Der erste Monat mit COVID-19-Fällen im Landkreis Wittenberg, Sachsen-Anhalt - RKI
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Epidemiologisches Bulletin 20 | 2020 Online vorab 21. April 2020 3 Der erste Monat mit COVID-19-Fällen im Landkreis Wittenberg, Sachsen-Anhalt Der Landkreis (LK) Wittenberg liegt an den Flüssen cluster zentriert in der Gemeinde/Stadt Jessen (JE) Elbe und Elster im Osten von Sachsen-Anhalt und („Jessen-Cluster“) (s. Abb. 1), jedoch verzeichnete hat ca. 125.000 Einwohner verteilt auf 9 Gemein- jede der 9 Gemeinden/Städte mindestens einen Fall. den, die als Städte bezeichnet werden. Kreissitz ist Lutherstadt Wittenberg. Die Gesamtinzidenz von COVID-19 (96 Fälle/ 100.000 Einwohner (Einw.), am 7.4.2020 um 00:00 Der erste laborbestätigte COVID-19-Fall im LK, er- Uhr)1 platziert den LK Wittenberg aktuell etwas un- krankte am 4.3.2020 und wurde am 11.3.2020 an terhalb der bundesweiten Gesamtinzidenz (124 Fäl- das Gesundheitsamt gemeldet. Bis zum 7.4.2020, le/100.000 Einw.)2. Der bisherige Höhepunkt der 12:00 Uhr (bis zu diesem Datum gemeldete Fälle Fallzahlen im Kreis bildete bislang die 13. Meldewo- werden im Folgenden beschrieben, spätere Ermitt- che (ab 23.3.2020) mit 62 gemeldeten Infektionen. lungsergebnisse zu den Fällen fließen in den Be- Seither fallen die wöchentlichen Fallzahlen stetig. richt ein) wurden 121 Infektionen gemeldet (davon 10 Fälle hospitalisiert, 3 verstorben). Dieser Bericht beschreibt nachfolgend die Kontrolle Obwohl 21 Infektionen (17 %) als asymptomatisch des Jessen-Clusters (welches auch ein Alten- und beurteilt werden, werden für den vorliegenden Be- Pflegeheim [APH] betraf), die sonstige COVID-19- richt alle Infektionen als Fälle gezählt, da sich die Situation im Kreis und die gleitende Skalierung der Maßnahmen rund um symptomatische oder asym- Arbeit im Gesundheitsamt (Bewältigung der zuneh- ptomatische Infektionen mit SARS-CoV-2 nicht we- menden Arbeit durch schritthaltende Vergrößerung sentlich unterscheiden. Betroffen waren Personen des Teams). Ziel ist, daraus Hinweise für den Um- zwischen 7 und 95 Jahren (Median: 54 Jahre), davon gang mit COVID-19 auch in anderen nicht-großstäd- 70 (58 %) weiblich. Der starke Anstieg der Fallzah- tischen Kreisen und in APH abzuleiten. len wurde getrieben durch ein großes Infektions- Anzahl Fälle 16 Gemeldet nach dem 7.4. 14 Bad Schmiedeberg Coswig (Anhalt) 12 Oranienbaum-Wörlitz 10 Kemberg Gräfenhainichen 8 Annaburg 6 Zahna-Elster Lutherstadt Wittenberg 4 Jessen (Elster) 2 0 Datum des Symptombeginns (wo fehlend, Meldedatum minus 6 Tage) Abb. 1 | Epidemiekurve im Kreis nach Wohnortgemeinde/Stadt
Epidemiologisches Bulletin 20 | 2020 Online vorab 21. April 2020 4 1. Beschreibung des Clusters in Jessen von Pflegepersonal. Im Wohnbereich der ersten Fälle Das Jessen-Cluster umfasst bis zum 7.4.2020 67 wurden Bewohner und Personal am 23.3.2020 reihen- von insgesamt 121 Fällen im LK Wittenberg, sowie untersucht. Insgesamt waren in diesem Wohnbereich einen Fall in Brandenburg. In einer Gruppe von 4 11/24 (46 %) Bewohner und 8/16 (50 %) der Personen Reiserückkehrern von einem Skiurlaub im Salzbur- des Personals infiziert. Ab diesem Zeitpunkt wurde ger Land (Österreich) mit Wohnsitz im LK Witten- ein großer Ausbruch vermutet und die Hygienemaß- berg, erkrankten 3 an COVID-19. Der erste bekannte nahmen im APH entsprechend weiter verstärkt. Erkrankungsbeginn im Ausbruch ist der 11.3.2020. Die Weitergabe der Infektion ist in Abbildung 2 (s. S. Die Kleinstadt Jessen und ihr Vorort Schweinitz 5) schematisch dargestellt, ausgehend von den 3 (zusammen etwa 7.250 Einwohner) waren vom Indexfällen am linken Rand. 26.3.2020 – 6.4.2020 per Allgemeinverfügung des Kreises effektiv abgeriegelt 3 und alle Einwohner Zunächst waren neben den Reiserückkehrern selbst unter Heimquarantäne gestellt worden. Es wurde vornehmlich Haushaltsmitglieder, Bekannte dersel- ein erhöhtes Testkontingent (tgl. > 200 Tests) für ben und Arbeitskontakte betroffen, vor allem mit den Kreis verfügbar gemacht, so dass vor allem in Wohnorten in JE (54/67, 81 %). Die Infektion ge- den abgeriegelten Gebieten und unter anderen langte wahrscheinlich durch eine Pflegekraft in das Kontakten in diesem Ausbruchsgeschehen intensiv APH, bevor die Infektion des Partners bekannt war. COVID-19-Tests durchgeführt werden konnten. Der Partner war nach Rückkehr aus dem Skiurlaub Gleichzeitig wurde von Kreis- und Landesbehör- am 7.3.2020 mit milden Symptomen erkrankt (ge- den ein Team von Epidemiologen des Robert nauer Erkrankungsbeginn unklar) und steckte seine Koch-Instituts (RKI) zur Unterstützung des Gesund- Partnerin an, die in der Nacht vom 12.3 auf den heitsamtes angefordert (vor Ort 26.3. – 2.4.2020, 13.3.2020 einmalig Schüttelfrost und Kopfschmer- weitere Unterstützung telefonisch). zen bekam und noch symptomfrei bis zum 15.3.2020 im APH arbeitete. Nach Bekanntwerden der Infek- Im APH wurden nun zusätzlich zu dem zuerst un- tion eines Mitreisenden ihres Partners (Melde- tersuchten Wohnbereich alle weiteren Bewohner und datum 19.3.2020) wurde COVID-19 auch bei ihrem das Pflegepersonal durch Abstrich getestet. Nach den Partner diagnostiziert und die Pflegekraft als enge Ergebnissen der Abstriche vom 26.3.2020 waren ins- Kontaktperson quarantänisiert. Als sie am selben gesamt 21 infizierte Bewohner in allen 4 Wohnberei- Tag selbst mit respiratorischen Symptomen er- chen identifiziert, mit dem frühesten erinnerten krankte, war sie bereits in häuslicher Absonderung. Symptombeginn am 12.3.2020. Geht man von einer minimalen Inkubationszeit von einem Tag und ei- Besuch von Angehörigen oder Freunden war (auf- nem seriellen Intervall von 4 Tagen aus, könnte es in grund der allgemeinen Maßnahmen) im APH den 12 Tagen vor dem 23.3.2020 (Isolierung auf den schon seit dem 17.3.2020 nicht mehr gestattet wor- Zimmern) ca. 3 Infektionsgenerationen mit durch- den. Die erste Infektion im APH (86 Bewohner in schnittlich 7 Fällen gegeben haben (s. Abb 2, S. 5). 4 Wohnbereichen, 81 Personen Personal) wurde in Folge der Hospitalisierung eines Heimbewohners Auf Grundlage der Testergebnisse erfolgte am im Kreiskrankenhaus in Lutherstadt Wittenberg 28.3.2020 eine Kohortierung der Bewohner gemäß (Evangelisches Krankenhaus Paul Gerhardt Stift) Infektionsstatus: In 2 Wohnbereichen wurden die am 22.3.2020 bekannt (Abstrichdatum) – ein weite- positiv-getesteten Bewohner zusammengefasst, so- rer Heimbewohner war schon am 19.3.2020 aufge- wie eine Woche lang 4 negativ-getestete Bewohner nommen worden und wurde in Folge auch positiv mit vergleichbarer Symptomatik. Die letztere Maß- getestet. Eine syndromische Überwachung im APH nahme schien vertretbar, weil nur negativ getestetes bestand zu diesem Zeitpunkt nicht – Erkrankungs- Personal für die Pflege eingesetzt wurde, und die beginne wurden später aus der Erinnerung der Pfle- Bewohner auf den Zimmern isoliert waren. Obwohl gekräfte rekonstruiert. Erste Maßnahmen im APH es infektiologisch sinnvoll gewesen wäre, konnte waren vor allem die Isolierung aller Bewohner in aus räumlichen Gründen keine dritte Kohorte für ihren jeweiligen Zimmern und die feste Zuteilung neue Verdachtsfälle etabliert werden. Nach
