Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? - Dying, Surviving or Thriving Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungs-marktes

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Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? - Dying, Surviving or Thriving Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungs-marktes
Dying, Surviving or Thriving

Kasse für
Kranke? Oder
Partner für
Gesundheit?
Strategische Analyse des
Schweizer Krankenversicherungs-
marktes
Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? - Dying, Surviving or Thriving Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungs-marktes
Inhalt

Editorial		                                                                                          3
1      Executive Summary                                                                             4
2      Studiendesign                                                                                 6
3      Ausgangslage                                                                                  8
  3.1           Das Schweizer Gesundheitssystem                                                     9
		              3.1.1 Ungebremster Kostenanstieg                                                    9
		              3.1.2 Zunehmende Belastung privater Haushalte                                      12
  3.2           Der Schweizer Krankenversicherungsmarkt                                            14
		              3.2.1 Gesättigter Markt und intensiver Wettbewerb                                  14
		              3.2.2 Politik als zentrale Einflussgrösse                                          15
		              3.2.3 Verschärfte Regulierung                                                      15
		              3.2.4 Geschäftsmodell der Krankenversicherer infrage gestellt                      16
4      Ausgangspunkt: die Grundbedürfnisse der Versicherten                                        18
       4.1      Gesund leben                                                                       20
       4.2      Gesund werden                                                                      22
       4.3      Mit der Krankheit leben                                                            24
5      Verändertes Kundenverhalten im Umgang mit Gesundheitsdaten                                  26
       5.1      Datenaustausch: Bereitschaft und Bedenken der Versicherten                         27
       5.2      Chancen des intelligenten Datenmanagements                                         32
       5.3      Neue Akteure im Gesundheitsmarkt                                                   33
6      Strategische Optionen: Evolution oder Revolution?                                           34
  6.1           Evolutive Strategien («Surviving»)                                                 36
		              6.1.1 Der hocheffiziente Krankenversicherer                                        36
		              6.1.2 Der differenzierte Krankenversicherer                                        37
  6.2           Revolutionäre Strategien («Thriving»)                                              38
		              6.2.1 Der Allbranchen-Krankenversicherer                                           39
		              6.2.2 Der Gesundheitsdaten-Manager                                                 40
		              6.2.3 Der spezialisierte Krankheitspartner                                         41
		              6.2.4 Der integrierte Gesundheitspartner                                           42
7      Fazit		                                                                                     44
8      Kontakte                                                                                    46
9      Quellen                                                                                     47

2   | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? - Dying, Surviving or Thriving Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungs-marktes
Editorial
Vor einem halben Jahr haben wir mit der Studie «Dying, Surviving or Thriving» unsere Reihe strate-
gischer Analysen des Versicherungsmarktes lanciert. Damit möchten wir den Versicherern praktische
und provokative Denkanstösse für ihre strategische Positionierung vermitteln. Während in der ersten
Untersuchung die gemeinsamen strategischen Herausforderungen aller Versicherer im Fokus standen,
widmet sich unsere erste sektorspezifische Studie den Schweizer Krankenversicherern.

Im Krankenversicherungsmarkt erachten wir den strategischen Druck als besonders hoch:
Zusammen mit den Gesundheitskosten steigen die Prämien praktisch ungebremst und der Ruf
nach staatlichen Interventionen wird lauter. Gleichzeitig liefert sich die Branche einen heftigen
Verdrängungswettbewerb und ist einem einzigartigen politischen, regulatorischen, demografischen
und technologisch-medizinischen Wandel ausgesetzt. Trotz der hohen Dynamik entwickeln sich die
Krankenversicherer strategisch nur zaghaft weiter.

In dieser Studie nehmen wir eine strategische Lagebeurteilung vor und zeigen auf, wie die Kranken-
versicherer ihre Geschäftsmodelle weiterentwickeln können. Über ihre betrieblichen Kosten hinaus
müssen sie die Effizienz im Gesundheitswesen erhöhen und neue Wachstumspotenziale erschliessen.
Ausgehend von ihren heutigen strategischen Vorteilen wie Kundennähe oder operativen Effizienzen
und Fähigkeiten sind die Krankenversicherer mehr denn je gefordert, ökonomische Mehrwerte für die
Versicherten zu schaffen – und abzuschöpfen. Ansonsten drohen weitere staatliche Interventionen bis
hin zu einem erneuten Aufflammen der Debatte um die Einheitskasse. Die Krankenversicherer sollten
also handeln, bevor gehandelt wird.

Der Zeitpunkt, neue Geschäftsmodelle zu evaluieren, ist unserer Meinung nach günstig – im Moment
noch. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Digitalisierung zu: Bisher ungeahnte Datenmengen und
-analysen verbessern Prävention, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten grundlegend.
Der Fokus der Unternehmen kann sich deshalb von der Kasse für Kranke hin zu eigentlichen Gesund-
heitspartnerschaften verschieben. Allerdings ruft dieses Innovationspotenzial auch branchenfremde
Anbieter auf den Plan. Diese Disruption kann die Krankenversicherer strategisch zusätzlich in
Zugzwang bringen.

Insgesamt ermutigen wir die Krankenversicherer, ihre strategischen Möglichkeiten systematisch
zu evaluieren und entschlossen zu nutzen. Denn nur so bleibt unser Gesundheitswesen langfristig
finanzierbar.

Rolf Bächler                           Dr. Alexander Lacher                        Yamin Gröninger
Co-Leiter Krankenversicherung Co-Leiter Krankenversicherung Leiterin Insurance Business
		Development

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Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? - Dying, Surviving or Thriving Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungs-marktes
1 Executive
  Summary
Die Schweizer Krankenversicherer müssen ihre strategischen Positionen systematisch
überprüfen und schärfen. Darauf müssen sie ihre Geschäftsmodelle konsequent aus-
richten. Nur so bleiben sie angesichts des politischen, regulatorischen, demografischen
und medizinisch-technologischen Wandels im Gesundheitswesen mittel- bis langfristig
kompetitiv.

«Dying, Surviving or Thriving»                                                  tentreiber sind der medizinisch-technologische Fortschritt, die
Die Krankenversicherer haben die Wahl zwischen drei strate-                     Zunahme chronischer Erkrankungen sowie die Überalterung
gischen Grundvarianten:                                                         der Gesellschaft. Damit reduziert sich die Kaufkraft der privaten
                                                                                Haushalte signifikant. Ein Grossteil der Bevölkerung wird die Prä-
1) Sie tun nichts und gefährden sich und das heutige Kranken-                   mien der obligatorischen Krankenversicherung nicht mehr tragen
   versicherungswesen mittel- bis langfristig («Dying»)                         können. Bund und Kantone – also letztlich die Steuerzahler –
2) Sie optimieren ihre etablierten Geschäftsmodelle evolutiv                    müssen diese Löcher stopfen.
   und überleben («Surviving»)
3) Sie transformieren ihre Geschäftsmodelle fundamental                         Ausrichtung auf die Grundbedürfnisse der Versicherten
   («Revolution») und erschliessen neue Ertragspotenziale                       Es liegt im Interesse aller Akteure des Schweizer Gesundheits-
   («Thriving»)                                                                 wesens, dessen hohe Qualität zu sichern und gleichzeitig den
                                                                                Kostenanstieg zu dämpfen. Wenn sich die Krankenversicherer
Verdrängung und beschränkte Innovations- und                                    konsequent auf die Grundbedürfnisse der Versicherten (gesund
Wertschöpfungsmöglichkeiten                                                     leben, gesund werden und mit der Krankheit leben) ausrichten,
Das Schweizer Gesundheitswesen ist hoch reguliert, was Innovati-                werden sie dieser Interessensymmetrie gerecht. Gelingt dies
onen und unternehmerische Spielräume für die Krankenversiche-                   nicht, schafft sich das Gesundheitssystem mangels Finanzierbar-
rer beschränkt. Zudem sind Gewinne in der Grundversicherung                     keit selber ab.
nicht erlaubt und in der Zusatzversicherung nur in engen Band-
breiten zulässig. Gleichzeitig liefern sich die Krankenversicherer              Digitale Gesundheitsdaten und -technologien eröffnen
einen heftigen Verdrängungswettbewerb. Schliesslich bindet                      neue Angebotsmöglichkeiten
der noch umfangreiche Grundleistungskatalog den Grossteil der                   Für diese Ausrichtung auf die fundamentalen Bedürfnisse der Ver-
Krankenversicherungsprämien. Um in diesem anspruchsvollen                       sicherten eröffnen sich dank technologischen Innovationen völlig
Umfeld langfristig profitabel zu wachsen, benötigen die Unterneh-               neue Möglichkeiten: So erhöhen Wearables (tragbare Geräte zur
men Innovationskraft sowie Klarheit über Absicht und Auftrag.                   Messung von Gesundheitsdaten), Apps und Sensoren die verwert-
                                                                                baren Gesundheitsdaten exponentiell. Knapp die Hälfte der Ver-
Die Kosten- und Prämienexplosion gefährdet                                      sicherten in der Schweiz zeichnet bereits heute Gesundheitsdaten
das Gesundheitswesen                                                            auf, wie eine EY-Befragung zeigt. 60 Prozent der Befragten sind
Innovationen sind auch angesichts des ungebremsten Kostenan-                    bereit, ihre Daten mit dem Krankenversicherer zu teilen, falls sie im
stiegs im Gesundheitswesen dringend notwendig. Von 2014 bis                     Gegenzug finanzielle oder andere Vorteile erhalten. Damit lassen
2030 steigen die Gesundheitskosten in der Schweiz voraussicht-                  sich neuartige Präventions- und Behandlungsformen entwickeln.
lich um 60 Prozent auf 116 Mrd. CHF. Die Prämien der Grundver-                  Dies lockt branchenfremde Unternehmen ins Gesundheitswesen;
sicherung würden somit von heute durchschnittlich 396 CHF pro                   diese «Disruptoren» bringen die etablierten Krankenversicherer
Person und Monat bis 2030 auf 826 CHF steigen. Primäre Kos-                     strategisch zusätzlich in Zugzwang.

