Irans "Blick nach Osten" - SWP-Studie Azadeh Zamirirad - Stiftung Wissenschaft und Politik

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Irans "Blick nach Osten" - SWP-Studie Azadeh Zamirirad - Stiftung Wissenschaft und Politik
SWP-Studie

  Azadeh Zamirirad

Irans »Blick nach Osten«
        Asien, Eurasien und die ordnungspolitische Vision der
        Islamischen Republik

                                                   Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                               Deutsches Institut für
                                                Internationale Politik und Sicherheit

                                                                     SWP-Studie 25
                                                               November 2020, Berlin
Irans "Blick nach Osten" - SWP-Studie Azadeh Zamirirad - Stiftung Wissenschaft und Politik
Kurzfassung

∎ Die Islamische Republik Iran hat unter dem Sanktionsdruck der Trump-
  Administration den »Osten« zur außenpolitischen Priorität erklärt. Im
  Rahmen einer neuen »Blick-nach-Osten«-Politik sollten die Beziehungen
  zu asiatischen und eurasischen Großmächten wie Russland, China oder
  Indien vertieft werden.
∎ An seiner Ostorientierung wird Iran auch unter dem US-Präsidenten Joe
  Biden festhalten, denn die außenpolitische Schwerpunktverlagerung
  reicht über kurzfristige Wirtschaftsinteressen hinaus. Teheran sieht in
  östlichen Partnern das größte Potential, um vom Westen unabhängige
  Ordnungsstrukturen zu schaffen.
∎ Mittelfristig setzt die Islamische Republik auf eine multipolare Ordnung,
  in der Regionalmächten eine höhere politische Bedeutung zukommt.
  Langfristig schwebt Teheran die Vision einer einheitlichen islamischen
  Gemeinschaft und einer Sphäre islamischer Souveränität vor.
∎ Vor diesem Hintergrund begrüßt die Islamische Republik bedeutende
  geopolitische Großprojekte in Eurasien, in denen Iran eine zentrale Rolle
  einnimmt.
∎ Teherans »Blick nach Osten«-Politik geht aber auch mit Kosten einher und
  stößt vor allem sicherheitspolitisch an enge Grenzen. Noch zeichnen sich
  keine strategischen Partnerschaften ab, die sich in einer belastbaren
  Bündnispolitik widerspiegeln würden.
∎ Dennoch müssen sich Deutschland und die EU darauf einstellen, dass
  der Einfluss eurasischer und asiatischer Akteure, insbesondere Pekings,
  in Iran steigen wird. Dabei stehen Teherans Beziehungen zu diesen
  Staaten nicht unter dem Vorbehalt, Menschenrechtsfragen oder die
  iranische Regionalpolitik zu diskutieren.
∎ Irans Orientierung nach Osten stellt aber noch keine Abkehr vom
  »Westen« dar. Mit der Umsetzung der »Blick nach Osten«-Politik könnte
  die Bedeutung Deutschlands und Europas sogar noch zunehmen.
Irans "Blick nach Osten" - SWP-Studie Azadeh Zamirirad - Stiftung Wissenschaft und Politik
SWP-Studie

Azadeh Zamirirad

Irans »Blick nach Osten«
Asien, Eurasien und die ordnungspolitische Vision der Islamischen Republik

                                                          Stiftung Wissenschaft und Politik
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                                                                      November 2020, Berlin
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ISSN 1611-6372
doi: 10.18449/2020S25
Inhalt

 5   Problemstellung und Schlussfolgerungen

 7   Der »Blick nach Osten« als außenpolitischer Ansatz
 7   Der »Osten« aus Sicht Teherans
 8   Der »Blick nach Osten« im Kontext der Atompolitik
10   Von strategischer Option zu strategischer Notwendigkeit

12   Der »Blick nach Osten« in Irans
     Ordnungsvorstellungen
12   Internationale Ordnung aus Sicht der
     Islamischen Republik
14   Teheran als revisionistischer Akteur
15   Regionale Integration und Sicherheitsordnung

20   Mehr »Osten« zulasten des »Westens«?
20   Preis und Grenzen der Ostanbindung
22   Europas Stellenwert in Teherans Ansatz
23   Ausblick für die deutsche und die europäische Politik

25   Abkürzungen
Dr. Azadeh Zamirirad ist Stellvertretende Leiterin der
Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika
Problemstellung und Schlussfolgerungen

Irans »Blick nach Osten«.
Asien, Eurasien und die ordnungspoli-
tische Vision der Islamischen Republik

Irans Revolutionsführer Ali Khamenei hat im Februar
2018 den »Osten« zur außenpolitischen Priorität er-
klärt. Seit ihrer Gründung hat die Islamische Republik
ihren Fokus in wirtschaftlichen und sicherheitspoliti-
schen Fragen wiederholt auf die östliche Nachbar-
schaft gerichtet. Dabei haben iranische Präsidenten
den Radius der Staaten, die Teheran dem Osten zu-
rechnet, unterschiedlich ausgelegt. Unter Präsident
Mahmoud Ahmadinejad (2005–2013) wurde erstmals
eine sogenannte »Blick nach Osten«-Politik (siyasat-e
negah be sharq) formuliert, mit der Iran seine Bezie-
hungen zu asiatischen, aber auch lateinamerikani-
schen Ländern diplomatisch, wirtschaftlich und
sicherheitspolitisch vertiefen wollte.
   Die heutige Hinwendung nach Osten zielt dagegen
in erster Linie auf Akteure im weiteren eurasischen
Raum. Insbesondere das Verhältnis zu Staaten wie
Russland oder China ist regelmäßig Gegenstand inner-
iranischer Auseinandersetzungen. Im Juni 2020 löste
eine Kooperationsvereinbarung zwischen Peking und
Teheran eine kontroverse Debatte über außenpoliti-
sche Abhängigkeiten Irans aus, die auch außerhalb
des Landes geführt wurde. In der internationalen
Öffentlichkeit ging die Übereinkunft mit der Wahr-
nehmung einher, dass die Islamische Republik eine
strategische Partnerschaft mit China eingegangen sei,
die weitreichende geopolitische Folgen für die Region
haben könnte. Doch bislang gingen derartige Verein-
barungen kaum über Absichtserklärungen hinaus.
Kurzfristig versprach sich Teheran von einer Ost-
orientierung vor allem eine Befreiung aus seiner wirt-
schaftspolitischen Isolation. Diese ist das Ergebnis
eines Sanktionsregimes, das die US-Administration
im Mai 2018 als Teil einer Politik des »maximalen
Drucks« gegenüber Iran verhängte. Vor diesem Hin-
tergrund sah Teheran in der Hinwendung nach Osten
nicht länger nur eine außenpolitische Option, son-
dern eine strategische Notwendigkeit.
   Gleichzeitig hat die außenpolitische Prioritäten-
setzung Teherans Implikationen, die weit über wirt-
schaftspolitische Aspekte hinausgehen. Irans Blick
nach Osten kann als Versuch der Islamischen Repu-
blik aufgefasst werden, langfristige ordnungspoli-

                                               SWP Berlin
                                 Irans »Blick nach Osten«
                                          November 2020

