Italienische Militärinternierte in Hamburg. Ein Forschungsbericht - Uni-DUE

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Holger Artus1

Italienische Militärinternierte in Hamburg.
Ein Forschungsbericht

Obgleich der Einsatz von Zwangsarbeit in deutschen Städten und in der
Landwirtschaft während des Faschismus für die Bevölkerung offensichtlich
war und auch in der Tagespresse zum Zweck der Abschreckung über die
Repressionen gegen sogenannte „Fremdarbeiter“ berichtet wurde, begann
die Erforschung dieses Themas auch im Rahmen der Forschung zum Na-
tionalsozialismus vergleichsweise spät. Mittlerweile ist davon auszugehen,
dass etwa zehn Millionen ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene
in Deutschland arbeiteten. Trotz Unterschieden in der Behandlung ver-
schiedener ethnischer Gruppen und Zugehörigkeiten war diese überwie-
gend durch den Charakter der ausgeübten Zwangsarbeit charakterisiert, der
sich im Verlaufe des Krieges entsprechend verschärfte. Mit dem Sieg der Par-
tisanen über den italienischen Faschismus wurden 650.000 italienische
Soldaten erst zu Kriegsgefangenen und dann zu Militärinternierten ge-
macht. Dieser Forschungsbericht ist aus den Aktivitäten des Autors zur Er-
forschung der Situation der Italienischen Militärinternierten (IMi) in
Hamburg entstanden, die mehrere Tausend von insgesamt circa 500.000
Zwangsarbeitern in Hamburg ausmachten.2
    1
      Der Autor hat eine ganze Reihe von Forschungen zur Lokalgeschichte der Zwangsarbeit in
Hamburger Unternehmen und zu Personen, derer mit Stolpersteinen gedacht wird, durchgeführt.
Sie sind alle dokumentiert unter [https://blog.holgerartus.eu/]. Auf Anfrage der SGO hat er in die-
sem Text den Stand seiner Forschungen zu den Italienischen Militärinternierten in Hamburg zusam-
mengefasst. Die SGO sieht in diesen Forschungen eine Linie fortgesetzt, die mit den Geschichts-
werkstätten in den 1980er Jahren einen Anfang nahm: Michael Wildt, Geschichtswerkstätten:
Nachbemerkungen zum 4. Geschichtsfest ’88 in Hannover, 1999, 3 (1988), 4, S. 155–157.
    2
      Nachdem das Thema der Zwangsarbeit von „Fremdarbeitern“ erst verhältnismäßig spät in den
Fokus der Forschung zum Nationalsozialismus gerückt war, liegen mittlerweile verschiedene Über-
blickdarstellungen vor: Gabriele Hammermann, Zeugnisse der Gefangenschaft: Aus Tagebüchern
und Erinnerungen italienischer Militärinternierter in Deutschland 1943–1945, Berlin 2014; Cesare
Bermani / Sergio Bologna / Brunello Mantelli, Proletarier der „Achse“: Sozialgeschichte der

Sozial.Geschichte Online 31 (2022), S. 101–108 (https://sozialgeschichte-online.org)          101
Unmittelbar nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus ermittelte die
britische Armee am 10. Mai 1945 rund 110.000 Zwangsarbeiterinnen
und Zwangsarbeiter in Hamburg, die in über 500 Lagern untergebracht
waren. Mehrere Tausend von ihnen waren italienische Militärinternierte.
Bis 1943 wurden diese Menschen als Verbündete der deutschen Wehr-
macht angesehen, doch als die neue Regierung Italiens nach dem Sturz
Mussolinis am 8. September 1943 einen Waffenstillstand verkündet
hatte, änderte sich dies, und die italienische Armee im Deutschen Reich
wurde entwaffnet. Die Männer standen vor der Alternative, an der Seite
Nazideutschlands zu stehen oder in deutsche Gefangenschaft zu gehen.

