INSEKTENATLAS Daten und Fakten über Nütz- und Schädlinge in der Landwirtschaft 2020 - Heinrich-Böll-Stiftung Thüringen
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IMPRESSUM Der Insektenatlas 2020 ist ein Kooperationsprojekt von Heinrich-Böll-Stiftung, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland und Le Monde Diplomatique. Inhaltliche Leitung: Christine Chemnitz, Heinrich-Böll-Stiftung (Projektleitung) Christian Rehmer, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. Katrin Wenz, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. Projektmanagement, Grafikrecherche: Dietmar Bartz Art-Direktion und Herstellung: Ellen Stockmar Insekten-Illustrationen: Lena Ziyal (Infotext GbR) Bildbearbeitung: Roland Koletzki Textchefin: Elisabeth Schmidt-Landenberger Dokumentation und Schlussredaktion: Andreas Kaizik, Sandra Thiele (Infotext GbR) Mit Originalbeiträgen von Silvia Bender, Christine Chemnitz, Alexandra-Maria Klein, Christian Rehmer, Hanni Rützler, Maureen Santos, Christoph Scherber, Mute Schimpf, Peter Schweiger, Anke Sparmann, Valerie Stull, Teja Tscharntke, Henrike von der Decken, Daniela Wannemacher, Katrin Wenz, Heiko Werning Wir danken Roel van Klink für seine hilfreichen Auskünfte. Cover-Copyright: Collage © Ellen Stockmar unter Verwendung eines Fotos von GordZam/istockphoto.com Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht aller beteiligten Partnerorganisationen wieder. Die Flächenfarben der Landkarten zeigen die Erhebungsgebiete der Statistik an und treffen keine Aussage über eine politische Zugehörigkeit. V. i. S. d. P.: Annette Maennel, Heinrich-Böll-Stiftung 1. Auflage, Januar 2020 ISBN 978-3-86928-215-2 Produktionsplanung: Elke Paul, Heinrich-Böll-Stiftung Druck: Druckhaus Kaufmann, Lahr Klimaneutral gedruckt auf 100 % Recyclingpapier. Dieses Werk mit Ausnahme des Coverfotos steht unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – 4.0 international“ (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine Zusammenfassung (kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen. Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn der Urhebernachweis Bartz/Stockmar, CC BY 4.0 in der Nähe der Grafik steht (bei Bearbeitungen: Bartz/Stockmar (M), CC BY 4.0. BESTELL- UND DOWNLOAD-ADRESSEN Heinrich-Böll-Stiftung, Schumannstraße 8, 10117 Berlin, www.boell.de/insektenatlas Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V., Kaiserin-Augusta-Allee 5, 10553 Berlin, www.bund.net/insektenatlas
INHALT 02 IMPRESSUM 18 PESTIZIDE ZWISCHEN KAHLSCHLAG 06 VORWORT UND LETZTER HILFE Gegen viele Lebewesen, die die Ernten mindern könnten, werden Agrarchemikalien eingesetzt. Ihre Wirkung wird immer genauer. Trotzdem kommt immer mehr davon auf die Felder. 20 FLEISCH VON TIERFUTTER UND VIEHWEIDEN 08 ZWÖLF KURZE LEKTIONEN Der weltweite Hunger auf Fleisch setzt ÜBER INSEKTEN, LANDWIRTSCHAFT eine Kettenreaktion von Rodungen, Mono- UND DIE WELT kulturen und Chemieeinsatz in Gang. Wo die Insekten besonders artenreich sind, geht 10 GRUNDLAGEN die Naturzerstörung besonders schnell voran. SECHS BEINE SOLLT IHR SEIN Es gibt sie zu Lande, zu Wasser und in der 22 KLIMAWANDEL Luft, sie fressen und dienen selbst als Nahrung, ZEIT FÜR NEUE PLAGEN sie bestäuben Pflanzen, lockern Böden Die globale Erwärmung schadet vielen und beseitigen Laub – Insekten sind aus Insektenarten. Wenigen hilft sie, doch Ökosystemen nicht wegzudenken. von denen werden manche auf die Felder gelockt. Durch höhere Fraßschäden 12 LANDWIRTSCHAFT erwarten Fachleute erhebliche Ernteverluste. MIT VIELFALT ZUR ERNTE Durch ihre Bestäubungsleistung und die 24 NÜTZ- UND SCHÄDLINGE Verbesserung der Böden sind Insekten für die FRESSEN UND GEFRESSEN WERDEN Landwirtschaft unabdingbar, aber durch Um den Schaden gering zu halten, den sie auch stark gefährdet. Mehr Schutz der Insekten an Kulturpflanzen anrichten, sind deren Artenvielfalt in Agrarlandschaften ist nötig. natürliche Feinde gefragt – meist andere Insekten. Diese biologische Schädlingsbekämpfung 14 INSEKTENSTERBEN GLOBAL gelingt umso besser, je größer die Vielfalt ist. EINE KRISE OHNE ZAHL Der Rückgang von Insektenpopulationen 26 DÜNGUNG und -arten ist vielfach belegt. Die Wissenschaft KUHFLADEN UND PFERDEÄPFEL ist sich auch über den negativen Einfluss Käfer und Fliegen auf den Dunghaufen der der Landwirtschaft einig. Unklar ist, welche Weidetiere zeigen an, wie intakt oder Aussagen sich verallgemeinern lassen. geschädigt ein Agrarsystem ist. Oft leidet die Artenvielfalt unter dem Einsatz von zu viel 16 INSEKTENSTERBEN IN DEUTSCHLAND Kunst- und tierischem Dünger. ABWÄRTS IM TREND Ob Langzeituntersuchungen, einzelne 28 NAHRUNGSMITTEL Studien oder Rote Listen – das Ergebnis ist FÜR VIELE EIN ALLTAGSGERICHT, immer dasselbe: Insgesamt sind Anzahl und FÜR MANCHE EIN HYPE Artenzahl der Insekten rückläufig. Daran Mit dem Verzehr von Insekten wird weltweit ändern auch die Forschungsdefizite nichts. manches Nahrungsproblem gelöst. Umstritten 4 INSEKTENATLAS 2020
ist, wie nützlich oder gefährlich eine 40 BIOLANDBAU industrielle Massenproduktion wäre. MEHR BESUCH AN DEN BLÜTEN, WENIGER ÖDNIS AUF DEM FELD 30 TIERFUTTER Der ökologische Landbau setzt auf den Erhalt RECHNUNG MIT UNBEKANNTEN der Bodenfruchtbarkeit und die biologische Wirtschaftlich ist Tierfutter aus Vielfalt. Für eine insektenfreundliche Zukunft Insekten bisher ein Nischenprodukt. Wenn muss sich aber die gesamte Agrarlandschaft damit auch Hühner und Schweine ändern. gemästet werden dürfen, wird der Markt boomen. Unklar ist, ob dies 42 GENTECHNIK auch ökologisch verträglich geht. AUS DEN LABOREN AUF DIE ÄCKER Wer resistent ist, bringt mehr Ertrag: Nach 32 IMKEREI diesem Prinzip erhalten Nutzpflanzen EIN LEBEN FÜR POLLEN UND HONIG neue Eigenschaften gegen Herbizide und Bienen erzeugen Honig, Wachs und Schadinsekten. Doch die Insekten bilden Gelée Royale, sorgen für die Bestäubung von ihrerseits neue Resistenzen. Jetzt geraten sie Nutzpflanzen und für Einkommen aus selbst ins Blickfeld der Gentechnik. der Imkerei. Aber viele Arten sind gefährdet – sofern man überhaupt etwas über sie weiß. 44 WELT OHNE INSEKTEN WENN DIE TECHNIK HELFEN SOLL 34 GENDER Verschwände die Vielfalt der Insekten, MIT „MINI-VIEH“ GEGEN DIE ARMUT ginge uns Existenzielles verloren. Die Natur In armen Ländern bietet das Sammeln, und unsere Ernährung würden sich Verarbeiten und Verkaufen nahrhafter ändern, doch Bestäubungsroboter könnten Insekten den Frauen ein Zusatzeinkommen. diesen Verlust nicht kompensieren. Doch wenn zu viele der Tiere gesammelt werden, ist das nicht nachhaltig. 46 KULTURGESCHICHTE URALTE SCHICKSALSGEMEINSCHAFT 36 POLITIK Das Verhältnis von Mensch zu Insekt VOLLMUNDIGE VERSPRECHEN war lange getrübt. Die Geschichte UND UNZULÄNGLICHE TATEN der Landwirtschaft ist eine der Schädlings- Das dramatische Insektensterben und bekämpfung. Für einen Wandel sorgte seine möglichen Auswirkungen auf Mensch erst das neuzeitliche Wissen um Bestäubung. und Natur sind wissenschaftlich belegt. Doch die Politik reagiert nur zögerlich und scheut zu häufig den Konflikt mit der Agrarindustrie. 38 ÖKONOMIE MIT ODER OHNE PREISSCHILD Ob sich der Wert der Natur in Geld 48 AUTORINNEN UND AUTOREN, ausdrücken lässt, ist umstritten. Versucht QUELLEN VON DATEN, KARTEN wird es, um Regierungen von der UND GRAFIKEN Notwendigkeit des Handelns zu überzeugen. Doch sehr erfolgreich ist das nicht. 50 ÜBER UNS INSEKTENATLAS 2020 5
