akteur*innen.
vielmehr eine breite Strategie, die allen Bereichen von
PODIUM als Impulsgeber und Reflexionsraum dienen            Weitere Infos zu PODIUM.Digital unter
kann. Gleichzeitig sollte die Strategie nicht im traditi-   podium-esslingen.de/digital
onellen Sinne als X-Jahres-Plan dienen – zu unsicher,
vielfältig und dynamisch sind die Entwicklungen. Viel-              Julian Stahl
mehr soll die Digitalstrategie das Bewusstsein dafür                verantwortet den Bereich PODIUM.Digital
schärfen, welche Schwerpunkte wir nicht aus dem                     und ist Host des PODIUM Podcasts
Blick verlieren dürfen, um auf verschiedenen Ebenen
den digitalen Wandel aktiv mitzugestalten und auf
breiter Basis Digitalkompetenz aufzubauen. Wir kon-
zentrieren uns daher auf vier Handlungsfelder: Musik
und Digitalität als künstlerischer Experimentierraum
mit Projekten u.a. von Holly Herndon, Quadrature oder
Koka Nikoladze; Outreach als Schnittstelle zu PODIUM.                                             Mehr
Education; Kommunikation & Service bspw. mit dem                                                 Projekte
                                                                                                           h
PODIUM.Podcast und dem Online-Magazin bebeetho-                                                 im Bereic er
                                                                                                    lität unt
ven2020.com. Und ganz wesentlich: „Digital Literacy“                                          Digita
                                                                                                         ren.de
für den Aufbau von Digitalkompetenz und Reflexions-                                            jungeoh
fähigkeit in der gesamten Organisation, da wir weit                                                /digital

15
Digital und                                           Musik und Stadt zueinander zu bringen. Entlang des
                                                          historischen Stadtkanals in der Yorckstraße erwartet

       draußen:
                                                          Flaneur*innen und Musikfreund*innen an jeder der mit
                                                          einem QR-Code versehenen 20 Sitz- bzw. „Hör-Bänke“
                                                          ein anderes Konzert. Einfach Smartphone zücken,

              Die                                         QR-Code scannen und den Video-Konzertmitschnitt
                                                          genießen – von Dota Kehrs feinen Songperlen in der

Sommerkonzerte
                                                          Mittagspause über atmosphärischen Jazz mit dem
                                                          Tingvall Trio nach Feierabend bis hin zu Avi Avitals
                                                          zarten Mandolinenklängen im Mondschein. Auf diese

  des Nikolaisaal
                                                          Weise entstehen ganz individuelle Momente des
                                                          Musikhörens – draußen, auf Abstand, digital, zeitunab-

   Potsdam zum
                                                          hängig und in ganz unterschiedlichen Situationen. So
                                                          wurden für Familien mit Kleinkindern am Spielplatz Ecke
                                                          Yorck-/Dortustraße ausgewählte Sitzbänke mit einem

     Nachhören
                                                          QR-Code präpariert. Sie laden zum gemeinsamen Mit-
                                                          erleben von drei unterschiedlichen Familienkonzerten

 am Musik-Kanal
                                                          der ECHT JETZT?!-Reihe ein – u.a. einer liebevollen „Pu
                                                          der Bär“-Adaption mit dem Flötenduo Henrike Wasser-
                                                          meyer & Liam Mallett.