italienischen Fremdarbeit in NS-Deutschland 1937 bis 1943, Berlin 1997; Ralf Lang, Italienische
„Fremdarbeiter“ im nationalsozialistischen Deutschland 1937–1945, Frankfurt am Main 1996;
Friederike Littmann, Ausländische Zwangsarbeiter in der Hamburger Kriegswirtschaft 1939–1945,
Hamburg 2006; Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der
Kriegswirtschaft des Dritten Reichs, Bonn 1985.
     Auch im Internet sind mittlerweile wichtige Quellen zugänglich: Das „Dokumentationszentrum
NS-Zwangsarbeit“ der Stiftung „Topographie des Terrors“ hat eine Ausstellung zu den IMis erarbei-
tet: [https://www.ns-zwangsarbeit.de/italienische-militaerinternierte/]. Basierend auf den Forschun-
gen von Friederike Littmann hat die Landeszentrale für Politische Bildung Hamburg in Zusammen-
arbeit mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme auf einer Webseite die geographische Lage der
Zwangsarbeitslager in Hamburg kartographiert: [https://zwangsarbeit-in-hamburg.de/].
     Sowohl in „1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts“ als auch in der
„Sozial.Geschichte Online“ (SGO) sind Artikel zur (regionalen) Erforschung der Zwangsarbeit
erschienen: Hermann Kaienburg, Ausländische Arbeiter, Arbeitszwang und rassistische Gesell-
schaftsordnung. Offene Fragen nach dem Mülheimer Symposium über die Ausländerarbeit in der
deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, in: 1999, 4 (1989), 3, S. 171–175; Gerd Wysocki, Zwangsar-
beit in der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, in: 1999, 4 (1989), 3, S. 134–144; Connie Kristel,
Mercedes gedenkt zijn Ex-Werknemers, in: 1999, 4 (1989), 4, S. 113–115; Gerben Kuitert, Zwei
ehemalige niederländische Zwangsarbeiter im Gespräch mit Gerben Kuitert, in: 1999, 4 (1989), 4,
S. 115–118; Dieter Vaupel, Unauslöschbare Spuren – Zwangsarbeiterinnen der Dynamit AG berich-
ten nach mehr als vierzig Jahren, in: 1999, 3 (1989), 4, S. 60–74; Ernst Kaiser / Michael Knorn,
Die Adlerwerke und ihr KZ-Außenlager – Rüstungsproduktion und Zwangsarbeit in einem Frank-
furter Traditionsbetrieb, in: 1999, 7 (1992), 3, S. 11–42; Ludwig Eiber, Außenlager des KZ Neuen-
gamme auf den Hamburger Werften, in: 1999, 10 (1995), 2, S. 15–63; Sämtliche Beiträge der „1999“
sind online zugänglich: [http://www.digizeitschriften.de/dms/toc/?PID=PPN884817873].
     In der SGO sind zu diesem Thema erschienen: Andrea Rudorff, Arbeit und Vernichtung re-
considered: Die Lager der Organisation Schmelt für polnische Jüdinnen und Juden aus dem annek-
tierten Teil Oberschlesiens, in: Sozial.Geschichte Online, 7 (2012), S. 10–39, [https://duepu-
blico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00028067]; Christian Hartz, Ökonomie und Ent
schädigung nationalsozialistischer Zwangsarbeit, in: Sozial.Geschichte Online, 15 (2015), S. 8–34,
[https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00037304].