VORWORT W ürden wir sie zählen, so kämen auf jeden Menschen dieser Erde rund 1,4 Milliarden Insekten aus geschätz- „ Ein sehr großer Teil der Pflanzenwelt ist auf die fleißige Bestäubung ten 5,5 Millionen unterschiedlichen Arten. der Insekten angewiesen. Es gibt eine schier unvorstellbare Menge und Vielfalt an sechsbeinigen Tieren, mit denen wir uns die Welt teilen. Manche Exemplare Umso deutlicher hat die Öffentlichkeit auf sind für Menschen wunderschön, andere fast die alarmierenden wissenschaftlichen gruselig mit ihren großen Beißwerkzeugen. Erkenntnisse zum Insektensterben aus dem Insekten fliegen, krabbeln, buddeln, beißen. Jahr 2017 reagiert. Weil ihnen die Politik Sie sind Künstler des Versteckens, und sie sind nicht schnell genug handelt, schließen in fast jedem Ökosystem dieser Welt zu Hause. sich vielerorts Bürgerinnen und Bürger, Umweltverbände, Landwirtinnen Trotzdem sind sie massiv bedroht. Es mag und Landwirte sowie Parteien zusammen an dieser unerschöpflich scheinenden Masse und starten Initiativen zum Schutz liegen, dass das Ausmaß der Gefahr viel der Insekten, so in Brandenburg und zu lange kaum Beachtung fand. Oder daran, Baden-Württemberg. In Bayern haben dass eine langfristige Forschung darüber, 1,75 Millionen Menschen das Referendum wie sich ihre Bestände entwickeln, kaum vor- für mehr Naturschutz unterstützt. Auch handen ist. Gerade auf der südlichen Welt- eine Europäische Bürgerinitiative mit halbkugel sind Langzeitstudien Mangelware. der Forderung „Save Bees and Farmers“ im Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Namen wurde auf den Weg gebracht. viele Menschen – zumindest in westlichen D Industrieländern – mit Insekten wenig ie industrielle Landwirtschaft mit Positives verbinden. Übertragen sie nicht ihren immer größeren Feldern, Krankheiten und zerstören Ernten? Schon Pestiziden und monotonen Land- die Bibel beschreibt Insekten als Plagen und schaftsstrukturen stellt eine der größten nicht als diejenigen, die die ökologischen Bedrohungen für Insekten dar. Deshalb führt Systeme dieses Planeten am Laufen halten. kein Weg daran vorbei – beim Schutz der Insekten muss die Landwirtschaft Teil D abei ist ein sehr großer Teil der Pflan- der Lösung werden. Nicht nur, weil die zenwelt auf die fleißige Bestäubung Gesellschaft es so will, auch um der Landwirt- der Insekten angewiesen. Bienen schaft selbst willen. Denn sie braucht besuchen etwa zehn Millionen Pflanzen, die Insekten. Dennoch reihten sich Ende um Nektar für etwa ein halbes Kilo Honig zu November 2019 in Berlin Trecker an Trecker, sammeln. So tragen sie die Pollen von Blüte als tausende Bäuerinnen und Bauern zu Blüte. Außerdem räumen Insekten unsere ihrem Unmut über strengere Gesetze zum Welt auf. Sie zersetzen Dung und abgestor- Schutz der Umwelt Luft verschafften. bene Pflanzen oder Tiere. Auf diese Weise Der Ärger ist Resultat einer über Jahrzehnte verbessern sie die Qualität unserer Böden. verfehlten Agrarpolitik. 6 INSEKTENATLAS 2020
Schon beim Erdgipfel 1992 in Rio de Janeiro hat sich Deutschland dem Schutz der Biodiversität verpflichtet. Seitdem hätte „ Beim Schutz der Insekten muss die Landwirtschaft Teil der Lösung werden, denn sie die Politik in die richtige Richtung weisen braucht die Insekten. können. Aber es ist nichts passiert. Dabei hätten die Bäuerinnen und Bauern eine gute Politik verdient: eine, die die richtigen können – sehr zum Leidwesen der hiesigen Anreize für die Zukunft setzt. Eine Bäuerinnen und Bauern sowie der Insekten. insektenfreundliche Landwirtschaft muss gefördert werden. Unterstützen heißt in Daher muss die Politik auch international diesem Fall, sie konkret finanziell zu fördern. tätig werden. Während der 15. Weltnatur- schutzkonferenz 2020 in China wird I nsektenschutz zahlen wir nicht an der Deutschland den Vorsitz im Rat der Ladenkasse. Die Bäuerinnen und Bauern Europäischen Union innehaben. Die Bundes- bekommen ihn nicht entlohnt. Genau republik könnte also eine wichtige Rolle das muss aber passieren – am besten, indem spielen und den Schutz der Insekten ganz die EU die fast 60 Milliarden Euro jährlich, oben auf die Agenda setzen. mit denen sie die europäische Landwirt- M schaft unterstützt, zielgerichtet für eine it den Daten und Fakten in diesem insekten- und klimafreundliche Landwirt- Atlas möchten wir zur lebendigen schaft einsetzt. Nur wenn dieses Geld für Debatte rund um Landwirtschaft und Vorhaben ausgegeben wird, die uns als Insekten beitragen. Zugleich wollen wir Gesellschaft wichtig sind, können wir solche darstellen, wie vielfältig, bunt und schützens- Summen langfristig gesellschaftlich recht- wert die Welt der Insekten ist. Unser fertigen. Anliegen ist zu zeigen, dass Landwirtschaft und Insektenschutz eine ambitionierte Ein Blick auf die Felder vor unserer Haustür Politik brauchen – nicht nur in Deutschland reicht dabei nicht. Die importierten und Europa, sondern weltweit. Die Futtermittel für die vielen Millionen Nutz- Herausforderungen sind groß, und damit tiere, die den weltweiten Hunger sie bewältigt werden können, müssen auf billiges Fleisch befriedigen, wachsen wir nach gemeinsamen Lösungen suchen. vor allem in Südamerika. Dort, in den artenreichsten Regionen der Welt, werden Millionen Hektar Wald gerodet gerodet Barbara Unmüßig und für die Soja- und Fleischproduktion Heinrich-Böll-Stiftung nutzbar gemacht. Nun verhandelt die Olaf Bandt EU ein Freihandelsabkommen mit den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland „Mercosur“-Staaten Lateinamerikas, damit noch mehr günstige Agrarprodukte ohne Barbara Bauer Handelsbeschränkungen zu uns kommen Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe INSEKTENATLAS 2020 7