                                                       5
Problemstellung und Schlussfolgerungen

             tische Ziele zu verwirklichen. Dabei unterscheiden        sicherheitspolitische Interessen durchsetzen will.
             sich die Vorstellungen der iranischen Führung von         Gleichzeitig soll verdeutlicht werden, mit welchen
             internationaler Ordnung grundlegend vom West-             wirtschaftlichen und politischen Kosten die Ostorien-
             fälischen Modell souveräner Nationalstaaten. In der       tierung für die Islamische Republik verbunden ist.
             Verfassung formuliert die Islamische Republik unter       Iran muss unter anderem Sonderkonditionen für den
             anderem den Anspruch, Einheit in der muslimischen         Verkauf seiner petrochemischen Produkte anbieten
             Gemeinschaft herstellen zu wollen, und definiert          und erhebliche Nachlässe gewähren, um Ölabnehmer
             damit Interessen, die jenseits der iranischen Grenzen     auf dem asiatischen Markt nicht an Konkurrenten
             und Souveränitätssphäre liegen. Teherans Vision           wie Saudi-Arabien zu verlieren. Durch die Anbindung
             einer gerechtigkeitsbasierten Ordnung ruht auf            an den Osten entstehen überdies Abhängigkeiten, die
             islamischen Glaubenssätzen, die als Grundlage für         Irans konstitutionell verankertem Anspruch auf Auto-
             internationale Normen und internationale Zusam-           nomie zuwiderlaufen. Insbesondere die Dominanz
             menarbeit dienen sollen. Als klassischer revisionis-      Chinas auf den iranischen Märkten könnte langfristig
             tischer Akteur stellt die Islamische Republik dabei       mit einem erheblichen politischen Einflussgewinn
             den Status quo infrage. Sie lehnt nicht nur eine von      Pekings in der Islamischen Republik verbunden sein.
             den USA dominierte unipolare Weltordnung ab,              Obwohl auch russische, chinesische und indische
             sondern strebt aktiv danach, das bestehende inter-        Unternehmen dem Sanktionsdruck aus Washington
             nationale System zu verändern. In den Staaten des         unterliegen, sind Teherans Aussichten auf wirtschaft-
             asiatischen und eurasischen Raums sieht sie das           liche Kooperation in Asien weiterhin deutlich größer
             größte Potential für die Bildung neuer und vom            als in Europa.
             Westen unabhängiger Ordnungsstrukturen. Daher                Unter Ahmadinejad ging die iranische Blick-nach-
             begrüßt die iranische Führung den rasanten Aufstieg       Osten-Politik mit einem außenpolitischen Konfronta-
             von Volkswirtschaften in Asien. Teheran verspricht        tionskurs gegenüber westlichen Akteuren, einschließ-
             sich von einem multipolaren System, in dem asia-          lich europäischer Staaten, einher. Dennoch muss
             tische Akteure wie China eine ordnungsstiftende           Irans heutige Hinwendung nach Osten nicht von
             Rolle einnehmen, eine vorteilhafte Position im inter-     einer erneuten Abkehr vom Westen begleitet sein.
             nationalen Gefüge. Schon heute profitiert die Islami-     Europäische Akteure könnten im Rahmen der Ost-
             sche Republik davon, dass ihr in gleich zwei geo-         orientierung sogar an Bedeutung gewinnen. Teheran
             politischen Großprojekten asiatischer Akteure eine        sieht in der EU ein wirtschaftspolitisches Gegen-
             herausragende Stellung zuteilwird: Sowohl in der          gewicht zu seinen östlichen Partnern. Ohne politische
             chinesischen Belt-and-Road-Initiative als auch in den     und ökonomische Unterstützung aus Europa würde
             Planungen für den Ausbau des russisch-indischen           Irans Abhängigkeit von Staaten wie Russland oder
             Nord-Süd-Transportkorridors hat Iran den Part einer       China noch weiter steigen. Wie viel Einflussmöglich-
             zentralen Schaltstelle für den eurasischen Handel         keiten der EU verbleiben, hängt jedoch im Wesent-
             inne. Russland, China und Indien erkennen die             lichen davon ab, ob es ihr gelingt, die wirtschaft-
             Islamische Republik nicht nur als Regionalmacht an,       lichen und politischen Kanäle offen zu halten, die im
             sondern weisen ihr auch geopolitisch einen Platz zu,      Zuge der Atomvereinbarung vom Juli 2015 etabliert
             der ihr in einer westlichen Ordnung nicht zugemes-        worden sind.
             sen wird. Die Islamische Republik versteht sich selbst
             dezidiert als Teil »Westasiens« (asiya-ye qarbi) – eine
             Formulierung, die eine bewusste Abgrenzung von der
             Zuschreibung des Landes zum Nahen und Mittleren
             Osten darstellt.
                In der Studie wird Irans Blick-nach-Osten-Politik
             vor dem Hintergrund des internationalen Atom-
             konflikts analysiert und in den Kontext iranischer
             Ordnungsvorstellungen gesetzt. Dabei zeigt sich, dass
             sich Irans außenpolitischer Ansatz nicht allein aus
             kurzfristigen Handelsinteressen ableitet, sondern
             Teil einer langfristigen Strategie ist, mit der Teheran
             staatspolitische Visionen, geoökonomische Ziele und

             SWP Berlin
             Irans »Blick nach Osten«
             November 2020

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Der »Osten« aus Sicht Teherans

Der »Blick nach Osten« als
außenpolitischer Ansatz

Von dem »Blick nach Osten«-Ansatz verspricht sich        nachhaltig geprägt. Nach 1979 brachte die neugegrün-
die iranische Führung kurzfristig, die wirtschafts-      dete Islamische Republik ihr Unabhängigkeitsbestre-
politische Isolation des Landes aufzubrechen, die        ben dadurch zum Ausdruck, dass sie im Kontext des
insbesondere durch internationale Nuklearsanktio-        Kalten Krieges ihre Blockfreiheit gegenüber »Hege-
nen erzwungen worden ist, und damit den eigenen          monialmächten« erklärte und unter anderem in der
außenpolitischen Handlungsspielraum zu erweitern.        Verfassung festschrieb (Art. 152). Das postrevolutio-
Wie zahlreiche andere Staaten der Region blickt          näre Iran erhob den Anspruch, das Land vor aus-
Teheran dabei vor allem nach Asien und auf den           ländischen Interventionen bewahren und Abhängig-
weiteren eurasischen Raum. Mit der außenpolitischen      keiten von externen Mächten reduzieren zu wollen.1
Neuausrichtung sollen bestehende Beziehungen zu          Das Mantra der Blockfreiheit spiegelte sich auch in
Akteuren, die dem Ostens zugerechnet werden, auf         der »Weder Ost noch West«-Maxime wider. Iran
politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher     wollte nicht nur vermeiden, zum Spielball rivalisie-
Ebene ausgebaut und darüber hinaus auch Militär-         render Supermächte zu werden; Teheran wies damit
und Verteidigungskooperationen etabliert werden.         auch zwei konkurrierende politische Systeme zurück
                                                         und setzte ihnen ein eigenes Ordnungsmodell ent-
                                                         gegen.
Der »Osten« aus Sicht Teherans                               Die explizite Ablehnung von »Ost« und »West« als
                                                         ideellen Orientierungen hat in Iran wiederholt die
Der »Osten« ist im politischen Diskurs der Islamischen   Frage aufgeworfen, ob eine proklamierte Anbindung
Republik nicht in erster Linie ein territoriales, son-   an eine Region überhaupt mit den in der Verfassung
dern vor allem ein ideelles Konzept, das iranische       festgeschriebenen Prinzipien in Einklang zu bringen
Präsidenten unterschiedlich weit gefasst haben. Je       ist. Doch schon in den Gründungsjahren der Islami-
nach politischem Kontext wurde unter dem Begriff         schen Republik war die Losung »Unabhängigkeit«
ein ideologischer Block, eine antihegemoniale Be-        keineswegs gleichbedeutend mit dem Abbruch diplo-
wegung oder schlicht eine geografische Subregion         matischer, politischer oder wirtschaftlicher Beziehun-
verstanden. Auf den ersten Blick steht eine Ostorien-    gen zu allen Staaten, die einem Block zugerechnet
tierung im Widerspruch zu Irans revolutionärer           wurden. Zudem ist mit dem Ende der bipolaren Welt-
Maxime »Weder Ost noch West, Islamische Republik«.       ordnung auch der ideologische Kontext der »Weder
Diese basiert auf dem in der Verfassung festgeschrie-    Ost noch West«-Maxime nicht länger gegeben. Amts-
benen Prinzip der Unabhängigkeit, dem sich Iran mit      träger wie Präsident Hassan Rohani sehen in der
dem Credo »Unabhängigkeit, Freiheit, Islamische          Parole daher keinen Widerspruch zu Irans »Blick
Republik« verschrieben hat. Die hohe Bedeutung der       nach Osten«-Politik.2 Diese Position wird auch vom
oft bemühten Unabhängigkeitsparole hat ihren Ur-         außenpolitischen Berater des Revolutionsführers,
sprung in den vielfältigen Interventionserfahrungen,
die Iran im 20. Jahrhundert machte. Ereignisse wie
die anglo-sowjetische Invasion im Zuge des Zweiten         1 Evaleila Pesaran, Iran’s Struggle for Economic Independence.
Weltkriegs oder der von den USA und Großbritannien         Reform and Counter-Reform in the Post-revolutionary Era, New
                                                           York: Routledge, 2011, S. 189.
unterstützte Staatsstreich, der 1953 zum Sturz des
                                                           2 »Geht der Blick nach Osten am Westen vorbei?« (per-
gewählten Premierministers Mohammad Mossadegh
                                                           sisch), Iranian Students News Agency, 23.7.2018,
führte, haben den außenpolitischen Diskurs im Land
                                                            (Zugriff am 31.11.2018).