4   | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? - Dying, Surviving or Thriving Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungs-marktes
Evolution oder Revolution des Geschäftsmodells?
Die Krankenversicherer müssen sich entscheiden, ob sie weiterhin
in ihrem angestammten Markt tätig sein oder aber ihr Geschäfts-
modell grundlegend neu ausrichten wollen. Im einen Fall können
sie die Kostenführerschaft oder mit innovativen Services eine
Differenzierung anstreben (Evolution). Im andern Fall schaffen
sie unter Nutzung vorhandener Stärken neue Produkte und
Dienstleistungen oder stossen in neue Geschäftsfelder vor (Revo-
lution). Hier kommen vier strategische Optionen in Betracht:

1) Ausweitung der Versicherungspalette auf Sparten wie
   Schaden- oder Lebensversicherung;
2) Aggregation, Analyse, Aufbereitung und Angebot von
   Gesundheitsdaten;
3) Spezialisierung auf ausgewählte Krankheiten;
4) lebenslange Begleitung der Versicherten als Gesundheits-
   partner.

Jetzt ist die Zeit zu handeln
Unabhängig von der gewählten Option: Die Krankenversicherer
benötigen eine logische und konsistente Strategie und müssen
diese zeitnah und konsequent umsetzen. Intelligente Kooperatio-
nen mit Leistungserbringern oder Technologiekonzernen können
die Umsetzung dieser Strategien beschleunigen. Trotz des anhal-
tenden politischen und regulatorischen Drucks haben die Kran-
kenversicherer genügend Spielraum, um ihre Geschäftsmodelle
und Produkte weiterzuentwickeln. Aber Tempo ist gefragt: Noch
kontrollieren die Krankenversicherer die Kundenschnittstelle und
verfügen über umfangreiche Gesundheitsdaten. Diese Ausgangs-
lage sollten sie im Sinn eines «First Mover»-Vorteils und unter
Beizug modernster Technologien aktiv nutzen.

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Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? - Dying, Surviving or Thriving Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungs-marktes
2 Studiendesign

Diese Studie konzentriert sich auf die Schweizer Krankenver-                    Titus Kretzschmar (1abtik) und Ricardo García (EY) sowie
sicherer, obwohl auch Politik, Staat, Leistungserbringer und                    Manuel Heuer und Lukas Ammann (Dacadoo).
die Versicherten das Schweizer Krankenversicherungswesen
wesentlich prägen. Was den Kostenanstieg im Gesundheitswesen                    Obschon gesetzliche und regulatorische Auflagen den strategi-
betrifft, haben die Krankenversicherer, die Versicherten, der                   schen Spielraum der Krankenversicherer ganz erheblich definie-
Staat und die Politik symmetrische Interessen. Demgegenüber                     ren, stehen diese Aspekte in dieser Studie nicht im Vordergrund.
haben die Leistungserbringer, zumindest kurzfristig, keinen                     Die Untersuchung beschränkt sich darauf, absehbare und strate-
unmittelbaren Anreiz, das Kostenwachstum zu bremsen. So liegt                   gierelevante Entwicklungen und Szenarien darzustellen, darunter
die Spitaldichte in der Schweiz über dem internationalen Durch-                 die Ausdünnung des Grundleistungskatalogs, die Einführung ein-
schnitt und Generika kosten in der Schweiz fast doppelt so viel                 kommensabhängiger Prämien, die kürzlich vom Parlament ver-
wie im angrenzenden Ausland.                                                    langte Erhöhung von Franchisen und Selbstbehalten oder die
                                                                                Wiederaufnahme der Debatte um die Einheitskasse.
Methodisch basiert die vorliegende Studie auf hypothesenge-
stützten Untersuchungen durch Branchenexperten und Analysten                    In Kapitel 3 wird das Schweizer Gesundheits- und Krankenver-
von EY. Umfangreiche Datenmengen wurden ausgewertet, darun-                     sicherungssystem im Sinn einer strategischen Lagebeurteilung
ter die Jahresberichte von Krankenversicherern sowie Statistiken                analysiert. Kapitel 4 zeigt auf, wie die Krankenversicherer mit
des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), des Bundesamtes für                       der Bedienung der grundlegenden Bedürfnisse der Versicherten
Sozialversicherungen (BSV) und der Eidgenössischen Finanz-                      neue Wertschöpfungsmöglichkeiten erschliessen können.
marktaufsicht (FINMA). Zur Bereitschaft, Gesundheitsdaten auf-                  Kapitel 5 beleuchtet ausführlich die strategischen Chancen der
zuzeichnen und mit Krankenversicherern zu teilen, hat EY eine                   Digitalisierung, bevor in Kapitel 6 die Erkenntnisse der vorange-
Befragung von rund 450 Personen durchgeführt. Weiter sind                       gangenen Kapitel zu handlungsrelevanten Aussagen verdichtet
Erkenntnisse und Erfahrungen aus Prüfungs- und Beratungsman-                    und konkrete strategische Optionen erläutert werden. Das Fazit
daten von EY im Schweizer Krankenversicherungsmarkt einge-                      verdeutlicht schliesslich, weshalb der Zeitpunkt für Schweizer
flossen. Aus Interviews mit Führungskräften führender Schweizer                 Krankenversicherer günstig ist, Innovationen zu lancieren und
Krankenversicherer wurden schliesslich ebenfalls wesentliche                    die Wertschöpfung nachhaltig zu steigern.
Erkenntnisse gewonnen. Unser besonderer Dank gilt den Herren

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3 Ausgangslage

                          Das Schweizer Gesundheitssystem
                          erbringt zwar Spitzenleistungen, ist
                          aber hoch reguliert und teuer. In der
                          Grundversicherung verfügen die Kranken-
                          versicherer über keine Wertschöpfungs-
                          möglichkeiten, in der Zusatzversicherung
                          sind diese gesetzlich eng begrenzt.
                          Gleichzeitig treiben regulatorische,
                          politische, medizinisch-technologische
                          und gesellschaftliche Entwicklungen
                          die Gesundheitskosten unaufhaltsam in
                          die Höhe. Dieser Kostenanstieg bringt
                          das Schweizer Gesundheitssystem an
                          die Grenzen seiner Finanzierbarkeit.