12 KURZE LEKTIONEN ÜBER INSEKTEN, LANDWIRTSCHAFT UND DIE WELT 1 Gut 90 Prozent aller Tierarten weltweit sind Insekten. Sie sind die ARTENREICHSTE GRUPPE aller Lebewesen und in allen Ökosystemen dieser Welt zu Hause. 2 Insekten bestäuben drei Viertel der wichtigsten Kulturpflanzen und STEIGERN ihren Ertrag, BEDROHEN aber auch die Ernten und Vorräte. 3 Landwirtschaft und Ernährung sind untrennbar mit dem Vorkommen von Insekten verbunden. Sie verbessern die BODENQUALITÄT, bauen abgestorbene Pflanzen und Tiere ab und BESTÄUBEN die Nutzpflanzen weltweit. 4 Intensive Landwirtschaft, MONOTONE FELDER und Pestizide bedrohen Insekten – sowohl ihre Vielfalt als auch ihre Menge nehmen besonders in Agrarlandschaften ab. 5 Landwirtschaft und Insektenschutz sind nicht leicht zu verbinden. Aber ES LOHNT SICH. Die weltweite Bestäubung hat einen Wert von Hunderten Milliarden US-Dollar. 6 Der ÖKOLOGISCHE LANDBAU ohne Pestizide und synthetischen Dünger, aber mit mehr Fruchtfolgen bietet Insekten bessere Lebensbedingungen. 8 INSEKTENATLAS 2020
INSEKTENATLAS 2020 / STOCKMAR, ZIYAL 7 Insekten werden in über 130 Ländern gegessen. Ihre VIELEN NÄHRSTOFFE wirken gegen Mangelernährung. 8 Weltweit dienen Insekten als EINKOMMENSQUELLE FÜR ARME BÄUERINNEN. Wenn sie kein Land besitzen, sammeln sie die Insekten in den Wäldern. Werden die Märkte lukrativer, übernehmen Männer die Vermarktung. 9 WENIGER FLEISCHKONSUM schützt Insekten. Das Sojafutter für die intensive Tierhaltung stammt aus südamerikanischen Staaten, die dafür artenreiche Landschaften in Monokulturen verwandeln. 10 Als Tierfutter sind Insekten bisher ein Nischenprodukt. Wenn HÜHNER und SCHWEINE damit gemästet werden dürfen, wird geklärt werden müssen, ob dies auch ökologisch verträglich geht. 11 Der KLIMAWANDEL schädigt die Lebensräume von Insekten besonders dort, wo es heute warm ist. In gemäßigten Klimazonen wird sich das Verhältnis von Nützlingen und Schädlingen ändern und die Ernten bedrohen. 12 Die weltweite Staatengemeinschaft hat sich seit Jahrzehnten zum Insektenschutz verpflichtet. Doch gehandelt wird kaum, und alle INTERNATIONALEN ZIELE wurden bislang verfehlt. INSEKTENATLAS 2020 9
GRUNDLAGEN SECHS BEINE SOLLT IHR SEIN Es gibt sie zu Lande, zu Wasser und in der tig für einen stabilen und biegsamen Körper sorgt. Insekten Luft, sie fressen und dienen selbst als haben keine Lunge, sondern atmen über ein Röhrensystem Nahrung, sie bestäuben Pflanzen, lockern (Tracheen), das sich durch den ganzen Körper zieht. Mit haarähnlichen Sinnesorganen, die über den Körper Böden und beseitigen Laub – Insekten verteilt sind, können Insekten Gerüche, Schwingungen, Tem- sind aus Ökosystemen nicht wegzudenken. peraturen und Feuchtigkeit wahrnehmen. Mit ihren Fühlern riechen, schmecken und tasten sie. Sie besitzen ein einfaches D ie Welt der Insekten ist erstaunlich und vielfältig. Nervensystem, und ihre inneren Organe sind von Blut um- Keine andere Tiergruppe hat eine solch enorme Ar- spült. Die Mundwerkzeuge sind je nach Art und Nahrung tenvielfalt entwickelt. Sie begegnet uns in den unter- sehr vielfältig. Wanzen oder Käfer haben scharfe Instrumen- schiedlichsten Formen und Größen. Die auch als „Kerbtiere“ te, um andere Tiere oder Schalen von Pflanzen zu stechen bezeichneten Lebewesen schillern in vielen verschiedenen und sie so auszusaugen. Schmetterlinge hingegen verfügen Farben und sind mikroskopisch klein bis handflächengroß. über lange, ausrollbare Rüssel, um damit flüssige Nahrung Immer haben sie drei Beinpaare. Daher auch ihr wissen- aus Früchten oder Wasser aus Pfützen aufzunehmen. schaftlicher Name: Sechsfüßer oder Hexapoden. Weltweit hat die Wissenschaft etwa 1,8 Millionen Ar- Oft werden Insekten mit anderen krabbelnden Tieren ten von Tieren, Pflanzen und Pilzen beschrieben – über die verwechselt – zum Beispiel mit Milben, Zecken oder Asseln. Hälfte davon sind Insekten. Sie stellen gut 70 Prozent der Das gilt auch für die Hundert- oder Tausendfüßer, bei denen Tierarten weltweit und sind damit die artenreichste Grup- bereits der Name darauf hinweist, dass es sich nicht um In- pe aller Lebewesen. Die meisten Insekten sind noch nicht sekten handelt. Auch Spinnen werden oft dazu gezählt, entdeckt. Schätzungen gehen davon aus, dass es neben der doch sie haben eben acht Beine. Mit ihren zehn Füßen gehö- Million bisher entdeckten bis zu 4,5 Millionen weitere Arten ren auch die Krebse nicht zu den Hexapoden. gibt – angeführt von allein 1,5 Millionen Käfern. In Deutsch- Insekten haben noch mehr gemeinsame Merkmale. Ihr land gibt es mehr als 33.300 Insektenarten. Drei Viertel aller Körper besteht aus drei Abschnitten: einem Kopf (Caput) hiesigen Tierarten zählen zu ihnen – beispielsweise Bienen, mit den Mundwerkzeugen und tausenden Einzelaugen (Fa- Käfer, Schmetterlinge, Libellen, Heuschrecken, Ameisen cettenaugen), einer Brust (Thorax) mit den drei Beinpaaren und Fliegen. und – im Falle von Fluginsekten – auch Flügeln sowie einem Lebensweise und Ansprüche einzelner Arten an Lebens- Hinterleib (Abdomen) mit den Fortpflanzungs- und Ver- räume, Klima oder Nahrung sind vielfältig. Neben den so- dauungsorganen. Insekten besitzen kein Skelett. Ihr Körper genannten Generalisten, die bei ihrer Ernährung flexibel wird von einer dünnen, hornigen Chitin-Schicht umschlos- sind, gibt es bei den Insekten auch Spezialisten, die auf eine sen, die die kleinen Tiere gegen Nässe schützt und gleichzei- ganz bestimmte Pflanzen- oder Tierart oder einen bestimm- ten Lebensraum angewiesen sind. Die Glänzende Nattern- kopf-Mauerbiene (Osmia adunca) sammelt beispielsweise ausschließlich Pollen an Pflanzen der Gattung Natternkopf SCHNELLER TOD (Echium). Andere Arten sind eng an bestimmte Baumarten Entwicklungsstadien und übliche Verluste der Population des Karierten Schwalbenschwanzes (Papilio demoleus) angepasst oder auf Totholz angewiesen. Insekten sind von Tiere der Meeresküste bis ins Hochgebirge zu finden. Einzig im 3.500 offenen Meer sucht man sie vergeblich. 3.261 Insekten durchlaufen verschiedene Entwicklungsstu- 3.000 fen, die zum Teil völlig unterschiedliche Ansprüche an ihre Lebensräume haben – sowohl, was deren Struktur, Ausstat- 2.500 tung und Vernetzung betrifft als auch deren Nahrungsquel- len. Zur Fortpflanzung legen die meisten von ihnen Eier ab, 2.000 die sich über mehrere Larvenstadien mit oder ohne Verpup- Der südostasiatische pung weiterentwickeln. Ohne Puppe entstehen Libellen, Schmetterling ist ein Schädling Heuschrecken oder Wanzen, mit ihr entwickeln sich Hum- 1.500 in tropischen Zitrusplantagen. Die Todesrate bis zu den adulten meln, Schmetterlinge oder Käfer. Tieren wurde an 210 Mandarinen- Insekten spielen in den Ökosystemen verschiedene Rol- 1.000 büschen in Malaysia untersucht. INSEKTENATLAS 2020 / SUWARNO len. Das gilt auch für die vom Menschen geprägte Kultur- landschaft: Viele Arten erbringen wichtige Leistungen für 500 70 0 Eier 1 2 3 4 5 verpuppt Am Ende überleben ein bis vier Prozent – Regen, Spinnen, Raupenstadien ausgewachsen Fangschrecken und Vögel dezimieren die Eier, Larven und Puppen des Karierten Schwalbenschwanzes 10 INSEKTENATLAS 2020