Indexfälle 1. Generation 2. Generation 3. Generation 4. Generation 5. Generation Jessen-Cluster n=67 (+1 Fall in BB) (+1 am 9.4. gemeldeter Fall) Alten-/Pflegeheim (APH) 6 5 Epidemiologisches Bulletin 4 Personal Bewohner 3 Anzahl Fälle 2 BB 1 plus 7 ~ # asympto- 0 20 | 2020 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 1. 2. 3. 4. 5. 6. matische Reiserückkehrer Infektionen Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Mrz. Apr. Apr. Apr. Apr. Apr. Apr. Österreich 7.3. Symptombeginn* Haushalt ~ P~ Haushalt APH-Besucher Familie Haushalt ~ Haushalt ? Verein ~ APH-Besucher Beruf Haushalt Haushalt Essen mit Bekannten ~ Online vorab 21. April 2020 Familie Legende: ~ Bekannte ein Fall ~ ~ Indexfälle Übertragung im Haushalt Familie Übertragung auf sonstige Familienangehörige ~ Berufliche Kontakte Übertragung im APH ~ Bekannte Haushalt Sonstige Kontakte *: erstes passendes Symptom nach Erinnerung des Pflegepersonals Familie ~: gemeldet bis 23.03.2020 (Inkrafttreten der bundeweiten Kontaktbeschränkungen) Geschäftl. ?: Verbindung nicht ganz klar Treffen Haushalt BB: Fall wohnhaft in Brandenburg #: erst am 9.4.2020 gemeldeter Fall 5 Abb. 2 | Infektionsgenerationen Jessen-Cluster gemäß den dem Gesundheitsamt vorliegenden Informationen
Epidemiologisches Bulletin 20 | 2020 Online vorab 21. April 2020 6 Infl.-Surv. negativem Testergebnis wurden Bewohner und Per- sein. Auffällig ist, dass die infizierten Bewohner (Al- sonal alle 2 Tage erneut abgestrichen (ab dem tersmedian 90 Jahre) statistisch signifikant älter wa- 9.4.2020 die Bewohner alle 3 Tage). Die Epidemie- ren, als die nicht-infizierten Bewohner (Altersmedi- kurve im Heim ist in Abbildung 2 integriert. Der im an 85). Bezüglich Pflegegrad waren die Gruppen Rahmen des Datenstandes letzte Erkrankungsbe- nicht statistisch signifikant unterschiedlich. Bislang ginn war der 30.3.2020. Die Infektion einer Bewoh- verstarben 3 der Bewohner an COVID-19 (alle 3 multi- nerin, die seit dem 25.3.2020 unter respiratorischen morbid, Altersmedian: 91 Jahre) – weitere mit dem Symptomen litt, wurde allerdings erst am 7.4.2020 Ausbruch assoziierte Hospitalisierungen und To- entdeckt: Die Bewohnerin war bei den 3 zuvor er- desfälle unter den infizierten Heimbewohnern sind folgten Abstrichen 2-mal nur positiv für Influenza A, mit Stand vom 16.4.2020 inzwischen unwahr- dann einmal negativ für Influenza A und SARS- scheinlich. Beim Pflegepersonal wurden 11 Infektio- CoV-2, und erst im vierten Abstrich SARS-CoV-2-po- nen registriert (10 Pflegekräfte und 1 Wäscherin, sitiv. Sie war auf dem Zimmer isoliert in der Kohor- 14 % des Personals); Hospitalisierungen waren nicht te der negativ getesteten Bewohner gepflegt worden. erforderlich. [Eine weitere Pflegekraft, die seit dem Folgefälle ausgehend von diesem Fall sind bislang 26.3.2020 aus privaten Gründen nicht im APH nicht bekannt. gewesen war, erkrankte am 6.4.2020; ihre Infektion wurde erst nach dem hier beschriebenen Details zum Krankheitsverlauf der 22 infizierten Be- Datenstand am 9.4.2020 gemeldet]. wohner (26 % aller Bewohner) sind Tabelle 1 zu ent- nehmen. Nach der Kohortierung scheint es nicht Vor der Untersagung von Besuch hatten sich offen- mehr zu weiteren Übertragungen gekommen zu bar noch 2 Besucher des Heims durch Aufenthalt dort infiziert, was zu weiteren Übertragungen auf Fa- milienangehörige und im beruflichen Kontext führ- te. In Bezug auf eine dieser erkrankten Besucherin- Infizierte Nicht infizierte nen ist auffällig, dass die konkret besuchten Bewoh- Heimbewohner Heimbewohner ner zu keinem Zeitpunkt