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3.1 Das Schweizer Gesundheitssystem

Die Kosten des Gesundheitssystems wachsen ungebremst. Die                3.1.1 Ungebremster Kostenanstieg
Belastung für die privaten Haushalte ist gross. Steigen die Prä-
mien weiter, wird es grossen Teilen der Schweizer Bevölkerung in         Das Schweizer Gesundheitssystem ist zwar qualitativ unbestritten
Zukunft nicht mehr möglich sein, die Prämien der obligatorischen         hochwertig, aber stark reguliert und im Vergleich mit anderen
Krankenversicherung zu tragen – von Zusatzversicherungen ganz            Industrieländern teuer. Die Kostensteigerung ist massiv: Von
zu schweigen.                                                            1990 bis 2014 stiegen die Gesundheitskosten von 26,9 Mrd. auf
                                                                         71,2 Mrd. CHF, was einem Anstieg um 165 Prozent entspricht. Im
                                                                         gleichen Zeitraum wuchs die Wirtschaftsleistung nur um 90 Pro-
                                                                         zent und die Bevölkerung um 23 Prozent.

Überproportionale Zunahme der Gesundheitskosten                          Anstieg der Gesundheitskosten nach Verwendung
(in %, indexiert 1990)                                                   (in Mio. CHF)

                                                            Zunahme                             Totale Zunahme seit 2010                                        Zunahme
                                                            seit 1990                                                                                           seit 2010
                                                                                                             +13,88%
                                                             +165%                                                                              71 167
 170                                                                                                                           69 226
 160                                                                                                         67 533
                                                                                             64 574
 150                                                                        62 495
 140
 130                                                                                                                                            31 880          +12,4%
                                                                                                                                31 312
 120                                                                                         29 138
                                                                                                              31 162
                                                                             28 364
 110
 100
  90
  80
  70
  60                                                                                                                            23 694          24 860          +22,2%
                                                                                             21 455           22 214
                                                                             20 335
  50
  40
  30
                                                                             7304             7334            7447              7316             7321           +0,2%
  20
                                                                             2042             2167            2298              2385             2483           +21,6%
  10                                                                                  1471            1443             1451              1536            1605   +9,1%
                                                                             2979             3037            2960              2983             3018
   0                                                                                                                                                            +1,3%
   1990         1995    2000       2005         2010        2015            2010             2011             2012              2013            2014

         Gesundheitskosten (nominal)                                           Stationäre Behandlung                          Verkauf Gesundheitsgüter
         Bevölkerung                                                           Ambulante Behandlung                           Andere Leistungen
         BIP (nominal)                                                         Prävention                                     Verwaltung

Quelle: BFS1.                                                            Quelle: BFS2.

                                   Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes |                       9
Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? - Dying, Surviving or Thriving Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungs-marktes
3 Ausgangslage

Der grösste Kostenanstieg ist bei den ambulanten Spitalbehand-                     20 Prozent der Gesundheitskosten durch ein effizienteres
lungen zu beobachten: Zwischen 2010 und 2014 legten diese                          Gesundheitssystem eingespart werden könnten.3
um 22 Prozent auf 24,9 Mrd. CHF zu. Im gleichen Zeitraum stie-
gen die Kosten der stationären Behandlung um 12 Prozent auf                        Neben den strukturellen Ineffizienzen im Gesundheitssystem
31,9 Mrd. CHF. Die Verlagerung hin zu ambulanten Spitalleistun-                    lassen sich drei weitere Haupttreiber des Kostenanstiegs identifi-
gen beruht unter anderem auf neuen medizinischen Möglichkei-                       zieren: der medizinisch-technologische Fortschritt, die Zunahme
ten sowie auf Anreizen aus der Spitalfinanzierung. Gemäss dieser                   chronischer Erkrankungen sowie die Überalterung der
übernehmen die Krankenversicherer und die Kantone die Kosten                       Gesellschaft.
für die stationären Leistungen seit dem 1. Januar 2012 gemein-
sam, für ambulante Spitalleistungen kommen die Krankenversi-                       Teurer medizinisch-technologischer Fortschritt
cherer hingegen alleine auf.                                                       Seit Jahren ist der technologische Fortschritt im Gesundheits-
                                                                                   sektor eindrücklich. Doch anders als etwa in der IT-Branche, wo
Generell bestehen im schweizerischen Gesundheitswesen erhe-                        steigende Rechenleistungen mit Preissenkungen einhergehen,
bliche Ineffizienzen, etwa wegen mangelnder Koordination der                       treiben medizinische Verbesserungen die Kosten nach oben.
Versorgung, Überversorgung mit nicht notwendigen Leistungen                        Während etwa die Preise für Smartphones zwischen 2012 und
oder einer überhöhten Nachfrage der Versicherten. Der Bundes-                      2015 weltweit um 20 Prozent sanken, sind die Kosten für Stents,
rat geht in seinem Bericht «Gesundheit2020» davon aus, dass                        computertomografische Untersuchungen oder Darmspiegelun-

Chronische Krankheiten der Schweizer Wohnbevölkerung
(Anteil in % der Schweizer Wohnbevölkerung ab 15 Jahre)

                        16%
                  15%
                                        14% 14%
            13%
                                 12%                          12%
                                                    11% 11%

                                                                              8%    8%
                                                                                                          7%
                                                                                                  6%
                                                                         5%
                                                                                                                       4%   4%              4%
                                                                                                                                  3%   3%
                                                                                                                 2%

            Bluthochdruck             Allergien   Arthrose, Rheuma        Depression            Migräne         Krebsgeschwulst    Diabetes

        1997            2007         2012
Quellen: BFS , Hacking Healthcare .
            5                    6

10   | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
Das Effizienzpotenzial im Schweizer Gesundheitswesen ist
   beträchtlich: Die Versicherten müssen noch mehr Eigen-
   verantwortung übernehmen. Und es braucht andere Anreize,
   damit die Leistungserbringer keine unnötigen oder unwirksamen
   Behandlungen durchführen.

gen gestiegen. Meist sind selbst inkrementelle Verbesserungen                         weniger als 52 Mrd. CHF (80 Prozent) auf die Behandlung chro-
mit kräftigen Aufpreisen verbunden. Zudem führen die verbesser-                       nischer Krankheiten.7 Bei den ambulanten Behandlungen beträgt
ten Diagnosemöglichkeiten zu Mengenausweitungen und damit zu                          ihr Anteil inzwischen 87 Prozent, mit steigender Tendenz.
einem Kostenanstieg.
                                                                                      Überalterung der Gesellschaft
Zunahme chronischer Krankheiten                                                       Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) sieht heute für Erwach-
Mehr Menschen denn je leiden an Bluthochdruck, Allergien,                             sene ab 26 Jahren altersunabhängige Prämien vor. Damit leisten
Arthrose und Rheuma, Depression, Migräne, Krebs und Diabetes.                         jüngere Versicherte einen Solidaritätsbeitrag an die Kosten der
Bereits ein Drittel der Schweizer Bevölkerung weist mindestens                        älteren Versicherten, deren Gesundheitskosten die erbrachten
eine dieser chronischen Krankheiten auf.4 Die Zunahme dieser                          Prämien übersteigen. Die steigende Lebenserwartung bei tiefen
nichtübertragbaren Krankheiten hängt zum einen mit der demo-                          Geburtenraten akzentuiert diese Umverteilung. Angesichts dieser
grafischen Alterung zusammen und ist zum anderen Folge eines                          wachsenden Belastung der jungen Generationen bei der obligato-
veränderten Lebensstils, der von Bewegungsmangel und unaus-                           rischen Krankenversicherung wird in der Politik über Entlastungs-
gewogenen Essgewohnheiten geprägt ist.                                                massnahmen debattiert, z.B. Prämiensenkungen für junge
                                                                                      Erwachsene oder höhere Prämienverbilligungen für Kinder.
Die Auswirkungen auf die Kosten sind erheblich: Von den jähr-
lichen Gesamtkosten des Gesundheitssystems entfallen nicht

Entwicklung der Altersstruktur in der Schweiz (1971–2015)

