Intelligent migrieren - msg life

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POLITIK & REGULIERUNG

                                            Intelligent
                                            migrieren
      Modernisierung geht häufig mit einer semi-manuellen Migration großer Vertragsbestände und
  komplexen aktuariellen Funktionen einher. Dies ist teuer und langwierig. Einen Ausweg verspricht die
Künstliche Intelligenz. Ihr Einsatz steigert die Effizienz im Migrationsprozess und hilft Lebensversicherern,
               längst überfällige Projekte zu geringeren Kosten und in kürzerer Zeit anzugehen.
            Versicherungsmathematische Funktionen werden automatisiert übertragen und an ein
                                   modernes Bestandsführungssystem angebunden.

                                             Von Axel Helmert und Volker Dietz

D
            ie größten Aufwandstreiber bei der Migration            oder führt zu Abweichungen zwischen dem Quell- und dem
            von Lebensversicherungsbeständen liegen bei             Zielsystem. Der Einsatz von KI bietet genau in dieser Situati-
            den Themen Produkten und der Daten-Migration            on einen automatisierten Ausweg für einen großen Teil der
mit insgesamt rund 65 Prozent der Kosten. Der traditionelle         Berechnungen.
Weg der Übertragung von Tarifen auf ein neues Zielsystem
bedeutet einen immensen Aufwand für Aktuare und Ent-                KI-BASIERTE MIGRATIONEN
wickler. Er beinhaltet die Analyse von (alten) Tarifen, die teil-   Bislang liegt der Fokus von KI-Anwendungen in der Versiche-
weise in papiergebundenen Unterlagen dokumentiert sind              rung auf Arbeitsgebieten außerhalb der aktuariellen Kernge-
und in einem oder mehreren Altsystemen recherchiert wer-            biete, etwa in der Kundenkommunikation – der Einsatz im
den müssen. Sind im Zielsystem keine passenden Funktiona-           operativen versicherungsmathematischen Rechenkern ist ein
litäten vorhanden, muss dieses durch manuelle Implemen-             absolutes Novum. Bestandsmigrationen bieten häufig gute
tierung erweitert werden. Auch dieser Schritt ist aufwendig         Rahmenbedingungen für den Einsatz von KI-basierten Me-
und unerwünscht – er steigert die Komplexität im Zielsystem         thoden. Es werden Verträge (Daten) und Wissen (Funktio-
                                                                    nen), die das Verhalten der Verträge in der Zukunft festlegen,
                                                                    von einem (alten) Quellsystem auf ein (modernes) Zielsystem
                                                                    übertragen. Mit dem Quellsystem lässt sich i.d.R. ausreichend
                                                                    Trainingsmaterial generieren – ein ideales Anwendungsge-
                                                                    biet für Supervised Learning. Die aufwendige Analyse des in
                                                                    Altsystemen inkorporierten Wissens entfällt und kann durch
                                                                    maschinelles Lernen ersetzt werden.
                                                                        Im Rahmen der Migrationsprojekte, die in den letzten
                                                                    Jahren durchgeführt wurden, haben wir zahlreiche Ansätze
                                                                    zur Automation und Optimierung entwickelt. Diese werden
                                                                    auch eingesetzt und haben graduelle Fortschritte gebracht.
                                                                    Der wesentliche und teure Schritt, das Erlernen der Algo-
                                                                                                                                     ABBILDUNGEN: ALLE MSG

                                                                    rithmen des Quellsystems und deren Abbildung im Zielsys-
                                                                    tem, kann bislang jedoch nur durch (humane) Intelligenz er-
                                                                    bracht werden. Die Umsetzung von KI-basierten Methoden
Abbildung 1: Aufwandsverteilung bei der Migration von               erfordert sowohl tiefes branchenspezifisches Know-how als
Lebensversicherungsbeständen.                                       auch umfassende KI-Expertise. Dabei spielen tiefe neuronale