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FORSCHUNG / RESEARCH

Die meisten von ihnen wollten nicht weiter in den Krieg ziehen. Aus
650.000 italienischen Soldaten wurden sogenannte italienische Militärin-
ternierte (IMi) – ein Personenstatus, den die Nazis für die Italiener ein-
geführt hatten, um die internationale Vereinbarung zur Behandlung von
Kriegsgefangenen zu umgehen. Über 50.000 von ihnen überlebten diese
Zeit nicht.
   Bis heute belasten die Verbrechen an den Italienern die Beziehungen
zwischen den Ländern. Die deutsche Bundesregierung weigert sich, den
Überlebenden eine Entschädigung zu zahlen. Im Jahr 2000 wurden sie
von den Entschädigungszahlungen in Höhe von insgesamt zehn Milliar-
den Euro aus dem Fonds „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
(EVZ) mit der Begründung ausgeschlossen, dass sie keine Zwangsarbei-
ter, sondern Kriegsgefangene gewesen seien – denn diese sind nach der
Satzung des EVZ von der Entschädigung ausgeschlossen. 3 Italienische
Gerichte beschlagnahmten später im Gegenzug Millionenbeträge der
Deutschen Bahn. Das oberste italienische Gericht hatte die Verpflich-
tung der Bundesrepublik zur Zahlung von Entschädigungen bejaht.
   Im Jahr 2008 beriefen die Außenminister Italiens und Deutschlands
eine Historikerkommission ein, um den Konflikt beizulegen. 2012 un-
terbreitete die Kommission ihre Empfehlungen, und die Bundesregie-
rung stellte vier Millionen Euro für einen Zukunftsfonds bereit. Seit
2016 gibt es in Berlin eine Dauerausstellung zu den italienischen Mili-
tärinternierten bei der „Topographie des Terrors“. Die Geldmittel dafür
wurden aus diesem Fonds genommen.

IMis in Hamburg
Die veränderte militärische Lage Nazideutschlands ab 1943 hatte nicht
nur – in Form von Bombardements – den Krieg nach Hamburg geholt.
Es wurden auch immer mehr „arische“ Arbeitskräfte an die Front abge-
zogen. Sie fehlten den Nazis in den für sie wichtigen Betrieben der Ver-
sorgung und Rüstungsproduktion.
   3
     Niedergelegt in § 11 (3) der Satzung: „Kriegsgefangenschaft begründet keine Leistungs-
berechtigung“, [https://www.stiftung-evz.de/wer-wir-sind/geschichte/gesetz].

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Insgesamt wurden in Hamburg von 1939 bis 1945 über eine halbe
Million Zwangsarbeiter eingesetzt. Es handelte sich vor allem um soge-
nannte Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeiter, die meisten aus den besetz-
ten Gebieten, verschleppt oder auf Basis bilateraler Abkommen nach
Deutschland gekommen, wie zum Beispiel aus Dänemark oder dem
faschistischen Italien. Es wurden auch Kriegsgefangene und KZ-Insas-
sinnen und -Insassen zur Zwangsarbeit eingesetzt, wie auch die noch in
Hamburg verbliebenen jüdischen Menschen. Bereits geplante Deporta-
tionen wurden verschoben, bis genug Arbeitskräfte nach Hamburg ver-
schleppt worden waren.
   Karl Kaufmann, NSDAP-Gauleiter von Hamburg, sagte den Unter-
nehmern Anfang September 1943 zu, 25.000 IMis nach Hamburg zu
holen, was aber nicht vollständig umgesetzt werden konnte. Am
23. September 1943 kamen die ersten 3.500 italienischen Gefangenen
in Hamburg an. Davon wurden fünfhundert unmittelbar auf Bauunter-
nehmen verteilt, zum Beispiel an August Prien. Vor allem wurden sie auf
große Gemeinschaftslager verteilt, die auf die Schnelle geschaffen wur-
den – in erster Linie an Standorten, die städtisches Eigentum waren
oder städtischen Tochterunternehmen gehörten. Zu den größten Unter-
künften zählten die Lagerhäuser am Dessauer Ufer mit 6.000 Plätzen,
die der HHLA4 gehörten. Ab November 1943 wurden auch 29 Schulen
als Lager für italienische Militärinternierte mitgenutzt. Als dritte Stand-
ortgruppe wurden Kontorhäuser in der Hamburger Altstadt ausge-
wählt, Gebäude privater Unternehmen. Die nicht mehr genutzten
Räume, zum Teil durch Bomben zerstört, wurden beschlagnahmt. Im
Gegenzug zahlte die Stadt den Eigentümern Miete. Ende Mai 1945 wa-
ren die IMis auf über zweihundert Zwangsarbeitslager verteilt.
   Nach jüngsten Recherchen mussten über 13.500 italienische Mili-
tärinternierte ab September 1943 in fünfhundert Hamburger Unterneh-
men arbeiten. Ihr Arbeitseinsatz wurde über das Wehrmachtskomman-

