Politische Ernährung Mobilisierung, Konsumverhalten und Motive von Teilnehmer*innen der Wir haben es satt!-Demonstration 2020 - Institut für ...
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Madalena Meinecke, Renata Motta, Michael Neuber, Moritz Sommer, Simon Teune, Janina Hennigfeld, Noémi Unkel, Carolin Küppers Politische Ernährung Mobilisierung, Konsumverhalten und Motive von Teilnehmer*innen der Wir haben es satt!-Demonstration 2020 ipb working paper 1/2021
Autor*innen ipb working papers | Berlin, Januar 2021 Madalena Meinecke Freie Universität Berlin Die ipb working papers werden vom Verein für BMBF-Nachwuchsgruppe „Food for Justice“ Protest- und Bewegungsforschung e.V. heraus- madalena.meinecke@fu-berlin.de gegeben. Sie erscheinen in loser Folge. Der Ver- ein ist Träger des gleichnamigen Instituts. Des- Renata Motta sen Aktivitäten sind unter http://protestinsti- Freie Universität Berlin & ipb tut.eu dokumentiert. Für die Redaktion der ipb- BMBF-Nachwuchsgruppe „Food for Justice“ working papers sind Jannis Grimm, Dieter Rucht renata.motta@fu-berlin.de und Sabrina Zajak verantwortlich. Michael Neuber Technische Universität Berlin & ipb Alle bisher erschienenen Texte aus der Reihe neuber@campus.tu-berlin.de sind online abrufbar unter: Moritz Sommer https://protestinstitut.eu/ipb-working-papers/ DeZIM-Institut & ipb sommer@dezim-institut.de Simon Teune IASS Potsdam & ipb simon.teune@iass-potsdam.de „Politische Ernährung. Mobilisierung, Konsum- Janina Hennigfeld verhalten und Motive von Teilnehmer*innen HnE Eberswalde der Wir haben es satt!-Demonstration 2020“ janina@hennigfeld.com von Madalena Meinecke, Renata Motta, Mi- Noémi Unkel chael Neuber, Moritz Sommer, Simon Teune, noemi.shirin@gmail.com Janina Hennigfeld, Noémi Unkel und Carolin Küppers ist lizenziert unter einer Creative Com- Carolin Küppers mons Namensnennung International Lizenz (CC- Freie Universität Berlin BY 4.0). BMBF-Nachwuchsgruppe „Food for Justice“ carolin.kueppers@fu-berlin.de Die Titelseite wurde unter Verwendung eines Fotos von Ruben Neugebauer/Campact erstellt. Das Foto ist lizensiert mit einer Creative Com- mons Lizenz (CC BY-NC 2.0) und wurde bereitge- stellt von https://www.flickr.com/photos/cam- pact/49404505717/. Das working paper wurde unter dem gleichen Titel als Foor for Justice-working paper Nr. 3 an der Freien Universität Berlin veröffentlicht. Meinecke, Madalena; Motta, Renata; Neuber, Michael; Sommer, Moritz; Teune, Simon; Hennigfeld, Janina; Unkel, Noémi & Küppers, Carolin. 2021. Politische Ernährung. Mobilisierung, Konsumverhalten und Motive von Teilnehmer*innen in der Wir haben es satt!-Demonstration 2020, ipb working paper series, 1/2021. Berlin: Institut für Protest- und Bewegungsforschung.
Abstract Inhaltsverzeichnis Die von dem Bündnis Meine Landwirtschaft or- Vorwort 4 ganisierte Großdemonstration Wir haben es 1. Die Wir haben es satt!– Demonstration 2020 5 satt! findet seit zehn Jahren zum Auftakt der Ag- 1.1. Kurzportrait Meine Landwirtschaft & Wir rarmesse Grüne Woche in Berlin statt. Das haben es satt! 5 Bündnis setzt sich für eine nachhaltige, faire 1.2. Der Ablauf der Wir haben es satt! – Proteste Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion ein 2020 6 und unterstützt deutschlandweit bäuerliche Be- triebe. Das working paper fasst die Ergebnisse 2. Die Methode der Demonstrationsbefragung 7 einer Befragung unter den Teilnehmer*innen 3. Wer sind die Teilnehmer*innen der Wir der Wir haben es satt!-Demonstration am 18. haben es satt!-Demonstration 9 Januar 2020 zusammen. Es gibt Auskunft dar- 3.1. Die demographische Zusammensetzung der über, wer die Demonstrant*innen waren, was Demonstration 9 ihre Anliegen und politischen Haltungen sind und, nicht zuletzt, wie sie durch ihr eigenes Ver- 4. Politisches Engagement und Einstellungen der halten in Konsum und Lebensführung eine an- Demonstrant*innen 13 dere Landwirtschaft unterstützen. Die Wir ha- 5. Essgewohnheiten und Konsumverhalten der ben es satt!-Demonstration ist stärker von Demonstrant*innen 19 Frauen geprägt als andere Proteste, junge Teil- nehmende machen einen geringeren Anteil aus 6. Motive der Demonstrant*innen 23 Die Mehrheit gab an, über einen Hochschulab- 6.1. Anliegen der Demonstrant*innen 24 schluss und ein mittleres bis hohes Einkommen 6.2. Forderungen der Demonstrant*innen 24 zu verfügen. Die Befragten ordnen sich politisch 6.3. Kritikpunkte der Demonstrant*innen 26 deutlich links der Mitte ein und sie teilen ein 6.4. Handlungsvorschläge der vergleichsweise starkes politisches Engage- Demonstrant*innen 27 ment: Sie sind häufig Mitglieder in politischen 7. Fazit 28 Organisationen und zudem erfahrene Demonst- 7.1. Ausblick 29 rierende. Fast alle Befragten hatten in der Ver- gangenheit bereits an Demonstrationen teilge- Abbildungsverzeichnis 31 nommen. Wir haben es satt!-Demonstrierende Abstract, Englisch 31 sind besonders ernährungsbewusst und bringen ihre politische Position insbesondere durch Literaturverzeichnis 32 ethische Kaufentscheidungen zum Ausdruck. Unter den Befragten befanden sich nur wenige Demonstrierende, die selbst Lebensmittel er- zeugen. Dieser Befund ist zum Teil darauf zu- rückzuführen, dass die auf Traktoren mitfahren- den Teilnehmenden nicht befragt werden konn- ten.
