KOLLEKTIVE INTER-ESSENVERTRETUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS

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GE W ERK SCH A F T EN I M WA N DEL 4.0
                                                                       

A R BEI T U N D SOZI A L E GERECH T I GK EI T

KOLLEKTIVE INTER­
                                                Arbeiter_innen und die
                                                organisierte Arbeitnehmer-
                                                schaft setzen sich mit der
                                                Nutzung digitaler Techno-

ESSENVERTRETUNG
                                                logien auseinander. Dies
                                                führt zu offensiven und
                                                defensiven Arbeitskämpfen
                                                sowohl im Globalen Norden

IM DIGITALEN
                                                als auch im Globalen Süden.

­KAPITALISMUS                                   Kollektive Interessen- und
                                                Arbeitnehmer_innen­
                                                vertretungen weisen – ins-
Alte und neue Arbeitskämpfe                     besondere in der Plattform-
                                                ökonomie – eine zunehmende
                                                Vielfalt und Dynamik auf.
Victoria Basualdo, Hugo Dias,
Mirko Herberg, Stefan Schmalz,
Melisa Serrano und Kurt Vandaele
Oktober 2021
                                                Die Verbindung der Macht-
                                                ressourcen von Basisinitiativen
                                                und »etablierten« Gewerk-
                                                schaften ist der Schlüssel zur
                                                Stärkung der Macht und der
                                                Rechte von Lohnabhängigen.
KOLLEKTIVE INTERESSENVERTRETUNG
                           IM DIGITALEN KAPITALISMUS
                                       Alte und neue Arbeitskämpfe

Die neuen Formen der digitalen Ar-         Diese Auseinandersetzungen nehmen           Während die defensiven Kämpfe in
beit restrukturieren das Machtverhält-     unterschiedliche Formen an: In etablier-     erster Linie von Gewerkschaften ge-
nis zwischen Kapital und Arbeit und        ten Branchen finden defensive Kämp-         führt werden, lässt sich in der digi-
verstärken den anhaltenden Trend zur       fe statt, in denen es in erster Linie da-   talen bzw. Plattformökonomie eine
Prekarisierung und Informalisierung        rum geht, bestehende Standards zu           zunehmende Vielfalt an kollektiven Ar-
von Arbeit sowie zur Absenkung von         verteidigen. Im Vergleich dazu zielen        beitnehmer_innen­   verbänden und an-
Arbeitsstandards. Während ein tech-        Offensivkämpfe in der Regel darauf ab,       deren Formen der Interessenvertre-
nologiegesteuerter race to the bot-        aufstrebende Branchen und neue Be-          tung von Beschäftigten beobachten.
tom bevorstehen könnte, hat das Pro-       schäftigtengruppen zu organisieren,         ­Bottom-up-Initiativen und Allianzen
jekt »Trade Unions in Transformation       um den Arbeitnehmer_innen grund-            zwischen Basisnetzwerken und »eta-
4.0« (TUiT 4.0) ermittelt, welche Ausei-   legende Rechte und Absicherungen             blierten« Gewerkschaften spielen im
nandersetzungen Gewerkschaften und         zu verschaffen oder ihre bestehenden         Kampf um die Macht und die Rechte
neue Organisationen von Beschäftigten      Rechte zu erweitern.                         der Arbeitnehmer_innen eine wichtige
im digitalen Kapitalismus des 21. Jahr-                                                 Rolle. Die Suche nach geeigneten For-
hunderts führen.                                                                        men der Zusammenarbeit könnte der
                                                                                       Schlüssel zu einer offensiven Agenda
                                                                                       für die organisierte Arbeitnehmerschaft
                                                                                        im digitalen Kapitalismus sein.

                                    Weitere Informationen zum Thema erhalten Sie hier:
                                          https://www.fes.de/lnk/transform
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Inter­essenvertretung im digitalen ­K apitalismus

A R BEI T U N D SOZI A L E GERECH T I GK EI T

KOLLEKTIVE INTER­
ESSENVERTRETUNG
IM DIGITALEN
­KAPITALISMUS
Alte und neue Arbeitskämpfe