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                                                                                                  Irans »Blick nach Osten«
                                                                                                           November 2020

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Der »Blick nach Osten« als außenpolitischer Ansatz

              Ali Akbar Velayati, vertreten.3 Velayati gehört zu den        auf Tadschikistan und Turkmenistan, in Ostasien auf
              einflussreichsten Verfechtern einer Politik, die den          China, aber auch auf Staaten wie Japan und Süd-
              Fokus auf Irans östliche Nachbarschaft richten will.          korea. Die Beziehungen zu Nordkorea basieren vor
                                                                            allem auf einer Zusammenarbeit in militärtechnolo-
                        Teheran definiert den Osten                         gischen Fragen. Und in Südostasien setzt Teheran
                      nicht in erster Linie geografisch,                    hauptsächlich auf Indonesien und Malaysia, nicht
                              sondern politisch.                            zuletzt aufgrund des beträchtlichen muslimischen
                                                                            Bevölkerungsanteils in diesen Staaten. Unter Ahmadi-
                 Bereits im Zuge des Kalten Krieges zeigte sich, dass       nejad galt insbesondere Malaysia als Paradebeispiel
              Teheran den Osten nicht in erster Linie geografisch,          für einen unabhängigen muslimischen Staat.5 Den-
              sondern politisch definiert. Während Iran unter der           noch strebt die iranische Führung weder ein spezi-
              Präsidentschaft von Hashemi Rafsanjani (1989–1997)            fisches asiatisches Wirtschaftsmodell an, noch sucht
              und Mohammad Khatami (1997–2005) überwiegend                  sie nach anderen ordnungspolitischen Vorbildern im
              bemüht war, sein Verhältnis zu Russland und China             Osten oder Westen.6
              zu vertiefen, schloss die »Blick nach Osten«-Politik
              unter Ahmadinejad (2005–2013) auch lateinameri-
              kanische Staaten wie Venezuela oder Nicaragua ein.            Der »Blick nach Osten« im
              Ostorientierung als außenpolitisches Leitbild zielte          Kontext der Atompolitik
              unter Ahmadinejad explizit auch auf Mitglieder der
              Bewegung der Blockfreien Staaten, die dem irani-              Unter Ahmadinejad wurde der »Blick nach Osten«
              schen Präsidenten im Zeitalter einer unipolaren               erstmals als außenpolitischer Ansatz formuliert. Das
              Weltordnung als natürliche Verbündete gegen die               Konzept fügte sich in den Konfrontationskurs ein,
              verbliebene Supermacht galten. Der »Osten« im                 den die Regierung gegenüber den Verhandlungs-
              außenpolitischen Konzept Teherans umfasst dem-                parteien aus Europa und den USA einschlug und der
              nach nicht nur Staaten, die sich östlich des iranischen       einen gezielten Bruch mit der Détente-Politik der
              Territoriums befinden. Velayati ordnet auch Staaten           Vorgängerregierung darstellte. Von der Hinwendung
              wie Syrien, Irak, den Jemen oder den Libanon dem              nach Osten erhoffte sich die Führung in Teheran
              Osten zu, weil sie nicht in den westlichen Einfluss-          politische und diplomatische Unterstützung nicht
              bereich fallen würden und somit gegenüber Iran                nur von Seiten asiatischer, sondern auch latein-
              nicht instrumentalisiert werden könnten.4 Im poli-            amerikanischer Akteure. Mit der außenpolitischen
              tischen Diskurs Irans wird der Osten dezidiert als            Neuorientierung verband sie drei Ziele: Erstens sollte
              nicht-westliche, mitunter sogar als anti-westliche            der Vorwurf entkräftet werden, dass Iran in seiner
              Sphäre aufgefasst. Er stellt im Idealfall den politi-         Atompolitik international isoliert sei. Zu diesem
              schen Raum dar, der eine vom Westen dominierte                Zweck nutzte Teheran regelmäßig die Bewegung der
              globale Ordnung zurückweist und das Potential hat,            Blockfreien Staaten, die mehr als die Hälfte der Welt-
              diese zu verändern.                                           bevölkerung und rund zwei Drittel der UN-General-
                 Irans derzeitiger Blick nach Osten ist eng mit der         versammlung repräsentierte, als Referenzrahmen.
              Asien- und Eurasienpolitik des Landes verknüpft. Zu           Zweitens sollte insbesondere mit Hilfe von asiatischen
              deren Adressaten zählen nicht nur Akteure, die Iran           Partnern der wirtschaftliche Druck gemindert wer-
              konzeptionell dem Osten zurechnet. Im Norden liegt            den, der durch Sanktionen entstanden war. Drittens
              der iranische Fokus auf Russland, in Südasien auf             versprach sich Teheran von einer außenpolitischen
              Indien, Pakistan und Afghanistan. In Vorderasien              Ausrichtung nach Osten die Unterstützung Russlands
              stellt die Türkei den wichtigsten politischen und             und Chinas im UN-Sicherheitsrat. Weder Moskau
              wirtschaftlichen Partner für die Islamische Republik          noch Peking nutzten jedoch ihr Vetorecht, um Reso-
              dar. In Zentralasien richtet sich Irans Blick vor allem

                                                                              5 Ali Adami, »Die Blick-nach-Osten-Strategie in der Außen-
                  3 »Antwort Velayatis auf 10 Schlüsselfragen zum             politik der Islamischen Republik Iran. Grundlagen, Perspek-
                  Blick nach Osten« (persisch), Mashregh News, 16.9.2018,     tiven und Chancen« (persisch), in: Motaleate Siyasi, 7 (2010) 3,
                                    S. 97–126 (104).
                  (Zugriff am 17.9.2018).                                     6 Shirzad Azad, Iran and China. A New Approach to Their
                  4 Ebd.                                                      Bilateral Relations, Lanham, Md.: Lexington Books, 2017, S. 66.