INSEKTENATLAS 2020 / STORK, WIKIPEDIA WELT VOLLER INSEKTEN Geschätzte Zahl von Spezies nach biogeografischen Regionen und Verteilung der benannten Insekten auf wichtigen Ordnungen 520.000 120.000 Nearktis Paläarktis 730.000 190.000 980.000 Orientalis 720.000 Ozeanis 2.230.000 Neotropis Australis Afrotropis Zweiflügler, u. a. Mücken Schnabelkerfe, u. a. Wanzen Bekannte Insekten nach Ordnungen und Fliegen (Diptera) und Läuse (Hemiptera) andere 24.000 387.000 157.000 155.000 117.000 104.000 80.000 1.024.000 Käfer (Coleoptera) Schmetterlinge Hautflügler, u. a. Bienen Heuschrecken (Lepidoptera) und Ameisen (Hymenoptera) (Orthoptera) Von vermutlich über fünf Millionen Insektenarten die Landwirtschaft. Eine Hummel kann beispielsweise bis zu ist erst eine Million beschrieben. Vielen Spezies droht 3.800 Blüten pro Tag bestäuben. Insekten bekämpfen auch das Aussterben als Unbenannte und Unbekannte Schädlinge, fast 90 Arten werden im biologischen Pflanzen- schutz eingesetzt. Darüber hinaus sind Insekten Nahrungs- grundlage für andere Tiere, bauen organische Masse ab, rei- liebt. Räuberische Exemplare wie Käfer oder Netzflügler, die nigen Gewässer und erhalten die Bodenfruchtbarkeit. andere Insekten verzehren, können als Nützlinge auf dem Insekten ernähren sich sowohl von tierischer als auch Acker hilfreich sein. von pflanzlicher Kost. Fast alle Schmetterlingsraupen sind Einige Kerbtiere wie Ameisen, Termiten oder Heuschre- Pflanzenfresser und daher im Ackerbau als Schädling unbe- cken bilden riesige Gemeinschaften. Der Staat in einem Ameisennest in Jamaika kann bis zu 630.000 Tiere umfas- sen. In einem südamerikanischen Termitennest wurden Zu den Blütenbesuchern gehören auch Fledermäuse, über drei Millionen Individuen gefunden, und Heuschre- Vögel und Reptilien – aber unter den Tieren übernehmen ckenschwärme können aus bis zu einer Milliarde Tieren be- Insekten die hauptsächliche Bestäubungsarbeit stehen. VIELE WEGE FÜHREN ZUM ZIEL Bestäubung zur Aufnahme des Pollens an den Staubbeuteln Windbestäubung und zur Abgabe an den Stempeln, allgemeine Darstellung (Anemophilie) Nachbarbestäubung (Geitonogamie) Selbstbestäubung Fremdbestäubung (Autogamie) (Xenogamie) INSEKTENATLAS 2020 / IPBES INSEKTENATLAS 2020 11
LANDWIRTSCHAFT MIT VIELFALT ZUR ERNTE Durch ihre Bestäubungsleistung und die zum Samenansatz bei Wild- und Nutzpflanzen. Drei Vier- Verbesserung der Böden sind Insekten für tel der weltweit wichtigsten landwirtschaftlichen Kultur- die Landwirtschaft unabdingbar, aber durch pflanzen profitieren in ihrem Ertrag von Bestäubern und garantieren damit rund ein Drittel der Produktion von Nah- sie auch stark gefährdet. Mehr Schutz der rungsmitteln. In Deutschland kann die Förderung der Wild- Artenvielfalt in Agrarlandschaften ist nötig. bienen – meist sind sie wichtigere Bestäuber als die Honig- bienen – den Ertrag an Erdbeeren und Kirschen verdoppeln. D amit Ökosysteme funktionieren können, brauchen Insekten können auch schädlich sein. Fressen sie nicht sie Insekten. Pflanzenfresser, die an Blättern nagen Beikräuter, sondern Nutzpflanzen, können weitreichende oder deren Säfte saugen, gehören ebenso dazu wie Schäden entstehen. Weltweit sind Insekten für 17 bis 30 räuberische Insekten, die Artgenossen vertilgen oder gar Prozent der Ernteverluste verantwortlich, insbesondere in – wie die parasitischen Wespen – ihre Nachkommen in ei- Ländern, die von Hunger und Armut geprägt sind. Insek- nem Wirt entwickeln lassen, um diesen am Ende zu töten. ten spielen auch eine große Rolle bei Verlusten nach der Aas- und Dungfresser fördern die Beseitigung toter Organis- Ernte, die in Entwicklungsländern rund 40 Prozent betra- men. Streuzersetzer schließen abgestorbene Pflanzen auf, gen können. sodass Mikroben sie schneller abbauen können. So wie Insekten die Landwirtschaft beeinflussen, be- Pflanzen sind untrennbar mit der Landwirtschaft ver- einflusst die Landwirtschaft auch Insektenpopulationen. bunden. Die Bestäuber anderer Gewächse der gleichen Art Neben Klimawandel und Lichtverschmutzung gilt die leisten einen Beitrag zur genetischen Durchmischung und Ausweitung und Intensivierung der Landwirtschaft als die mit Abstand wichtigste Ursache des weltweiten Artenrück- gangs. Agrarlandschaften werden durch die Intensivierung der Landwirtschaft strukturell einfacher. Überdüngung DAS GROSSE FRESSEN führt zu monotonen Pflanzengesellschaften, die nur we- Befall mit dem weltweit verbreiteten Kornkäfer (Sitophilus granarius) in einem Maisspeicher in Homa Bay, Westkenia, nigen Insektenarten einen Lebensraum bieten. So sind in nach Art der Aufbewahrung sowie mit und ohne Einsatz Deutschland 71 Prozent der Ackerwildkrautarten pro Acker der Insektizide Actellic Super (Puder) und Phostoxin (Gas), seit 1950 verschwunden. in Prozent der geschädigten Maiskörner Außerdem tragen Pestizide direkt und indirekt zum In- sektensterben bei. Der häufige Einsatz von Herbiziden – den gewobener Polypropylen-Sack, ohne Insektizide gewobener Polypropylen-Sack, mit Actellic Giften gegen Beikräuter – führt zu einer Verarmung der dichter Super Grain Bag*, ohne Insektizide Pflanzenwelt und den davon abhängigen Nahrungsnetzen dichtes Metallsilo, ohne Insektizide für Insekten. Insektizide töten Insekten meist direkt. Beson- dichtes Metallsilo, mit Actellic ders fatal aber sind die zunächst nicht tödlichen Wirkun- dichtes Metallsilo, mit Phostoxin gen: die verringerte Vitalität und Reproduktion, die vermin- derte Fähigkeit, sich zu orientieren, oder auch die erhöhte 100 Anfälligkeit für Krankheiten. 90 Seit den 1930er-Jahren hat der chemische Pflanzen- schutz in vielen Industrieländern schrittweise zugenom- 80 men. In Lateinamerika, Asien und Ozeanien steigt er bis heute. Noch in den 1960er-Jahren hatte die Pflanzenschutz- 70 industrie einen Wert von weniger als zehn Milliarden US- Dollar, und den Landwirtinnen und Landwirten standen 50 rund 100 Wirkstoffe zur Verfügung. Heute hat die Branche 30 einen Wert von über 50 Milliarden Dollar, und die Landwirt- schaft kann weltweit zu rund 600 Wirkstoffen greifen. 40 Die Menge der weltweit verwendeten Stoffe nimmt wei- ter zu. Damit werden auch die negativen Auswirkungen auf 30 die Insektenwelt immer spürbarer. Sie aber sind nicht allein INSEKTENATLAS 2020 / DE GROOTE ET AL. darauf zurückzuführen, dass immer mehr Stoffe eingesetzt 20 werden. Die Mittel werden auch immer wirksamer und kön- nen gezielter eingesetzt werden. 10 0 1. Monat 2. Monat 3. Monat 4. Monat 5. Monat 6. Monat Im Kampf gegen die hohen Nachernteverluste in * aus patentierter Folie, Luft herausgedrückt, von einem Polypropylen-Sack umgeben Getreidelagern sind nicht Insektizide, sondern bissfeste und luftdichte Behältnisse entscheidend 12 INSEKTENATLAS 2020