positiv getestet wurden. Anzahl Bewohner 22 64 Der Fall wurde erst im Nachhinein mit dem APH in Anteil männlich (%) Verbindung gebracht. Sie ist rückblickend eine Kon- 23 % 22% taktperson bezüglich eines Aufenthalts im APH, aber Altersmedian (Jahre)° 90 85 nicht zu spezifischen infizierten Heimbewohnern. Anteil mit Pflegegrad 10/22, 46 % 32/64, 50 % 4+5 (%)~ Auch im restlichen Ausbruchscluster wurden Kon- Asymptomatisch 7 (32%) taktpersonen intensiv und niedrigschwellig getestet, in den abgeriegelten Gebieten stand das Testange- Symptomatisch* 15 (68%) bot allen Bewohnern offen. Seit dem Clusterbeginn - hospitalisiert konnte in Jessen nur ein einziger Fall weder dem 5 (23%) Jessen-Cluster, noch anderen bekannten Clustern - verstorben 3 (2 davon nicht zugeordnet werden. Auch eine Infektion am Ar- hospitalisiert) beitsort in Brandenburg kann nicht ausgeschlossen werden. Zum Zeitpunkt der Feststellung von Fällen, Tab. 1 | Details zu dem Ausbruch im APH Jessen, Teil des die sich ja vielfach schon als Kontaktpersonen oder Jessen-Cluster (Stand: 7.4.2020) durch Wohnen in Jessen/Schweinitz in häuslicher ° Unterschied statistisch signifikant, p = 0,03 (Mann-Whitney- Absonderung befanden, konnten die Infektionsket- U-Test, zweiseitig) ~ ten i. d. R. schnell beendet werden. Häufig bildete Unterschied nicht statistisch signifikant, p = 0,71 (Chi2-Test, zweiseitig) eine Übertragung im Haushalt oder auf andere Fa- * Folgende Symptome definierten eine symptomatische milienangehörige das letzte Glied der Kette. Infektion: Lungenentzündung (Pneumonie) oder akute respiratorische Symptome jeder Schwere oder krankheits- bedingter Tod 6
v.? Epidemiologisches Bulletin 20 | 2020 Online vorab 21. April 2020 7 2. Sonstige Infektionsketten im Landkreis gereist, hatte im Stadion in Block 49, Reihe 30, geses- Wittenberg sen und in der Halbzeitpause die Toilettenanlagen be- Neben dem Jessen-Cluster, zu dem 67 (55 %) der ak- nutzt. Im VIP-Bereich hatte er sich nicht aufgehalten tuell bekannten Fälle im LK gehören, wurden über und war direkt nach dem Spiel zurückgefahren. Seine den gesamten März immer wieder Fälle diagnosti- beiden Mitfahrer im Auto, einer auch Sitznachbar ziert, die direkt auf Infektionsquellen außerhalb des während des Spiels, erkrankten nicht.) Nachdem in 2 LK Wittenberg zurückgehen (s. Abb. 3). Darunter fal- benachbarten Büros insgesamt 5 Arbeitnehmer er- len familiäre oder freundschaftliche Besuche in und krankten, wurden auch die restlichen 25 Angestell- Besucher aus anderen Teilen Deutschlands (z. B. ten/Kontaktpersonen reihenuntersucht. Dabei wur- Kreis Heinsberg/Nordrhein-Westfalen, Baden-Würt- den keine weiteren Infektionen festgestellt. temberg und Hamburg, benachbarte Kreise), eine Ka- ribik-Kreuzfahrt, Repatriierung aus Kuba, und beruf- Abbildung 3 zeigt, dass diese nicht mit bekannten liche Tätigkeit in Bayern). Eine Indexpatientin aus ei- Infektionsketten im Kreis verbundenen Fälle über nem Nachbarbundesland ist assoziiert mit 3 Fällen an den ganzen März hinweg immer wieder verzeichnet ihrem Büroarbeitsplatz in Wittenberg (Büro-A), sowie wurden, ab dem 23.3.2020 (Inkrafttreten der bun- 2 Haushalts-Folgefällen. Ein an einer anderen Büro- desweiten Kontaktbeschränkungen) jedoch seltener. arbeitsstelle zentriertes Cluster (Büro-M) mit aktuell Im Prinzip hat jeder solche Fallimport in den LK das 5 Fällen dort und 2 weiteren in den Haushalten der Potenzial, einen Ausbruch wie das Jessen-Cluster Fälle, geht vermutlich auf den Besuch des Cham- auszulösen, wenn er nicht rechtzeitig erkannt wird. pions-League-Spieles RB Leipzig – Tottenham Hot- Bei 3 neueren Clustern ist der Ursprung aktuell spurs am 10.3.2020 durch einen der Patienten zu- noch unklar. rück. (Der Fallpatient war mit dem Auto nach Leipzig Anzahl Fälle 20 Herkunft unklar Erster Erkrankungsbegin in neuem Cluster mit Bezug zu Fällen außerhalb des LK Wittenberg: Ex-Kuba Ex-Dessau Ex-NW Ex-BY Erster Erkrankngsbeginn in neuem Cluster, Ursprung (noch) unklar: 15 Ex-Kreuzfahrt Ex-HH Ex-BW Ex-Dessau-Italien Ex-Bitterfeld 10 Krankenhaus Büro-A Büro-M Wörlitz-Cluster Zahna-Cluster 5 Jessen-Cluster 0 04. Mrz 05. Mrz 11. Mrz 07. Mrz 20. Mrz 04. Apr 16. Mrz 19. Mrz 02. Apr 06. Mrz 08. Mrz 09. Mrz 10. Mrz 26. Mrz 29. Mrz 01. Apr 12. Mrz 13. Mrz 14. Mrz 21. Mrz 23. Mrz 31. Mrz 22. Mrz 24. Mrz 28. Mrz 30. Mrz 15. Mrz 03. Apr 17. Mrz 25. Mrz 27. Mrz 18. Mrz asympt/unbekannt Symptombeginn Abb. 3 | Epidemiekurve nach Cluster-Zugehörigkeit (Stand: 7.4.2020)
Epidemiologisches Bulletin 20 | 2020 Online vorab 21. April 2020 8 3. Anpassung der Arbeit im Gesund- onsketten wurde deutlich, dass in Jessen und heitsamt: Schweinitz keine großen unerkannten Transmissi- Das Stammpersonal von 3 Ärzten und 7 Gesund- onsgeschehen vorliegen. Somit konnte die Abriege- heitsaufsehern des Kreisgesundheitsamts wurde lung nach 10 Tagen aufgehoben werden. mit steigender Fallzahl durch graduelle Zuord- nung amtsfremder Mitarbeiter (aus der übrigen Seit Ende März hat sich der Schwerpunkt neuer Fall- Kreisverwaltung, Agentur für Arbeit, und vom Me- meldungen in andere Gemeinden/Städte im LK Wit- dizinischen Dienst der Krankenversicherung tenberg verlagert. Der Anteil der neuen Fälle mit In- [MDK]), vor allem für die Ermittlungsaufgaben, fektionsort in Nachbarkreisen, insbesondere durch auf aktuell 5 Ärzte, 9 Gesundheitsaufseher und 12 Berufspendler, ist mit Stand vom 16.4.2020 steigend. Fallermittler vergrößert. Die Fallübermittlung in SurvNet wurde durchweg sichergestellt. Empfehlungen: Die Vorwärtsermittlung von Fallkontakten, Auffor- ▶▶ Alten- und Pflegeheim: derungen zum Testen und die Verfügung häusli- • Der Teilausbruch im APH führte aufgrund der cher Absonderung rund um einen Fall liegen übli- hohen Zahl an Folgeerkrankungen pro seriel- cherweise in der Hand eines festen Bearbeiters. Al- lem Intervall zu einer hohen Infektions- bzw. lerdings wurde mit steigender Fallzahl, steigender Erkrankungsrate in dieser sehr vulnerablen Anzahl Fallermittler und zunehmend komplexen (Alters-)Gruppe. Er wurde nach weniger als 2 Infektionsketten deutlich, dass eine zentrale Daten- Wochen, nachdem das Virus in das Heim ein- haltung für die Ermittlungen zu Kontaktpersonen getragen wurde, durch die Hospitalisierung ei- und Zusammenhänge zwischen den Fällen fehlte. nes Patienten entdeckt. Dementsprechend Hierfür adaptierte das RKI-Team eine auf der früh konnten die beschriebenen Maßnahmen RKI-Homepage verfügbare Microsoft EXCEL-Tabel- greifen und effektiv wirken. Der aktuell letzte le zur Auflistung von Fällen und Kontrollen 4 für den bekannte Erkrankungsbeginn bei einer Be- konkreten Einsatz in Wittenberg und transferierte wohnerin ist der 30.3.2020, bei einer Pflege- die vorhandenen Daten aus elektronischen und kraft der 6.4.2020 – beide sind vereinbar mit Papier-Quellen im Laufe von 3 – 4 Tagen in diese einer Infektion vor der Kohortierung gemäß Datei. Sie wurde am 31.3.2020 für den laufenden Be- Teststatus. Die Krankenhäuser im Kreis konn- trieb übergeben. Während alle Ermittler Informati- ten frühzeitig auf eine mögliche Welle an Auf- onen in einer aktuellen Version der Liste nachschla- nahmen aus dem Heim vorbereitet werden. gen