Als einer der ersten Veranstalter in der Region Berlin-   Das innovative Konzept des Musik-Kanals überzeugte
Brandenburg startete der Nikolaisaal Potsdam nach         auch die Organisatoren der in Potsdam stattfindenden
drei Monaten Generalpause am 12. Juni 2020 seinen         „EinheitsEXPO: 30 Jahre – 30 Tage – 30 x Deutschland“
Spielbetrieb. Dreieinhalb Wochen lang fand täglich ein    und ist nun Teil einer begehbaren Stadtkulisse, die noch
rund einstündiges Konzert im Foyer statt – live und mit   bis zum 4. Oktober 2020 aus Anlass des 30. Jahres-
Publikum vor Ort. Echt jetzt?, fragte sich so mancher     tages der Deutschen Einheit in der Potsdamer Innen-
bereits unter Konzert-Entzugserscheinungen Leiden-        stadt zu erleben ist. Das Honorar für diese Aktion
de angesichts dieser Offerte ungläubig. ECHT JETZT!,      kommt 1:1 den beteiligten Künstler*innen zugute. Für
lautete die einfache Antwort.                             seine Sonderprojekte ECHT JETZT?! und Musik-Kanal
                                                          wurde der Nikolaisaal für den Tourismuspreis des
Seit dem 6. Juli trägt das innovative Konzept Musik-      Landes Brandenburg 2020 nominiert.
Kanal die ECHT JETZT?!-Konzerte aus dem Foyer des
Nikolaisaal weiter in den Stadtraum. Damit setzt es       Astrid Weidauer
auf ganz ungezwungene Weise das Anliegen fort,            Dramaturgin des Nikolaisaal Potsdam

                                                                                                               16
Best of Magazin #7 Ins Offene

                                                          Im ersten Schritt entwickelte das Projektteam in enger
                                                          Abstimmung mit allen Beteiligten eine maßgeschnei-
                                                          derte Kommunikationslösung für jede der sechs
                                                          KLANGRADAR-Schulen. In dieses Kommunikations-
                                                          netz wurden auch die beiden Regisseurinnen einge-
                                                          bunden, die das Konzept für die Abschlusspräsentation
                                                          kreierten. Für die Umsetzung auf einer virtuellen Platt-
                                                          form kamen ein Filmemacher und eine Agentur für
                                                          E-Learning-Konzepte hinzu.

                                                          Am 18. Juni 2020 öffnete die Online-Bühne der Hör.For-
                                                          scher! ihren virtuellen Vorhang. Rund 400 Schüler*-
                                                          innen, Lehrkräfte, Mediencoaches, Komponist*innen
                                                          sowie Eltern, Freund*innen und Fachpublikum erlebten

       Hör.Forscher!
                                                          diese besondere Premiere. Ein Trailer eröffnet das
                                                          Programm und verdichtet mosaikartig die besondere
                                                          Atmosphäre dieses vom Lockdown geprägten Durch-

         Aufbruch in                                      gangs. Im Anschluss präsentiert ein virtuelles Filmfest
                                                          alle entstandenen Werke in voller Länge. Vom Kinosaal

             digitale
                                                          ist es nur ein Mausklick in das interaktive Klanglabor
                                                          der Hör.Forscher! – zahlreiche Gadgets laden zum Ex-
                                                          perimentieren mit Klängen und vor allem zum Hören