                                        Jahre
                                      104
                                       96
                                       88
                                       80
                                       72
                                       64
                                       56
                                       48
                                       40
                                       32
                                       24
                                       16
                                        8
Personen

80 000     60 000   40 000   20 000         0    20 000   40 000   60 000   80 000

     1971           1990        2015
Quelle: BFS    .
            8, 9

                                                Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes |   11
3 Ausgangslage

3.1.2 Zunehmende Belastung privater Haushalte                                    Kostenbeteiligungen und über direkte Auslagen («Out of
                                                                                 Pocket») der Versicherten (24,5 Prozent). 2014 betrug diese
Die privaten Haushalte bezahlen zwei Drittel der Gesundheits-                    Belastung der privaten Haushalte gesamthaft 48 Mrd. CHF, was
kosten: in Form von Krankenkassenprämien (36,6 Prozent für die                   im Durchschnitt 493 CHF pro Person und Monat entspricht.
Grund- und 7,2 Prozent für die Zusatzversicherung) sowie über

Finanzierung der Gesundheitskosten nach Quellen                                  Prämien- und Lohnentwicklung bis 2030
(2008–2014) (in Mio. CHF)                                                        (in %, indexiert 1996, projiziert mit CAGR 1996–2014)

                                                                                             Effektive Entwicklung           Prognose

80 000                                                                             280                                                  2030: Prämien
                                                                                                                                        von 826 CHF
70 000                                                                             240

60 000                                                                             200
                                                                    63% durch
50 000                                                              private
                                                                                   160                 2014: Prämien
                                                                    Haushalte                          von 396 CHF
40 000
                                                                                   120
30 000
                                                                                    80
20 000                                                              37% durch
                                                                    Staat und
                                                                    Unterneh-       40
10 000
                                                                    men
      0                                                                              0
      2008       2009   2010     2011      2012     2013     2014                    1996 2000 2004 2008 2012 2016 2020 2024 2028

             Private Haushalte:                                                             Lohnanstieg              Prämienanstieg
             sonstige Finanzierung
                                                                                 Quellen: BAG11, BFS12, EY.
             Private Haushalte:
             Kostenbeteiligung KVG, VVG und «out of pocket»
             Private Haushalte:
             Aufwand VVG-Versicherungsprämien
             Private Haushalte:
             Aufwand KVG-Versicherungsprämien
             Unternehmen:
             Beiträge soziale Sicherheit
             Staat: Zahlungen für soziale Sicherheit
             (inklusive Prämienverbilligung, bedarfs-
             abhängige Sozialleistungen ab 2008)
             Staat: Zahlungen und Leistungen
Quelle: BFS10.

12   | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
Kaufkraftverlust der privaten Haushalte                                   Einkommens zu begrenzen. Die Gesundheitskosten steigen
Da die Löhne seit Jahren langsamer als die Gesundheitskosten              gemäss EY-Analysen bis 2030 um über 60 Prozent auf 116 Mrd.
wachsen, hat sich die individuelle Kaufkraft der privaten Haus-           CHF. Werden zudem die Out-of-Pocket-Ausgaben der privaten
halte zum Teil signifikant verringert. 2015 haben 2,2 Mio. Perso-         Haushalte berücksichtigt, ist der effektive Kaufkraftverlust noch
nen oder 27 Prozent aller Versicherten in der Schweiz einen               grösser.
Zuschuss zu den Krankenkassenprämien erhalten.13 Die öffentli-
che Hand wendete über 4 Mrd. CHF für Prämienverbilligungen                Hält das Prämienwachstum unvermindert an, wird es grossen
auf. Diese Umverteilung würde noch höher ausfallen, hätten die            Teilen der Schweizer Bevölkerung in Zukunft nicht mehr möglich
Kantone ihre Beiträge über die letzten Jahre nicht gekürzt.               sein, die Prämien der obligatorischen Krankenversicherung zu
                                                                          tragen – von Zusatzversicherungen ganz zu schweigen. Werden
Bislang sind keine Anzeichen auszumachen, dass der Kosten-                nicht einschneidende Gegenmassnahmen eingeleitet, ist ein
und Prämienanstieg abflacht oder gar umkehrt. Bis 2030 wird die           finanzieller Kollaps der Grundversicherung mittelfristig nicht aus-
durchschnittliche Prämienbelastung auf 11 Prozent des Einkom-             zuschliessen. In diesem Fall würde der Ruf nach Einflussnahme
mens steigen; 2014 betrug sie erst 6 Prozent.14 Dies wird deutlich        des Staates lauter, in Form von regulatorischen und Marktinter-
über dem mit der Prämienverbilligung verfolgten Ziel des Bundes           ventionen bis hin zur Einheitskasse.
liegen, die maximale Belastung auf 8 Prozent des steuerbaren

                                    Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes |   13
3 Ausgangslage

3.2 Der Schweizer Krankenversicherungsmarkt

Die Schweizer Krankenversicherer liefern sich einen heftigen Ver-                kampf. Wechselbewegungen zwischen Krankenversicherern
drängungswettbewerb. Gleichzeitig wird das Marktumfeld mass-                     werden zudem durch Vergleichsportale wie Comparis gefördert.
geblich durch Politik und Regulierung geprägt. Das schränkt die
Wertschöpfungsmöglichkeiten der Unternehmen empfindlich ein.                     Zusatzversicherungen werden von 54 Gesellschaften angebo-
                                                                                 ten.17 Wie in der Grundversicherung konzentriert sich auch hier
                                                                                 das Gros des Geschäfts oligopolistisch auf wenige Anbieter: Die
3.2.1 Gesättigter Markt und intensiver Wettbewerb                                zehn grössten Unternehmen haben einen Marktanteil von 80 Pro-
                                                                                 zent. Im Unterschied zur Grundversicherung steigt jedoch die
Die Schweiz verfügt weltweit über eine der höchsten Versiche-                    Anzahl der Krankenzusatzversicherer. Es bestehen namentlich
rungsdichten. Vom gesamten Haushaltseinkommen werden                             Anzeichen, dass vermehrt Privatversicherer auch Krankenzusatz-
9,2 Prozent für Nichtlebensversicherungsprämien ausgegeben.15                    versicherungen anbieten wollen. Aktuelle Beispiele hierfür sind
Davon entfallen 63 Prozent auf die Grundversicherung und                         AXA und Zurich, die bereits wichtige Anbieter von Krankentag-
16 Prozent auf Zusatzversicherungen nach dem Versicherungs-                      geldversicherungen sind. Denkbar sind darüber hinaus Marktein-
vertragsgesetz (VVG).                                                            tritte von branchenfremden Anbietern. Insgesamt werden solche
                                                                                 Neueintritte den Wettbewerb im Markt weiter intensivieren.
In der Krankenversicherungsbranche stehen einige grosse Unter-
nehmen vielen relativ kleinen Anbietern mit regionalem oder gar                  Im Unterschied zur Grundversicherung wird der Wettbewerb in
lokalem Tätigkeitsfeld gegenüber. Der Konzentrationsgrad ist                     der Krankenzusatzversicherung nicht nur über Services, sondern
hoch: Von den 57 Krankenversicherern, welche die obligatorische                  auch über die Produktegestaltung ausgetragen. Allerdings setzt
Krankenpflegeversicherung anbieten, beherrschen die grössten                     die präventive Produktkontrolle durch die FINMA Innovationen
zehn fast 90 Prozent des Marktes; 17 Krankenversicherer weisen                   relativ enge Grenzen. Damit soll der Versichertenschutz gewähr-
hingegen weniger als 10 000 Versicherte auf.16                                   leistet werden, da die private Krankenversicherung einen sozial-
                                                                                 versicherungsähnlichen Charakter hat und die Versicherten ab
Der Wettbewerb unter den Grundversicherern ist heftig, denn                      einem gewissen Alter oder mit einer Krankheitsgeschichte den
einerseits ist das Versicherungsprodukt gesetzlich geregelt und                  Zusatzversicherer de facto nicht mehr wechseln können, ohne zu
somit homogen, zum andern ist der Aufwand, den Grundversiche-                    riskieren, keinen oder keinen gleichwertigen Versicherungsschutz
rer zu wechseln, gering. Das führt namentlich zu einem Preis-                    mehr zu finden.