Vorwort 37 Prozent der gesamten anthropogenen Netto- Treibhausgasemissionen betragen (IPCC 2019: 7). Produktion, Vertrieb und Konsum von Lebensmit- Die Umstellung von einer Erdöl-basierten auf eine teln sind in den letzten Jahren zunehmend zu ei- Biomasse-basierte Agrarwirtschaft (Bioökono- ner politischen Angelegenheit geworden (Holt- mie), sprich das Ersetzen von fossilen Ressourcen Giménez & Shattuck 2011). Ein zentrales Phäno- durch verschiedene nachwachsende Rohstoffe, men innerhalb dieses Politisierungsprozesses ist spielt eine immer wichtigere Rolle in gesellschaft- das Erstarken einer Bewegung, die über De- lichen und politischen Diskursen. Dennoch gibt es monstrationen aber auch durch andere Protest- weiterhin aus normativ-politischer Sicht zahlrei- aktionen für eine Ernährungs- und Agrarwende che Unklarheiten und nicht zuletzt auch ökonomi- aufruft. Das wohl bekannteste Protestereignis sche Konflikte, wie diese postfossile Transforma- zum Thema Lebensmittel in Deutschland sind die tion aussehen und vollzogen werden soll. Techno- Wir haben es satt!-Demonstrationen, die seit kratische Lösungsansätze, basierend auf mehr 2011 jährlich im Januar zum Auftakt der Agrar- Technologie und Effizienz im Sinne des Paradig- messe Grüne Woche in Berlin von dem Bündnis mas ökologischer Modernisierung, stoßen auf Kri- Meine Landwirtschaft organisiert werden. Das tik und Widerstand in der organisierten und mo- Bündnis initiert seine Protestaktionen unter dem bilisierten Zivilgesellschaft. Die Transformation Motto “Gute Landwirtschaft und gutes Essen” der Agrarwirtschaft in Richtung einer Bioökono- und spricht somit sowohl die Produktion als auch mie setzt einen gesellschaftlichen Wandel voraus, den Konsum von Lebensmitteln an. in dem Werte wie ökologische Nachhaltigkeit, ge- sundes Essen, fairer Handel, Erhaltung der Bio- In einer Zeit, in der die Verwobenheit zwischen diversität sowie Schutz der Tier- und Menschen- dem vorherrschenden Landwirtschaftssystem rechte im Vordergrund stehen. Auf Demonstrati- und der Klimakrise sowie die Konflikte um erneu- onen wie Wir haben es satt! werden die Anliegen, erbare Energieversorgung und Ernährungssicher- Forderungen und Lösungsvorschläge der mobili- heit an Bedeutung gewinnen, rückt die Forderung sierten Bevölkerung in die Öffentlichkeit getra- nach einer nachhaltigen Landwirtschaft zuneh- gen. mend in den Vordergrund. Die konventionell in- dustrielle Landwirtschaft ist auf fossile Ressour- In diesem Kontext entwickelte sich das For- cen wie Pestizide und Düngemittel sowie auf glo- schungsinteresse, eine Online-Befragung unter bale Transportlösungen (fossile Brennstoffe) aus- den Teilnehmer*innen der Wir haben es satt!-De- gerichtet. Immer mehr Studien weisen auf die ne- monstration durchzuführen. Die Befragung soll gativen Auswirkungen des vorherrschenden Ag- unter anderem Einblicke in die politische Ernäh- rar- und Landwirtschaftssystems auf die Umwelt rung der Demonstrant*innen geben. Darunter hin wie z.B. Verlust der Artenvielfalt, Entwaldung, verstehen wir nicht nur das Ess- und Konsumver- Verunreinigung von Luft, Boden und Wasser halten im Sinne eines politischen Konsums, son- durch Chemikalien und Düngemittel sowie die dern auch inwiefern sich die Teilnehmer*innen Missachtung des Tierschutzes. Zudem ist die politisch mobilisieren, Motive äußern und Forde- Landwirtschaft eine der Hauptursachen des Kli- rungen an den Staat stellen. In anderen Worten, mawandels (Zukunftsstiftung Landwirtschaft wie sie sich für eine Agrar- und Ernährungswende 2016). Wenn die Sektoren Land- und Forstwirt- engagieren. schaft und andere Landnutzung (AFOLU) zusam- Wir möchten als Forschungsgruppe anhand die- mengefasst werden, beträgt der Anteil der anth- ser Ergebnisse weitere Forschungsfragen ableiten ropogenen Treibhausgasemissionen (2007-2016) und einzelnen Hypothesen im Zusammenhang etwa 23 Prozent (IPCC 2019: 4). Addiert man des Projekts Food for Justice: Power, Politics and Transport, Marketing und Handel sowie Verkauf Food Inequalities in a Bioeconomy nachgehen. und Konsum von Nahrungsmitteln, schätzt der Denkbar wäre dazu bspw. eine Ausdehnung der Weltklimarat (IPCC), dass die Emissionen 21 bis Protestbefragung auf den Traktorenumzug unter 4
Einbeziehung ergänzender qualitativer Interviews Auch möchten wir uns für den Dialog über die ers- mit ausgewählten Akteur*innen. ten Ideen des Fragebogens bei Birgit Peukmann und Markus Rauchecker sowie für das konstruk- Um ein Porträt der Wir haben es satt!-Demonst- tive Mitwirken bei der Erstellung des Fragebo- rant*innen zu zeichnen, schlossen sich die vom gens bei Marco Antônio Teixeira, Lea Zentgraf, Bundesministerium für Bildung und Forschung Nicolas Goez Restrepo und Kevin Kaisig bedan- (BMBF) finanzierte Nachwuchsgruppe Food for ken. Justice: Power, Politics and Food Inequalities in a Bioeconomy (ab hier Food for Justice) und das Institut für Protest- und Bewegungsforschung 1. Die Wir haben es satt!– (ipb) zusammen und führten unter den Teilneh- mer*innen der zehnten Wir haben es satt!-De- Demonstration 2020 monstration am 18. Januar 2020 eine quantita- tive Online-Befragung durch. 1.1. Kurzportrait Meine Landwirtschaft Food for Justice untersucht seit April 2019 As- & Wir haben es satt! pekte von Ungleichheit, Gerechtigkeit, Recht und Demokratie, die in gesellschaftlichen Debatten Das Bündnis Meine Landwirtschaft ist ein breiter, um die Frage „Wie werden wir die Welt ernäh- gesellschaftlicher Zusammenschluss von 50 Orga- ren?“ aufkommen. Die Forschungsgruppe befasst nisationen, die unter anderem in den Bereichen sich mit der sozialen Mobilisierung und mit sozia- Landwirtschaft, Lebensmittelhandwerk, Umwelt- len und politischen Innovationen, die Ungerech- schutz, Tierschutz, globale und soziale Gerechtig- tigkeiten im Ernährungssystem thematisieren. Im keit, Demokratie tätig sind. Thematisch befasst Fokus stehen dabei häufig soziale Ungleichheiten sich die Kampagne von Meine Landwirtschaft mit wie Klasse, Geschlecht, Race, Ethnizitäten und der grundsätzlichen Frage der Herkunft von Le- Nationalität, die die Ernährungssouveränität be- bensmitteln in Bezug auf den damit verbundenen einträchtigen. Produktionsprozess. Da sich diese Frage nur im Kontext des globalen Wirtschaftssystems beant- Das ipb initiiert kooperative Forschung zu Protes- worten lässt, versteht Meine Landwirtschaft die ten und sozialen Bewegungen. Dabei organisiert eigene politische Arbeit im Kontext transnationa- es vor allem kurzfristige, anlassbezogene Projekte ler Solidarität. Seit 2010 setzt sich die Kampagne wie die Befragung von Demonstrationsteilneh- aktiv für eine Agrar- und Ernährungswende im mer*innen. Seit 2014 wurden im Rahmen des ipb Sinne einer bäuerlichen und ökologischen bzw. zahlreiche Befragungen durchgeführt, unter an- sozial gerechteren, tier- und umweltfreundlichen derem bei den Protesten gegen TTIP, bei Pegida Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion – in oder den Fridays for Future. Deutschland und weltweit ein. Thematische Danksagung Wir möchten uns bei all den moti- Schwerpunkte lagen in den letzten Jahren auf der vierten und kritisch reflektierten Interviewer*in- Umsetzung der europäischen Gemeinsamen Ag- nen bedanken, die sich für eine zweistündige rarpolitik (GAP), Tierhaltung, Pestiziden, Gen- Schulung Zeit genommen und uns während der technik und Nachhaltigkeit im Allgemeinen. Auf Demonstration bei der Flyerverteilung und Face- der Website von Meine Landwirtschaft heißt es to-Face Befragung unterstützt haben: Tamta Ak- zudem: „Wir informieren über Themen rund um haladze, Melissa Berger, Franziska Dittrich, Sarah gute Landwirtschaft und gutes Essen und fördern Dröge, Leona Flach, Charlotte Gengenbach, Nico- den Dialog zwischen Erzeuger*innen und Konsu- las Goez Restrepo, Joana Hofstetter, Karin Hüls- ment*innen”. Dieser Dialog soll nicht nur zur Ag- mann, Frithjof Isenberg, Kevin Kaisig, Philipp Ke- rar- sondern auch wortwörtlich zu einer Ernäh- ßel, Cosima Langer, Fulko Meyer, Simon Mösch, rungswende beitragen. Das Motto heißt: „Gutes Marieluise Mühe, Frederik Probst, Rahul Rahman, Essen für alle!“. Bettina Ress, Mascha Schädlich, Ania Spatzier, Luca Sumfleth, Carla Venneri und Lea Zentgraf. 5