WELTWEITER NUTZEN Wert der Agrarproduktion, die durch Bestäuber ermöglicht wird, in US-Dollar pro Hektar* Ostasien westliches Europa USA Ostaustralien und Neuseeland über 1.500 251–1.500 101–250 61–100 26–60 INSEKTENATLAS 2020 / LAUTENBACH ET AL. 11–25 unter 10 nicht verwertet mittleres Südamerika keine Daten zwischen Balkan und Zentralasien * inflations- und kaufkraftbereinigt, auf das Jahr 2000 standardisiert Die in Geld ausgedrückte Bestäubungsleistung von Die Art der landwirtschaftlichen Produktion und die Tieren – überwiegend Insekten – zeigt, wie lohnend Struktur der Agrarlandschaft können schädliche Insekten selbst teure Schutzmaßnahmen sein können zurückdrängen und Nützlinge fördern. Schädlinge profitie- ren von großen Monokulturen und davon, dass die immer gleichen Pflanzen auf dem Acker stehen. Eine Diversifizie- schaften haben einige wenige Hecken und Blühstreifen eine rung mit vielen Kulturarten, langen Fruchtfolgen und klei- positivere Wirkung auf die Insektenvielfalt als in bunten, di- nen Feldern hilft, die Vielfalt der Insekten zu erhalten und versen Landschaften, in denen solche Strukturelemente oh- damit ein für die Landwirtschaft günstigeres Gleichgewicht nehin zuhauf zu finden sind. Da sich die Zusammensetzung zwischen Schädlingen und Nützlingen sicherzustellen. der Insektenpopulation von einer Region zur anderen deut- Auch ein Vergleich von acht Regionen in Europa und lich ändert, sind Schutzmaßnahmen für die Insektenvielfalt Nordamerika zeigt, dass eine Verkleinerung der Ackerflä- über alle Regionen hinweg erforderlich. chen zu einer stark erhöhten Artenvielfalt führt, weil auf diese Weise viele Insekten-, Vogel- und Pflanzenarten unter- schiedliche Ressourcen nutzen können. Gerade die Feld- FÜR UNSER ESSEN UNERSETZBAR ränder sind wichtig, weil sie die Lebensräume der Insekten Drohender Rückgang der Ernte von 107 pflanzlichen Nahrungsmitteln* vernetzen. Wird die durchschnittliche Feldgröße von rund beim Wegfall tierischer Bestäubung, Zahl der Früchte und Beispiele 5 auf 2,8 Hektar verkleinert, hat das den gleichen positiven Effekt auf die Biodiversität, als würde der Anteil naturnaher Rückgang um Wassermelone Kürbis Lebensräume von 0,5 Prozent auf 11 Prozent vergrößert. über 90 Prozent Paranuss Kakao 40–90 Prozent Bedeutend für die Insektenvielfalt in Agrarlandschaf- 10–40 Prozent 9 ten ist die Gestaltung der Landschaft in ihrer Gesamtheit 1–40 Prozent 13 7 und nicht nur die Bewirtschaftung einzelner Felder, weil keiner die meisten Insektenpopulationen in großen Landschafts- unbekannt Gurke räumen, also nicht kleinräumig, leben. Beispielsweise be- 21 30 Pflaume Pfeffer Kirsche herbergen Kalkmagerrasen ein Drittel mehr Arten, wenn sie Tomate Apfel in einer durchmischten statt in einer von Äckern geprägten Kidneybohne Mandel INSEKTENATLAS 2020 / IPBES Landschaft liegen. In monotonen, ausgeräumten Land- 27 Papaya Zitrone Feige Erdbeere Kokosnuss Sonnenblume Kaffee Ungefähr ein Achtel der für die Menschen wichtigsten pflanzlichen Agrargüter hängt * für den menschlichen Verzehr und auch auf dem Weltmarkt gehandelt in sehr hohem Maße von Bestäubern ab INSEKTENATLAS 2020 13
INSEKTENSTERBEN GLOBAL EINE KRISE OHNE ZAHL Der Rückgang von Insektenpopulationen und Prozent der globalen Insektenbiomasse. Die meisten der -arten ist vielfach belegt. Die Wissenschaft ausgewerteten Untersuchungen kommen aus Europa, ei- ist sich auch über den negativen Einfluss nige aus Nordamerika, die wenigsten aus Asien, Afrika oder Lateinamerika. Diese Lücken stießen auf Kritik. Außerdem der Landwirtschaft einig. Unklar ist, welche seien Untersuchungen zu wenig berücksichtigt, die über Aussagen sich verallgemeinern lassen. eine positive Entwicklung von Insekten berichten. Dem Weltbiodiversitätsrat IPBES zufolge ist der Anteil der be- V erglichen mit Säugetieren, Pflanzen, Vögeln und Fi- drohten Insektenarten weltweit eine unbekannte Größe. schen sind Insekten kaum erforscht. Erst ein kleiner Anhand der vorhandenen Daten schätzt er die bedrohten Teil weltweit ist überhaupt klassifiziert. Besonders Arten vorsichtig auf zehn Prozent. wenig untersucht sind Vorkommen und Entwicklung über Studien belegen, dass in Europa und Nordamerika die einen längeren Zeitraum außerhalb der USA und Europas. Vielfalt und die Menge von Nachtfaltern (Motten), Schmet- Einig ist sich die Wissenschaft über den Rückgang eini- terlingen, Käfern, Wildbienen und anderen Insekten regio- ger gut erforschter Arten wie zum Beispiel dem Monarch- nal unterschiedlich, aber deutlich zurückgehen. Einzelne falter, einiger Motten- und Schmetterlingsgruppen und Analysen aus anderen Teilen der Welt beschreiben densel- einigen Arten von Bienen und Käfern – vor allem in West- ben Trend. So weist eine Untersuchung nach, dass auf der europa und Nordamerika. Wissenschaftlicher Konsens ist Karibikinsel Puerto Rico über einen Zeitraum von 36 Jah- auch, dass die Artenvielfalt in vielen Regionen der Welt ab- ren die Biomasseverluste von Arthropoden im Regenwald nimmt, während sich die Anzahl und das Gewicht der Tiere zwischen 78 Prozent und 98 Prozent lagen; zu den Arthro- sehr verschieden entwickeln, abhängig von Region, klima- poden gehören nicht nur Insekten, sondern auch Spinnen, tischer Veränderung, Landnutzung und der Anpassungsfä- Skorpione und Tausendfüßer. Auch Studien aus Madagaskar higkeit der Art. und Neuseeland sowie die Roten Listen der UN-Weltnatur- Eine wissenschaftlich belegte Zahl zum globalen Insek- schutzunion (IUCN) zeigen, dass Insektenarten weltweit be- tenrückgang gibt es nicht. Eine erste Überblicksstudie der droht sind. Gleichzeitig weisen Arbeiten vor allem aus kälte- Universität Sydney aus dem Jahr 2018 trug die Ergebnis- ren Regionen darauf hin, dass dort die Menge der Insekten se regionaler Forschungen zusammen. Demnach nimmt zunimmt. So geht aus Untersuchungen in Russland hervor, die Population von 41 Prozent der Insektenarten ab, und dass die Anzahl der Springschwänze in der Tundra mit stei- ein Drittel aller Insektenarten ist vom Aussterben bedroht. genden Temperaturen zugenommen hat. Unter dem Vorbehalt einer noch relativ dünnen Datenlage Insekten verschwinden vor allem von Äckern, Feldern errechneten die Forscher einen jährlichen Verlust von 2,5 und intensiv genutzten Wiesen. In Neuseeland ist seit den frühen 