              SWP Berlin
              Irans »Blick nach Osten«
              November 2020

              8
Der »Blick nach Osten« im Kontext der Atompolitik

lutionen gegen die Islamische Republik zu verhin-                        Mit der Vereinbarung verpflichtete sich die Islami-
dern. Diese ausgebliebene Unterstützung im Sicher-                    sche Republik dazu, ihr Atomprogramm technisch zu
heitsrat gilt Kritikern in Iran noch heute als mahnen-                beschränken und einer weitreichenden internatio-
des Indiz dafür, dass das Land im Konfliktfall nicht                  nalen Kontrolle zu unterstellen. Im Gegenzug erklär-
mit russischem oder chinesischem Beistand rechnen                     ten sich die übrigen Verhandlungsparteien bereit,
könne.                                                                uni- und multilaterale Sanktionen schrittweise aus-
   Ahmadinejads Nachfolger Hassan Rohani verfolgte                    zusetzen, die im Zusammenhang mit Teherans Atom-
daher einen zweigleisigen Ansatz. Einerseits sollte die               programm verhängt worden waren. Die Islamische
bestehende Kooperation mit östlichen Partnern fort-                   Republik verknüpfte mit der Übereinkunft die Hoff-
gesetzt und ausgebaut werden. Andererseits sollte                     nung, die wirtschaftliche Lage des Landes verbessern,
eine Entspannungspolitik gegenüber westlichen Ak-                     ihren Pariastatus überwinden und das eigene Atom-
teuren langfristig zu einer Normalisierung der Bezie-                 programm international legitimieren zu können. Der
hungen zwischen Iran und der westlichen Staaten-                      JCPOA sollte aber auch dazu beitragen, die Gefahr
gemeinschaft führen. Vor diesem Hintergrund diente                    einer militärischen Eskalation zu senken.
die 2015 in Wien geschlossene Atomvereinbarung,
der sogenannte Joint Comprehensive Plan of Action                           Trumps Politik des maximalen
(JCPOA), als vertrauensbildende Maßnahme, die auch                          Drucks verlieh dem »Blick nach
den Weg zu einer vorsichtigen Politik der Öffnung                            Osten«-Konzept in Iran neuen
gegenüber den USA ebnen sollte. Rohani verband mit                                     Auftrieb.
der Beilegung des Atomkonflikts die Hoffnung, auch
abseits der Nuklearthematik mit westlichen Akteuren                      Durch den Rückzug der USA aus der Vereinbarung
eine Einigung in sicherheitspolitisch relevanten                      gelang es Iran jedoch nicht, seine nuklearpolitischen
Fragen erzielen zu können. Sein Versuch scheiterte                    Ziele umzusetzen. Gleichzeitig entfaltete die US-
jedoch spätestens, als die US-Administration unter                    amerikanische Sanktionspolitik unmittelbar Auswir-
Donald Trump im Mai 2018 bekanntgab, dass sie sich                    kungen auf die Außenhandelsbeziehungen Irans zu
von ihren Verpflichtungen aus der Atomvereinbarung                    anderen Staaten – die Mitglieder der Europäischen
zurückziehen werde. Gleichzeitig kündigte Washing-                    Union eingeschlossen. Zahlreiche europäische Groß-
ton eine Politik des »maximalen Drucks« gegenüber                     unternehmen stellten ihre wirtschaftliche Zusam-
Iran an, die eine erneute Nuklearkrise auslöste.                      menarbeit mit Iran aus Sorge vor Bußgeldern und
   Zuvor schien mit dem JCPOA ein Konflikt beigelegt                  Benachteiligungen auf dem US-amerikanischen Markt
worden zu sein, der mehr als zwölf Jahre lang nicht                   ein. Die Politik des maximalen Drucks verlieh dem
nur Gegenstand internationaler Verhandlungen, son-                    »Blick nach Osten«-Konzept in Iran neuen Auftrieb.
dern auch der inneriranischen Debatte gewesen war.                    Als sich abzeichnete, dass die Trump-Administration
Die Krise um das iranische Atomprogramm galt in der                   ihren Teil der Atomvereinbarung nicht mehr einlösen
Islamischen Republik lange Zeit als größte außen-                     würde, räumte Revolutionsführer Khamenei im
politische Herausforderung seit dem Iran-Irak-Krieg                   Februar 2018 den Beziehungen zu den asiatischen
(1980–1988).7 Dass der Konflikt auf diplomatischem                    und eurasischen Partnern erneut außenpolitischen
Wege beigelegt werden konnte, wurde daher zunächst                    Vorrang ein: »Es gehört zu unseren derzeitigen Prio-
als bedeutender Erfolg der Regierung der sogenann-                    ritäten in der Außenpolitik, dass wir den Osten
ten Pragmatisten unter Präsident Rohani gewertet.                     gegenüber dem Westen bevorzugen, die Nachbar-
                                                                      schaft der Ferne vorziehen und den Völkern und
  7 Seyyed Hossein Mousavian, The Iranian Nuclear Crisis. A           Staaten, mit denen wir gemeinsame Anliegen teilen,
  Memoir, Washington, D.C.: Carnegie Endowment for Inter-             gegenüber allen anderen den Vorzug geben.«8 Seither
  national Peace, 2012, S. 1. Die Beilegung des Atomkonflikts         plädiert Khameneis außenpolitischer Berater Velayati
  wurde zudem von vielen Seiten als wesentliche nationale             nachdrücklich für eine »Blick-nach-Osten-Diplomatie«
  Frage und bedeutendste Aufgabe der iranischen Außen-
  politik angesehen, vgl. unter anderem Nasim Allah Ujaghlu,
  Eine umfassende Bewertung des iranischen Atomdossiers (persisch),
  Teheran: Moalef, 2005, S. 110; Kazem Gharib-Abadi, Die                8 »Sechs Gründe für die Präferenz des Ostens gegenüber
  nationale Atombewegung (persisch), Teheran 2008, S. 122;              dem Westen« (persisch), Khamenei,ir (online) 19.2.2018,
  Hassan Rohani, Nationale Sicherheit und nukleare Diplomatie            (Zugriff am
  (persisch), Teheran: Center for Strategic Studies, 2012, S. 60.       19.2.2018).

                                                                                                                           SWP Berlin
                                                                                                             Irans »Blick nach Osten«
                                                                                                                      November 2020

                                                                                                                                      9
Der »Blick nach Osten« als außenpolitischer Ansatz

              (diplomasi-ye negah be sharq).9 Ali Shamkhani, Sekretär                 nach Osten zu orientieren.12 Denn das Zentrum des
              des einflussreichen Obersten Rats für Nationale                         globalen Energieverbrauchs wird sich in den nächsten
              Sicherheit, hält eine engere Zusammenarbeit mit dem                     Jahren von der atlantischen in die asiatisch-pazifische
              Osten, vor allem mit Russland und China, gar für                        Region verschieben. Dagegen sinkt der Bedarf nach Öl
              »unausweichlich«.10                                                     auf den europäischen und nordamerikanischen Märk-
                                                                                      ten und die Nachfrage nach Gas stagniert.13
                                                                                         Der Nuklearkonflikt mit der Trump-Administration
              Von strategischer Option zu                                             hat sich bereits in erheblichem Umfang auf die
              strategischer Notwendigkeit                                             Energieexporte des Landes ausgewirkt. Während
                                                                                      Teheran vor Mai 2018 noch mehr als 2,5 Millionen
              Die unter der Trump-Administration forcierte wirt-                      Barrel pro Tag (barrel per day, b/d) Öl und Kondensate
              schaftspolitische Isolation Irans stellte demnach einen                 exportieren konnte, sank der Wert im Zuge der Poli-
              wichtigen Treiber des »Blick nach Osten«-Ansatzes                       tik des maximalen Drucks auf wenige 100 000 b/d. Die
              dar. Im August und November 2018 setzte Washing-                        wichtigsten Abnehmer iranischen Rohöls befanden
              ton nicht nur unilaterale Sanktionen gegen die Isla-                    sich in Asien. Zwischen November 2017 und April
              mische Republik wieder in Kraft, sondern verhängte                      2018 exportierte die Islamische Republik in erster
              darüber hinaus neue Strafmaßnahmen. Die Sanktio-                        Linie Öl an China (648 000 b/d), Indien (501 000 b/d)
              nen der USA richteten sich unter anderem gegen                          und Südkorea (313 000 b/d).14 Der zweitwichtigste Ab-
              iranische Öl- und Gasexporte und deren Abwicklung,                      satzmarkt war in Europa: Vor allem Italien, Spanien,
              gegen die petrochemische Industrie, die iranische                       Frankreich und Griechenland kauften iranisches Öl,
              Automobilindustrie und Schifffahrt sowie den Bau-                       stellten ihre Importe angesichts des anhaltenden
              sektor. Auch Irans Zugang zum internationalen                           US-amerikanischen Sanktionsdrucks jedoch ein.
              Finanzsystem wurde drastisch begrenzt. Zahlreiche
              iranische Banken wurden mit Sanktionen belegt,                              Die Ostorientierung ist für Teheran
              darunter die Iranische Zentralbank. Durch die extra-                       nicht länger eine strategische Option,
              territoriale Reichweite der Strafmaßnahmen wurden                              sondern eine Notwendigkeit.
              zudem Unternehmen außerhalb der USA in ihren
              Möglichkeiten eingeschränkt, den Handel mit Iran                           Dass Iran die Staaten des asiatischen und eurasi-
              aufrechtzuerhalten.                                                     schen Raums zur außenpolitischen Priorität erhoben
                 Die weitreichenden Maßnahmen verschärften die                        hat, ist aber nicht nur auf veränderte wirtschaftliche,
              ohnehin angespannte Wirtschaftslage in Iran. Die                        sondern auch politische Rahmenbedingungen zurück-
              Inflationsrate stieg wieder auf einen zweistelligen                     zuführen. Während die Orientierung nach Osten
              Wert und durch den rapiden Währungsverfall ließ                         unter Ahmadinejad nur eine von mehreren außen-
              die Kaufkraft der iranischen Bevölkerung innerhalb                      politischen Optionen darstellte, galt sie nach dem
              von nur acht Monaten um rund 80 Prozent nach.11                         Scheitern des Atomkompromisses mit den USA in
              Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Misere bot                     weiten Teilen der iranischen Führung als unabding-
              die »Blick nach Osten«-Politik Iran die besten Perspek-                 bar. Der JCPOA diente Teheran als Testlauf für wei-
              tiven für einen ökonomischen Aufschwung. Für den                        tere Vereinbarungen mit westlichen Akteuren jen-
              erdöl- und erdgasexportierenden Staat war es aber                       seits der Nuklearfrage. Befürworter einer Entspan-
              auch aus energiepolitischer Sicht naheliegend, sich                     nungspolitik gegenüber dem Westen hatten stets