Die Wir haben es satt!-Demonstration kann als die Bundesregierung aufgefordert, ein klares etabliertes und durch ressourcenreiche Organisa- Veto gegen das Mercosur-Abkommen einzule- tionen getragenes serielles Protestereignis im gen. Zusammenfassend beziehen sich die Forde- Format der Großdemonstration bezeichnet wer- rungen des Bündnisses im Jahr 2020 vordergrün- den. Im Gegensatz zu anderen Protestmobilisie- dig auf die EU-Agrarreform der Gemeinsamen Ag- rungen, wie z.B. Fridays for Future, die sich kurz- rarpolitik (GAP) und die Subventionen, die gezielt fristig, dezentral und von unten entwickelt haben zur Förderung einer artgerechten Tierhaltung und (Haunss & Sommer 2020), handelt es sich bei Wir für mehr Klima- und Umweltschutz eingesetzt haben es satt! um eine stark strukturierte De- werden sollen. Der Aufruf des Bündnisses im Zei- monstration. Das Besondere an Wir haben es chen des Klimaschutzes ist geprägt durch die Kli- satt! ist die Koalition von verschiedenen sozialen maproteste im Jahr 2019. Mit Fridays for Future Bewegungen und ihren Organisationen, wie dem rief ein zentraler Akteur dieser Proteste auch zur BUND, Greenpeace, Attac u.a. Jede der Organisa- Teilnahme an der Wir haben es satt!-Demonstra- tionen hat ihre eigenen Kampagnen und Protest- tion auf und verzichtete dabei auf eine eigene, für aktionen wie Petitionen, Demonstrationen, Sitz- den Vortag geplante Demonstration. Hier können blockaden u.ä. Meine Landwirtschaft ist also ein wir eine Verflechtung zweier Bewegungen be- Schnittpunkt für verschiedene soziale Bewegun- obachten, die sich gegenseitig stärken und inei- gen und deren Protestformen. nander verwoben sind. Ein großer Teil der Befrag- ten (40,2%) gibt an, dass sie für beide Bewegun- Mit dem Aufruf „Agrarwende anpacken, Klima gen auf die Straße gehen würden. schützen! – Wir haben die fatale Politik satt!” for- derte Meine Landwirtschaft in ganz Deutschland 1.2. Der Ablauf der Wir haben es satt! Bäuer*innen und Konsument*innen auf, am 18. – Proteste 2020 Januar an der zehnten Wir haben es satt!-De- monstration teilzunehmen. Auf der Kampagnen- Über die Jahre hat sich bei den Wir haben es satt!- Webseite wird beschrieben, dass die aktuelle in- Protesten ein wiederkehrender Ablauf etabliert. dustrielle Landwirtschaft fatale Auswirkungen Er besteht aus einer Traktoren-Demonstration, hätte: ”Flächendeckender Pestizideinsatz tötet einer gemeinsamen Auftaktkundgebung und dem massenhaft Insekten. Zu viel Gülle verschmutzt Demonstrationszug durch das Berliner Regie- unser Wasser. Für das Gensoja-Futter in deut- rungsviertel. Am Vorabend findet zudem seit schen Tierfabriken werden Regenwälder abge- 2012 eine sogenannte “Schnippeldisko” statt. brannt. Dumping-Exporte überschwemmen die Während Musik aufgelegt und getanzt wird, Märkte im globalen Süden und berauben unzäh- „schnippeln” Freiwillige große Mengen an Ge- lige Bäuer*innen ihrer Existenz. Die Agrarindust- müse. Gleichzeitig werden auch Workshops, rie heizt die Klimakrise und gesellschaftliche Kon- Kunstprojekte und Diskussionsrunden angebo- flikte gefährlich an” (Wir haben es satt 2020). ten. Inspiriert von dem Aktionsformat Teller statt Auch steht die Verteilung der Agrarsubventionen Tonne von Slow Food werden Ausschusswaren durch die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der Eu- von Lebensmittelerzeuger*innen verwendet. ropäischen Union im Fokus der Debatten, da die 2020 fand das Event im Zirkuszelt Cabuwazi auf Bundesministerin für Landwirtschaft und Ernäh- dem Tempelhofer Feld in Berlin statt. Das ge- rung, Julia Klöckner, aufgrund der diesjährigen schnittene Gemüse wurde vor Ort zu Suppe ver- deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine noch ein- kocht und am nächsten Tag während der Auftakt- flussreichere Rolle innehat als zuvor. Ihr wird vor- und Abschlusskundgebung am Brandenburger geworfen, die Bäuer*innen bei den notwendigen Tor sowie nach der Demonstration in der Hein- Veränderungen allein zu lassen, indem unter an- rich-Böll-Stiftung während des Events Soup & Talk derem Subventionen weiterhin jenen zukommen, ausgegeben. die viel Land besitzen – „egal, wie sie wirtschaf- ten” (Wir haben es satt 2020). Demnach fordert Am Samstag, dem 18. Januar 2020, startete um 8 das Bündnis von der Bundesregierung „eine Poli- Uhr die Traktoren-Demonstration zur Agrarminis- tik, die uns eine Zukunft gibt”. Des Weiteren wird ter*innenkonferenz im Auswärtigen Amt, wo die 6
Bundesministerin Julia Klöckner rund 70 Agrarmi- Wir haben es satt!-Demonstration im Jahr 2011 nister*innen aus aller Welt begrüßte. In diesem lag die Zahl der Teilnehmer*innen zwischen Rahmen findet jedes Jahr die Übergabe einer 18.000 (2017) und 50.000 (2015) Teilnehmer*in- bäuerlichen Protestnote statt. Um 12 Uhr ver- nen (siehe Abbildung 1). sammelten sich die Demonstrant*innen zur Auf- taktkundgebung am Brandenburger Tor. An der Demonstration nahmen laut Meine Landwirt- schaft 27.000 Protestierende teil. Seit der ersten Abbildung 1: Anzahl der Teilnehmer*innen nach Angaben der WHES-Veranstalter*innen 60000 50000 40000 30000 27000 20000 10000 0 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2. Die Methode der Bei der Befragung von Teilnehmer*innen der Wir Demonstrationsbefragung haben es satt!-Demonstration wurden zwei Erhe- bungstechniken kombiniert: Nach einem Die Demonstrationsbefragung ist eine etablierte Zufallsprinzip ausgewählte Personen wurden mit Forschungsmethode der Protestforschung. Sie er- einem Handzettel darum gebeten, einen Online- laubt es, Momentaufnahmen gesellschaftlicher Fragebogen auszufüllen. Jede fünfte Person Konflikte zu machen, die Aufschlüsse über die Zu- wurde zusätzlich dazu zur Teilnahme an einer sammensetzung der Beteiligten und deren Ein- Vor-Ort-Befragung gebeten. Durch die Kombina- stellungen geben. Die Menschen, die an einer De- tion dieser beiden Methoden lässt sich abschät- monstration teilnehmen, stellen einen mobilisier- zen, inwieweit bestimmte Gruppen in der Befra- ten Teil der Zivilgesellschaft dar, der seine Kritik gung über- oder unterrepräsentiert sind. öffentlich sichtbar machen will. Damit zeigen De- Anders als bei Bevölkerungsumfragen sind die monstrationsbefragungen einen Ausschnitt eines Kennwerte der Grundgesamtheit von Demonst- Konfliktes, der nicht nur auf der Straße ausgetra- rant*innen nicht bekannt. Eine repräsentative gen wird und der mit Adressat*innen, Gegner*in- Befragung, in der die befragten Personen nach nen, Mittler*innen und Verbündeten von kom- diesen Kriterien ausgewählt werden, ist deshalb plexen Akteurskonstellationen geprägt ist. in diesem Kontext nur indirekt möglich. Die 7