        Klangwelten                                       ein. Durchklicken, ausprobieren, raten, mixen: Hier
                                                          können die Besucher*innen selbst aktiv werden. Für
                                                          Lehrkräfte gibt es Materialien und Tutorials für die
Klänge erforschen, selbst entwickeln und experimen-       eigene Lehrpraxis.
telle zeitgenössische Musik komponieren – dazu regt
das Programm KLANGRADAR unter der künstlerischen          Ein laufendes Projekt so umzusteuern ist eine Heraus-
Leitung von Burkhard Friedrich Schüler*innen und ihre     forderung, die nur durch das Engagement und die
Lehrkräfte an allgemeinbildenen Schulen an. Seit 2019     vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Beteiligten ge-
findet KLANGRADAR gemeinsam mit dem Projekt               lingen konnte. Nicht zuletzt erfordert es die Bereit-
Klang.Forscher! unter dem Dach des bundesweiten           schaft der Fördergeberin, einen solch ergebnisoffenen
Programms Hör.Forscher! in Kooperation mit der Stif-      Prozess mitzutragen und zu unterstützen. Auf dieser
tung Zuhören und der PwC-Stiftung statt.                  Grundlage konnte der Hör.Forscher!-Durchgang trotz
                                                          Corona stattfinden. Den Digitalen Raum hat sich das
Der Projektunterricht 2019/20 hatte gerade begonnen,      Programm damit im Schnellverfahren erschlossen.
als das schulische Leben coronabedingt zum Stillstand     Nun gilt es, die gesammelten Erfahrungen weiter an-
kam. Doch der kreative Geist der Projektgruppen war       zureichern und zu fundieren. Denn eines ist klar: Hier
nicht zu stoppen. Das analog konzipierte Experiment       bietet sich ein neuer Spielraum, der die Hör.Forscher!
wurde vom Klassenraum in ein kollaboratives digita-       künftig mindestens flankierend begleiten wird.
les Klanglabor verwandelt und in viele verschiedene
Jugendzimmer verlagert.                                   Die Hör.Forscher!-Plattform kann weiterhin besucht
                                                          werden. Bei Interesse: kontakt@jungeohren.de
Für das Projektleitungsteam begann ein Weg durch
bisher nicht kartografiertes Gelände: Wie stellt man      Anna Peters ist beim NJO für die organisatorische
die digitale Kommunikation zwischen Komponist*in,         Leitung von Klangradar zuständig.
Lehrkraft und Lerngruppe sicher? Wie sind Aufgaben
und Übungen zu designen, um die Schüler*innen konti-
nuierlich für die Projektarbeit zu motivieren? Wie ent-   Hör.Forscher! ist ein gemeinsames Programm des
steht in der Vereinzelung ein Gefühl des Miteinanders?    Netzwerk Junge Ohren und der Stiftung Zuhören in
Welches Format hat eine Abschlussveranstaltung im         Kooperation mit der PwC-Stiftung. hoer-forscher.de
„Corona-Style“?

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Best of Magazin #7 Kultur öffnet Welten
Um praxisorientierte Antworten auf diese Fragen zu
                                                             finden, wurde das Programm Kultur öffnet Welten im
                                                             Jahr 2015 durch die Beauftragte der Bundesregierung
                                                             für Kultur und Medien ins Leben gerufen und ist seit
                                                             2017 Teil des Kompetenzverbundes KIWiT.

                                                             Als das Netzwerk Junge Ohren (NJO) im Gründungs-
                                                             jahr die Koordinierungsstelle für Kultur öffnet Welten
                                                             übernahm, war es erklärtes Ziel der Initiative, sparten-
                                                             übergreifend Akteur*innen zu vernetzen und sichtbar
                                                             zu machen, wie sie für eine vielfältige Kulturlandschaft
                                                             in Deutschland eintreten. Auf mehr als 700 professio-
                                                             nelle Teilnehmende ist Kultur öffnet Welten seither
                                                             gewachsen. Sie bilden das größte Netzwerk für Diver-
                                                             sität im Kulturbereich. Durch Beratung zu Förder- und
                                                             Kooperationsmöglichkeiten und Hilfe bei der Projekt-

                Diver-
                                                             entwicklung ermutigt, berät und unterstützt Kultur
                                                             öffnet Welten Akteur*innen und Institutionen in ihrem
                                                             Engagement. Dadurch konnten im gesamten Bundes-
                                                             gebiet unterschiedlichste Initiativen und Projekte reali-
                                                             siert werden.

                 sität
                                                             Kultur öffnet Welten hat auch das NJO verändert: Die
                                                             Themen Kulturelle Teilhabe und Diversität sind in neu-
                                                             en Projektzuschnitten aber auch intern zu wichtigen
                                                             Leitmotiven geworden, die das Team in seinen Denk-

            Vom Konzept                                      und Handlungsweisen prägen. Dazu gehört auch das
                                                             selbstkritische Reflektieren über Ausschlüsse in der

             zur gelebten
                                                             eigenen Institution, und zwar durchaus eigennützig:
                                                             Schließlich wissen Forschende schon länger, dass
                                                             Teams mit ausgeprägter Diversität nicht nur schnellere

                  Realität                                   und kreativere Lösungen finden, sondern auch erfolg-
                                                             reicher sind!