14   | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
Die regulatorischen Anforderungen an Krankenversicherer
  steigen ständig. Dies erhöht den Verwaltungsaufwand und setzt
  die Krankenversicherer empfindlichen Compliance-Risiken aus.

3.2.2 Politik als zentrale Einflussgrösse                                  3.2.3 Verschärfte Regulierung

Angesichts der ständig steigenden Gesundheitskosten reissen                Der regulatorische Druck auf die Schweizer Krankenversicherer
die politischen Diskussionen über das Gesundheitswesen nicht ab.           hält an und stellt wie die Politik eine strategierelevante Einfluss-
Politik und Gesetzgebung bleiben somit zentrale Determinanten              grösse dar. Die Krankenversicherer sehen die zunehmende Regel-
des strategischen Umfelds der Schweizer Krankenversicherer.                dichte sowie die duale Aufsicht von BAG und FINMA als zentrale
                                                                           strategische Herausforderung.18
So befasst sich der Bundesrat in seiner Strategie «Gesund-
heit2020» mit möglichen Massnahmen zur Dämpfung der                        Neue Erlasse wie das Krankenversicherungsaufsichtsgesetz
Gesundheitskosten. Diese hätten erheblichen Einfluss auf die               (KVAG) oder die geplanten FINMA-Rundschreiben zu Corporate
Krankenversicherer. Trotz mehrmaligem Scheitern an der Urne                Governance stellen höhere aufsichtsrechtliche Ansprüche an die
wird auch die Idee einer Einheitskasse immer wieder aufgebracht.           Krankenversicherer. Ein konkretes Beispiel sind die gestiegenen
Eher unwahrscheinlich sind derzeit Kürzungen des KVG-Leis-                 Eigenmittelanforderungen für Grundversicherer: Während 2015
tungskatalogs, da dies unweigerlich mit einer sogenannten                  zwei Krankenversicherer die Anforderungen des KVG-Solvenz-
Zweiklassenmedizin verbunden wird. Im Gegenteil wird der Kata-             tests nicht erfüllten, wiesen 2016 bereits 14 Versicherer Solvenz-
log sukzessive ausgeweitet, beispielsweise 2009 mit der Auf-               quoten von unter 100 Prozent aus. In der Zusatzversicherung
nahme der Komplementärmedizin. Schliesslich wird derzeit die               schränken die erhöhten Anforderungen der FINMA an Rabattie-
Einführung einer obligatorischen Pflegekostenversicherung als              rung und Tarifierung die Wertschöpfungsmöglichkeiten der Versi-
4. Säule erwogen.                                                          cherer ein. Weitere Anforderungen ergeben sich für die Kranken-
                                                                           zusatzversicherer aus der Selbstbeurteilung der Risikosituation
Politisch diskutiert werden auch Eingriffe, die direkt bei den Ver-        und des Kapitalbedarfs (ORSA), der Pflicht zur Erstellung eines
sicherten ansetzen. So strebt das Parlament aktuell eine Erhö-             Berichts über die Finanzlage und der Einführung einer unabhängi-
hung der Mindestfranchise an. Dies soll die Versicherten zu mehr           gen Compliance-Funktion.
Eigenverantwortung animieren und sie davon abhalten, wegen
Bagatellen den Arzt oder das Spital aufzusuchen. Erwogen wer-              Hinzu kommt eine Verschärfung der FINMA- und BAG-Aufsicht-
den auch einkommensabhängige Prämien oder Steuererhöhun-                   spraxis für bisher tolerierte Sachverhalte und Usanzen der Bran-
gen zur Finanzierung der steigenden Gesundheitskosten.                     che, was die Krankenversicherer erhöhten Compliance-Risiken
                                                                           aussetzt, verbunden mit empfindlichen Strafen und negativer
                                                                           Publizität. Die Regulatoren haben insbesondere die Marktführer
                                                                           im Blickfeld.

                                     Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes |   15
3 Ausgangslage

3.2.4 Geschäftsmodell der Krankenversicherer 		                                                                        und mittlere Krankenversicherer wollen trotz des Regulierungs-
      infrage gestellt                                                                                                 und Compliance-Drucks so lange als möglich unabhängig bleiben.
                                                                                                                       Dies dürfte an den eher schwach ausgeprägten Eigentumsverhält-
Die Grundversicherung macht volumenmässig zwar den Grossteil                                                           nissen bzw. am fehlenden Druck profitorientierter Aktionäre
des Schweizer Krankenversicherungsgeschäfts aus. Dies liegt vor                                                        liegen.
allem am umfangreichen Grundleistungskatalog des KVG. Inner-
halb des KVG-Obligatoriums herrscht jedoch ein intensiver Ver-                                                         Nullsummenspiel in der Grundversicherung
drängungswettbewerb: Organisches Wachstum gelingt nur auf                                                              Eine weitere, strategierelevante Eigentümlichkeit der sozialen
Kosten anderer Anbieter.                                                                                               Krankenversicherung ist der Risikoausgleich. Dieser soll einer
                                                                                                                       Entsolidarisierung zwischen «Jungen und Gesunden» und «Alten
Das Potenzial, über Zusammenschlüsse und Übernahmen in der                                                             und Kranken» entgegenwirken. Die sogenannte Jagd auf gute
Grundversicherung zu wachsen, ist begrenzt. Denn viele kleinere                                                        Risiken lohnt sich in der Tat nicht mehr. So bezahlte beispiels-

Grundversicherungsmarkt: Wachstum versus Risikoausgleich
CAGR Anzahl Versicherte 2010–15 (in %)

                                         20

                                                                                                                                    Groupe Mutuel
                                         15

                                         10

                                                                                          KPT                                                                      Assura

                                           5                    Helsana                                    Concordia
                                                                                 Visana                    SWICA
                                                                                                               Sympany
                                           0

                                                                                             CSS             Sanitas
                                         −5
                                          −500                            −250                         0                           250                     500                     750

                                                                     Ø jährliche Risikoausgleichszahlung pro versicherte Person (Ø 2010–15) (in CHF)
                                               Kreisgrösse entspricht Anzahl Versicherter 2015                Nettoempfänger             Nettozahler
Quellen: BAG19, EY (Gruppenbetrachtung).

16                                       | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
weise die Assura zwischen 2010 und 2015 pro Jahr und Versi-                      Magere Ertrags- und Wachstumspotenziale in der
cherten im Schnitt über 500 CHF in den Ausgleich, während                        Zusatzversicherung
Helsana im Gegenzug rund 300 CHF daraus erhielt. Bis 2019 wird                   Ähnlich limitiert zeigen sich auch die Ertrags- und Wachstumspo-
der Risikoausgleich schrittweise weiter verfeinert, wobei künftig                tenziale in der ebenfalls stark regulierten Krankenzusatzversiche-
auch die Medikamentenkosten und die Krankheitsgeschichte                         rung nach VVG. Allerdings spielt hier die Umverteilung von den
berücksichtigt werden. Diese Umverteilung hebelt die Möglichkeit                 jungen zu den älteren Versicherten: Nur wenn die Krankenversi-
aus, als Krankenversicherer mit geringen Risiken tiefere Prämien                 cherer junge Versicherte in die Zusatzversicherung aufnehmen,
anzubieten, um so Marktanteile zu gewinnen. So wird der Risiko-                  sind sie in der Lage, ausreichend Alterungsrückstellungen zu
ausgleich zum Nullsummenspiel.                                                   bilden.

Prämieneinnahmen der zehn grössten Krankenversicherer, Anteile KVG und VVG
(in Mio. CHF)

6000

                27%           20%
                                           15%
4000

                                                         37%
                                                                       36%          10%
2000            73%           80%          85%                                                   28%
                                                                                                              24%
                                                                                                                            16%
                                                         63%                        90%
                                                                       64%                       72%          76%           84%          30%
                                                                                                                                         70%
    0
              Helsana         CSS     Groupe Mutuel     SWICA         Visana      Assura       Sanitas      Concordia       KPT        Sympany

          KVG           VVG

Quellen: BAG20,FINMA21, Geschäftsberichte, EY (Gruppenbetrachtung).