1960er-Jahren die Mottenpopulation in Grasland- schaften um 60 Prozent zurückgegangen, bei intensiver Nutzung mit hoher Tierdichte sogar um 90 Prozent. In JE KLEINER, DESTO STÄRKER GEFÄHRDET Deutschland, so schreibt die Deutsche Akademie der Natur- Arten von Laufkäfern (Carabidae) und Käfern in Neuseeland im Vergleich, jeweils in Prozent nach Eigenschaften forscher Leopoldina in Halle (Saale), nahm die Häufigkeit von Arten in Agrarlandschaften um etwa 30 Prozent ab. In bedroht nicht bedroht Wäldern, Feuchtgebieten und Siedlungsräumen blieb die nach Mobilität Zahl hingegen stabil oder stieg sogar wieder an. flugunfähige Käfer Wissenschaftlicher Konsens ist, dass die Landwirtschaft 66,7 einen negativen Einfluss auf Insekten hat. Landwirtschaftli- (flugfähige) Laufkäfer che Flächen werden weltweit immer intensiver genutzt. Um 42,2 mehr Ertrag pro Hektar zu erwirtschaften, stieg der Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden weltweit deutlich. Vor nach Körpergröße in Millimetern* allem aber wandelte sich die Art der Nutzung der Landflä- über 30 chen. In nur 300 Jahren, zwischen etwa 1700 und 2007, ist 15,9 der Anteil von Acker- und Weideland weltweit jeweils um 20–29 das Fünffache gestiegen, wobei die Flächen vor allem im 25,0 INSEKTENATLAS 2020 / LESCHEN ET AL. 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgeweitet wur- 10–19 den. Die Menschen rodeten Wälder, legten Feuchtgebiete 31,8 trocken, verwandelten Steppen und Savannen in Äcker und unter 10 36,4 Die neuseeländischen Laufkäfer sind vor * alle untersuchten Käferarten, Anteil Laufkäferarten: 40,9 Prozent allem durch die Ausdehnung der Viehweiden für die Milchwirtschaft bedroht 14 INSEKTENATLAS 2020
INSEKTENATLAS 2020 / SÁNCHEZ-BAYO/WYCKHUYS DER STOFF, AUS DEM DAS WISSEN IST Aussagen über den Insektenrückgang in 73 Studien (Stand 2019) erdbewohnend 28 38 56 bedroht abnehmend Zahl der Studien wasserbewohnend 33 44 17 Insekten 31 41 73 Käfer (Coleoptera) 34 49 12 Eintagsfliegen (Ephemeroptera) Geografische Verteilung der Studien 27 37 3 Hautflügler (Hymenoptera) 44 46 21 Schmetterlinge (Lepidoptera) 1 34 53 17 43 18 2 2 Libellen (Odonata) 1 13 37 6 1 Heuschrecken (Orthoptera) 1 49 1 1 Steinfliegen (Plecoptera) 1 29 35 7 1 Köcherfliegen (Trichoptera) 1 63 68 1 Viele Studien über Insekten sind artspezifisch und Weiden. Die Tier- und Pflanzenarten, die unberührte Le- räumlich sehr spezialisiert. Globale Aussagen sind oft nicht bensräume benötigen, gingen zurück oder starben aus. sinnvoll. Aber Trends sind eben doch zu erkennen Aber auch noch zwischen 1980 und 2000 entstand mehr als die Hälfte der neuen landwirtschaftlichen Nutzflächen in den Tropen durch die Abholzung von Wäldern, zwischen für Rinder, Plantagen für die Palmölproduktion und Roh- 2000 und 2010 waren es sogar geschätzte 80 Prozent. Zwei stoffvorkommen dicht unter der Oberfläche. Länder, Indonesien und Brasilien, waren für über 50 Pro- Weltweit steigt die Nachfrage nach Agrarprodukten. zent dieses Tropenwaldverlustes verantwortlich. Dabei ist Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft gerade in den tropischen Ländern Asiens und Lateiname- spricht von 60 Prozent bis 2050. Damit einher gehe eine rikas die Anzahl und Vielfalt der Insekten besonders hoch. Ausweitung der Agrarflächen – abhängig von den zuneh- Wichtigste Gründe für die Abholzung: neue Weideflächen menden Erträgen pro Hektar – um bis zu 100 Millionen Hektar. Diese Entwicklung muss aber nicht so kommen. Wenn in Industrieländern weniger Fleisch gegessen wird Mehr als die Hälfte aller Fachveröffentlichungen und Agrarprodukte nicht weiter als Treibstoff verwendet nennt die Veränderung des Lebensraumes als wichtigste werden, könnte das den Druck auf die Flächen entschei- Ursache dafür, dass Insekten seltener werden dend verringern. AUF DIE HABITATE KOMMT ES AN Hauptursachen des Insektenrückgangs genetische Variationen 5,0 Erwärmung entsprechend der Fachliteratur, Verteilung in Prozent Krankheiten 1,3 1,9 Intensivlandwirtschaft biologische Gründe 15,8 23,9 12,6 53,5 Veränderung des Lebensraums INSEKTENATLAS 2020 / SÁNCHEZ-BAYO/WYCKHUYS Strategien gegen die Hauptursachen ökologische Eigenarten sollten kombiniert werden, schlagen die Bearbeiter einer Metastudie vor: 3,1 Verstädterung Der wirksamste Weg, den Abwärts- andere Schadstoffe trend bei den Insekten umzudrehen, 10,1 10,7 Entwaldung ist die Wiederherstellung ihrer Lebensräume in Verbindung mit Umweltbelastung 25,8 Trockenlegung drastisch reduziertem Einsatz von 12,6 6,3 8,8 Agrochemikalien und einer Änderung Kunstdünger 1,9 der Bewirtschaftungsform hin zu Brände 1,9 weniger intensiver Landwirtschaft. Pestizide eingewanderte Arten INSEKTENATLAS 2020 15
INSEKTENSTERBEN IN DEUTSCHLAND ABWÄRTS IM TREND Ob Langzeituntersuchungen, einzelne faltern, Wildbienen und Zikaden. Alle Datenreihen belegen Studien oder Rote Listen – das Ergebnis ist einen Rückgang der Artenvielfalt und bestätigen eine teil- immer dasselbe: Insgesamt sind Anzahl und weise dramatische Abnahme der Populationsdichte. Bei den Schmetterlingen gehen vor allem die Spezialisten verloren. Artenzahl der Insekten rückläufig. Daran Hierzu zählen Tagfalter, deren Larven auf bestimmte Futter- ändern auch die Forschungsdefizite nichts. pflanzen angewiesen sind. Langzeiterfassungen in mehre- ren Regionen Deutschlands halten dauerhafte Verluste von E rkenntnisse der Insektenkunde erreichen selten ein über 70 Prozent der Arten fest. großes Publikum. Diese Nachricht jedoch ging um die Unter den Wildbienen zeigt knapp die Hälfte der 561 Welt: Mehr als 75 Prozent der Gesamtmasse an Flug- Arten Rückgänge. Neben dem Verlust der Habitate könnte insekten sind aus Teilen Deutschlands verschwunden. Die die weite Verbreitung der hochwirksamen Neonicotinoi- Studie, veröffentlicht im Oktober 2017, beruhte auf Daten de aus der Gruppe der Insektizide beigetragen haben, dass des Entomologischen Vereins Krefeld. Dessen Mitglieder die Wildbienen so stark zurückgegangen sind. Über einen hatten über einen Zeitraum von 27 Jahren das Vorkommen Zeitraum von 46 Jahren sank auf der Schwäbischen Alb von Fluginsekten an über 60 Standorten erforscht, die meis- die Zahl der Nester einer Schmalbienenart um 95 Prozent. ten davon in Schutzgebieten in Nordrhein-Westfalen. Auch In den Isarauen im bayerischen Dingolfing sind drei Vier- wenn die Studie verschiedentlich wegen methodischer Män- tel der Wildbienenarten im Verlauf nur eines Jahrzehnts gel kritisiert wurde, liefert sie erstmals lange Datenreihen verschwunden. Aber auch andere Insektengruppen sind zur Bestandsentwicklung ganzer Gruppen von Insekten – dezimiert. Zikadenpopulationen auf Trockenrasen