 In der neuen Arbeitswelt verändern Unternehmen durch
 den Einsatz digitaler Technologien Arbeitsverhältnisse und
-organisation, meistens zu Lasten von Beschäftigten. Das
 FES-Projekt »Gewerkschaften im Wandel 4.0« untersucht,
 wie Gewerkschaften ihre Machtressourcen mobilisieren und
 strategisch einsetzen, um der schleichenden oder disruptiven
 Prekarisierung ihrer Arbeit entgegen zu treten. Mit einem
 dialog- und aktionsorientierten Ansatz zielt das Projekt dar-
 auf ab, gewerkschaftliche Strategiebildung, Experimentieren
 und zielgerichtete Transformation zu unterstützen.
 INHALT

Inhalt

1     EINLEITUNG 		                                                                      2

2     TECHNOLOGISCHER WANDEL UND
      DER MACHTRESSOURCENANSATZ 		                                                       4

2.1   Neue Technologien und die Reaktion der Arbeitnehmer_innen ..........               4
2.2   Machtressourcen .............................................................      5
2.3   Das »Unmaking und Remaking« von Arbeiterklassen .....................              6

3     DIGITALISIERUNG, INDUSTRIE 4.0
      UND ORGANISIERTE ARBEITNEHMERSCHAFT 		                                             7

3.1   Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Innovationen im Bankensektor ..                8
3.2   Ausweitung der Verhandlungsagenda in der Automobilindustrie ........               8
3.3   Organisierung im IKT-Sektor .................................................      9

4     KOLLEKTIVES HANDELN VON BESCHÄFTIGTEN
      IN DER DIGITALEN PLATTFORMÖKONOMIE 		                                              10

4.1   Die Hauptziele kollektiven Handelns ........................................       10
4.2   Das Konfliktrepertoire ........................................................    11

5     ORGANISATIONSMACHT: VARIANTEN
      VON »PLATTFORM-GEWERKSCHAFTEN« 		                                                  13

5.1   Variante: Kooperation mit Gewerkschaften ................................          13
5.2   Variante: Organisierte informelle Gruppe ...................................       14
5.3   Variante: Gewerkschaftsgründung ..........................................         14
5.4   Variante: Hybridisierung von Gewerkschaften ..............................         15

6     FAZIT: ORGANISIERTE VIELFALT NUTZEN 		                                             16

6.1   Organisatorische Vielfalt als neue Normalität ...............................      16

      Literaturverzeichnis ...........................................................   17
      Anhang ........................................................................    19

                                                            1
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Inter­essenvertretung im digitalen ­K apitalismus