Stellen Sie sich ein Ensemble-Foto einer beliebigen          Auch wenn die Förderung für das Programm Kultur öff-
professionellen Ballettcompagnie, eines Orchesters           net Welten Ende des Jahres 2020 ausläuft, werden wir
oder Chores aus Deutschland vor, bei dem die Gesich-         die in diesem Projekt gewonnenen Erfahrungswerte
ter von Menschen nicht-deutscher Herkunft entfernt           auch künftig in unsere Arbeit integrieren. Und wir sind
worden sind. Und? Noch alle da? Sicher nicht. Schnell        weiterhin für Sie da, wenn Sie Beratungsbedarf zu den
würden hier Leerstellen sichtbar, denn längst sind bei       Themen Kulturelle Teilhabe und Vielfalt haben.
den sicht- und/oder hörbaren Ausführenden des Kul-
turbetriebs unterschiedliche nationale Herkünfte aner-       Bleiben Sie mit uns in Verbindung über
kannte Realität. Falsch jedoch ist die Annahme, dass         kontakt@jungeohren.de.
dies schon die reale Vielfalt der deutschen Gesellschaft
abbilden würde, die weit über nationale Zugehörigkeit        kultur-oeffnet-welten.de
hinausgeht. Und ganz sicher ist die Vielfalt auf der         facebook.com/kulturoeffnetwelten
Bühne eine andere, als die dahinter, beispielsweise          instragram.com/kulturoeffnetwelten
in der Theaterverwaltung. Ist das also wirklich schon        twitter.com/kultur_welten
alles, was der Kulturbetrieb in der Lage ist, an Inklusion
und Diversität abzubilden? Wie können Inklusion und
Diversität in den Bereichen Publikum, Personal, Pro-
gramm und Partner*innen gelebte Realität werden?

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Best of Magazin #7 Kultur öffnet Welten

                                                         Webinar #02
   Angeklickt                                            Digitale Teilhabe?! –
                                                         Vom Konzept zum Projekt
  Webinarreihe                                           Das nächste Thema gestaltete sich in Resonanz auf
                                                         das vorangegangene Webinar. Die wichtigen Aspekte
                                                         Souveränität des Publikums und Barrierefreiheit sowie
                                                         deren Einbindung in die digitalen Logiken stellten da-
                                                         bei den Diskussionsfaden dar. Wichtige Anreize und
                                                         Empfehlungen hierzu gaben der Direktor der Akademie
                                                         für Theater und Digitalität Kay Voges und Christian
                                                         Lölkes, Künstler und Hacker von Entropia e.V. CCC
                                                         Karlsruhe.

                                                         Webinar #03
                                                         Wem gehört Kunst
                                                         und Kultur im Netz?
                                                         Urheberrecht und
                                                         Datenschutz
Das Frühjahr 2020 brachte auch für die Akteur*innen      Vom einfachen Klick bis zum Download kommt niemand
des bundesweiten Netzwerks Kultur öffnet Welten          an den Themen Urheberrecht und Datenschutz vorbei.
viele Fragen und neue Themen mit sich. In seiner kos-    Ganz gleich ob als Publikum oder als Akteur*innen
tenfreien Webinarreihe lotet Kultur öffnet Welten seit   erwarten uns im Netz nicht nur neue Potenziale son-
April gemeinsam mit Expert*innen das Potenzial für       dern auch neue Umgangsformen, Verpflichtungen und
mehr Zugänglichkeit, Vielfältigkeit und Nachhaltigkeit   Konsequenzen für alle Beteiligten. Die Rechtsanwältin
sowohl im Netz als auch in analog angelegten Projek-     und Fachanwältin für IT-Recht Prof. Dr. Mandy Risch-
ten und Kultureinrichtungen aus. Die Teilnehmenden       Kerst gab Einblicke in Grundlagen zum Datenschutz-
bekommen die Gelegenheit, ihre Fragen zu wechseln-       und Urheberrecht und beantwortete ausführlich die im
den, möglichst breit angelegten Themenschwerpunk-        Vorfeld eingereichten rechtlichen Fragestellungen.
ten sowohl im Vorfeld, als auch während des Webinars
an die Speaker*innen zu richten. Die Webinare finden
simultan auf Zoom und Facebook statt und stehen
                                                         Webinar #04
online zum Nachschauen auf dem YouTube-Kanal des         Anders ist normal! Kultur-
Netzwerk Junge Ohren zur Verfügung.
                                                         betrieb inklusiv gestalten
Webinar #01                                              Um Institutionen vor, auf und hinter der Bühne für eine
                                                         diverse Gesellschaft zu öffnen, braucht es ein neues
Kulturprojekte digitalisieren!                           Verständnis von Inklusion. Die Erkenntnis, dass Barriere-