können, werden Einträge in die EXCEL-Tabelle Eine frühe Entdeckung im APH selbst wäre nur von einem kleinen Kernteam von 3 Personen vermutlich durch das Führen von Symptom- vorgenommen. Über die auch in der Übermitt- tagebüchern (tägliche Surveillance für respira- lungssoftware verfügbaren Daten hinaus ermög- torische Symptome bei Personal und Bewoh- licht die Tabelle ein schnelles Nachschlagen (z. B., nern) durch die Pflegekräfte,4 und niedrig- ob ein neu gemeldeter Fall als Kontaktperson be- schwellige Testung bei symptomatischen Pfle- kannt ist, und in welchem Kontext), die Hinterle- gekräften und Bewohnern begünstigt worden gung von Informationen zur Infektionskette (Clus- (s. www.rki.de/covid-19-pflege-anlagen). tername etc.), und die Auswertung der Daten (z. B. zur Erstellung von epidemiologischen Kurven, kon- • Die Übertragung des Virus durch eine Pflege- textspezifischen Tabellen zum APH) für die Bericht- kraft war präsymptomatisch im Hinblick auf erstattung, ohne Einführung einer neuen Software klar respiratorische Symptome. Sie hätte rück- mitten in einer Krise. blickend vielleicht verhindert werden können, wenn die Pflegekräfte bei der Pflege präventiv Die rückwärtsgerichtete Ermittlung hinsichtlich In- (also auch bei nicht als infiziert bekannten fektionsquellen neuer Fälle wurde verstärkt. Durch Bewohnern) konsequent Mund-Nasen-Schutz die konsequente nachträgliche Zuordnung zu- getragen hätten (FFP2-Masken ohne Ventil nächst unklarer Infektionen zu bekannten Infekti- wären auch einsetzbar). Das generelle Tragen
Epidemiologisches Bulletin 20 | 2020 Online vorab 21. April 2020 9 von MNS durch sämtliches Personal mit direk- Übersicht nicht verloren geht und Auswertun- tem Kontakt zu besonders vulnerablen Perso- gen des aktuellen Datenstandes noch effektiv nengruppen ist aus Gründen des Patienten- möglich sind. Die vorsorgliche Anschaffung schutzes während der Pandemie empfohlen.4 geeigneter Systeme und die Einarbeitung der auch in der Krise damit befassten Mitarbeiten- • Die beiden infizierten Besucher des APH führ- den wäre für die Zeit vor einem Ausbruch ten am Arbeitsplatz und innerhalb der Familie sinnvoll. Im Ausbruch kann, wie hier, kurzfris- zu jeweils 2 weiteren Infektionsgenerationen. tig eine Liste von Fällen und Kontakten in Besucher, aber auch z. B. Handwerker und The- EXCEL eingerichtet und zentral geführt wer- rapeuten, sollten bei der Auflistung von Kon- den (Beispiel siehe5). taktpersonen im APH-Kontext beachtet werden. Dies gelingt am Einfachsten durch das Führen einer Liste aller Besucher. Bei einem ▶▶ Wirken der bundesweiten Kontaktbeschrän- registrierten Ausbruch in einem APH, sind ab kungen: einer substantiellen Betroffenheit von Bewoh- • Im Jessen-Cluster (s. Abb. 1, S. 3) sieht man gut, nern und Personal alle Besucher im Heim als dass vor allem von bis zum 23.3.2020 (Inkraft- Kontaktpersonen der Kategorie I anzusehen, treten der bundesweiten Kontaktbeschränkun- auch wenn sich direkte Kontakte zu infizierten gen) gemeldeten Fällen, Übertragungen außer- Personen nicht nachvollziehen lassen. halb von Haushalt und sonstiger Familie ausge- hen. Der Subausbruch im APH zeigt aber auch, ▶▶ Übertragung am Arbeitsplatz: Die beiden er- wie eine familiäre Übertragung von einem in wähnten Cluster am Büroarbeitsplatz zeigen, Österreich infizierten Indexfall auf eine Pflege- dass unerkannte Fälle auch in dieser Umgebung kraft noch vor Diagnose des Indexfalles einen schnell Ausbrüche auslösen können, die min- explosiven Ausbruch unter den Bewohnern destens in die Haushalte der Erkrankten aus- ausgelöst