1

EINLEITUNG

In den letzten zehn Jahren haben sich die Machtverhält-                mangelt es bisher generell an Organisationserfahrung in der
nisse auf den Arbeitsmärkten grundlegend gewandelt.                    Plattformökonomie und im Informations- und Kommunika-
Die Kapitalseite hat neue Technologien eingeführt und                  tionstechnologie-Sektor (IKT). Es gibt jedoch Fälle von Wi-
genutzt, um den Produktions- und Dienstleistungssektor                 derstand, sowohl im Globalen Norden als auch im Globalen
zu reorganisieren – mit spürbaren Auswirkungen auf die                 Süden (Basualdo et al. 2021; Minter 2017; Trappmann et
industriellen Beziehungen. Während »Industrie 4.0« mit                 al. 2021; Vandaele 2021; Wood et al. 2018). Das von der
neuen intelligenten Produktionstechnologien das Tempo                  Friedrich-Ebert-Stiftung initiierte Projekt »Gewerkschaften
der Automatisierung und der lean production im Indus-                  im Wandel 4.0« (Trade Unions in Transformation 4.0, kurz:
triesektor erhöht, erlebt der Dienstleistungssektor eine               TUiT 4.0) hat solche Kämpfe von Gewerkschaften und neuen
tiefgreifende technologische Disruption. Branchen wie der              Organisationen von Beschäftigten im digitalen Kapitalismus
Bankensektor, der Einzelhandel, der Transportsektor, das               des 21. Jahrhunderts untersucht. Einen Überblick über die
Gastgewerbe und Lebensmittel-Lieferdienste werden durch                entsprechenden Fallstudien bietet Tabelle 1 im Anhang1.
die Nutzung von plattformbasierten Dienstleistungen, von               Die zwölf Studien von insgesamt 34 Autor_innen decken
Big Data und künstlicher Intelligenz transformiert. Durch              eine Reihe von Sektoren der Plattformökonomie und der
den Aufstieg des »digitalen Kapitalismus« (Schiller 1999),             konventionellen Wirtschaft sowie zwölf Länder im Globalen
»Plattformkapitalismus« (Srnicek 2016) oder »Überwa-                   Norden und im Globalen Süden ab.2 Es gibt zwei Studien
chungskapitalismus« (Zuboff 2019) sind mächtige neue                   zum Produktionssektor. Sechs Studien befassen sich mit dem
transnationale Plattformunternehmen wie Amazon, Uber,                  Transportsektor, zwei mit dem Bankensektor, eine mit IKT
Facebook, Airbnb und Deliveroo entstanden, die die heuti-              und eine mit der Kreativbranche.
ge Weltwirtschaft prägen. Diese Unternehmen stellen nicht
nur traditionelle Geschäftsmodelle in Frage, sondern för-              Die Leitfragen des TUiT 4.0-Projektes lauteten: Wie haben
dern auch ultraflexible, prekäre Arbeitsmodelle wie Arbeit             Arbeitnehmer_innen und Gewerkschaften auf die Bedro-
auf Abruf bei Lieferdiensten, hochgradig repetitive digitale           hungen des digitalen Kapitalismus reagiert, welche neuen
Arbeit im Online-Handel sowie freiberufliche, digital erfass-          Kämpfe sind zu beobachten und welche Hauptfaktoren sind
te Arbeit (logged labour), verrichtet von Uber-Fahrer_innen,           entscheidend für den Erfolg der Bemühungen um die Or-
die keine Arbeitgeber_innen haben, mit denen sie über                  ganisierung von Arbeitskräften in der digitalen Wirtschaft?
grundlegende Beschäftigungsbedingungen verhandeln                      In diesem Abschlussbericht werden drei Thesen entwickelt.
können (Huws 2016; Delfanti 2021).                                     Erstens: Die Anwendung digitaler Technologien wird von
                                                                       den Gewerkschaften herausgefordert, was zu Arbeitskämp-
Diese neuen Formen der digitalen Arbeit verstärken die
anhaltende Entwicklung hin zu einer Prekarisierung und
Informalisierung der Arbeit noch mehr. Darüber hinaus re-
                                                                       1   Die im Rahmen des Projekts TUiT 4.0 erstellten Fallstudien wurden
strukturieren sie auch das Machtverhältnis zwischen Kapital                wie folgt ausgewählt: Über die internationalen Gewerkschaftsver-
und Arbeit. Die neuen Formen der digitalen Arbeit und Platt-               bände, die Global Labour University und das FES-Netzwerk wurde
                                                                           ein open call veröffentlicht. Es gingen 18 Kurzfassungen ein, von de-
formarbeit gehen in der Regel mit einer aggressiven Senkung
                                                                           nen die Auswahlkommission nach ausführlicher Beratung zwölf aus-
von Arbeitsstandards, einer Umgehung des Arbeitsrechts                     wählte. Die Auswahlkommission bestand aus Regionalkoordinator_
und neuen Formen algorithmischer Überwachung und Kon-                      innen der Friedrich-Ebert-Stiftung und Wissenschaftler_innen, die
                                                                           im Globalen Norden und im Globalen Süden auf dem Gebiet der In-
trolle einher. Dieser Prozess drängt die Gewerkschaften in die
                                                                           dustriellen Beziehungen und der Arbeitssoziologie arbeiten. Die Aus-
Defensive und droht damit einen neuen, technologiegesteu-                  wahlkommission bestand aus folgenden Personen: Victoria Basualdo,
erten race to the bottom (Tonelson 2002) herbeizuführen.                   Anja Bodenmüller-Raeder, Hugo Dias, Uta Dirksen, Thomas Greven,
                                                                           Jannis Grimm, Mirko Herberg, Dominique Klawonn, Carmen Ludwig,
Auf den ersten Blick scheint dies darauf hinzudeuten, dass
                                                                           Marc Meinardus, Stefan Schmalz, Melisa Serrano und Kurt Vandaele.
Gewerkschaften im Niedergang begriffen sind. Die Auto-                 2   Alle Studien des Projekts sind online auf der Website der FES ab-
matisierung könnte zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit                   rufbar: https://www.fes.de/en/themenportal-gewerkschaften-
führen. Der technologische Wandel wird benutzt, um unge-                   und-gute-arbeit/international-trade-union-policy/trade-unions-in-
                                                                           transformation-40. Unter dem Link http://library.fes.de/pdf-files/
sicherte Arbeitsplätze zu schaffen. Institutionen der Tarifpoli-           iez/17797-20210602.pdf bieten wir auch eingängige Berichte, die
tik werden ins Abseits gedrängt, und den Gewerkschaften                    von Journalist_innen verfasst wurden (Dirksen und Herberg 2021).