Aber wie?                                                freiheit mehr bedeutet als das Einrichten von Fahr-
                                                         stühlen oder Leichter Sprache ist längst da. Aber wie
Die Premiere der Webinarreihe behandelte die großen      können Institutionen daraus inklusive Strategien ent-
Fragen der Stunde: Wie kann ich mein Projekt digitali-   wickeln und Teilhabe aktiv gestalten? Die Schauspiele-
sieren? Auf welche Ressourcen kann ich zurückgreifen     rin Jana Zöll vom mixed-abled Ensemble Un-Label gab
und wie fange ich an? Der BTHVN2020 Musikfrachter        gemeinsam mit Melanie Zimmermann, Referentin für
war im März als Tourprojekt coronabedingt gestoppt       das europaweite Inklusionsprogramm „Europe Beyond
worden und hatte sein Programm in den Digitalen Raum     Access“ auf Kampnagel Einblicke in persönliche wie in-
verlegt. Crewmitglied Benthe Betz und Projektmanager     stitutionelle Perspektiven und lieferte Anregungen zu
Sebastian Steube gaben Einblicke in die Umsetzung.       Inklusion für Kulturinstitutionen.

                                                                                                               20
richtig, aus vielen Perspektiven auf die Konzeption und
                                                            Durchführung von kulturellen Teilhabeangeboten zu
                                                            blicken. Gerade daraus ergibt sich häufig der innova-
                                                            tive Zuschnitt freier Projekte, jedoch sind sie allzu oft
                                                            temporär und dadurch nicht nachhaltig. Für die Bezie-

                    Freie
                                                            hung zu unseren Teilnehmenden, die sich auf diese An-
                                                            gebote einlassen und damit identifizieren, ergibt sich
                                                            dadurch ein ständiges „On/Off“, das nicht zur Stabili-
                                                            sierung beiträgt.

                   Szene
                                                            Wenn die Teilhabe einer vielfältigen Öffentlichkeit an
                                                            Kunst und Kultur – an Gesellschaft! – wirklich erwünscht
                                                            ist, muss das Prinzip der Kulturfinanzierung mit Blick
                                                            auf die bestehenden Angebote für neue Zielgruppen

     Wann werden
                                                            überdacht und neu strukturiert werden. Denn: Es ist
                                                            ja schön, wenn jetzt auch ein Konzerthaus mal etwas
                                                            mit Hip Hop macht oder die Education-Abteilung eines

Teilhabe & Öffnung                                          Orchesters eine*n Rapper*in einlädt. Aber vielleicht ist
                                                            es an der Zeit zu erkennen, dass auch andere Bereiche
                                                            des kulturellen Lebens auf die Agenda der öffent-

     „Mainstream“?                                          lichen Förderung gehören? Nur strukturelle Sicherheit
                                                                                                                   >