Methode, mit der man sich dem Ideal der Reprä- Grund dafür, dass im Datensatz die Gruppe der sentativität annähern kann, ist ein Zufallssystem, kommerziellen Lebensmittelproduzent*innen1 nach dem jede an der Demonstration teilneh- mit etwa drei Prozent sehr klein ist. Auf Basis der mende Person die gleiche Chance hat, für die Be- Anzahl der Traktoren und der geschätzten Anzahl fragung ausgewählt zu werden. Das bei Wir ha- an Passagieren im Verhältnis zur Gesamtzahl der ben es satt! gewählte Zufallssystem orientiert Demonstrationsteilnehmer*innen ist aber davon sich daher an dem internationalen Forschungs- auszugehen, dass die Gruppe der Konsument*in- projekt „Caught in the Act of Protest - Contextua- nen auf der Wir haben es satt!-Demonstration lizing Contestation” (im Folgenden CCC) insgesamt klar dominiert. 51 Prozent der Befrag- (Klandermans et. al 2011). 32 Interviewer*innen ten geben an, keine eigenen Lebensmittel zu pro- wurden nach diesem System geschult und in duzieren und weitere 45 Prozent stellen Lebens- Teams von drei bis vier Personen eingesetzt. mittel ausschließlich für den Eigenverzehr her. Für die Gewährleistung der möglichst zufälligen Auf dem von den Befragungsteams verteilten Auswahl unter den Demonstrationsteilneh- Handzetteln fanden die ausgewählten Personen mer*innen kamen in Anlehnung an die CCC-Me- eine URL und einen individuellen Zugangscode, thodik folgende Techniken zum Einsatz: 1) Die mit dem die Befragung freigeschaltet werden Auswahl und Ansprache der zu Befragenden konnte. Damit wurden die Möglichkeiten zur Teil- wurde nicht von derselben Person umgesetzt, nahme von nicht ausgewählten Personen er- sondern auf zwei Personen (Interviewer*in und schwert. Insgesamt fanden 1.194 Kontakte statt, Pointer*in) aufgeteilt, wodurch eine Verzerrung dabei wurden 1.020 Handzettel ausgegeben und durch persönliche Sympathie minimiert wird. 2) 199 Interviews geführt. 256 Personen füllten den Um den Teilnehmer*innen in ihrer räumlichen Online-Fragebogen vollständig aus. Daraus ergibt Verteilung gerecht zu werden, wurden zwei Me- sich eine Rücklaufquote von 25 Prozent – ein für thoden zur Erschließung des Raumes verfolgt. Der Online-Befragungen guter Wert. Auch die Koope- Ort der Auftaktkundgebung, der Platz des 18. rationsquote, die jenen Anteil der angesproche- März, wurde in Sektoren aufgeteilt, die von den nen Demonstrant*innen repräsentiert, der bereit Befragungs-Teams systematisch erschlossen wur- war, einen Handzettel entgegenzunehmen bzw. den. Je nach Dichte der Menschenmenge wurden ein Kurzinterview durchzuführen, war mit 86 Pro- die Personen nach einer gleichbleibenden Syste- zent vergleichsweise hoch. matik ausgewählt. Im Demonstrationszug wur- Der Online-Fragebogen besteht aus zehn Modu- den die Teams nach und nach eingesetzt. Hier er- len. Davon wurden fünf Module aus einem Kern- schlossen sie jeweils einen Abschnitt des Zuges fragebogen des ipb verwendet (Modul A: Motiva- und gingen nach dem gleichen System vor. Mit tion; Modul H Organisationsbindung, Kommuni- dieser Methode konnte weitestgehend sicherge- kationskanäle, Spontanität; Modul I: Aktivistische stellt werden, dass die Wahrscheinlichkeit, zur Erfahrung/Engagement, Modul K: Politische Ori- Online-Befragung eingeladen zu werden, über entierung/Parteieinbindung, Modul L: Demogra- alle Teilnehmer*innen gleichverteilt war. fische Fragen). Da diese Fragebatterien in vorhe- Insofern beziehen sich im Folgenden alle Aussa- rigen Demonstrationsbefragungen des ipb ange- gen auf die im Demonstrationszug Beteiligten. wandt wurden, lassen sich die Ergebnisse der Be- Einschränkend ist anzumerken, dass eine be- fragung mit bei anderen Demonstrationen erho- stimmte Sektion der Demonstration, in der die benen Daten vergleichen. Die fünf weiteren Mo- Demonstrant*innen mit 165 Traktoren auftraten, dule wurden themenspezifisch für die Wir haben für das Befragungsteam größtenteils unzugäng- es satt!-Demonstration entwickelt (Modul B: lich war. Diese Verzerrung im Sampling ist ein _____ 1 Eine grobe Schätzung auf Grundlage der Anzahl der Prozent bis acht Prozent. In der Schätzung gehen wir Traktoren ergibt einen Anteil der Lebensmittelprodu- davon aus, dass die Traktoren mit Anhängern mit je- zent*innen unter den Demonstrant*innen von sechs weils ein bis acht Personen besetzt waren. 8
Themenspezifische Fragen2, Modul C: Konsum- mobilisiert werden konnten, wer sich hauptsäch- und Kaufverhalten3, Modul D: Anbau, Modul E: lich betroffen fühlt oder schlicht, wem es möglich Tierhaltung, Modul F: Lebensmittelverkauf4). ist und zielführend erscheint, sich in dieser Form politisch zu engagieren. Während Protestbewe- Im ausführlichen Online-Fragebogen wurden zu- gungen einen unabdingbaren Bestandteil funkti- dem zwei offene Fragen gestellt, um ein detail- onierender Demokratien darstellen, ist ihre Zu- liertes Bild von den individuellen Positionen der sammensetzung deutlich weniger repräsentativ Befragten zu erhalten. Die Antworten auf die Fra- für die gesamte Bevölkerung als z.B. Wahlen. Seit gen zu persönlichen Anliegen im Protest und der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wer- Handlungsvorschlägen wurden mittels computer- den soziale Bewegungen in Deutschland und gestützter qualitativer Daten- und Textanalyse Westeuropa vor allem von einer gut gebildeten, (MAXQDA) mit Bezug auf ihre Kernaussage sowie politisch aktiven Mittelschicht getragen (Van A- das Vorkommen bestimmter Schlagwörter ko- elst & Walgrave 2001; Hadjar & Becker 2007; diert. Das Kodieren ist ein zentraler Bestandteil Stolle & Hooghe 2011). Im Folgenden sollen die der qualitativen Inhaltsanalyse bei der induktiv demographischen Daten der Teilnehmer*innen Kategorien am Material entwickelt und anschlie- der Wir haben es satt!-Demonstration vor dem ßend Textsegmente diesen Kategorien zugeord- Hintergrund dieses Bias bei der außerparlamen- net werden (vgl. Kuckartz 2016). tarischen politischen Beteiligung untersucht wer- Der Anteil ausführlicher Erläuterungen und Ant- den. worten im Hinblick auf die offenen Fragen lässt auf ein hohes Erklärungs- und Differenzierungs- 3.1. Die demographische Zusammensetzung bedürfnis der Demonstrant*innen schließen. Vor der Demonstration diesem Hintergrund zeigt sich einerseits, dass es sinnvoll ist, die Befragten im Rahmen einer quan- Das Geschlechterverhältnis unter Demonst- titativen Umfrage mithilfe von offenen Fragen rant*innen variiert je nach Thema deutlich. Wäh- selbst zu Wort kommen zu lassen und ihnen die rend die Proteste gegen TTIP oder G20 etwa pari- Möglichkeit zu geben, Aussagen über die festge- tätisch besucht waren (Daphi et al. 2016; Haunss legten Antwortoptionen hinaus zu treffen. Ande- et al. 2017), zeigt sich bei völkischen und extrem rerseits werden hier die bekannten Limitierungen rechten Protesten eine starke Dominanz von einer rein quantitativen Datenerhebung deutlich. Männern (Daphi et al. 2015). Bei der Wir haben es satt!