                                                                   2
EINLEITUNG

fen und Protesten gegen ihren Einsatz im Arbeitsprozess
geführt hat. Zweitens: Es gibt verschiedene Formen der
Auseinandersetzung: offensive Kämpfe, die darauf abzielen,
aufstrebende Branchen und neue Beschäftigtengruppen zu
organisieren, und defensive Kämpfe in etablierten Branchen,
die in erster Linie auf die Verteidigung bestehender Beschäf-
tigungsstandards abzielen. Drittens: Die digitale Ökonomie
weist eine zunehmende Vielfalt von kollektiven Interessen-
vertretungen auf. Insbesondere in der Plattformökonomie
spielen Basisinitiativen (bottom-up initiatives) und Allianzen
zwischen Basisnetzwerken und »etablierten« Gewerkschaf-
ten eine wichtige Rolle im Kampf um die Stärkung der Macht
und der Rechte von Beschäftigten.

Die meisten unserer Studien berichten entweder von inspirie-
renden Fällen, die zeigen, wie es »etablierten« Gewerkschaf-
ten gelang, den technologischen Wandel zu bewältigen,
oder davon, wie sich Basisinitiativen (in einigen Fällen mit
Unterstützung von Gewerkschaften) erfolgreich in der digi-
talen Ökonomie organisieren konnten. Gewerkschaften oder
neuartige Organisationen von Beschäftigten mussten es mit
mächtigen Unternehmen aufnehmen und neue Strategien
entwickeln, um Beschäftigte zu organisieren. Einige Fall-
studien gehen auch auf die Probleme bei der Organisierung
von Beschäftigten während der Covid-19-Pandemie ein und
erörtern, wie die organisierte Arbeitnehmerschaft die soziale
Distanzierung und die Wirtschaftskrise bewältigte.

Der vorliegende Bericht hat folgende Struktur: In Abschnitt
2 wird ein Analyserahmen vorgestellt und mit ihm analysiert,
wie der technologische Wandel die Machtressourcen von
Arbeitnehmer_innen verändert. Abschnitt 3 erörtert die
Auswirkungen von Digitalisierung und Industrie 4.0 auf die
traditionellen Mitgliederhochburgen der Gewerkschaften
und ihre erfolgreichen Defensivkämpfe zur Bewältigung des
technologischen Wandels. Abschnitt 4 zeigt, wie die Platt-
formökonomie zu einem Nährboden für Arbeitsunruhen
wurde und welche Formen offensiver Kämpfe sich in diesem
Sektor entwickelten. In Abschnitt 5 wird untersucht, wel-
che Rolle die Gewerkschaften und andere Organisationen
von Lohnabhängigen in diesen Kämpfen spielen, wobei
zwischen verschiedenen Varianten des »Plattformgewerk-
schaftswesens« unterschieden wird. Abschnitt 6 kommt zu
dem Schluss, dass die organisierte Arbeit vor der Aufgabe
steht, neue Koalitionsformen und eine offensive Agenda zu
entwickeln, um die Herausforderung der digitalen Transfor-
mation bewältigen zu können.

                                                                 3
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Inter­essenvertretung im digitalen ­K apitalismus