                   9 »Velayati: Wir werden die Sanktionen mit einer Diplo-              12 David Jalilvand, »Iran’s Energy Industry: Going East?«,
                   matie des Blicks nach Osten beseitigen« (persisch), Mashreqh         in: Azadeh Zamirirad (Hg.), Forced to Go East? Iran’s Foreign
                   News, 29.8.2018,                   Policy Outlook and the Role of Russia, China and India, Berlin:
                   (Zugriff am 3.9.2018).                                               Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2020 (SWP Middle
                   10 »Iran, China Poised to Adopt Joint Strategy against US«,          East and Africa Division Working Paper 1/2020), S. 6–12 (8).
                   Mehr News, 26.4.2018,          14 Pratish Narayanan, »Here’s How the Biggest Oil Buyers
                   (Zugriff am 10.8.2018).                                              Can Tackle Trump’s Iran Action«, Bloomberg, 9.5.2018,
                   11 »Irans wirtschaftlicher Infarkt« (persisch), Iranian Students      (Zugriff am 24.9.2018).                                (Zugriff am 3.9.2018).

              SWP Berlin
              Irans »Blick nach Osten«
              November 2020

              10
Von strategischer Option zu strategischer Notwendigkeit

argumentiert, dass Iran von einem Atomkompromiss
mit den USA sowohl wirtschaftlich als auch außen-
und sicherheitspolitisch profitieren werde. Doch
obwohl Iran im JCPOA weitreichende Zugeständnisse
gemacht und die Vereinbarung vollständig umgesetzt
hatte, befand sich Teheran kaum drei Jahre nach Ab-
schluss der Übereinkunft erneut in einem Atom-
konflikt mit Washington. Gegner der Vereinbarung
sahen in dem JCPOA daher einen unwiderlegbaren
Beweis dafür, dass eine Politik der Annäherung an
den Westen weder möglich noch mit den nationalen
Interessen des Landes vereinbar sei. Unter diesen
Umständen stellte eine Ostorientierung für Teheran
nicht länger eine strategische Option, sondern eine
Notwendigkeit dar.
   Heute stützt sich der »Blick nach Osten«-Ansatz auf
einen prinzipiellen Konsens unter den politischen
Faktionen im Land und ist überdies vom Revolutions-
führer zum außenpolitischen Grundsatz erhoben
worden. Unterschiedliche Auffassungen bestehen
jedoch hinsichtlich der Frage, wie weitreichend
Teherans Anbindung an asiatische und eurasische
Großmächte sein sollte und ob Iran strategische
Partnerschaften mit diesen anstreben müsse. Wäh-
rend Teile der konservativen Hardliner enge Bünd-
nisse mit Staaten des Ostens befürworten, warnen
Vertreter der pragmatischen Konservativen vor einer
einseitigen Abhängigkeit des Landes. Sie treten dafür
ein, vor allem die Beziehungen zu europäischen
Staaten gleichermaßen zu gewichten. Anhänger und
Kritiker des außenpolitischen Ansatzes finden sich
aber in allen Faktionen. Unter den Befürwortern
besteht zudem keine Einigkeit darüber, ob Teheran in
erster Linie seine Beziehungen zu Moskau oder zu
Peking ausbauen sollte. Schließlich ist die Ostorien-
tierung regelmäßig auch Gegenstand machtpoliti-
scher Auseinandersetzungen im Land und dient poli-
tischen Gruppierungen dazu, die Außenpolitik der
jeweiligen Regierung öffentlich in Frage zu stellen.

                                                                                        SWP Berlin
                                                                          Irans »Blick nach Osten«
                                                                                   November 2020

                                                                                               11
Der »Blick nach Osten« in Irans Ordnungsvorstellungen

             Der »Blick nach Osten« in Irans
             Ordnungsvorstellungen

             Irans »Blick nach Osten« ist Teil einer langfristigen                    die Herausbildung einer »post-westlichen Ordnung«.18
             Vision der Islamischen Republik für eine veränderte                      Revolutionsführer Khamenei zufolge befindet sich
             »internationale Ordnung«. Diese lässt sich als die                       das internationale System bereits in einer Transitions-
             Gesamtheit der Regeln und Institutionen auffassen,                       phase, in deren Verlauf die Staatengemeinschaft in
             die die Beziehungen zwischen Staaten definieren.15                       eine »neue Ordnung« (nazm-e jadid) eintrete.19 Khame-
             Dabei spiegelt die etablierte Ordnung nicht nur die                      nei sieht in dieser Phase eine Chance für die Islami-
             Verteilung politischer Macht wider; sie ist auch Aus-                    sche Republik, ihrer historisch gewachsenen Rolle
             druck gemeinsamer Prinzipien, Erwartungen und                            gerecht zu werden. Die Vorstellung, dass Iran ein
             Normen, von denen Staaten sowohl profitieren als                         herausragender Part im internationalen Gefüge zu-
             auch Schaden nehmen können.16 Internationale                             kommt, speist sich aus dem Umstand, dass das Land
             Ordnung kann unter anderem das Ergebnis eines                            auf eine lange Zivilisationsgeschichte zurückblicken
             Konflikts sein, in dem sich Status-quo-Mächte und                        kann und einst als Perserreich eine Weltmacht dar-
             aufstrebende Staaten gegenüberstehen.17 Teherans                         stellte. Schon unter Schah Mohammad Reza Pahlavi
             Zuspruch und Unterstützung gilt eben jenen auf-                          verstand sich Teheran als »Zivilisationsmacht« mit
             strebenden Staaten, die den Willen und die Kapazität                     historischer Bestimmung.20
             haben, das internationale System nachhaltig zu                              Auch heute noch besitzt die Islamische Republik
             verändern.                                                               wesentliche Voraussetzungen einer bedeutenden
                                                                                      Regionalmacht. Der 80-Millionen-Staat verfügt nicht
                                                                                      nur über die viertgrößten Erdölvorkommen weltweit,
             Internationale Ordnung aus Sicht der                                     sondern auch über die zweitgrößten Reserven an
             Islamischen Republik                                                     Erdgas. Das Land grenzt an wichtige Wasserstraßen
                                                                                      und Engpässe, die elementare Kommunikations- und
             Die Islamische Republik lehnt eine maßgeblich von                        Transportwege für die globale Wirtschaft und ins-
             den USA geprägte internationale Ordnung ab. Eine                         besondere den Energieverkehr darstellen, darunter
             Weltordnung, in der Iran wirtschaftlich und politisch                    das Arabische Meer, den Golf von Oman und die
             marginalisiert werden kann, steht im Widerspruch zu                      Straße von Hormus. Geografisch verbindet Iran gleich
             Teherans Anspruch, seinen Pariastatus zu überwin-
             den und als Regionalmacht im Nahen und Mittleren
                                                                                        18 Für eine Erörterung des Begriffs der »post-westlichen«
             Osten anerkannt zu werden. Iran begrüßt daher den                          Ordnung vgl. Oliver Stuenkel, Post Western World. How Emerg-
             relativen Bedeutungsverlust der Weltmacht USA und                          ing Powers Are Remaking Global Order, Cambridge: Polity Press,
                                                                                        2016.
                                                                                        19 »Äußerungen Khameneis bei einer Zusammenkunft mit
                                                                                        dem Expertenrat« (persisch), Khamenei.ir (online), 4.9.2014,
                  15 G. John Ikenberry, »The Rise, Character, and Evolution              (Zugriff
                  of International Order«, in: Orfeo Fioretos / Tulia G. Falleti /      am 10.10.2019).
                  Adam Sheingate (Hg.), The Oxford Handbook of Historical Insti-        20 Anoushiravan Ehteshami / Gawdat Bahgat, »Iran’s
                  tutionalism, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 539.           Asianisation Strategy«, in: Annalisa Perteghella (Hg.), Iran
                  16 Ebd.                                                               Looking East. An Alternative to the EU?, Mailand: Istituto per gli
                  17 T. V. Paul (Hg.), The China-India Rivalry in the Globalization     Studi di Politica Internazionale, November 2019, S. 11–40
                  Era, Washington, D.C.: Georgetown University Press, 2018,             (19),  (Zugriff am 9.3.2020).