-Demonstration 2020 stellen Frauen mit 57,3 Prozent deutlich mehr als die Hälfte der Befrag- 3. Wer sind die Teilneh- ten. Bei 1,2 Prozent, die sich nicht im binären Ge- mer*innen der Wir haben es schlechtersystem verorten, verbleiben in der Ka- tegorie „männlich” 41,5 Prozent. satt!-Demonstration Die Asymmetrie zugunsten der Beteiligung von Mädchen und Frauen teilen sie mit den frühen Wohl keine Protestbewegung bringt einen Quer- Fridays for Future Protesten. Beim Globalen Kli- schnitt der Bevölkerung auf die Straße. Wer bei mastreik in Berlin und Bremen im März 2019 einer Demonstration anwesend ist, gibt also machten Frauen 59,6 Prozent der Rückschluss darauf, welche Teile der Gesellschaft _____ 2 Dieses Modul setzte sich aus Fragen bzgl. des aktuel- Zeitraum 29.11.2013 bis 02.12.2013) waren die Berei- len Lebensmittelsystems und Agrarpolitik zusammen. che „Lebensmittelkonsum und Ernährung“, Lebens- 3 Diese Fragebatterie wurde in Anlehnung an eine TNS- mittelwirtschaft“ und „ländlicher Raum“. 4 Emnid-Umfrage des Bundesministeriums für Ernäh- Modul D, E und F wurden in Anlehnung des Fragebo- rung und Landwirtschaft (BMEL) entwickelt. Der gens für die von Food for Justice durchgeführte Mar- Schwerpunkte der repräsentativen Verbraucherbefra- cha das Margaridas-Befragung im Jahr 2019 entwi- gung (1.000 Befragte, Bevölkerung ab 18 Jahren, ckelt (siehe Teixeira et. al. i.E.). 9
Teilnehmer*innen aus (Sommer et al. 2019).5 Im Mit Blick auf die Altersstruktur (Abbildung 3) zei- Kontrast dazu betrug bei der Befragung von De- gen unsere Daten, dass der Protest für Ernäh- monstrant*innen gegen Stuttgart 21 der Frauen- rungs- und Umweltgerechtigkeit im Vergleich zu anteil lediglich 40 Prozent (Baumgarten & Rucht anderen Demonstrationen stärker von älteren 2013); unter den Pegida-Demonstrant*innen lag Aktivist*innen getragen wird. Mehr als die Hälfte er sogar nur bei 18 Prozent (Daphi et al. 2015). der Befragten war zwischen 40 und 64 Jahren alt. Weitaus mehr Teilnehmer*innen aus den höhe- Abbildung 2: Geschlechterverteilung ren Alterskohorten waren beispielsweise bei den Protesten gegen Stuttgart 21 und Hartz IV. Auf 1,2% der Wir haben es satt!-Demonstration waren Ju- gendliche und junge Erwachsene etwas unterre- präsentiert: nur knapp vier Prozent der Befragten waren zwischen 14 und 19 Jahre alt6. Der Alters- durchschnitt der bei der Wir haben es satt!-De- 41,5% monstration Befragten, die angeben, an Fridays for Future-Aktionen teilgenommen zu haben, 57,3% liegt bei 44 Jahren (Median7: 48 Jahre) und liegt damit 10 Jahre, beim Medianalter sogar 17 Jahre über dem der Fridays for Future-Demonstrant*in- nen (vgl. Neuber & Gardner 2020). Weiblich Männlich Divers* _____ 5 In Berlin und Chemnitz wurde bei den Großprotesten Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren, die an der De- der Fridays for Future bereits im September eine aus- monstration teilgenommen haben, sind daher nicht gewogene Geschlechterverteilung beobachtet (Neu- berücksichtigt. 7 ber & Gardner 2020). Für weiterführende Analysen zu Jede Bevölkerung lässt sich nach dem Alter in eine Fridays for Future, siehe auch Haunss & Sommer 2020. jüngere und eine ältere Hälfte teilen, das entspre- 6 Dabei ist zu berücksichtigen, dass unsere Befragung chende Teilungsalter wird als „Medianalter“ bezeich- aus juristischen und forschungsethischen Gründen nur net (Bundeszentrale für politische Bildung 2011). Teilnehmer*innen ab 14 Jahren einschließen konnte. 10
Abbildung 3: Vergleich der Altersstrukturen ausgewählter Demonstrationen 80% 70% 60% 52,5% 50% 40% 30% 19,2% 20% 16,5% 11,8% 10% 0% unter 25 25-39 40-64 über 64 Pegida Stuttgart 21 Hartz IV Irakkrieg TTIP G20 FFF WHES Abbildung 4: Bildungsgrad der Wir haben es satt!-Demonstrant*innen 80% 70% 67,2% 60% 50% 40% 30% 20% 17,0% 10% 6,9% 7,3% 0,4% 1,2% 0% Universitäts- Grundschule Fachhochschulreife Hauptschule Sonstiges Realschulabschluss abschluss / Abitur / POS 11
Abbildung 5: Netto-Einkommen der Wir haben es satt!-Demonstrant*innen 25% 23,4% 20% 16,4% 14,8% 15% 13,5% 12,3% 11,9% 10% 7,8% 5% 0% 4.000€ + 0€ - 500€ 3.000€ - 4.000€ 2.000€ - 3.000€ 1.500€ - 2.000€ 1.000€ - 1.500€ 500€ - 1.000€ Frage L5: Wie hoch war Ihr Einkommen (Nettoverdienst), d.h. Lohn oder Gehalt nach Abzug von Steu- ern und Sozialversicherungsbeiträgen, im letzten Monat? Im Einklang mit der Beobachtung, dass Protestbe- Abbildung 6: Anteil der Wir haben es satt!-Demonstrant*in- wegungen in Deutschland überwiegend von einer nen mit Migrationsgeschichte gebildeten, politisch aktiven Mittelschicht getra- gen werden, überrascht der hohe Bildungsstatus 2,5% der Demonstrant*innen nicht (Abbildung 4, oben). Über zwei Drittel der Befragten (67,2%) 10,7% keine Migrationsgeschichte geben einen solchen als höchsten Bildungsab- schluss an. Der Anteil der Befragten ohne Fach- Migrationsgeschichte hochschulreife liegt unter neun Prozent. (mind. ein Elternteil im Ausland geboren) Auch der ökonomische Status der Befragten ist Geburtsland der Eltern vergleichsweise hoch (Abbildung 5, oben). Das je- 86,8% und eigenes Geburtsland weilige Netto-Einkommen ist auf den ersten Blick im Ausland zwar relativ gleichmäßig verteilt. Alle Einkom- mensklassen zwischen Null und 500€ sowie 4.000€ aufwärts waren vertreten. Fast die Hälfte Die Wir haben es satt!-Demonstration hat nicht (44,7%) der Befragten verdienen jedoch zwischen nur in Bezug auf Bildungsgrad und Einkommen 2.000€ und 4.000€ monatlich8. Da im Fragebogen eine relativ homogene Gruppe mobilisiert, son- nach dem individuellen Nettoeinkommen gefragt dern auch in Bezug auf den Anteil der Teilneh- wurde, kann man davon ausgehen, dass die Haus- mer*innen mit Migrationsgeschichte (Abbildung haltseinkommen teils deutlich höher ausfallen. 6). Das Geburtsland der Teilnehmer*innen war in _____ 8 Laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirt- ohne Kinder und ein Paar mit bis zu einem Kind und schaft in Köln gehört ein Single in dieser Einkommens- dem gleichen Einkommen gehören demnach statis- klasse bereits zur oberen Mittelschicht. Auch ein Paar tisch zur Mittelschicht (vgl. Niehues 2017). 12