   4
     Ursprünglich aus der Staatlichen Kaiverwaltung hervorgegangenes Hafenumschlagsunter-
nehmen im Hamburger Hafen. Von 1939 bis 2005 als Hamburger Hafen- und Lagerhaus-Akti-
engesellschaft firmierend, ab 2005 als Hamburger Hafen und Logistik AG.

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FORSCHUNG / RESEARCH

do X in Sandbostel organisiert. Vor allem wurden die Männer in der
Hamburger Bauwirtschaft, der Mineralölwirtschaft, der Rüstungsin-
dustrie, der Hafenwirtschaft und anderen kriegswichtigen Betrieben ein-
gesetzt. Sie wurden beschäftigt, um Steinplatten zu produzieren, und
für den Bau von Ersatzwohnraum eingesetzt. Sie arbeiteten dabei auch
mit Zwangsarbeitern anderer Länder in einem Betrieb zusammen, zum
Beispiel bei den Diago-Werken in Billbrook, in denen Zementplatten
hergestellt wurden. Gerd Bucerius, später Herausgeber der ZEIT, war
dort stellvertretender Betriebsleiter. Die IMis wurden auch von der
Stadt und deren Betrieben beschäftigt. So etwa im Gesundheitswesen
oder bei den Hamburger Wasser- und Gaswerken. Die meisten IMis
wurden in großen Unternehmen wie Blohm & Voss, Beiersdorf, Dycker-
hoff & Widmann,5 der Elbschloss-Brauerei oder auch bei Kowahl &
Bruns eingesetzt, einem Bauunternehmen, das im Rahmen des „Geilen-
berg-Programms“ die stark zerstörte Mineralölwirtschaft im Hambur-
ger Hafen wieder in Betrieb setzen sollte. An dieser perfiden Form der
Ausbeutung waren aber auch die heutige Dea, Shell oder Schindler be-
teiligt. Aber auch Kleinstunternehmen, die einen Bedarf angemeldet
hatten, wie zum Beispiel Schuhmacher, nutzten diese Möglichkeit billi-
ger, rechtloser Arbeitskräfte. Im Gesundheitswesen wurden IMis unter
anderem im Rahmen der „Aktion Brandt“ in Wintermoor (Schnever-
dingen / Niedersachsen) und Rickling (Segeberg / Schleswig-Hol-
stein) eingesetzt. Die Nazis hatte die Patientinnen und Patienten aus
diesen beiden ehemaligen Pflegeheimen deportiert und Zehntausende
von ihnen ermordet, die Heime wurden zu Ersatzkrankenhäusern um-
gebaut.
   Die Einsatzplanung der Zwangsarbeit wurde über sogenannte Ar-
beitskommandos organisiert. Die Unternehmen meldeten ihren „Be-
darf“ beim Gauarbeitsamt an. Über die Wehrmacht erfolgte die Zuwei-
sung, die die Unternehmen beziehungsweise Einsatzorte aufführte, in
die Arbeitskommandos. Das Wehrmachtskommando X verfügte unter