hat. Dabei ist interessant, dass diese strahlen und auch geografisch weit streuen kön- Pflegekraft ähnlich wie für das erste COVID-19- nen, wenn sie nicht schnell erkannt werden. Auf Cluster in Bayern beschrieben,6 einen untypi- Cluster respiratorischer Symptomatik am Ar- schen klinischen Verlauf hatte und offenbar beitsplatz sollte aktuell niedrigschwellig mit die Übertragung im APH vor dem Auftreten Tests auf COVID-19 reagiert werden, und Kon- typischer Symptome erfolgte. taktpersonen der Kategorie I am Arbeitsplatz nicht zu restriktiv aufgelistet werden. • Die Infektionsketten enden häufig mit letzten Übertragungen in den Haushalten der Fälle, ▶▶ Arbeit des Gesundheitsamtes: der Sphäre, in der die Kontaktbeschränkungen • Das typische Vorgehen des Gesundheitsamtes am wenigsten wirken. war in vielen Fällen von durch Reisetätigkeit oder Berufspendeln neu im LK Wittenberg • Das Problem in den LK „importierter“ Infektio- auftretenden COVID-19-Infektionen sehr nen könnte bei Nachlassen der Maßnahmen effektiv. Im Kontext der meisten dieser Index- wieder an Bedeutung zunehmen. Die Weiter- fälle traten keine weiteren Fälle, oder keine Fäl- gabe der Information zu Kontaktpersonen über le jenseits einer weiteren Infektionsgeneration Kreisgrenzen hinweg funktioniert leider nicht auf – letztere meist im Haushalt übertragen. immer perfekt. Symptomatische Fälle mit aus- wärtigem Infektionsort können durch Testen • Allerdings wurde im Rahmen des Jessen-Clus- leicht entdeckt werden. Aber die Infektion nur ters deutlich, dass solch eine Ausbruchssituati- leicht erkrankt oder asymptomatisch Infizierter on mit der Notwendigkeit für Kontaktpersonen- wird ggf. erst durch Erkrankungen und Tester- nachverfolgung einen erhöhten Anspruch an gebnisse in den Folgeinfektionsgenerationen das Informationsmanagement unter den vie- sichtbar. Nicht zuletzt deswegen empfiehlt es len Bearbeitern nach sich zieht, damit die sich neben der Vorwärtsermittlung von Kon-
Epidemiologisches Bulletin 20 | 2020 Online vorab 21. April 2020 10 taktpersonen und deren Überwachung bei je- war kritisch für die Bewältigung des starken dem neuen Fall auch retrospektive Ermittlun- COVID-19-Fallzahlanstiegs im März im LK Wit- gen zu dessen möglichen Infektionsquellen tenberg. Dabei spielt sowohl die Verfügbarkeit von durchzuführen. So können Infektionscluster Testkapazitäten eine Rolle, aber auch die leichte ausgehend von asymptomatischen oder nicht Erreichbarkeit von Teststellen und eine leichte getesteten symptomatischen Infizierten in ei- Terminbuchung durch das Gesundheitsamt. nem früheren Stadium entdeckt und bekämpft werden. Ein kurzfristig erhöhter Anteil neuer Das Jessen-Cluster scheint aktuell unter Kontrolle zu Fälle, die nicht schon durch bekannte Infekti- sein (auch die am 6.4.2020 erkrankte Pflegekraft war onsketten erklärt werden können, deutet auf zuletzt am 26.3.2020 im APH exponiert). In anderen eine mögliche größere verdeckte Übertragung Gemeinden/Städten des LK gibt es Einzelfälle oder in der Bevölkerung hin. kleinere Cluster von Fällen, deren Ursprung unklar ist. Eine Verbindung zu einem bekannten Cluster ▶▶ Abriegelung von Jessen/Schweinitz: Ob die Ab- wäre allenfalls molekularbiologisch zu klären. riegelung einen zusätzlichen wichtigen Effekt hatte, lässt sich aus den vorliegenden Daten Insgesamt zeigt die Arbeit des Gesundheitsamtes nicht bewerten. Sicherlich war aber die in Ver- im LK Wittenberg, wie mit dem dem Anlass ange- bindung mit der Abriegelung niedrigschwelliger messenen skalierten Zuwachs an Personal zur Verfügung stehender Testung ein wichtiger