                                           Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes |   17
4 Ausgangspunkt:
  die Grund-
  bedürfnisse der
  Versicherten

                                                      Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung
                                                      der Geschäftsmodelle der Kranken-
                                                      versicherer bilden die grundlegenden
                                                      Bedürfnisse der Versicherten. Diese
                                                      lassen sich künftig mit datengestützten
                                                      Innovationen noch besser bedienen.
                                                      Um die damit verbundenen Mehrwerte
                                                      abzuschöpfen, müssen die Krankenver-
                                                      sicherer eine aktive Rolle übernehmen.

18   | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
Die hohe Qualität des Schweizer Gesundheitswesens sichern                Grundbedürfnisse im Gesundheitswesen
und gleichzeitig den Anstieg der Gesundheitskosten dämpfen:
Das wollen die öffentliche Hand, Krankenversicherer und Ver-
sicherte. Diese Interessensymmetrie zeigt sich insbesondere
bei den drei Grundbedürfnissen der Versicherten: gesund leben,
gesund werden und mit der Krankheit leben. Gelingt es den
Krankenversicherern, diese Bedürfnisse besser zu bedienen,                                                 Gesund
können sie den Anstieg der Gesundheitskosten dämpfen und                                                    leben
gleichzeitig neue Wertschöpfungsmöglichkeiten erschliessen.
Zahlreiche Beispiele aus der Schweiz – und noch vielmehr aus
dem Ausland – belegen diese Neuausrichtung.

                                                                                                           Grund-
                                                                                                         bedürfnisse

                                                                                                                               Mit der
                                                                                       Gesund
                                                                                                                              Krankheit
                                                                                       werden
                                                                                                                                leben

                                                                         Quelle: EY.

                                   Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes |   19
4 Ausgangspunkt: die Grundbedürfnisse der Versicherten

4.1 Gesund leben

Kostenkontrolle beginnt bei der Gesundheitsprävention. In der                    Eine zentrale Bedeutung kommt der prädiktiven Risikoanalyse
Schweiz werden hierfür allerdings nur gerade 2,2 Prozent der                     zu. Auf der Basis umfangreicher Daten lassen sich künftige Krank-
gesamten Gesundheitskosten aufgewendet. Entsprechend gross                       heitsrisiken erkennen, zum Beispiel Herz-Kreislauf-Störungen
ist der Bedarf für Innovationen. Den Krankenversicherern eröff-                  oder Typ-2-Diabetes, die vielfach mit dem Lebensstil zusammen-
nen sich mit technologischen Neuerungen und Datenanalysen                        hängen.
ungeahnte Möglichkeiten, individualisierte Gesundheitsberatun-
gen anzubieten.                                                                  Neue Erkenntnisse aus der Verhaltenswissenschaft und der soge-
                                                                                 nannten Gamification, dem Einbringen spielerischer Elemente wie
                                                                                 Punktesysteme oder Ranglisten, können die Wirksamkeit der
Grundbedürfnis                                                                   Gesundheitsberatung verbessern. Im Fokus stehen dabei Ernäh-
«Gesund leben»                                                                   rung und Bewegung: Eine gesunde Ernährung und regelmässige
                                                                                 körperliche Betätigung reduzieren nicht bloss die Gesundheits-
                                                                                 kosten, sie steigern auch direkt das Wohlbefinden der Versicher-
                                                                                 ten. Mentale Beratungen erhöhen zudem die Chance, psychische
                                                                                 Störungen zu verhindern oder frühzeitig zu erkennen und zu
                 Ernährungs-                 Bewegungs-                          behandeln.
                  beratung                    beratung
                                                                                 Das bedingt allerdings, dass persönliche Gesundheitsdaten
                                                                                 erfasst und analysiert werden. Eine EY-Umfrage zeigt, dass die
                                                                                 Schweizer Versicherten durchaus bereit sind, ihre Daten mit dem
                                  Gesund
                                                                                 Krankenversicherer zu teilen – wenn sie entsprechende Vorteile
                                   leben
                                                                                 erhalten (siehe Kapitel 5).

                 Prädiktive                    Mentale
                Risikoanalyse                  Beratung

Quelle: EY.

20   | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
Fallstudien                                                              sicherten der CSS mittels elektronischer Schrittzähler zu mehr
Die App Headspace fördert das tägliche Meditieren und erlaubt            Bewegung und soll so die Eigenverantwortung stärken. Die Bewe-
es Anwendern, ihre mentale Gesundheit zu verbessern. Head-               gungsdaten werden der CSS täglich übermittelt. Erreichen die
space nutzt Gamification-Funktionen sowie Social Media, um die           Teilnehmenden die vereinbarten Ziele (7500 oder 10 000
Anwender zu motivieren.                                                  Schritte pro Tag), erhalten sie eine Gutschrift auf ihr Gesund-
                                                                         heitskonto. Der zur CSS gehörende Online-Versicherer Sanagate
Mit der digitalen Ernährungsberatung von Zipongo erhalten                arbeitet daran, das digitale Präventionsangebot von Dacadoo für
Anwender in Echtzeit personalisierte Menüempfehlungen. Er-               seine Kunden anzubieten.
arbeitet werden die Ratschläge auf der Basis biometrischer
Daten, persönlicher Vorlieben, von Ernährungsbedürfnissen                Ähnlich funktioniert die Gesundheitsplattform Benevita von
sowie des täglichen Angebots umliegender Kantinen und Restau-            Swica: Deren Nutzer erhalten personalisierte Ratschläge zu
rants. Das Programm stellt zudem Tools zur Mahlzeitenplanung             Bewegung, Ernährung und Wohlbefinden, die sich am Lebens-
sowie Einkaufslisten zur Verfügung.                                      zyklus orientieren. Zudem können die Versicherten von Prämien-
                                                                         rabatten profitieren, vorausgesetzt sie pflegen einen gesunden
Auch in der Schweiz haben Krankenversicherer Dienstleistungen            Lebensstil.
in ihr Angebot aufgenommen, um Versicherte zu einem gesunden
Lebensstil zu bewegen. CSS myStep animiert die Zusatzver-

   Pay as you live (PAYL)                                                Ähnliche Produkte werden in Australien angeboten. Der Ver-
                                                                         sicherer Medibank gibt Wearables kostenlos an Kunden ab,
   Vom persönlichen Lebensstil abhängige Krankenkassenprä-               die sich an dem Gesundheitsprogramm beteiligen. Medibank
   mien: Das verspricht das Konzept «Pay as you live» (PAYL).            entschädigt ihre Versicherten nicht nur für körperliche Aktivi-
   Über Smartphones und Wearables erfasste Gesundheitsdaten              tät, sondern auch für den Einkauf von Gemüse und Früchten.
   werden ausgewertet, um die Krankenversicherten zu einem
   gesünderen Lebensstil zu bewegen. Damit lassen sich Gesund-           Die australische Airline Qantas bietet zusammen mit dem
   heitskosten reduzieren, wovon ein Teil als Prämienrabatt an           Versicherer NIB eine eigene Krankenversicherung an. Bei
   die Versicherten weitergegeben wird.                                  Qantas Assure werden Kunden, die sich häufig bewegen, mit
                                                                         Bonuspunkten belohnt. Das Versicherungsangebot zeichnet
   Fallstudien                                                           sich dadurch aus, dass es gezielt Vielflieger anspricht, eine
   Ausländische Krankenversicherer nutzen PAYL-Modelle                   Kundengruppe, die ohnehin positiv auf Bonusprogramme
   bereits aktiv. So erfasst der US-Versicherer John Hancock             reagiert.
   Fitnessdaten seiner Versicherten. Wer sich regelmässig
   bewegt, erhält Prämienrabatte auf die Lebensversicherung.             In der Schweiz sind PAYL-Angebote nur im Bereich der Zusatz-
   Und wer jährlich einen Gesundheitscheck durchführt und nicht          versicherung möglich, wobei die Höhe der Rabatte begrenzt
   raucht, profitiert von weiteren Entschädigungen.                      ist. Wollen Versicherer darüber hinaus Vergünstigungen
                                                                         anbieten, müssen sie den versicherungstechnischen Effekt
   Oscar, ein digitaler Krankenversicherer in den USA, nutzt             von Lebensstiländerungen belegen. In der öffentlichen Diskus-
   Online-Tools zur Antragstellung und bietet eine Ärzteplattform        sion wird gegen PAYL eingewendet, dass die Solidarität unter
   sowie verschiedene Telemedizin-Leistungen an. Oscar setzt             den Krankenversicherten abnimmt und körperlich Benachtei-
   Fitness-Tracker ein und entschädigt die Versicherten mit              ligte bestraft werden; so werden zum Beispiel Gehbehinderte
   Amazon-Gutscheinen, wenn sie eine gewisse Schrittzahl                 von Modellen mit Schrittzählern ausgeschlossen. Die damit
   zurücklegen. Und wer sich gegen Grippe impfen lässt, erhält           verbundenen Reputationsrisiken müssen Krankenversicherer
   Prämienrabatte.                                                       sorgfältig abwägen.