fast allen Fällen (94,3%) Deutschland. Rund zehn Auch bei den Teilnehmer*innen, die von außer- Prozent der Demonstrant*innen geben an, dass halb Berlins angereist waren scheint es sich zu ei- mindestens eines ihrer Elternteile im Ausland ge- nem großen Teil um Menschen zu handeln, die in boren worden war. Weniger als drei Prozent wa- Städten leben (Abbildung 8). So geben 52 Prozent ren selbst im Ausland geboren. von ihnen an, aus einer Großstadt zu kommen, 16,5 Prozent lebten zum Zeitpunkt der Befragung Für eine Demonstration zum Thema Agrarwende am Rande einer Großstadt oder in deren Voror- ist es zunächst kontraintuitiv, dass ein Großteil ten. Nur 1,2 Prozent der Demonstrant*innen le- der Befragten aus dem urbanen Raum kommt. 44 ben auf Einzelgehöften oder haben ein alleinste- Prozent von ihnen waren zum Zeitpunkt der Wir hendes Haus auf dem Land. Diese Verzerrung haben es satt! Demonstration in Berlin wohnhaft spiegelt sich auch in dem verschwindend gerin- (Abbildung 7). Nach der Hauptstadt sind Branden- gen Anteil der Demonstrant*innen wider, die burg mit 13 Prozent, Baden-Württemberg mit 10 selbst Lebensmittel für den Verkauf anbauen Prozent und Bayern mit knapp sieben Prozent die oder verarbeiten. Bundesländer mit der stärksten Mobilisierung. Abbildung 7: Wohnort der Wir haben es satt! Teilnehmer*in- nen (Bundesland) 4. Politisches Engagement und Einstellungen der Nordrhein- Westfalen; Demonstrant*innen 3,2% Hessen; 4,0% Jeder Protest ist Ausdruck eines politischen Anlie- Schleswig- gens oder Interesses und daher eine Art demo- Holstein; Berlin; 4,8% kratisches Sprachrohr der Bürger*innen (della Bayern; 44,4% 6,9% Porta 2009, Etzioni 1970). Die Beteiligung an Pro- testen führt häufig zu einer weiteren Politisierung der Beteiligten: Forderungen können geteilt und Niedersachsen; kombiniert, kontrastiert und erweitert werden – 10,1% Brandenburg; 13,3% es bildet sich eine wichtige soziale Dimension, von der individuelle politische Überzeugungen Abbildung 8: Wohnort der Wir haben es satt! Teilnehmer*in- gerahmt werden. Häufig sind daher die Forderun- nen (urban oder ländlich) gen, die bei einer Demonstration artikuliert wer- den, eng mit den politischen Überzeugungen der Einzelgehöft; 1,2% Beteiligten verzahnt. Ländliches Dorf; 14,1% Bei der von uns untersuchten Wir haben es satt!- Demonstration lassen sich, wie bereits beschrie- ben, starke Verknüpfungen zu den Klimaprotes- Mittel- oder Kleinstadt; ten der Fridays for Future beobachten. Etwa drei 16,1% Großstadt; Viertel der Befragten (77,1%) geben an, in der 52,0% Rand einer Vergangenheit an mindestens einer Fridays for Großstadt; Future-Protestaktion teilgenommen zu haben. 16,5% Selbst bei denen, die nicht bereits an Fridays for Future-Demonstrationen teilgenommen hatten, identifiziert sich knapp ein Drittel mit den Fridays Frage L4: Welche der Kategorien auf dieser Liste for Future-Protesten. Demnach bietet es sich an, beschreibt am besten, wo Sie wohnen? diese beiden Mobilisierungen im Folgenden mit 13
Blick auf politisches Engagement und Einstellun- anzugeben (siehe Tabelle 1). Am häufigsten wird gen zu vergleichen9. demnach die Form des appellativen Protests ge- nutzt: 84 Prozent der Befragten geben an, schon Angesichts der langen Geschichte der Wir haben einmal eine Petition oder einen öffentlichen Brief es satt!-Demonstration ist es wenig überra- unterzeichnet zu haben. Entsprechend dem Profil schend, dass ein hoher Anteil der Teilnehmer*in- des Konsument*innenprotestes sind auch For- nen bereits über Protesterfahrung verfügt. Fast men des politischen Konsums weit verbreitet. drei Viertel der Beteiligten (73,8%) hatten in der Rund 78 Prozent der Befragten geben an, gezielt Vergangenheit im Durchschnitt 3,7 mal an einer Produkte aus politischen, ethischen oder ökologi- Wir haben es satt!-Demonstration teilgenom- schen Gründen zu kaufen, und rund zwei Drittel men. haben Erfahrung mit dem Boykott von Produkten. Diese Beobachtung passt auch zu den vergleichs- Etwa genauso viele Befragte geben an, aus politi- weise stark institutionalisierten Mobilisierungs- schen, ethischen oder ökologischen Gründen ins- wegen. Hinsichtlich der Informationskanäle und gesamt weniger Produkte konsumiert zu haben. sozialen Kontakte, über die im Vorfeld über die Etwas mehr als die Hälfte hat darüber hinaus aus Demonstration informiert wurde, fällt auf, dass politischen, ethischen oder ökologischen Grün- etablierte Organisationen wie Greenpeace, Cam- den die eigene Ernährung umgestellt. Deutlich pact und der BUND maßgeblich an der Mobilisie- weniger verbreitet sind Erfahrungen mit direkter rung der Teilnehmer*innen beteiligt waren. Ins- Kontaktaufnahme zu Politik und Verwaltung (24,1 gesamt geben über die Hälfte (52,2%) der De- %) oder disruptiven Protestformen wie Aktionen monstrant*innen an, Mitglieder einer solchen Or- des zivilen Ungehorsams (16,9%). ganisation zu sein. Rund ein Drittel (32,9%) erfuhr Die großen Überschneidungen der Wir haben es durch das Informationsmaterial, durch Websei- satt!-Demonstration mit den Klimaprotesten ten und Mailinglisten oder durch Veranstaltun- zeigt sich auch bei der Frage, in welchen Themen- gen einer Organisation von der Demonstration. feldern die Befragten bislang aktiv geworden sind Zusätzlich wurde ein Viertel (27,3%) der De- (siehe Tabelle 2). Knapp neun von zehn Befragte monstrant*innen über Mitglieder aus ihrer Orga- beantworten diese Frage mit Klimaschutz; für 85 nisation auf die Demonstration aufmerksam ge- Prozent ist Umweltschutz ein wichtiges Thema. macht. Auch geben knapp über die Hälfte der Befragten Im Vergleich dazu mobilisiert die Fridays for Fu- Frieden (52,6%) und Anti-Rassismus (52,2%) als ture Bewegung mit ihren jungen und im Aktivis- Themen an, für die sie sich engagieren. Interes- mus noch vergleichsweise unerfahrenen Unter- santerweise setzen sich die Demonstrant*innen stützer*innen am stärksten über persönliche vergleichsweise wenig für internationale Solidari- Kontakte und soziale Medien: Schüler*innen zum tät (25,9%) oder den Globalen Süden und Ent- Beispiel kommunizieren offensichtlich entweder wicklungspolitik (16,2%) ein. Auffällig ist auch das direkt in der Schule miteinander oder nutzen da- nachrangige Engagement in den Feldern Arbeit für neue Medien (Sommer et al. 2019; Neuber & (22,7%) und Soziales (21,9%). Gardner 2020: 130). Organisationen spielen bei der Mobilisierung eine untergeordnete Rolle (Neuber & Gardner 2020: 124). Die Teilnehmer*innen wurden in der Befragung gebeten, ihre bisherigen politischen Aktivitäten _____ 9 Der Vergleich bietet sich auch aus dem Grunde an, da verschiedenen Fridays for Future-Protesten in Berlin die letzte vom ipb durchgeführte Befragung bei zwei und Bremen stattfanden. 14
Tabelle 1: Aktivismus der Wir haben es satt!-Demonstrant*innen Art Anteil in % … eine Petition/öffentlichen Brief unterzeichnet? 83,9 … gezielt Produkte aus politischen, ethischen oder ökologischen Gründen gekauft? 78,3 … einer politischen Organisation oder Gruppierung Geld gespendet? 67,5 … bestimmte Produkte boykottiert? 66,3 … aus politischen, ethischen oder ökologischen Gründen insgesamt weniger Produkte 65,9 konsumiert? … Ihre Ernährung aus politischen, ethischen oder ökologischen Gründen geändert? 55,0 … ein Abzeichen einer Kampagne getragen oder irgendwo angebracht? 39,8 … in den Sozialen Medien auf ein politisches Anliegen aufmerksam gemacht? 36,5 … eine/n Politiker/in oder eine/n Vertreter/in der Verwaltung kontaktiert? 24,1 … an einer direkten Aktion teilgenommen (Blockade, Besetzung, ziviler Ungehorsam)? 16,9 Tabelle 2: Themen Engagement der Wir haben es satt!-Demonstrant*innen Engagementthema Anteil in % Klimaschutz 88,3 Umweltschutz 85,4 Frieden 52,6 Anti-Rassismus 52,2 Freihandelsabkommen 45,3 Migration/Geflüchtete 42,9 Menschenrechte 40,5 Tierrechte 36,4 Frauenrechte 27,5 Internationale Solidarität 25,9 Arbeitnehmer*innenrechte 22,7 Soziale Rechte 21,9 Europa 21,1 Homosexualität/Transgender/LGBTIQ* 17,0 Globaler Süden/ Entwicklungspolitik 16,2 Sonstiges 12,6 Netzpolitik / digitale Rechte 11,7 Finanz- und Bankenkrise 10,1 Ich habe mich im Rahmen der Demonstration erstmalig engagiert. 1,6 15