in Ost- und die wurden weltweit so noch nie erhoben. Die Daten wurden in verschiedenen Bundesländern gesammelt und zeigen einen deutlichen Trend. Von den langfristig (seit 50 bis 150 Jahren) In Deutschland gibt es neben dieser „Krefelder Studie“ schrumpfenden Insektengruppen nahm fast die Hälfte Langzeituntersuchungen etwa zu den Beständen von Tag- auch kurzfristig (in den letzten 10 bis 25 Jahren) ab FAST ÜBERALL VERLUSTE Rote Listen der Insekten in Deutschland, akute Trends bei den langfristig rückläufigen Insektengruppen, Verteilung in Prozent der Arten Abnahme gleichbleibend Zunahme Daten ungenügend Insektengruppen und Zahl der Arten Schwebfliegen 176 Tanzfliegen 622 Raubfliegen 45 Schmetterlingsmücken 12 Gnitzen 34 Dunkelmücken 3 Tastermücken 10 Tagfalter 115 Eulenfalter 186 Spinnenartige Falter 146 Spanner 152 Zünslerfalter 103 Köcherfliegen 294 Bienen 233 Ameisen 65 Pflanzenwespen 150 Laufkäfer 252 Wasserkäfer 114 Zikaden 322 Heuschrecken 41 INSEKTENATLAS 2020 / RIES Schaben 4 Ohrwürmer 3 Insektenarten gesamt 3.082* 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 * ohne invasive Arten, Wespen, Büschelmücken und Fransenflügler 16 INSEKTENATLAS 2020
ES GEHT AUCH ANDERS Typen mitteleuropäischer Agrarlandschaften extensiv bewirtschaftet Naturschutzfläche, Biotope Naturweg im Wandel intensiv bewirtschaftet angelegte Blühstreifen, -flächen befestiger Weg trockene Kuppen, Nivellierung durch Felder auch als feuchte Senken bessere Landtechnik Insektenkorridore keine weitere Asphaltierung artenreiche Feldränder Wegfall der Stoppelbrache INSEKTENATLAS 2020 / OPPERMANN ET AL. und Saumstrukturen größere Felder Erd- und Graswege artenreiche Einsatz von Pestiziden Wiesen und Äcker und Kunstdünger wieder extensivierte Flächen 50 m 50 m 50 m extensive Nutzung intensive Nutzung Nutzung mit Naturmanagement Um Insektenpopulationen zu erhalten deutschland nahmen über 40 bis 60 Jahre um 54 Prozent ab. oder wiederherzustellen, sind auf und neben den Im Feuchtgrünland in Niedersachsen betrugen die Verluste Feldern viele kleine und große Schritte nötig sogar 78 Prozent. Insgesamt zeigen die Untersuchungen in Deutschland, dass die Verluste nicht regional begrenzt, sondern bundes- rückstände im Kraftfutter, die mit dem Kot von Nutztieren weit zu bemerken sind. Betroffen sind Spezies mit unter- ausgeschieden werden – um dann ihre tödliche Wirkung schiedlichsten Lebensweisen und Lebensräumen. Die mit bei den nützlichen Käfern zu entfalten. Abstand höchsten Insektenverluste weisen in unseren Brei- In einer neuen Untersuchung schlüsseln Krefelder ten die offenen Regionen der Landschaft auf. Hierzu zählen Fachleute den Rückgang nach Gruppen und Arten auf. Bei Ackerflure und Wiesen. Einem internationalen Forscher- den Schwebfliegen – neben den Bienen die wichtigsten Be- team unter Leitung der Technischen Universität München stäuber – sank die Zahl der Exemplare an sechs Standorten zufolge hat sich zwischen 2008 und 2017 die Insektenbio- in einem nordrhein-westfälischen Schutzgebiet zwischen masse auf Grünlandflächen um zwei Drittel verringert. Über 1989 und 2014 von knapp 17.300 auf rund 2.700 – ein Ver- den gleichen Zeitraum untersuchte Wälder wiesen Verluste lust von 84 Prozent. Von den ehemals 143 Spezies fanden von 40 Prozent der Biomasse von Insekten auf. sich 25 Jahre später nur noch 104. Weitere Erkenntnisse Die umfangreichste Sammlung zum Gefährdungssta- verspricht das Projekt „DINA – Diversität von Insekten in Na- tus einzelner Spezies stellen die Roten Listen dar. Das Bun- turschutzgebieten“, das 2019 begann. Vier Jahre lang erfor- desamt für Naturschutz bringt sie seit 40 Jahren heraus. Sie schen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so genau werden kontinuierlich erweitert und bilden die Entwick- wie möglich, welche Faktoren zum Insektensterben beitra- lung der Bestände von rund 15.000 Insektenarten über gen – und wie wichtig sie sind, damit Prioritäten für eine einen Zeitraum von 50 bis 150 Jahren ab. Damit stellen sie Umkehrung des Trends gesetzt werden können. die Lage von knapp der Hälfte der über 33.000 hierzulande etablierten Spezies dar. Die Lücken erklären sich dadurch, dass zahlreiche Spezies schwierig zu bestimmen sind ERFINDERIN DER VIEHHALTUNG und es an Fachleuten fehlt, die ihre Bestände fortlaufend Nahrung von Waldameisen (Formica) nach Komponenten, in Prozent dokumentieren. Die Listen zeigen, dass bundesweit fast jede zweite erfasste Art zurückgeht. Nur ein Bruchteil der Spezies – etwa zwei Prozent – nimmt zu. In den ver- Tierleichen, Pilze 0,3 % 0,2 % Samen gangenen Jahrzehnten fallen besonders die Verluste bei den Ameisen auf. Mehr als 90 Prozent der insgesamt 107 Baumsäfte 4,5 % Arten, mit denen die Familie hierzulande vertreten ist, sind rückläufig. Eine Vielzahl von Käfern ist inzwischen unter Schutz ge- stellt worden, weil sie bedroht sind. Das Fehlen von Dung- Insekten 33 % käfern ist am Zustand von Kuhfladen abzulesen. Vielerorts 62 % Honigtau INSEKTENATLAS 2020 / WELLENSTEIN zersetzen sie sich nicht mehr. „Betonfladen“ heißt das Phä- nomen inzwischen. Als eine der Ursachen gelten Insektizid- Zu den Bedrohungen der Ameisen in Deutschland gehört die Landwirtschaft, auch durch überdüngte Weiden. Dabei gelten die Ameisen selbst als die „Erfinder“ der Viehzucht: Sie halten sich Läuse, schützen sie vor Fraßräubern und melken sie dafür. Die „Milch“ ist Honigtau, ein Sekret der Läuse. Ein Volk Es liegt nicht an der Nahrung, sondern am mit einer Million Ameisen melkt etwa 200 Liter im Jahr, ergänzt um 11 Millionen vertilgte Insekten mit 28 Kilo Gewicht. schwindenden Lebensraum: Keine andere Insektengruppe in Deutschland ist so bedroht wie die Ameisen INSEKTENATLAS 2020 17