             SWP Berlin
             Irans »Blick nach Osten«
             November 2020

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Internationale Ordnung aus Sicht der Islamischen Republik

mehrere Subregionen miteinander, wie etwa die                          Im Zentrum der iranischen Ordnungsvorstellungen
Levante, den Persischen Golf, die Kaspische Region                 steht die weltweite Gemeinschaft der Muslime (umma).
und Zentralasien. Nach Ansicht des Revolutions-                    Die Islamische Republik strebt nach einer Reform der
führers erfüllt Iran aber nicht nur die materiellen                globalen Ordnung, an deren Ende das Ideal einer
Voraussetzungen, um eine ordnungspolitische Rolle                  staatenübergreifenden islamischen Weltgesellschaft
einnehmen zu können. Iran biete auch eine ideelle                  verwirklicht ist.24 Damit unterscheidet sich die irani-
Alternative zum westlichen Wertesystem, das sich                   sche Konzeption grundlegend vom Westfälischen
laut Khamenei im Niedergang befindet.21 Für die                    Modell eines internationalen Systems, das auf souve-
iranische Führung wird der Westen weder den ideel-                 ränen Nationalstaaten beruht. Der iranische Ord-
len noch den wirtschaftlichen Bedürfnissen von                     nungsansatz ist nicht staatszentriert, sondern
Gesellschaften gerecht. Aus Sicht Teherans zeichnet                glaubensbasiert. Damit wird der Islam zur konstituti-
sich das westliche Entwicklungsmodell dadurch aus,                 ven Ordnungseinheit im internationalen System. Ziel
dass es vor allem auf ökonomisches Wachstum setzt                  ist es, Einheit (vahdat) in der umma zu schaffen. Dies
und Wohlstand nur für einen kleinen Teil der Bevöl-                ist bereits in der iranischen Verfassung als außenpoli-
kerung generiert. Iran propagiert dagegen ein islami-              tisches Leitprinzip festgelegt. Iran schwebt das Ideal
sches Verteilungsprinzip, das allen sozialen Schichten             einer gemeinsamen Sphäre islamischer Souveränität
Prosperität verspricht. Nur in einer Gemeinschaft, in              vor, in der muslimische Glaubensprinzipien auch die
der islamische Werte und Normen handlungsleitend                   Grundlage für internationale Normen und Standards
sind, ist nach Teherans Überzeugung eine gerechtig-                sein können.
keitsbasierte Ordnung möglich. Das Motiv der                           Die Vision basiert auf dem Selbstverständnis der
»Gerechtigkeit« (edalat) nimmt eine herausragende                  Islamischen Republik als Vorbild und Führungsmacht
Stellung im ordnungspolitischen Diskurs des Landes                 in der umma. Diese Grundauffassung kommt unter
ein. Gerechtigkeit wird hier als ein aus dem Koran                 anderem darin zum Ausdruck, dass Revolutions-
abgeleitetes, wesentliches Prinzip von Herrschaft                  führer Khamenei im medialen Diskurs oft als »Vor-
aufgefasst.22 Die Islamische Republik betrachtet es als            mund der muslimischen Welt« (vali amr-e moslemin-e
eine Mission, politische, wirtschaftliche und soziale              jahan) bezeichnet wird. Die ideelle Expansion über
Gerechtigkeit auf globaler Ebene zu schaffen,23 ob-                die eigenen Staatsgrenzen hinaus bedeutet, dass Iran
wohl es ihr auch vierzig Jahre nach der Staatsgrün-                nicht nur staatliche, sondern auch suprastaatliche
dung nicht gelungen ist, dieses Versprechen im                     Interessen zu verfolgen hat. Auch wissenschaftlicher
eigenen Land einzulösen.                                           und technologischer Fortschritt erfolgen hier im
   Die islamische Utopie wird einem westlich domi-                 Dienst der umma. Dieses Motiv ist unter anderem
nierten Staatensystem gegenübergestellt, das sich                  fester Bestandteil des iranischen Atomdiskurses, in
durch eine erhebliche Ungleichverteilung von Res-                  dem das Nuklearprogramm zur Errungenschaft für
sourcen und politischer Macht auszeichne. Die irani-               die gesamte muslimische Gemeinschaft erhoben
sche Haltung manifestiert sich unter anderem darin,                wird.25
dass die Führung in Teheran für eine grundlegende                      Im Jahr 2005 gab die Islamische Republik in einem
Reform internationaler Organisationen wie der Ver-                 Strategiepapier erstmals mittelfristige Ambitionen
einten Nationen (UN) eintritt, deren Strukturen sie                bekannt. In der Vision 2025 für die sozioökonomische
als Ausdruck institutionalisierter Ungerechtigkeit                 Entwicklung des Landes formulierte Teheran den
ansieht. So lehnt Iran eine Konstellation ab, in der               Anspruch, innerhalb von zwanzig Jahren wirtschaft-
fünf Atommächte über einen permanenten Sitz im                     lich, technologisch und wissenschaftlich zur führen-
UN-Sicherheitsrat und Vetorechte verfügen, und                     den Nation in Südwestasien aufzusteigen.26 Unter
fordert, die Generalversammlung gegenüber dem
Sicherheitsrat zu stärken.                                           24 Dehghani Firooz-Abadi, »The Islamic Republic of Iran
                                                                     and the Ideal International System«, in: Anoushiravan
                                                                     Ehteshami / Reza Molavi (Hg.), Iran and the International System,
  21 »Äußerungen Khameneis« [wie Fn. 19].                            Routledge, 2012, S. 43–59 (44).
  22 Jahangir Amuzegar, »Islamic Social Justice, Iranian             25 Azadeh Zamirirad, Irans Atomdiskurs. Eine subsystemische
  Style«, in: Middle East Policy, 14 (2007) 3, S. 60–78 (60).        Analyse außenpolitischer Präferenzen in der iranischen Nukleardiplo-
  23 Zahra Pishgahi Fard / Bahadar Zarari, »Islamische Gerech-       matie (2003–2015), Baden-Baden: Ergon, 2019, S. 117–120.
  tigkeit und kritischer Diskurs in der Außenpolitik Irans«          26 Das Dokument zur Vision 2025 (persisch) ist auf der
  (persisch), in: Faslname-ye Siyasat, 40 (2010), S. 75–92 (83).     Website des Revolutionsführers abrufbar:

                                                                                                                            SWP Berlin
                                                                                                              Irans »Blick nach Osten«
                                                                                                                       November 2020