Bei der Vertrauensfrage werden die Beteiligten Um etwas über die politische Verortung der Wir gebeten, verschiedene Institutionen, wie die Bun- haben es satt!-Demonstrant*innen zu erfahren, desregierung, den Bundestag, politische Parteien, haben wir die Befragten zunächst darum gebe- die Europäische Union, die Vereinten Nationen, ten, sich auf einer Skala von 0 (links) bis 11 die Polizei, etablierte Massenmedien und die Re- (rechts) im politischen Spektrum einzuordnen10. gierung und Verwaltung ihrer Stadt auf einer Bei einem Mittelwert von 2,1 (Median = 1), posi- Skala von 1 (volles Vertrauen) bis 5 (kein Ver- tionieren sich 99 Prozent der Befragten links der trauen) zu bewerten. Die Mittelkategorie Mitte. „teils/teils“ ist dabei für alle Institutionen am Dieses sehr deutliche Bild wird auch durch die stärksten ausgeprägt (siehe Abbildung 10). Antworten auf die Frage nach der Wahlabsicht Das größte Misstrauen bringen die Befragten der gestützt (siehe Abbildung 9). Wenn am Sonntag deutschen Regierung entgegen. Ein Drittel gibt Bundestagswahlen wären, würde die absolute an, wenig oder gar kein Vertrauen in die Bundes- Mehrheit (62.7%) der bei der von uns Befragten regierung zu haben. Ähnliche Werte ergeben sich Bündnis 90/Die Grünen wählen. DIE LINKE ist mit für die politischen Parteien (27,8%) und die Euro- 14,5 Prozent die zweithäufigste gewählte Partei. päische Union (26,2%). Der Bundestag verzeich- 12 Prozent geben an, eine andere Partei zu wäh- nete mit 23,5 Prozent den geringsten Misstrau- len. Hier wurde die Ökologisch-Demokratische enswert. Partei (ÖDP) am häufigsten genannt. Nur eine Person (0,4%) gibt an, gar nicht wählen zu wollen. Kommunale Regierungen und Verwaltungen 3 Prozent würden ungültig wählen und 1,2 Pro- schätzen die Befragten am vertrauenswürdigsten zent sind in Deutschland nicht wahlberechtigt. ein: 42,3 Prozent vertrauen ihnen voll oder eher. Die Polizei, Medien und die Vereinten Nationen Abbildung 9: Sonntagsfrage bei der Wir haben es satt!-De- rangieren zwischen den hohen und niedrigen Ver- monstration trauenswerten. 3,2% 4,0% Die Grünen 12,0% Die Linke SPD 1,6% Andere Partei Weiß nicht 63,0% 15,0% Würde ungültig wählen Nicht wahlberechtigt Würde nicht wählen _____ 10 Frage K1: Viele Leute verwenden die Begriffe ‚links’ wie würden Sie sich selbst einstufen? und ‚rechts’, wenn es darum geht, unterschiedliche po- litische Einstellungen zu kennzeichnen. Wenn Sie an Ihre eigenen politischen Ansichten denken, 16
Abbildung 10: Vertrauen in Institutionen Regierung und Verwaltung Ihrer Stadt 3,2% 39,1% 39,5% 15,7% Etablierte Medien (TV, Radio, Zeitung) 4,0% 29,0% 44,0% 14,9% 8,1% Polizei 6,5% 31,5% 41,5% 13,3% 7,3% Vereinte Nationen (UN) 4,9% 32,1% 44,3% 13,8% 4,9% Europäische Union (EU) 1,6% 28,2% 44,0% 20,2% 6,0% Politische Parteien 11,3% 60,5% 22,2% 5,6% Bundestag 4,9% 26,7% 44,9% 15,8% 7,7% Bundesregierung 2,4% 19,4% 43,7% 20,6% 13,8% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% volles Vertrauen Vertrauen teils/teils geringes Vertrauen kein Vertrauen zufrieden) gegenüber der Ordnung des Grundge- Die Demonstrant*innen wurden zudem gebeten, setzes (29%/50,4%) und noch mehr gegenüber ihre Zufriedenheit mit dem Funktionieren der De- der Idee der Demokratie stark ab (60,1%/27,4%). mokratie anzugeben. Dabei wurde unterschieden Im Vergleich zur Befragung unter den Teilneh- zwischen der Demokratie als Idee, der Demokra- mer*innen des Klimastreiks im März und Septem- tie, wie sie in der Verfassung festgelegt ist und der ber zeigt sich bei der Wir haben es satt!-Demonst- Demokratie, wie sie tatsächlich in Deutschland ration eine größere Unzufriedenheit.11 Nur jede*r funktioniert (siehe Abbildung 11). Analog zu an- vierte Befragte gibt hier an, mit dem Funktionie- deren Demonstrationsbefragungen und reprä- ren der Demokratie in Deutschland zufrieden zu sentativen Bevölkerungsumfragen fällt die Beur- sein, während dieser Wert bei den Fridays for Fu- teilung der real existierenden Demokratie in ture-Protesten um 15 Prozent höher liegt.12 Deutschland (2,1% sehr zufrieden/23,9% _____ 11 12 Berechnungen auf Grundlage der Befragungen der Diese Fragen wurden bei den einzelnen Befragungen Fridays for Future-Demonstrierenden im März und mit unterschiedlich stark differenzierten Skalen ge- September 2019 durch Beth G. Gardner, Sebastian stellt. Für den Vergleich wurden daher die Kategorien Haunss, Piotr Kocyba, Michael Neuber, Dieter Rucht, vereinheitlichend zusammengefasst. Moritz Sommer, Simon Teune, Jurek Wejwoda und Sabrina Zajak. 17
Abbildung 11: Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% sehr zufrieden zufrieden teils/teils unzufrieden sehr unzufrieden Idee im Allgemeinen Verfassung in Deutschland in Deutschland – 82 Prozent der Befragten davon aus, dass sie Die Kritik am Funktionieren der Demokratie spie- über Wahlen Einfluss auf das politische Gesche- gelt sich zum Teil auch in der Bewertung von Po- hen nehmen können. Dagegen fand die Aussage litiker*innen und Parteien wieder. Der Aussage „Mit meinem Engagement kann ich die Politik in „Die meisten Politiker*innen machen eine Menge diesem Land beeinflussen” die Zustimmung von Versprechungen, aber tun dann nichts” stimmt knapp zwei Dritteln der Befragten. Die Wir haben insgesamt fast die Hälfte der Befragten zu es satt!-Demonstrant*innen sind damit aber op- (49,4%), weitere 41 Prozent stimmen ihr teilweise timistischer als die Teilnehmer*innen der Fridays zu. Deutlich weniger Zustimmung erhielt die Aus- for Future-Proteste, bei denen nur knapp die sage „Die Parteien tun eh, was sie wollen”: In 42 Hälfte der Befragten diese Position teilten. Prozent der Fälle stimmen die Befragten teilweise zu, fast ebenso viele (40,2%) stimmen nicht oder Eine positive Erwartung an die Wirkung kol- ganz und gar nicht zu. lektiven Handelns zeigt sich bei den Befragten so- wohl auf der nationalen wie auch auf der interna- Trotz der durchaus kritischen Haltung gegenüber tionalen Ebene. Der Aussage „Wenn sich Bür- der real existierenden Demokratie in der Bundes- ger*innen zusammenschließen, können sie eine republik sind die Befragten nicht politikverdros- Menge Einfluss auf politische Entscheidungen in sen. Wie in Abbildung 12 unten deutlich wird, diesem Land nehmen” stimmen 85 Prozent zu, handelt es sich bei den Wir haben es satt!-De- bezogen auf den Zusammenschluss von Men- monstrant*innen zum größten Teil um Bürger*in- schen verschiedener Länder sehen mehr als drei nen, die der Politik in Deutschland vertrauen und Viertel (76,9%) das Potential, die internationale an ihre kollektive Handlungsfähigkeit in einer De- Politik zu beeinflussen. mokratie glauben. So gehen – konsistent mit der hohen Wahlbeteiligung (siehe Abbildung 9 oben) 18