   5
       Als Dywidag abgekürzt. Baukonzern, heute zum Strabag-Konzern gehörig.

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anderem über die Kriegsgefangenenstammlager in Sandbostel bei Bre-
mervörde und Schleswig.
   Am Beispiel des Kontorhauses der Heinrich Bauer OHG in der heu-
tigen Burchardstraße 11 kann der Prozess des Lagerbaus und des Ein-
satzes von Arbeitskommandos rekonstruiert werden. Das elfte Stock-
werk des Kontors war im Sommer 1943 teilweise ausgebrannt. Die
Zeitschriftenproduktion des Verlages ruhte bereits seit Juni 1941. Der
Bauauftrag für das Zwangsarbeitslager wurde über eine Abteilung der
Baubehörde, das Amt für kriegswichtigen Einsatz (AkE), erteilt. Die
Deutsche Arbeitsfront (DAF) führte im Auftrag des Gauarbeitsamtes
den Aufbau des Lagers aus: Es wurden Holzbetten für 250 Personen in
der damaligen Schützenpforte 11 geschaffen. Im Gebäude gab es ein
vierköpfiges Wehrmachtskommando. Die IMis aus dem Heinrich-
Bauer-Haus musste unter anderem bei C & A in der nahegelegenen
Mönckebergstraße, in einem Unternehmen direkt gegenüber im Sprin-
kenhof, aber auch bei Bauunternehmen in Hamburg-Harburg, bei den
Hamburger Wasserwerken auf Kaltehofe in Moorfleet, und anderen Be-
trieben schuften.
   Im Jahr 2020 sind erstmals fünfhundert Hamburger Unternehmen
ermittelt worden, die italienische Militärinternierte eingesetzt hatten.
Aber weiterhin sind die meisten Einsatzorte nicht bekannt. Etwa die
Hälfte der Unternehmen, die Zwangsarbeiter eingesetzt haben, sind
über ihre damaligen Arbeitskommandonummern ermittelbar. Bei über
neunzig Prozent der ermittelten Unternehmen wurden die Menschen
in der Beschäftigungskategorie „Hilfsarbeiter“ geführt. Es gibt immer
noch viele nicht gesichtete und unbearbeitete Vorgänge des Gauarbeits-
amtes, die allem Anschein nach im Hamburger Staatsarchiv lagern.
Vermutlich könnte daran die Beteiligung der Hamburger Unternehmen
am NS-Zwangsarbeitssystem über die Arbeitskommandos umfassend,
also nicht nur beschränkt auf die italienischen Militärinternierten, auf-
geschlüsselt werden. Die heutige Hamburger Kulturbehörde signalisiert
allerdings bisher keine Bereitschaft, hier zu forschen.

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FORSCHUNG / RESEARCH

   Auch nach 76 Jahren fällt es Unternehmen, aber auch dem Senat der
Freien und Hansestadt Hamburg schwer, sich mit diesem Thema zu be-
schäftigen. Auch die Hamburger Schulbehörde sieht sich nicht in der
Verantwortung, das Thema zentral anzugehen, und verweist auf die
einzelnen Schulen, die dafür Mittel für den Schulunterricht zur Verfü-
gung hätten. Staatliche Einrichtungen wie die Hamburg Port Authority
(HPA) schweigen. Der heute weltweit agierende Medienkonzern Bauer
Media Group, in dessen Gebäude ab Dezember 1943 die ersten italieni-
schen Kriegsgefangenen untergebracht worden waren, wollte sich auch
2019 noch nicht mit dem Thema befassen. Erst nach öffentlichem
Druck, kritischer Medienberichterstattung und unleugbarer Fakten-
lage positionierte sich das Unternehmen zum NS-Zwangsarbeitssystem
und bekannte sich zum Lager im damaligen Unternehmensgebäude.
Vertreter des Managements nahmen an einer Kundgebung am 8. Sep-
tember 2020 vor dem Verlagsgebäude teil und hielten einen würdigen-
den Redebeitrag.
   Mit dieser Kundgebung im Kontorhausviertel im Jahr 2020 wurde das
Thema der Erinnerung an die italienischen Militärinternierten und ihre
Zwangsarbeit in der NS-Zeit wieder in die Hamburger Öffentlichkeit
getragen. Im Februar 2021 fanden pandemiebedingt zwei Onlinekund-
gebungen zu den IMis in Hamburg statt. Vor der Bauer Media Group
wurde eine Stolperschwelle verlegt. Auch in den Jahren zuvor hatten
sich immer wieder Veranstaltungen mit den italienischen Militärinter-
nierten befasst. Mittlerweile hat sich eine „Projektgruppe italienische
Militärinternierte Hamburg“ gebildet, die die Stadt Hamburg in die Ver-
antwortung nehmen will, die erklärte historische Schuld gegenüber den
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter durch aktualisierte Forschung
zu bestimmen und sich zu ihrer Verantwortung dafür zu bekennen.
Auch die Hamburger Geschichtswerkstätten beschäftigen sich in einer
eigenen Arbeitsgruppe neu mit dem Thema der NS-Zwangsarbeit.
   2002 beschloss die Hamburgische Bürgerschaft, eine Datenbank für
alle Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aufzubauen, also auch
für die IMis als einer spezifischen Gruppe im NS-Zwangsarbeitssystem,