                                   Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes |   21
4 Ausgangspunkt: die Grundbedürfnisse der Versicherten

4.2 Gesund werden

Werden Versicherte krank, wollen sie klarerweise nur eines:                      Vermeidung gesundheitlicher Risiken. Entstehen Kosten, erwar-
schnell wieder gesund werden. Die medizinische Versorgung soll                   ten die Versicherten, dass die Krankenversicherer diese rasch und
zeitlich und örtlich flexibel sein; stationäre Behandlungen sind                 unkompliziert übernehmen.
hingegen möglichst zu vermeiden. Die Behandlungen selbst sol-
len permanent verfügbar, topmodern und bequem sein. Experten-                    Indem Krankenversicherer Einfluss auf die Leistungserbringung
wissen wird als selbstverständlich betrachtet, ebenso die                        nehmen, können sie die Kosten besser kontrollieren. Möglich
                                                                                 wäre dies über die Aufhebung des Vertragszwangs oder über
                                                                                 ergebnisabhängige Verträge mit Ärzten oder Spitälern. Damit
                                                                                 würden innovative, wirksame und effiziente Behandlungen
Grundbedürfnis                                                                   gefördert.
«Gesund werden»
                                                                                 Fallstudien
                                                                                 Es lassen sich insbesondere in den USA zahlreiche Start-ups
                                                                                 beobachten, die sich das Ziel gesetzt haben, Behandlungen
                                                                                 respektive deren Kosten zu optimieren. So hat der US-Fahrdienst
                   Kosten-                     Flexible                          Uber mit dem Pilotprojekt UberHealth gezeigt, wie mit der Haus-
                  übernahme                   Versorgung                         lieferung von Grippeimpfungen Personen erreicht werden kön-
                                                                                 nen, die sich sonst nicht hätten impfen lassen. Der Service basiert
                                                                                 auf einer mobilen Plattform, über die sich diverse medizinische
                                                                                 Dienstleistungen, von Medikamentenzustellungen bis zu Patien-
                                  Gesund
                                                                                 tentransporten, abwickeln lassen.
                                  werden

                                                                                 Oscar, ein digitaler Krankenversicherer in den USA, operiert mit
                                                                                 Online-Tools zur Antragstellung, einer Ärzteplattform und ver-
                                                                                 schiedenen Telemedizin-Angeboten. Zudem unterhält das Unter-
                                                                                 nehmen Partnerschaften mit Spitälern und Medikamentenhänd-
                          Optimale Behandlung
                                                                                 lern. Dadurch kann die Kosteneffizienz gesteigert werden.

Quelle: EY.

22   | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
Der Anstieg der Gesundheitskosten ist nicht zu vermeiden.
  Doch er lässt sich dämpfen.

Mit dem Präventionsprogramm des US-Unternehmens Omada                   Cholesterinsenker «Repatha» und mit Eli Lilly für das Diabetes-
Health können Krankenversicherer und Arbeitgeber die Gefahr             medikament «Trulicity» getroffen.
chronischer Erkrankungen und damit die Behandlungskosten sen-
ken. Dazu stellt Omada Health individuelle Massnahmen zusam-            Schweizer Krankenversicherer ziehen mit
men und stattet die Teilnehmer mit Wearables aus. Persönliche           Auch Schweizer Krankenversicherer haben Dienstleistungen lan-
Gesundheitscoachs, eine Online-Bezugsgruppe für tägliche Feed-          ciert, um die Behandlungskosten zu optimieren. Die CSS will mit
backs und laufende Unterstützung sollen das Engagement                  der Medgate-App die telemedizinische Beratung verbessern.
sicherstellen.                                                          Dabei wird nicht nur die Kontaktaufnahme erleichtert, über das
                                                                        Smartphone lassen sich auch Medikamente bestellen oder Fotos
Die beiden US-Krankenversicherer Cigna und Aetna haben ergeb-           von Haut- und Augenveränderungen zur Kontrolle übermitteln.
nisabhängige Verträge mit Novartis abgeschlossen. Zeigt das             Bei dem Versicherungsmodell Medpharma, das SWICA mit sei-
Medikament «Entresto», das bei Herzerkrankungen eingesetzt              nen TopPharm-Partnerapotheken anbietet, verpflichten sich die
wird, nicht die erhoffte Wirkung (gemessen an der Reduktion der         Versicherten, für eine Erstkonsultation zunächst entweder eine
Hospitalisierungsrate), gewährt der Pharmahersteller den Versi-         der über hundert TopPharm-Apotheken in der Schweiz aufzusu-
cherern einen Preisnachlass. Vergleichbare Abmachungen hat              chen oder eine telefonische Gesundheitsberatung durch Sante24
der US-Krankenversicherer Harvard Pilgrim mit Amgen für den             in Anspruch zu nehmen.

                                  Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes |   23
4 Ausgangspunkt: die Grundbedürfnisse der Versicherten

4.3 Mit der Krankheit leben

Chronische Krankheiten sind für einen grossen Teil der Gesund-                   prädiktives Monitoring. Je besser chronisch kranke Patienten
heitskosten verantwortlich (siehe Kap. 3.1.1). Mit der Langlebig-                überwacht und betreut werden, desto eher lassen sich Kosten für
keit der Gesellschaft und dem heutigen Lebensstil nimmt ihre                     Notfall- und Langzeitbehandlungen vermeiden.
Bedeutung weiter zu. Umso wichtiger ist es, mit innovativen
Ansätzen die Behandlungskosten für chronische Krankheiten zu                     Innovative Geschäftsmodelle: Vermeiden von Notfällen
reduzieren. Dazu zählen digital unterstützte Therapien und                       Die Digitalisierung verändert die Behandlung chronischer Erkran-
                                                                                 kungen grundlegend. Mit dem intelligenten Einsatz von Sensoren
                                                                                 und der Datenanalyse kann die Lebensqualität der Patienten ver-
                                                                                 bessert und die Kosten für Notfälle reduziert werden. Den Kran-
Grundbedürfnis                                                                   kenversicherern bietet sich damit die Chance, über individuelle
«Mit der Krankheit leben»                                                        Beratungs- und Unterstützungsleistungen Mehrwerte für die Ver-
                                                                                 sicherten zu schaffen und einen Beitrag zur Senkung der Gesund-
                                                                                 heitskosten zu leisten. Basis für digitales Monitoring ist eine intel-
                                                                                 ligente Aggregation und Analyse aller verfügbaren Daten.

                 Krankheits-                  Monitoring                         Fallstudien
                  beratung                                                       Der von der North Carolina State University entwickelte Health
                                                                                 and Environmental Tracker (HET) misst mittels Sensoren an
                                                                                 einem Armband neben den medizinischen Daten des Anwenders
                                  Mit der                                        diverse Umweltfaktoren wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Ozon-
                                 Krankheit                                       konzentration oder flüchtige organische Verbindungen. Mittels
                                   leben                                         prädiktiver Algorithmen lassen sich dadurch Asthmaanfälle vor-
                                                                                 aussagen und Anwender frühzeitig warnen, damit diese ihr Ver-
                                                                                 halten ändern oder den Ort wechseln.
                Wirksame und                 Erfahrungs-
                  effiziente                  austausch                          Mit dem Proteus Discover, einem von Proteus Digital Health
                 Behandlung                                                      entwickelten Sensor, lässt sich verfolgen, wann Patienten ihre
                                                                                 Arzneimittel einnehmen. Der sandkorngrosse Sensor wird mit

Quelle: EY.