Abbildung 12: Aussagen über die Politik und Politiker*innen der Bundesrepublik Ich setze mich mit den verschiedenen Meinungen und Positionen 48,8% 38,7% 12,1% auseinander, bevor ich eine Entscheidung treffe Wenn sich Menschen aus verschiedenen Ländern zusammenschließen, können sie eine Menge Einfluss auf 42,9% 34,0% 21,5% internationale Politik nehmen Wenn sich Bürger*innen zusammenschließen, können Sie eine Menge Einfluss auf politische Entscheidungen in diesem Land 49,2% 35,9% 12,9% nehmen Mit meinem Engagement kann ich die Politik in diesem Land 27,4% 38,3% 27,4% 5,6% beeinflussen Die Parteien tun eh, was sie wollen 6,9% 11,4% 41,5% 21,1% 19,1% Ich sehe keinen Sinn darin zu wählen 6,0%8,1% 82,3% Die meisten Politiker*innen machen eine Menge 21,1% 28,3% 40,5% 8,1% Versprechungen, aber tun dann nichts 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Stimme voll und ganz zu stimme zu stimme teilweise zu Die Befragung zeigt, dass es sich bei den De- 5. Essgewohnheiten und monstrant*innen um eine ernährungsbewusste Gruppe von Menschen handelt. Eine bemerkens- Konsumverhalten der werte Mehrheit der Befragten gibt an, täglich fri- Demonstrant*innen sches Obst und Gemüse (77,0%) zu essen, 43 Pro- zent kochen täglich selbst. Zudem konsumiert Wie bereits beschrieben, geben 80 Prozent der über die Hälfte der Befragten (55,9%) nur selten Befragten an, dass sie gezielt Produkte aus politi- Fertiggerichte, über ein Viertel (26,2%) sogar nie. schen, ethischen oder ökologischen Gründen Auffällig sind die Antworten auch bezüglich der kaufen. Über die Hälfte geben an, ihre Ernährung vegetarischen bzw. fleischhaltigen Ernährung. In aus den gleichen Gründen umgestellt zu haben. unserer Befragung gibt ein Drittel (33,2%) der De- Um ein möglichst umfassendes Bild der Motive monstrant*innen an, nie Fleisch zu essen (siehe und des (politischen und sozialen) Engagements Abbildung 13). Dieser Wert entspricht der Summe der Teilnehmer*innen zu erhalten, wollen wir er- der Befragten, die sich als Vegetarier*innen fahren, wie und wo sie Konsumentscheidungen in (22,7%) oder Veganer*innen (11,0%) identifizie- Bezug auf Nahrungsmittelkauf und -verzehr tref- ren (siehe Tabelle 3 unten). fen. 19
Abbildung 13: Verzehr von Lebensmitteln I Fisch 22,3% 47,3% 28,1% Fleisch 16,4% 21,9% 28,5% 33,2% frisches Obst 77,0% 20,3% und Gemüse 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Ausschließlich Täglich Mehrmals die Woche Etwa einmal in der Woche Selten nie Abbildung 14: Verzehr von Lebensmitteln II vegane Gerichte 10,6% 6,3% 29,8% 12,5% 33,7% 7,1% vegetarische Gerichte 21,3% 25,3% 42,3% 4,7% 5,1% Essen außer Haus 23,6% 26,0% 47,2% 0,4% Fertiggerichte 5,5% 12,5% 55,9% 26,2% selbstgekochte Gerichte 7,4% 43,0% 43,8% 3,5% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Ausschließlich Täglich Mehrmals die Woche Etwa einmal in der Woche Selten nie Tabelle 3: Angaben zur Ernährungsweise Zudem ist bemerkenswert, dass 43,5 Prozent der Essgewohnheit Anteil in % Beftagten angeben „nur Fleisch/Fisch aus tierge- Ich bin Veganer*in. 11,0 rechter und/oder ökologischer Tierhaltung“ zu Ich bin Vegetarier*in. 22,7 essen. Weitere 20 Prozent wählen die offene Ant- wortmöglichkeit „Sonstiges“, also keine der vor- Ich esse nur Fleisch/Fisch aus tiergerechter 43,5 gegebenen Kategorien aus, um ihre Ernährung und/oder ökologischer Tierhaltung. genauer zu beschreiben. Ein großer Anteil der De- Ich esse Fleisch/Fisch zu einem möglichst monstrierenden setzt sich also kritisch mit ver- 2,7 guten Preis-Leistungs-Verhältnis. schiedenen Thematiken im Kontext Nahrungsge- Sonstiges 20,0 rechtigkeit auseinander. Die Befragten 20
verwenden in ihren Antworten vermehrt Adjek- wir nach Gewohnheiten beim Lebensmittelein- tive wie „bemühen“ oder „versuchen“. Hier kön- kauf gefragt. Die Befragten sollten angeben, wie nen wir allein anhand der gewählten Sprache eine oft sie auf bestimmte Merkmale von Lebensmit- bewusste Auseinandersetzung ableiten. teln achten (ökologisch, regional, saisonal und importierte Lebensmittel aus Übersee) und wie Beispiel 1: „Ich bemühe mich, wenig Fleisch zu es- häufig sie ihre Lebensmittel von bestimmten Ein- sen.“ kaufsorten (Bio-Supermarkt, Supermarkt, Disco- Beispiel 2: „Ich esse selten Fleisch. Wenn ich unter, Reformhaus oder Weltladen, Wochen- Fleisch esse versuche ich nicht das billigste im Su- markt, Solidarische Landwirtschaft, Abo-Kiste permarkt zu kaufen.“ oder Hofladen) beziehen (Abbildungen 15 und 16, nächste Seite). Andere erklären detailliert, warum sie Fleisch kon- sumieren. Auch die Antworten bezüglich der Lebensmittel- merkmale zeigen ein vergleichsweise homogenes Beispiel 3: „Fleisch nur, bevor es weggeworfen Bild der Demonstrant*innen. Über die Hälfte der wird, sonst Vegetarier.“ Befragten (54,5%) gibt an, „immer/fast immer“ Beispiel 4: „Ich bin Solawista mit Grundversor- ökologische Lebensmittel zu kaufen, weitere 38 gung, d.h. wir haben zwei Betriebe mit Tieren und Prozent „häufig“ und nur 0,4 Prozent „selten oder esse auch die tierischen Produkte, von denen es nie“ (Abbildung 15). Das sind zusammengefasst allerdings nur wenige gibt. Ich halte generell nicht über 90% der Befragten, die überwiegend Le- viel von Dogmen, sondern bin davon überzeugt, bensmittel aus ökologischem Anbau kaufen. dass es unterschiedliche körperliche Notwendig- Auch die entsprechenden Antworten auf Fragen keiten geben kann, was die Ernährung betrifft, so- bezüglich Regionalität, Saisonalität und dem Kauf wohl im Leben eines Individuums als auch im Ver- von importierten Lebensmittel aus Übersee zei- gleich verschiedener Individuen.” gen, dass eine große Mehrheit der Befragten be- Die meisten Antworten beziehen sich darauf, wusst nachhaltige Kaufentscheidungen trifft. dass die Befragten nur bzw. hauptsächlich Fleisch Weit über die Hälfte der Befragten gibt an, „häu- essen, welches aus einer tiergerechten und/oder fig“ (68,2%) bzw. „immer/fast immer“ (14,1%) re- ökologischen Tierhaltung stammt. Außerdem be- gionale Lebensmittel zu kaufen. Des Weiteren er- ziehen sich diese Antworten auf die Häufigkeit klären 59 Prozent „häufig“ und 18 Prozent „im- bzw. Seltenheit des Fleischkonsums. Auch hier mer/fast immer“ saisonale Lebensmittel einzu- werden die Differenziertheit sowie das Interesse kaufen. Fast die Hälfte (45,5%) gibt an, „selten“ der Befragten deutlich, die eigene Meinung mit- und weitere 45 Prozent bekunden, „manchmal“ zuteilen. importierte Lebensmittel aus Übersee zu kaufen. Beispiel 5: „Ich esse zwar nur Fleisch/Fisch aus Über die Hälfte der Befragten (63%) geben an, tiergerechter und/oder ökologischer Tierhaltung. ihre Lebensmittel „häufig“ (40,2%) bzw. „im- Das bedeutet jedoch, dass ich Fleisch/Fisch nicht mer/fast immer“ (22,8%) im Bio-Supermarkt (z.B. regelmäßig esse, sondern ca. dreimal im Jahr.“ Biocompany, Alnatura oder Denn’s) zu kaufen. Weitere 34,6 Prozent der Teilnehmer*innen kau- Beispiel 6: „Wenig Fleisch und dann meistens aus fen ihre Lebensmittel „häufig“ im Supermarkt tiergerechter ökologischer Tierhaltung.“ (z.B. Edeka, Rewe oder Kaufland). Weniger als ein Beispiel 7: „Ich esse Fleisch/Fisch fast nur aus tier- Sechstel erwirbt Lebensmittel im Discounter (z.B. gerechter und ökologischer Tierhaltung.“ Aldi, Lidl oder Penny) („häufig” 14,5%, „im- mer/fast immer“ 1,6%, 31% sogar „nie”). Beispiele 8: „Vegetarierin mit ganz selten Öko- Fleisch.“ Obwohl man vermuten könnte, dass eine Direkt- vermarktung den bislang beschriebenen Kauf- Um herauszufinden, inwiefern sich die politische und Ernährungsentscheidungen entsprechen und aktivistische Haltung der Demonstrant*innen würde, ergab sich, dass nur 17 Prozent der in deren alltäglichem Handeln reflektiert, haben 21
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