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doch das Projekt wurde offenbar nach der Erfassung von 20.000 Namen
eingestellt. Nachdem die Historikerin Friederike Littmann im Jahr 2006
eine grundlegende Forschung zum NS-Zwangsarbeitssystem in Ham-
burg vorgelegt hat, liegt das Thema der italienischen Militärinternierten
gegenwärtig brach. Strukturell fühlt sich in Hamburg niemand für die
IMis zuständig. So verweist die Stiftung Hamburger Gedenkstätten auf
ihren Stiftungszweck, der im Erlass der Stadt festgehalten sei: Man sei
in Fragen der italienischen Militärinternierten nicht zuständig, Interes-
sierte sollten sich bitte an die „Topographie des Terrors“ in Berlin bezie-
hungsweise die dortigen Stellen zu den IMis wenden. Dabei gibt der
Erlass diese Interpretation nicht her. Aus Berlin heißt es wiederum, dass
es nicht ihre Aufgabe sei, regionale Verantwortung in der IMi-Frage zu
übernehmen, das könne nur vor Ort erfolgen. Hintergrund der beider-
seitigen Ablehnung von Verantwortung ist jeweils nicht fehlender Wille,
sondern die unzureichende Ausstattung mit finanziellen Mitteln. So po-
sitioniert sich die Hamburger Kulturbehörde aktuell, dass die Erinne-
rungsarbeit im Bereich der NS-Zwangsarbeit wie die der IMis durch die
Zivilgesellschaft zu bewerkstelligen sei. Angesicht der sehr tiefen Ver-
strickung der Stadt Hamburg und ihrer Unternehmen in das Zwangs-
arbeitssystem ist das eine mehr als fragwürdige Haltung. Leider sind es
die staatlichen Einrichtungen und Unternehmen, die heute Forschung
und Aufklärung – man hat den Eindruck: systematisch – verhindern.
Wenn die Stadt die Erinnerungsarbeit an die NS-Zwangsarbeit der Zivil-
gesellschaft zuweist, ist das unseriös: Es wird zwar von einer histori-
schen Schuld gesprochen, aber bei der Geschichtsaufarbeitung bleibt
man – ganz unabhängig von Frage nach der Finanzierung – untätig
beziehungsweise behindert Aktive (und damit die Zivilgesellschaft) bei
der Aufklärung.

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Dieser Text wird via DuEPublico, dem Dokumenten- und Publikationsserver der Universität
Duisburg-Essen, zur Verfügung gestellt. Die hier veröffentlichte Version der E-Publikation
kann von einer eventuell ebenfalls veröffentlichten Verlagsversion abweichen.

DOI:      10.17185/duepublico/75857
URN:      urn:nbn:de:hbz:465-20220420-110041-5

Erschienen in: Sozial.Geschichte Online 31 (2022) S. 101-108

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                   Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 3.0 Lizenz (CC BY-NC-
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