und einer zentralisierten Informationsverwaltung Faktor in der Eindämmung des Jessen-Clusters. COVID-19-Infektionsketten im Kreis effektiv kont- Die große Mehrheit der nach der Abriegelung in rolliert werden können. Die Größe des Jessen-Clus- den beiden Orten neu positiv getesteten Bewoh- ters mahnt aber auch, dass die späte Entdeckung ner war bereits als Kontaktperson bekannt oder von Fällen schnell große Zahlen von Folgefällen konnte schnell einer bekannten Infektionskette nach sich ziehen kann. Auch im APH Jessen war zugeordnet werden. der Ausbruch explosiv, konnte aber durch eine rela- tiv frühe Entdeckung und konsequente Maßnah- ▶▶ Testverfügbarkeit: Die Möglichkeit, im APH-Kon- men (vor allem Kohortierung und hochfrequente text systematisch (und wiederholt), und in der Be- Testungen) eingedämmt werden. völkerung sehr niedrigschwellig testen zu können,
Epidemiologisches Bulletin 20 | 2020 Online vorab 21. April 2020 11 Literatur 1 RKI-COVID-19-Dashboard, Zugriff am 8.4.2020 5 EXCEL-Datei zur Datenhaltung von Fall- und Kontakt- (https://experience.arcgis.com/experience/478220a- personendaten: www.rki.de/covid-19-kontaktpersonen 4c454480e823b17327b2bf1d4) 6 Böhmer M, Buchholz U, Corman VM, et al. Outbreak 2 RKI-Lagebericht 8.4.2020 (www.rki.de/DE/Content/ of COVID-19 in Germany Resulting from a Single Tra- InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberich- vel-Associated Primary Case. Lancet Preprint Server: te/2020-04-08-de.pdf?__blob=publicationFile) https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_ id=3551335 3 Allgemeinverfügung des Landkreises Wittenberg, Version vom 26.3.2020: www.landkreis-wittenberg. 7 Falldefinitionen des Robert Koch-Instituts zur Über- de/de/datei/anzeigen/id/144787,1162/lk_wb_allge- mittlung von Erkrankungs- oder Todesfällen und meinverfuegung_corona_jessen_schwei- Nachweisen von Krankheitserregern, Stand nitz_2020-03-26.pdf 24.3.2020: Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) (SARS-CoV-2). www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/ 4 Prävention und Management von COVID-19 in Alten- Neuartiges_Coronavirus/Falldefinition.pdf?__blob=- und Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen für Men- publicationFile schen mit Beeinträchtigungen, www.rki.de/DE/Cont- ent/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Alten_Pflege- einrichtung_Empfehlung.pdf?__blob=publicationFile Autorinnen und Autoren Interessenkonflikt a) a) Christina Frank Ph. D. | Marina Lewandowsky | Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt a,b) Neil Saad Ph. D. | c) Beate Wetzel | c) Susanne Göbel | besteht. c) Dr. Michael Hable a) Robert Koch-Institut, Abteilung für Infektionsepide- miologie, Berlin (Assistenzteam 26.3. – 1.4.2020) Danksagung b) European Programme for Intervention Epidemiology Die Autoren danken den Mitarbeiterinnen und Mitar- Training (EPIET), European Centre for Disease Control beitern im Gesundheitsamt, die diese Daten zusam- and Prevention, Stockholm, Sweden mengetragen haben. Das Eindämmen des bisherigen c) Gesundheitsamt des LK Wittenberg, Lutherstadt Ausbruchs im LK Wittenberg ist vor allem auch der Wittenberg Verdienst der Betroffenen und ihrer Kontaktpersonen, die durch das Durchhalten der Absonderung weitere Korrespondenz: FrankC@rki.de Übertragungen verhindert haben. Vorgeschlagene Zitierweise Frank C, Lewandowsky M, Saad N, Wetzel B, Göbel S, Hable M: Der erste Monat mit COVID-19-Fällen im Landkreis Wittenberg, Sachsen-Anhalt. Epid Bull 2020;20:3 – 11 | DOI 10.25646/6788
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