  Mit Blick auf eine vielfältige und sich wandelnde
  Gesellschaft werden „Teilhabe & Öffnung“ zur vielbe-
  schworenen Formel vieler Kulturinstitutionen, die ihren
  Platz sichern und erhalten möchten. Kunst und Kultur
  kommt eine tragende Rolle in der Auseinandersetzung
  mit Vielheit zu, die Ressource und Herausforderung
  zugleich ist. Der „Mainstream“ der großen und öffent-                               Ata
  lich geförderten Institutionen darf nicht darüber hin-
  wegtäuschen, dass der Kulturbereich in weiten Teilen                                Anat
  eben von freien Kulturträgern und Institutionen gestal-
  tet wird. „Rap for Refugees“ ist ein Verein, der jungen
  Menschen mit Fluchthintergrund oder aus prekären                  Geboren in Istanbul und aufgewachsen in Düssel-
  Verhältnissen die Möglichkeit bietet, mit den Mitteln             dorf verschrieb sich Ata Anat dem Dasein als
  von Hip Hop ihre Erfahrungen und Geschichten künst-               Fußballtrainer und engagierte sich für ehrenamtliche
  lerisch zum Ausdruck zu bringen und sich sozial zu                interkulturelle Projekte. Vor knapp zehn Jahren nahm
  stabilisieren.                                                    er sich vor, die interkulturelle Musikszene um sein
                                                                    Privatfeld zu beleben und Künstler*innen aus dem
  Wie bei fast allen freien Kulturinstitutionen sind in             In- und Ausland Konzerte zu ermöglichen. Nach
  unserer Arbeit inhaltlich-kuratorische Zielsetzungen              einer Privatinsolvenz aufgrund einer Krebserkran-
  meist untrennbar mit der Frage nach dem „Wie?“ ver-               kung mit 27 Jahren und darauffolgenden Jobs, zahl-
  bunden: Mit welchen Mitteln werden Veranstaltungen,               reichen Städten, abgebrochenen Ausbildungen
  Projekte und Programme möglich, die vielen Men-                   und Studiengängen, landete er vor vier Jahren in
  schen kulturelle Teilhabe ermöglichen? Wir stehen in              Hamburg. Seither baut er den Verein „Rap for
  ständiger Abwägung unserer ideellen Vorstellungen,                Refugees“ auf und arbeitet als Projektmanager
  der Antizipation von Wünschen unserer Teilnehmen-                 im Mentorenprojekt „Yoldaş“ der BürgerStiftung
  den und den Erwartungen, die Sponsoren an unsere                  Hamburg sowie als Jugendfußballtrainer.
  Arbeit richten. Wir erarbeiten Kompromisse mit dem
  Ziel, möglichst viel Gestaltungsspielraum für uns und             rapforrefugees.org
  unsere Teilnehmenden zu gewinnen. Es ist sinnvoll und

  21
Best of Magazin #7 Kultur öffnet Welten

wird dazu führen, dass die Vielfalt unseres kulturellen    begeistern und so den Zauber von Hip Hop in Reinform
Lebens wirklich sichtbar wird. Denn so lange sich          wieder entdecken. Und genau darum muss es in einer
Teilhabeprozesse für bestimmte Gruppierungen nur           demokratischen Kulturförderung gehen: Auch das un-
temporär oder in Nischen abspielen, ändert sich nicht      terstützen, was nicht nur die Massen erreicht.
wirklich etwas. Es ist sozusagen der „Mainstream“, der
diverser werden muss.                                      Wir sind gerade alle in besonderem Maße gefordert. Ja,
                                                           wir haben bei „Rap for Refugees“ zum Teil erhebliche
Der Hip Hop selbst steht für diese Problematik. In die-    finanzielle Ausfälle durch die Pandemie und wir wissen
ser Musik gibt es viele starke, auch politische Stimmen,   nicht genau, was uns in den kommenden Monaten und
die jedoch in der Szene gar nicht so breit wahrge-         Jahren erwartet. Und es bedrückt mich zu wissen, dass
nommen werden. Künstler*innen, die sich vom „Major         unsere teilnehmenden Kids, die es in ihrem Leben nicht
Deal“ abwenden, haben es meist schwer – werden             gerade leicht haben, in den vergangenen drei Monaten
teilweise sogar systematisch unterdrückt. Um diese         die Workshopangebote nicht zur Ablenkung nutzen
Stimmen hörbar zu machen, bedarf es einer Künstler*        konnten. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir als Verein
innenförderung jenseits des Mainstreams, die nicht nur     Wege finden, um „Rap for Refugees“ durch die Krise
Verkaufszahlen oder Reichweiten im Blick hat. Vielleicht   zu bringen. Aber wir haben das Glück in einem Land zu
ist die Corona-Pandemie in dieser Hinsicht sogar ganz      leben, in dem wir überleben können. Dafür bin ich dank-
heilsam: Wenn die großen Mega-Events mit tausenden         bar. Dankbar auch dafür, dass niemand aus unserem
von Menschen nicht mehr stattfinden können, kommen         Umfeld krank geworden ist. Seit Juni können endlich
wir vielleicht zurück auf das Elementare. Wir können       unsere Workshops wieder stattfinden und das ist ein
uns auch im kleinen Club für exzellenten Sprechgesang      erster Schritt nach vorne.