24   | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
Werden chronische Patienten intelligent betreut, können
  gefährliche und kostspielige Notfälle vermieden werden.

dem Medikament verbunden, und nach der Einnahme werden                    sollen schwere Anämien und kostspielige Behandlungen verhin-
Uhrzeit sowie persönliche Daten wie Puls und körperliche Aktivi-          dert werden.
tät des Patienten übermittelt. Damit können Ärzte überwachen,
ob Patienten die vorgeschriebenen Einnahmezeiten einhalten und            Auch in der Schweiz werden digitale Monitorings angewendet.
ob das Medikament wirkt. Die US-Gesundheitsbehörde hat den                Das Gesundheitsprogramm Care4Cardio des Krankenversiche-
Sensor in Kombination mit einem Bluthochdruckmittel zugelas-              rers Sanitas unterstützt Menschen mit Herzschwäche in ihrem
sen. Die Technologie hilft, die Compliance von Medikationen zu            Alltag. Um Frühwarnzeichen schnell und zuverlässig zu erkennen,
erhöhen, und trägt zu einer wirksameren Behandlung chronischer            erfassen die Patienten täglich ihr Gewicht und ihre körperliche
Krankheiten bei. Es wird geschätzt, dass allein in den USA jährlich       Befindlichkeit. Sind die elektronisch übermittelten Daten auffällig,
Gesundheitskosten von 100 bis 300 Mio. USD entstehen, weil                werden die Patienten von einer Fachperson kontaktiert.
Patienten ihre Medikamente nicht wie vorgeschrieben ein-
nehmen.22

Eine auf Diabetespatienten ausgerichtete digitale Lösung bietet
das Unternehmen Dexcom an. Ein am Bauch getragenes Mess-
gerät erfasst rund um die Uhr den Glukosespiegel, ein Smart-
phone empfängt die Daten und warnt den Patienten vor einer
drohenden Unterzuckerung. Der von der US-Gesundheitsbehörde
zugelassene Service wird in zahlreichen Ländern vertrieben, auch
in der Schweiz.

Das Medtech-Unternehmen Vifor Fresenius Medical Care Renal
Pharma setzt den Fokus auf Patienten, die an einer chronischen
Nierenkrankheit leiden. Mitte 2017 lanciert das Unternehmen
einen Algorithmus, um Patienten vor einer bevorstehenden
Anämie (Blutarmut) zu warnen. Ziel ist ein integrierter Gesund-
heitsservice, der pharmazeutische Produkte, Dialyse und klini-
sche Services mit vorhersagenden Algorithmen umfasst. Damit

                                    Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes |   25
5 Verändertes
  Kunden-
  verhalten im
  Umgang mit
  Gesundheits-
  daten
                           Rund 60 Prozent der von EY befragten
                           Versicherten zeigen eine hohe bis sehr
                           hohe Bereitschaft, ihre Gesundheitsdaten
                           mit dem Krankenversicherer zu teilen,
                           falls dieser attraktive Anreize setzt.
                           Heute zeichnet knapp die Hälfte der
                           Krankenversicherten Gesundheitsdaten
                           auf. Somit liesse sich die vorhandene
                           Datenbasis der Krankenversicherer noch-
                           mals signifikant ausbauen. Dies ist ein
                           entscheidender Wettbewerbsvorteil bei
                           der Entwicklung innovativer Angebote.

26   | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
5.1 Datenaustausch: Bereitschaft und Bedenken
    der Versicherten

Bereits heute stehen den Krankenversicherern umfangreiche               Krankenversicherer müssen sich darüber klar werden, welche
Gesundheits- und Personendaten aus verschiedenen Quellen zur            Daten sie strategisch nutzen wollen. Dabei liegt die Schlüssel-
Verfügung (z.B. Alter, Geschlecht, Kundenzufriedenheit oder             kompetenz künftig weniger darin, Daten zu generieren, als
beanspruchte medizinische Leistungen). Die Kunden können via            vielmehr, diese zu aggregieren und gezielt zu analysieren. Hier
Wearables, Apps und andere Technologien umfangreiche Gesund-            können Krankenversicherer auf Dienstleistungen Dritter zurück-
heitsinformationen zu diesem Datenbestand beisteuern. Schliess-         greifen. Eine entscheidende Rahmenbedingung stellt zudem der
lich lassen sich auch über Internet und Social Media indirekt           Datenschutz dar: Wiederum sind innovative juristische Ansätze
gesundheitsrelevante Daten wie das Kaufverhalten erheben und            gefragt, um im Dialog mit den Versicherten die Rechtmässigkeit
aufbereiten.                                                            von Big Data jederzeit sicherzustellen.

                                  Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes |   27
5 Verändertes Kundenverhalten im Umgang mit Gesundheitsdaten

Datenaufzeichnung ist beliebt                                                    Fast 50 Prozent der Befragten zeichnet Daten auf, um eine Über-
Die Kunden seien noch nicht bereit, ihre Gesundheitsdaten mit                    sicht über sportliche Leistungen zu erhalten. 46 Prozent davon
den Krankenversicherern zu teilen: Dieses Argument wird häufig                   tun dies aus blosser Neugier und 42 Prozent, um ein Fitnessziel
gegen datenbasierte Innovationen im Gesundheitswesen vorge-                      zu erreichen. 36 Prozent überwachen damit ihren
bracht. Doch die Realität ist eine andere, wie eine EY-Befragung*                Gesundheitszustand.
zeigt.
                                                                                 Warum zeichnen gewisse Personen keine Daten auf? 48 Prozent
Knapp die Hälfte der Befragten zeichnet bereits Gesundheitsda-                   sehen keinen Nutzen darin, 32 Prozent fehlt die Zeit dazu und
ten auf. Am häufigsten werden Schritt- und Fitnessdaten gemes-                   23 Prozent haben datenschutzrechtliche Bedenken.
sen. Andere medizinisch relevante Informationen wie Blutdruck-
oder Cholesterinwerte werden hingegen noch kaum erhoben.

Derzeit persönlich aufgezeichnete Gesundheitsdaten                               Motive der Datenaufzeichnung
(Mehrfachnennungen möglich)                                                      (Mehrfachnennungen möglich)

                  Schrittdaten                                 32%                 Übersicht über Sportleistung                                         50%

                 Fitnessdaten                            26%                                             Neugier                                   46%

                                                                                  Erreichung eines Fitnessziels
                    Pulsdaten                  12%                                                                                               42%
                                                                                 oder Gewinn einer «Challenge»
                                                                                              Überwachen des
              Schlafrhythmus              8%                                                                                               36%
                                                                                         Gesundheitszustandes

                     Blutdruck       4%                                             Prävention von Krankheiten              11%

                                                                                                Vergleichen der
                    Blutzucker    1%                                                                                    10%
                                                                                     Sportleistung mit anderen

            Cholesterinspiegel    1%                                                                     Andere        7%

                Andere Daten           6%                                        Quelle: EY (n = 250).

Quelle: EY (n = 418).

                                                                                 Hauptargumente gegen Gesundheitsdaten-Aufzeichnung
                                                                                 (Mehrfachnennungen möglich)

                                                                                        Kein Nutzen ersichtlich                                        48%

                                                                                                     Keine Zeit                          32%

                                                                                                         Andere                    26%

                                                                                         Datenschutzbedenken                      23%

* Von September bis Oktober 2016 wurden rund 450 Personen aus der
                                                                                           Messgeräte zu teuer          9%
  Deutschschweiz online befragt. 61 Prozent der Teilnehmenden waren
  20- bis 34-jährig, 39 Prozent waren 35-jährig und älter. 52 Prozent der
  Befragten waren männlich, 48 Prozent weiblich.                                 Quelle: EY (n = 224).

28   | Kasse für Kranke? Oder Partner für Gesundheit? Strategische Analyse des Schweizer Krankenversicherungsmarktes
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