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Der »Blick nach Osten« in Irans Ordnungsvorstellungen

             diese geografische Bezeichnung wurden in dem                             Außenpolitische Prinzipien und Vorstellungen von
             Dokument unter anderem Zentralasien und der Nahe                      nationaler Souveränität sind unter anderem in Kapi-
             und Mittlere Osten subsumiert. 2018 veröffentlichte                   tel 5 und 10 der iranischen Verfassung niedergelegt.
             der Revolutionsführer ein neues Papier, das nunmehr                   Diese erkennt das Prinzip souveräner Staaten an.
             Ziele für die kommenden fünf Jahrzehnte festlegt.                     »Absolute Souveränität« (hakemiyat-e motlaq) wird indes
             Der »Islamisch-iranische Entwurf für Fortschritt«                     allein Gott zugeschrieben (Art. 56). Zugleich schreibt
             (Vision 2065) sieht unter anderem vor, dass Iran bis                  die Verfassung Verpflichtungen fest, die die eigenen
             2065 im Bereich von Wissenschaft und Technologie                      Staatsgrenzen überschreiten. Sie sieht vor, dass Iran
             zu den weltweit führenden fünf Staaten aufsteigt.27                   die Rechte »aller Muslime« verteidigt (Art. 152) und
             In dem neuen Strategiedokument bekräftigt Teheran                     überall auf der Welt »Unterdrückte« (mostazafin) in
             nicht nur sein Bekenntnis, Einheit in der umma                        ihrem Kampf gegen die »Unterdrücker« (mostakbarin)
             herstellen zu wollen. In der Vision 2065 wird auch das                unterstützt (Art. 154). Der Unterdrückungstopos ist
             Ideal einer »neuen islamischen Zivilisation« (tamadon-                Teil der Dritte-Welt-Ideologie29 der Islamischen Repu-
             e novin-e eslami) gepriesen und damit einmal mehr das                 blik, die es als einen politischen Auftrag begreift,
             Heilsversprechen einer islamischen Ordnungsutopie                     gegen hegemoniale, kolonialistische und imperialis-
             hochgehalten.                                                         tische Akteure aufzubegehren. Dabei betrachtet
                                                                                   Teheran vor allem die USA und Israel als Archetypen
                                                                                   unterdrückender Herrschaft. Die Unterstützung der
             Teheran als revisionistischer Akteur                                  Palästinenser ist für die iranische Führung daher eine
                                                                                   transnationale Verpflichtung mit Verfassungsrang.
             Mit ihren ordnungspolitischen Vorstellungen reiht                     Der Beistand, den die Islamische Republik leistet, ist
             sich die Islamische Republik in die Riege jener                       aber keineswegs nur auf die muslimische Gemein-
             Staaten ein, die einen revisionistischen Ansatz in der                schaft beschränkt. Iran erhebt den Anspruch, für
             internationalen Politik verfolgen. Der Revisionismus                  jegliche Befreiungsbewegung und die Interessen des
             drückt sich in Irans Selbstverständnis aus, innerhalb                 gesamten Globalen Südens einzutreten.
             der Staatengemeinschaft ein revolutionärer (enqelabi)                    In der Gründungsphase der Islamischen Republik
             Akteur zu sein, der den Status quo in Frage stellt und                drückte sich der revisionistische Ansatz in dem
             einen grundlegenden Wandel der bestehenden inter-                     Bestreben aus, das eigene Staatsmodell auch mittels
             nationalen Ordnung anstrebt. Der Pariastatus, der                     Zwang in andere Länder zu übertragen. Teherans
             Iran anhaftet, ist nach Außenminister Javad Zarif auf                 Revolutionsexport blieb jedoch erfolglos. Im Zuge des
             eben jene revolutionäre Identität zurückführen. Laut                  Iran-Irak-Krieges (1980–1988) setzte sich die Einsicht
             Zarif wird die Islamische Republik als Bedrohung                      durch, dass der Versuch, das eigene politische und
             wahrgenommen, weil sie ein islamisches Staats-                        gesellschaftliche System zu verbreiten, lediglich dazu
             modell etabliert hat, das Interessen jenseits der eige-               beitrug, Iran in der Nachbarschaft zu isolieren. Spä-
             nen Grenzen definiert. Dies unterscheide Iran von                     testens seit Ende der 1980er Jahre verfolgt Iran einen
             anderen muslimischen Staaten.28                                       Ansatz in seiner Außenpolitik, bei dem die politische
                                                                                   Ideologie hintangestellt wird. Iran setzt seither nicht
                                                                                   länger allein auf revolutionäre Umbrüche, sondern
                  . Eine
                                                                                   auch auf graduelle Veränderungen und strukturelle
                  englische Übersetzung findet sich hier:
                  
                                                                                   Reformen des internationalen Systems. Im Mittel-
                  (Zugriff jeweils am 2.4.2019).                                   punkt seiner Außenpolitik steht nicht die gewaltsame
                  27 Das Dokument zur Vision 2065 (persisch) ist auf der           Expansion eigener Ordnungsvisionen, sondern die
                  Website des Revolutionsführers abrufbar:                         Vorstellung, dass eine islamische Weltgemeinschaft
                   (Zugriff       die natürliche Folge einer Verbreitung islamischer
                  am 19.5.2019).                                                   Werte und Normen sein würde.
                  28 Hierzu bemerkt Zarif: »Wieso hat Malaysia diese Pro-             Von dem Ziel, Einheit in der umma zu schaffen, ist
                  bleme nicht? Weil Malaysia keine Änderung der internatio-        Iran weit entfernt. Auch ist es der Islamischen Repu-
                  nalen Ordnung anstrebt. […] Dagegen haben [wir] in der Ver-      blik nicht gelungen einen machtpolitischen Block
                  fassung und in den Zielsetzungen der Islamischen Revolu-
                  tion eine globale Vision festgeschrieben«, vgl. Mohammad
                  Javad Zarif, Herr Botschafter. Ein Gespräch mit Mohammad Javad     29 Nikki R. Keddie, Iran and the Muslim World. Resistance and
                  Zarif (persisch), Teheran: Nashr-e Ney, 2013, S. 235.              Revolution, London: Palgrave Macmillan, 1995, S. 213.

             SWP Berlin
             Irans »Blick nach Osten«
             November 2020

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Regionale Integration und Sicherheitsordnung

muslimischer Staaten zu bilden, der das Potential                 14,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt.31 China
hätte, die weltpolitische Ordnung maßgeblich zu                   ist nicht nur der größte Ölabnehmer Irans in Asien,
prägen. Vielmehr sind Teherans außenpolitische                    sondern auch der bedeutendste ausländische Investor.
Beziehungen zu anderen Regionalakteuren, speziell                 Chinesische Unternehmen bauen im Rahmen der BRI
am Persischen Golf, durch anhaltende Spannungen                   unter anderem Staudämme, Flughäfen und Auto-
gekennzeichnet. Dem Anspruch Irans, eine Führungs-                bahnen im Land. Als Teil des China-Central Asia-West
rolle in der islamischen Welt einzunehmen, sind                   Asia Economic Corridor soll Iran langfristig als Land-
unter anderem dadurch Grenzen gesetzt, dass Schii-                brücke zwischen Asien und Europa fungieren. Auch
ten nur schätzungsweise zehn bis zwanzig Prozent                  Indien ist an Infrastrukturprojekten in Iran beteiligt.
der muslimischen Gläubigen weltweit ausmachen.                    Neu-Delhi hat in den Ausbau des iranischen Tiefsee-
Auch das theokratisch-republikanische System Irans,               hafens Chabahar investiert. Das Großprojekt würde
das auf Führung durch schiitische Rechtsgelehrte                  die Transportkosten von und nach Zentralasien deut-
basiert, stellt für einen Großteil der umma kein er-              lich senken und Iran mit dringend benötigter harter
strebenswertes politisches Modell dar. Zudem ist Irans            Währung versorgen. Im Zuge der Umsetzung des
antiamerikanische und antiisraelische Außenpolitik                russisch-indischen INSTC-Projekts sollen zudem neue
mit den Interessen zahlreicher muslimischer Staaten               Bahntrassen, Fernstraßen und Seewege entstehen, die
nicht vereinbar, die sicherheitspolitisch enge Bezie-             die Transportzeit auf der bisher genutzten Strecke für
hungen mit den USA unterhalten. Die Islamische                    den Warenverkehr nahezu halbieren. Durch seine
Republik hat daher stets auch anderweitig nach Ver-               zentrale Stellung in den beiden asiatischen Groß-
bündeten gesucht, die ihren revisionistischen Ansatz              projekten könnte Iran auf absehbare Zeit zur wich-
teilen.                                                           tigsten Drehscheibe für den zentralasiatischen Handel
                                                                  und Transport werden. Ein derartiger Status stünde
   Im Aufstieg revisionistischer Akteure                          im Einklang mit Irans Selbstverständnis als bedeuten-
    sieht Iran die Chance, einer neuen                            der Regionalmacht und mit den nationalen Zielen,
       Ordnung den Weg zu bahnen.                                 die sich die Islamische Republik in ihren Strategie-
                                                                  papieren Vision 2025 und Vision 2065 gesetzt hat.
   Im wirtschaftlichen Aufstieg revisionistischer
Akteure sieht die iranische Führung eine Chance, das
globale Machtgefüge nachhaltig zu verändern und da-               Regionale Integration und
durch einer neuen Ordnung den Weg zu bahnen. Sie                  Sicherheitsordnung
begrüßt den globalen ökonomischen Wandel, in
dessen Verlauf sich wirtschaftliche Macht von Westen              Irans ordnungspolitische Vision geht auch mit sicher-
nach Osten verlagert, insbesondere nach Asien.30 Die              heitspolitischen Erwägungen einher. Die Islamische
Islamische Republik befindet sich an einer Schnitt-               Republik strebt danach, mittelfristig eine gemein-
stelle zwischen zwei bedeutenden regionalen Infra-                same Sicherheitsstruktur in ihrer Nachbarschaft zu
strukturprojekten im eurasischen Raum, der chine-                 errichten und eine dauerhafte militärische Präsenz
sischen Belt-and-Road-Initiative (BRI) und dem von                der USA in der Region zu unterbinden. Sicherheits-
Russland und Indien vorangetriebenen Internatio-                  politische Zugewinne verspricht sie sich vor allem
nalen Nord-Süd-Transportkorridor (INSTC, siehe Karte,             von einer stärkeren regionalen Integration. Irans Mit-
S. 16). Beide Projekte gehen mit erheblichen Investi-             gliedschaft in regionalen Formaten wie der Organi-
tionen in Iran einher und vertiefen Teherans wirt-                sation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (ECO) ist
schaftspolitische Integration in Eurasien. Dabei wird             daher nicht nur von ökonomischen Interessen ge-
der Investitionsbedarf allein in der Transportinfra-              leitet. Die Islamische Republik erhofft sich von der
struktur des Landes von der iranischen Regierung auf              Teilnahme an multilateralen Formaten auch, mit
                                                                  den Akteuren in ihrer Nachbarschaft gemeinsame
                                                                  strategische Ziele definieren und sich mit diesen in