                                                                                                                 22
Snabel                                         fand im Rahmen der Opernfestspiele Heidenheim an

          Teilhabe und
                                                           vier Orten in der Region statt. Mit einem Leiterwagen
                                                           zogen ein Sänger, zwei Musiker und Jugendliche durch
                                                           die Straßen und erzählten vom Anderssein, von Macht

              regionale                                    und Auflehnung und von dem Spiegel, den Georg Elser
                                                           uns vorhält. Diese Produktion blieb die einzige Premiere

        Identität durch
                                                           der Opernfestspiele Heidenheim in dieser Festspiel-
                                                           Saison, von der die Presse begeistert als eine „fulmi-
                                                           nante Elser-Hommage in Opernform“ schrieb. Eine

               Sprache                                     Wiederaufnahme in der nächsten Saison ist durch die
                                                           Festspiele fix eingeplant.

Kulturelle Teilhabe im ländlichen Raum und die vielfäl-    Die Burgfestspiele Mayen wurden in dieser Saison
tige Landschaft deutscher Dialekte zusammenzuden-          komplett abgesagt, so konnte auch die Premiere von
ken ist das erklärte Ziel von Snabel. Nach der durch das   „Zuckertoni“ nicht realisiert werden. In einer Vorab-
NJO begleiteten Entwicklungsphase im Frühjahr 2020         Präsentation werden aber die Akteur*innen – die
gingen die Projektpartner*innen in Pellworm, Mayen,        Bürgerinnen und Bürger der Region – die Ergebnisse
Heidenheim und Freising in die Produktion – und wur-       ihrer Arbeit mit der Zuckertoni-Puppe noch im Herbst
den von den Pandemie-Auswirkungen gleich wieder            präsentieren.
gestoppt. Denn das Singen in Schulen, das gemein-
same Proben und die Aufführung von Produktionen            Die beiden Schulprojekte „Pop op Platt“ auf Pellworm,
schienen unmöglich. Ein Vernetzungstreffen aller           bei dem Schüler*innen Texte von Pop-Songs ins Platt-
Akteur*innen musste in den Digitalen Raum verlegt          deutsche übertragen werden, und „Hans im Glück“ in
und die ursprünglich geplanten Festival-Auftritte bei      Freising liegen derzeit wegen der besonderen Bedin-
den Burgfestspielen Mayen und den Opernfestspielen         gungen an Schulen noch auf Eis. Aber Varianten sind
Heidenheim zunächst abgesagt werden. Nach der ersten       bereits vorbereitet, wenn es nicht zu den erhofften
„Schockstarre“ und mit einer Verlängerung der Projekt-     Live-Präsentationen kommen kann.
laufzeit eröffneten sich doch noch Möglichkeiten.
                                                           Snabel wird gefördert vom Bundesministerium für
Die corona-konforme Pop-Up-Oper „Nau bens halt I“, in      Ernährung und Landwirtschaft in seinem Programm
deren Zentrum der Hitler-Attentäter Georg Elser steht,     LandKULTUR.

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