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Netzwerke (DNNs) eine zentrale Rolle. Seit den 90er Jahren      dem Quellsystem ausreichend Trainingsmaterial (inklusive
gibt es theoretische Nachweise, dass neuronale Netze mit        Output) generiert werden kann.
nur einer einzigen inneren Schicht universelle Funktionsap-        Eine weitere wichtige Anforderung ist die Zuverlässigkeit.
proximatoren sind, die viele mathematische Funktionen in        Lebensversicherungsverträge haben eine lange Laufzeit und
einer gegebenen Genauigkeit annähern können. 2017 wur-          unterliegen Änderungen. Die DNNs sollen in der Lage sein,
de der Nachweis erbracht, dass dies theoretisch durch tiefe     die gelernten Funktionen zuverlässig für alle möglichen zu-
neuronale Netze mit vielen inneren Schichten mit wesentlich     künftigen Inputs mit der gewünschten Qualität rechnen zu
weniger Rechenaufwand möglich ist. Das ermöglicht prak-         können, also auch für Inputs, die nicht explizit trainiert wur-
tikable Ansätze, um mathematische Funktionen – auch aus         den. Und nicht zuletzt ist die Effizienz der Lösungsansätze
der Versicherungsmathematik – mit DNNs mit sehr hoher           von großer Bedeutung, um gegenüber dem konventionellen
Genauigkeit anzunähern. Bei msg life wurden im Rahmen           Ansatz Aufwände und Zeit zu sparen. Die Ansätze müssen
von Vorstudien in den letzten beiden Jahren DNN-Architek-       wiederverwendbar sein oder sich durch eine KI eigenständig
turen und Trainingsverfahren entwickelt, die versicherungs-     automatisiert optimieren können (Meta-Learning). Das Trai-
mathematische Funktionen in hoher Genauigkeit abbilden          ning der Netze ist hinsichtlich Zeit und Rechenkapazität mit
können. Die prinzipielle Machbarkeit sowohl des Verfahrens      vertretbaren Ressourcen durchzuführen. Zudem darf die re-
als auch seiner Automatisierbarkeit konnte nachgewiesen         sultierende Netzwerkarchitektur keine zu komplexe Struktur
werden.                                                         haben. Auch das Laufzeitverhalten und der Speicherbedarf
                                                                in der operativen Anwendung sind relevant. Neben diesen
MASCHINELLES LERNEN MIT VORGEGEBENER                            Anforderungen spielt auch die Frage der Erklärbarkeit bzw.
MESSBARER QUALITÄT, ZUVERLÄSSIGKEIT UND EFFIZIENZ               Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse eine große Rolle. Werden
Die hochakkurate Abbildung mathematischer Funktionen            die Ergebnisse infrage gestellt, zum Beispiel im Rahmen einer
für den operativen Einsatz in Rechenkernen stellt hohe An-      Beschwerde eines Versicherungsnehmers, muss es möglich
forderungen an die Architektur und das Training neuronaler      sein, den Berechnungsweg verständlich darzustellen.
Netzwerke bezüglich Qualität, Zuverlässigkeit und Effizienz.
Um aktuarielle und aufsichtsrechtliche Anforderungen an         DREISTUFIGES VERFAHREN ZUR UMSETZUNG
die Qualität des DNNs zu erfüllen, muss das DNN bei glei-       Zum Nachweis der Machbarkeit unter Einhaltung der Qua-
chem Input einen Output erzeugen, der nur um einen vor-         litätsansprüche und der Erzielung essenzieller Einsparungen
gegebenen (kleinen) Wert von den Ergebnissen der gelern-        arbeiten wir seit Anfang 2019 an einem Prototyp. Entwickelt
ten Funktion des Quellsystems abweicht. Die Qualität sollte     wurde ein hochgradig automatisiertes dreistufiges Verfah-
mindestens so gut sein wie bei vergleichbaren konventionell     ren, das ausgewählte versicherungsmathematische Funktio-
durchgeführten Vorhaben. Der Vorteil unseres Anwendungs-        nen eines abzulösenden Quellsystems in ausreichender Qua-
gebietes liegt in den guten Trainingsmöglichkeiten, da mit      lität erlernt (Stufe 1: Lernen), das Gelernte auf ein Zielsystem

Abbildung 2: Auswahl der zu lernenden Funktionen (Schritt 1).

                                                                                                                            89
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Abbildung 3: Active Learning – Design und Qualität der DNNs (Schritt 2).

überträgt (Stufe 2: Übertragen) und die Kommunikation mit          chine Learning (AutoML). Haben die DNNs das Quality Gate
dem Zielsystem herstellt (Stufe 3: Anbinden). Relevant sind        erfolgreich passiert, liefert die Pipeline ein lauffähiges Stück
Funktionen, die komplex, schlecht dokumentiert oder im             Software, das die erlernte Funktion in hinreichender Qualität
Zielsystem nicht vorhanden und zeitaufwendig zu analysie-          approximiert. In Stufe 2 wird das DNN automatisiert in einer
ren, zu implementieren und zu testen sind. Hier erwarten wir       passenden technischen Repräsentation in den Modellspei-
den größten wirtschaftlichen Nutzen. Das Ergebnis muss für         cher des Zielsystems übertragen. Die fachlich korrekte An-
den Nutzer nachvollziehbar und erklärbar sein. Das Verfah-         bindung der DNNs im operativen Betrieb durch Bereitstellung
ren wird über eine Automatisierungs-Pipeline umgesetzt. Sie        produktabhängiger Kontextinformationen erfolgt in Stufe 3.
enthält an allen fachlich notwendigen Stellen Tests auf Sta-       Die technische Repräsentation im Zielsystem besteht im We-
bilität, Sicherheit und Performance, die einen reibungslosen       sentlichen in der Bereitstellung einer Java API.
Betrieb sicherstellen.                                                Die Darstellung der versicherungsmathematischen Funk-
    Die Stufe 1 erfolgt durch Methoden des Maschinellen Ler-       tionen über DNNs in der maschinell erlernten Form ist auf-
nens, zum Beispiel durch das Training von tiefen Neuronalen        grund des Black-Box-Charakters für Menschen nicht nach-
Netzen (DNNs). Die Pipeline stellt Daten bereit, startet das       vollziehbar. Die notwendige Erklärbarkeit wird durch einen
Training und überwacht die Ergebnisse. Bei nicht ausreichen-       zusätzlichen Schritt am Ende der Pipeline erreicht. Ansätze
der Qualität werden weitere Trainingsdaten erzeugt und das         der Metamodellierung können Black-Box-Modelle in ver-
Training neu gestartet. Dies wird als aktives Lernen bezeich-      ständliche Funktionsbeschreibungen umwandeln. Diese wer-
net. Die Bestimmung der Architektur der DNNs sowie der             den zusammen mit den DNNs im Modellspeicher hinterlegt.
Parameter für den Trainingsvorgang erfolgt vollautomatisch         Ein weiterer Lösungsansatz besteht in der Dokumentation
durch fortgeschrittene Techniken des automatisierten Ma-           der erlernten Funktion mit Hilfsmitteln aus dem Quellsystem.