  30 Vgl. unter anderem John Hawksworth / Anmol Tiwari,             31 Mohsen Shariatinia / Hamidreza Azizi, »Iran-China
  The World in 2050 – The Accelerating Shift of Global Economic     Cooperation in the Silk Road Economic Belt. From Strategic
  Power: Challenges and Opportunities, London: Pricewaterhouse-     Understanding to Operational Understanding«, in: China &
  Coopers, 2011.                                                    World Economy, 25 (2017) 5, S. 46–61 (52).

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                                                                                                         Irans »Blick nach Osten«
                                                                                                                  November 2020

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Der »Blick nach Osten« in Irans Ordnungsvorstellungen
Karte

Iran im Zentrum regionaler Großprojekte

                     SWP Berlin
                     Irans »Blick nach Osten«
                     November 2020

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Regionale Integration und Sicherheitsordnung

zentralen Sicherheitsfragen abstimmen zu können.32                    hat die Islamische Republik stets Anschluss an inter-
Dies gilt insbesondere für Plattformen, denen maß-                    nationale Verbünde gesucht, in denen westliche
gebliche Regionalmächte angehören. Vor diesem                         Akteure keine Funktionen innehaben, beispielsweise
Hintergrund stellte Iran bereits 2008 einen Antrag auf                die Organisation für Islamische Zusammenarbeit.
Vollmitgliedschaft in der Shanghaier Organisation für                 Daneben haben iranische Amtsträger wiederholt
Zusammenarbeit (Shanghai Cooperation Organisation,                    eigene Vorschläge für Sicherheitskooperationen in
SCO). Schwerpunkt der SCO ist eine verstärkte wirt-                   der Region unterbreitet, darunter die 2019 von
schaftliche, politische, aber auch militärische Koope-                Rohani verkündete Initiative Hormuz-Peace-Endeavor
ration in Asien und Eurasien. Neben China und Russ-                   (HOPE) oder das von Zarif entworfene Konzept von
land gehören ihr auch Indien und Pakistan sowie                       Sicherheitsnetzwerken. Zarif geht bei seinem Ansatz
Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan und Kasachstan                   davon aus, dass sich regionale Akteure auf grund-
an. Damit stellt die SCO die größte Regionalorgani-                   legende Prinzipien wie die Achtung der territorialen
sation ihrer Art dar. Bislang verfügt die Islamische                  Integrität, das Selbstbestimmungsrecht der Staaten
Republik lediglich über einen Beobachterstatus.                       und den Verzicht auf Androhung militärischer Ge-
                                                                      walt verständigen könnten.33 Mit derartigen Vor-
    Iran könnte auf absehbare Zeit zur                                stößen ist Teheran bislang jedoch kaum auf Zustim-
     wichtigsten Drehscheibe für den                                  mung gestoßen. Für arabische Golfmonarchien wie
    zentralasiatischen Handel werden.                                 Bahrain oder Saudi-Arabien stellen sie keine glaub-
                                                                      würdigen Versuche dar, die Sicherheitsinteressen
   Irans Anliegen, zu einem vollwertigen Mitglied der                 aller Akteure zu wahren. Vielmehr betrachten sie
SCO zu werden, ist von der Hoffnung getragen, dass                    Teheran selbst als destabilisierenden Faktor in der
das Forum in absehbarer Zukunft kollektive Vertei-                    Region und werfen der Islamischen Republik vor,
digungsstrukturen ausbilden könnte. Die Mitglied-                     in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein-
staaten haben ihre militärische und geheimdienst-                     zugreifen.
liche Zusammenarbeit im letzten Jahrzehnt schritt-                       Während Irans sicherheitspolitische Initiativen
weise ausgebaut und gemeinsame Militärübungen                         bis dato ohne Erfolg blieben, ist es Teheran in den
abgehalten. Doch es bestehen grundlegende Differen-                   letzten Jahren gelungen, abseits des Persischen Golfs
zen zwischen Irans Ambitionen im Hinblick auf die                     Formate zu gründen, die eine stärkere sicherheits-
SCO und den Vorstellungen anderer SCO-Akteure,                        politische Abstimmung mit der erweiterten Nachbar-
allen voran China, die die Organisation nicht als                     schaft erlauben. Dies unterscheidet die heutige Blick-
Plattform für ein Verteidigungsbündnis betrachten.                    nach-Osten-Politik von ihren frühen Ansätzen unter
Gleichwohl sieht Teheran derartige Foren als Chance,                  Präsident Ahmadinejad. Die Islamische Republik setzt
langfristig seine sicherheitspolitischen Interessen                   nicht mehr vornehmlich auf bestehende Institutio-
umsetzen und strategische Defizite kompensieren zu                    nen, sondern vermehrt auf semi-formalisierte Platt-
können, die daraus erwachsen, dass die Islamische                     formen. Derartige Foren haben sich für Iran als gute
Republik weder über Bündnispartner auf zwischen-                      Möglichkeit erwiesen, seine Sicherheitspolitik mit
staatlicher Ebene verfügt noch Sicherheitsgarantien                   anderen Akteuren zu koordinieren. Im Rahmen des
durch externe Akteure erhält, die Teheran im Kon-                     Astana-Prozesses konnte Iran unter anderem sein
fliktfall militärischen Beistand leisten würden. Dies                 militärisches Engagement im Syrien-Krieg mit Russ-
unterscheidet Iran von seinen Nachbarstaaten am                       land und der Türkei abstimmen. In Anlehnung an
Persischen Golf, zum Beispiel von Saudi-Arabien oder                  das Astana-Format hat die Islamische Republik im
den Vereinigten Arabischen Emiraten.                                  September 2018 einen »Regionalen Sicherheitsdialog«
   Um ihrer sicherheitspolitischen Isolation zu ent-                  initiiert. Gegenstand des ersten Treffens, das in Tehe-
gehen und die regionale Integration voranzutreiben,                   ran stattfand, war die Sicherheitslage in Afghanistan.
                                                                      An dem Austausch waren neben Kabul auch Russ-
                                                                      land, China und Indien beteiligt. Obwohl Afghanistan
  32 Azadeh Zamirirad, Iran und Russland. Perspektiven der bi-
  lateralen Beziehungen aus Sicht der Islamischen Republik, Berlin:
  Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2017 (SWP-Studie             33 Mohammad Javad Zarif, »Iran Can Set a Post-Isis Secu-
  7/2017), S. 24,  (Zugriff am                 (Zugriff am 23.1.2018).

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                                                                                                               Irans »Blick nach Osten«
                                                                                                                        November 2020

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