PESTIZIDE ZWISCHEN KAHLSCHLAG UND LETZTER HILFE Gegen viele Lebewesen, die die Ernten den US-Dollar um, gefolgt von Syngenta mit 9,4 Milliarden mindern könnten, werden Agrarchemikalien und BASF sowie DowDuPont mit je 7 bis 8 Milliarden Dollar. eingesetzt. Ihre Wirkung wird immer Inklusive Saatgut liegen die Zahlen noch deutlich höher. Pestizide sind eine der Hauptursachen für das Sterben genauer. Trotzdem kommt immer mehr der Insekten, weil sie in ganze Ökosysteme eingreifen. Je davon auf die Felder. nach ihrem Ziel werden sie grob in Insektizide, Herbizide, Fungizide und weitere eingeteilt. Insektizide vernichten W eltweit ist die Menge der eingesetzten Pestizide seit Schadinsekten an Kulturpflanzen, immer leiden aber auch 1950 um das Fünfzigfache gestiegen. Während andere Gewächse unter ihrer Anwendung. So schaden Neo- der ökologische Anbau weitestgehend ohne sie nicotinoide, die inzwischen weltweit am häufigsten einge- auskommt, werden in der konventionellen Landwirtschaft setzt werden, vielen Arten, darunter Bienen und Hummeln. weltweit pro Jahr etwa vier Millionen Tonnen chemische Sie schädigen das Nervensystem, Bienen verlieren dadurch Pflanzenschutzmittel eingesetzt. Der weltweite Umsatz lag die Orientierung und Hummeln sogar den Geruchssinn. 2018 bei 56,5 Milliarden Euro. Prognosen zufolge könnte er Herbizide richten sich gegen Beikräuter. Selektive Her- bis 2023 auf 82 Milliarden Euro steigen. bizide wirken gegen bestimmte Pflanzen, Totalherbizide Vier Chemiekonzerne teilen sich zwei Drittel des globa- gegen fast alle botanische Lebewesen. Glyphosat ist der len Marktes: BASF und Bayer aus Deutschland, Syngenta aus weltweit am meisten benutzte Totalherbizid-Wirkstoff, der Schweiz – aber in chinesischem Besitz – sowie der Bör- dessen Verkäufe so stark zugenommen haben, weil er in senneuling Corteva in den USA, zuvor die Agrarchemiespar- Kombination mit gentechnisch veränderten Pflanzen – vor te von DowDuPont. Der Industrieländerorganisation OECD allem Soja – eingesetzt wird. Diese Pflanzen sind gegen das zufolge setzte 2017 Bayer allein mit Pestiziden 11,2 Milliar- Gift, das während des Aufwuchses gespritzt wird, resistent; alle anderen Gewächse sterben. Die Folge: Insekten finden weniger Blüten und verlieren damit ihre Nahrungsgrund- lage. Auch direkte Auswirkungen sind bekannt. Versuche WENN DIE GUTEN DIE OPFER SIND an der Universität von La Plata in Argentinien zeigen, dass Überlebensraten von zwei Florfliegenarten der Gattung Chrysopa beim Einsatz verschiedener Pestizide, Larve bis ausgewachsenes Tier, Glyphosat auch Florfliegen töten kann, die Blattläuse lieben in Prozent und daher Nützlinge sind. Chrysoperla carnea Chrysoperla johnsoni Weltweit werden in Asien pro Hektar die meisten Pes- tizide ausgebracht, insbesondere in China, Indien und Ja- 0 pan. Chinesische Landwirtinnen und Landwirte greifen Novaluron 0 inzwischen zum Dreifachen des globalen Durchschnitts. Auf Asien folgt Amerika, wobei in Nordamerika, Brasilien 0 Lambda-Cyhalothrin und Argentinien insgesamt die größte absolute Menge an 0 Pestiziden verbraucht wird. In Afrika sind es nur etwa zwei 7 Prozent der weltweiten Menge. Cyantraniliprol Es fehlt an Langzeitstudien, wie sich Pestizide auf die 13 Biodiversität und die Insekten in Afrika und Lateinamerika 20 auswirken. Pestizide könnten dort einen großen Anteil am Chlorantraniliprol 27 Insektensterben haben, wo ihr Einsatz hoch und die Zulas- sung nur schwach reguliert ist. So werden im Weinanbau 33 in Südafrika oder in der Gemüseproduktion in Kenia Pes- Spinetoram 40 tizide verwendet, die in der EU seit Jahrzehnten verboten sind. Bayer, so kam es auf der Jahreshauptversammlung INSEKTENATLAS 2020 / AMARASEKARE, SHEARER 87 2019 des Konzerns zur Sprache, vertreibt in Brasilien zwölf Wasser (Kontrollgruppe) 80 Wirkstoffe, die in der EU nicht mehr erlaubt sind, darunter das Insektizid Thiodicarb, das gegen Schadschmetterlinge Florfliegen der Gattung Chrysopa heißen auch Blattlauslöwen, weil sie wirkt. eine große Menge Schädlinge fressen. In den USA wurden zwei dieser Arten, die für Obst- und Walnussgärten typisch sind, fünf dort verbreiteten Pestizidwirkstoffen ausgesetzt. Die Folgen waren für die Nützlinge so verheerend, dass Sekundärplagen auftraten, weil es zu wenige Florfliegen gab, die die überlebenden Schädlinge hätten vertilgen können. Für den Integrierten Pflanzenschutz, der so wenig Chemie Konsequenz: mehr Pestizide, die auch noch mehr Nützlinge ausrotten. wie möglich einsetzt, sind Pestizide, die Nütz- und Schädlinge zugleich töten, ein großes Problem 18 INSEKTENATLAS 2020
SIEGESZUG DER ACKERGIFTE Weltweiter Einsatz von Pestizidwirkstoffen nach Ländern und Kontinenten, Jahresdurchschnitt 1990–2017 in Tonnen, weltweiter Anstieg in Millionen Tonnen 68.000 89.000 Japan 50.000 Russland Ukraine 83.000 Frankreich USA 407.000 77.000 China 1.391.000 Italien 53.000 Kolumbien Tonnen landesweit bis 60 60 bis 2.500 2.500 bis 50.000 5 über 50.000 216.000 keine Angaben 4 Welt INSEKTENATLAS 2020 / FAO 3 davon China 2 Brasilien 124.000 1 0 Argentinien 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2017 China bringt etwa ein Drittel der globalen Pestizide Europäische zivilgesellschaftliche Organisationen for- aus. Syngenta in der Schweiz, in den Top 3 der dern, dass Pestizide, die in der EU aufgrund ihrer negativen Agrarchemie-Konzerne, ist in chinesischem Besitz ökologischen Wirkungen verboten sind, auch nicht in Ent- wicklungs- und Schwellenländer exportiert werden dürfen. Mit dem Rotterdamer Übereinkommen, das 2004 in Kraft matische, registrieren zu lassen. Damit müssen sie in die trat, existiert ein internationales Vertragswerk zum Import Zulassungsverfahren einfließen und dürfen nicht mehr zu- und Export von gefährlichen Chemikalien, das auch Pestizi- rückgehalten werden. Die Risiken von Pestiziden können de abdeckt. Es erlaubt deren Importe erst, wenn das Zielland nun möglicherweise besser eingeschätzt werden, und der über die Risiken dieser Stoffe für die menschliche Gesund- Schutz von Menschen und Umwelt rückt mehr in den Vor- heit und die Umwelt informiert wurde und der Einfuhr zu- dergrund. gestimmt hat. Ratifiziert wurde das Übereinkommen von 160 Ländern. Insgesamt sind 36 Pestizide gelistet, doch es bleiben Lücken. Längst nicht alle Unterzeichnerländer ha- UNSICHTBARE LAST ben den Import der aufgeführten Substanzen untersagt – so Giftigkeit von Pestiziden für Bienen nach Ländern und Feldfrüchten, hat China beispielsweise DDT nicht gebannt. in Prozent der Zahl registrierter oder benutzter Pestizide Die Debatten um das Insektensterben und die Verluste an Biodiversität nehmen zu und setzen die Agrarindustrie hochtoxisch unter Druck. Lange wurden Wechselwirkungen zwischen moderat toxisch Pestiziden und Insekten kaum berücksichtigt. Oft fehlen fast nicht toxisch 46,0 47,0 Daten über Kombinations- oder Langzeitwirkungen ver- schiedener Produkte. In der Vergangenheit beauftragten Kenia (Kaffee, Kürbisse, 7,0 die Hersteller der Pestizide die Studien selbst, während un- Gartenbohnen, Tomaten) abhängige wissenschaftliche Forschung in den Zulassungs- verfahren nicht berücksichtigt werden mussten. 15,0 Die EU hat es im Jahr 2019 per Gesetzesänderung zur 33,0 9,5 INSEKTENATLAS 2020 / IPBES Pflicht erklärt, alle Forschungsergebnisse, auch proble- 59,5 75,5 Brasilien Niederlande 7,5 (Melonen, (Äpfel, In den armen Ländern Kenia und Brasilien Tomaten) Tomaten) sind die eingesetzten Pestizide für Bienen deutlich giftiger als in den wohlhabenden Niederlanden INSEKTENATLAS 2020 19
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