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Abbildung 4: Bereitstellung von DNNs im Zielsystem (Schritt 3).

    Die neue Technologie wird schon jetzt in Form einer se-       Plattform führt zudem zu einer dauerhaften Senkung der
paraten Komponente in das Bestandsverwaltungssystem               Kosten pro Police und zur Steigerung der Betriebseffizienz.
msg.Life.Factory integriert. Dadurch ist der Einsatz für un-      Gleichzeitig ermöglicht sie neue digitale Geschäftsmodelle
sere Kunden möglich, sobald die notwendige Qualität er-           wie zum Beispiel Self-Services oder die Partizipation an Öko-
reicht ist. Auch können die Auswirkungen des Einsatzes von        systemen und sichert so insgesamt die Wettbewerbsfähig-
Anfang an in einem vollständigen Bestandsverwaltungssys-          keit der Lebensversicherer. Das System hat den Nachweis
tem eruiert und bewertet werden. Wichtig ist dabei, dass          seiner Leistungsfähigkeit intern bereits erbracht. Auch prüft
die DNNs nicht den ganzen Rechenkern ersetzen sollen. Die         ein großer europäischer Versicherer, der reale Daten für die
Idee ist eine Kooperation der konventionellen Rechenkerne         Forschungs- und Entwicklungsarbeit bereitstellt, bereits, wie
mit DNNs. Ein sukzessives Vorgehen ist sinnvoll und möglich.      der Prototyp produktiv in ausgewählten Situationen genutzt
Nur dort, wo wir fachlich, aufsichtsrechtlich und technisch       werden kann.
erfolgreich sind und sich der Business Case rechnet, setzen          Klar ist aber auch, dass es sich für die Lebensversicherung
wir die neue Technologie ein.                                     um eine revolutionäre Technologie handelt, und dass bis zu
                                                                  einem breiten Einsatz in der Versicherungswelt noch viel Ar-
SENKUNG DER KOSTEN PRO POLICE                                     beit zu leisten ist. Insbesondere wird viel Überzeugungskraft
Mit der Lösung können wichtige und bislang teure Schritte         für viele unterschiedliche Stakeholder nötig sein. In dieser
von Migrationen automatisiert werden. Das spart bei Analy-        Zeit wird die Arbeit an der Technik weiter intensiviert und die
se und Implementierung Zeit und Kosten. Die Automation            Akzeptanz der Ergebnisse erhöht. Am Schluss möchten wir
erleichtert paralleles Arbeiten, was zu einer Verkürzung der      noch darauf hinweisen, dass der Ansatz auch Potential für
Zeitstrecke und zu einer Reduktion der Overhead-Aufwände          die Anwendung in anderen Versicherungssparten und sogar
führt. In Kombination mit weiteren Optimierungsmaßnah-            in anderen Branchen hat. Das Sichern von erworbenem und
men, die derzeit analysiert werden, führt dies zu einer Kos-      die effiziente Kombination mit neuem Wissen ist ein uraltes
tenreduktion in Höhe von bis zu 25 Prozent und einer Ver-         Problem – nicht nur in der IT.
kürzung der Projektdauer um bis zu einem Drittel, abhängig
von Umfang und Art des Migrationsprojektes. Damit werden              Axel Helmert, Geschäftsführer msg life Central Europe
notwendige IT-Modernisierungsvorhaben in der Lebensver-                    GmbH, und Volker Dietz, Leiter KI-Team msg life
sicherungsbranche wirtschaftlich tragbar. Eine moderne IT-                                           Central Europe GmbH

                                                                                                                             91
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