2

TECHNOLOGISCHER WANDEL UND
DER MACHTRESSOURCENANSATZ

Der technologische Wandel ist seit jeher umstritten und             anderen Worten: In vielen Fällen haben neue Technologien
hat zu intensiven Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit               nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Un-
geführt. Historisch gesehen waren die Vorläufer der Arbei-          ternehmen gestärkt, sondern auch das Verhältnis zwischen
terbewegung im 18. und frühen 19. Jahrhundert »Maschi-              Kapital und Arbeit selbst verändert. Ein markantes Beispiel
nenstürmer« (Hobsbawm 1952). Die Protagonisten der                  für einen solchen »technologischen fix« ist die »Umstellung
Ludditenbewegung (1811–1813) in Großbritannien zer-                 des Schifftransports auf Container und die Automatisierung
störten Maschinen als eine Form von »Tarifverhandlungen             in der Hafenarbeit«, die die »in der zweiten Hälfte des 20.
durch Aufruhr » (collective bargaining by riot, ebd. 59), um        Jahrhunderts – historisch für ihre Militanz bekannten – Ha-
Zugeständnisse bei Löhnen oder Arbeitsbedingungen zu                fenarbeiter drastisch reduzierte« (Silver 2003: 101, siehe
erhalten. In vielen Fällen, wie bei den Maschinenstürmern           auch Levinson 2006), was zu einer Schwächung der organi-
von Lancashire (1778–1780), waren solche Aufstände                  sierten Arbeitnehmerschaft in der Frachtindustrie führte. Bei
sogar eine Form des »ganz bewussten Widerstands gegen               anderen Umbrüchen wie der lean production und der just-
die Maschine in den Händen von Kapitalisten« (ebd. 62),             in-time-Produktion lassen sich ähnliche Fälle beobachten, in
weil die Protestierenden befürchteten, durch arbeitsspa-            denen die Zahl der Arbeitskräfte verringert und neue Formen
rende Technologien ersetzt oder verdrängt zu werden. Das            der Arbeitskontrolle eingeführt wurden. Das algorithmische
»Maschinenstürmen« verbreitete sich in der ganzen Welt              Management in der Plattformökonomie kann heute also
und wurde im Europa des frühen 19. Jahrhunderts und in              betrachtet werden als neuer »technologischer fix«, die das
anderen Regionen der Welt zu einer üblichen Praxis (Van             bestehende Arbeitsrecht und institutionelle Beschäftigungs-
der Linden 2008: 174). Auch in der weiteren Entwicklung             standards umgeht (Vandaele 2018, 2021).
des Kapitalismus spielten Kämpfe um den technologischen
Wandel eine große Rolle. Ende des 20. Jahrhunderts setz-            Die Einführung neuer Technologien führte auch zu wider-
ten sich Gewerkschaften wie die Gesellschaft der Beamten            sprüchlichen Entwicklungen. Paradoxerweise trug die Einfüh-
und Angestellten im öffentlichen Dienst (Society of Civil           rung der Webmaschine – gegen die sich die Ludditen heftig
and Public Servants) im Großbritannien der Thatcher-Ära             wehrten –, dazu bei, die Organisierung der Arbeiter_innen
aktiv gegen den Einsatz von Computern in der öffentlichen           zu fördern und voranzutreiben, denn dies war ein Vorläufer
Verwaltung ein, da die Angestellten fürchteten, durch               der kapitalistischen Fabrik und der industriellen Arbeiterbe-
technologiegesteuerte Rationalisierung ihre Arbeitsplätze           wegung des neunzehnten Jahrhunderts (Marx 1976). Auch
zu verlieren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die            die Einführung des Fließbandes Anfang des 20. Jahrhunderts
meisten Kämpfe gegen neue Technologien nicht einfach nur            ging mit einer rigiden tayloristischen Arbeitskontrolle einher,
antimodern waren, sondern um Machtverhältnisse gingen,              erleichterte aber koordinierte Streikaktionen. Die häufigen
da das Kapital, das den technologischen Wandel vorantrieb,          Arbeitsunruhen in der Automobilindustrie der USA in den
dazu neigte, die Interessen der Arbeitnehmer_innen zu               1930er Jahren, in Westeuropa Ende der 1960er und 1970er
ignorieren.                                                         Jahre und in Brasilien/ Südkorea in den 1980er Jahren waren
                                                                    weitgehend darauf zurückzuführen, dass Arbeitskräfte über
                                                                    die Macht verfügten, das Fließband und damit die Produk-
2.1 NEUE TECHNOLOGIEN UND DIE                                       tion zu stoppen (Silver 2003: 47–66). Auch die hochflexiblen
REAKTION DER ARBEITNEHMER_INNEN                                     globalen Produktionsnetzwerke, die seit den 1990er Jahren
                                                                    entstanden, machten die globale Produktion und Logistik
Auf konzeptioneller Ebene argumentierte die Arbeitssozio-           anfälliger für Arbeitsniederlegungen und schufen für die or-
login Beverly Silver, dass das Kapital »technologische fixes«       ganisierten Beschäftigten damit neue Möglichkeiten, Druck
(technological fix) einsetze, um auf Arbeitsunruhen zu              auf transnationale Unternehmen auszuüben (Fichter et al.
reagieren und die organisierte Arbeitnehmerschaft heraus-           2018: 7f.). Digitale Technologien ermöglichen heute neue
zufordern, indem es tiefgreifende Prozessinnovationen ein-          Formen der »vernetzten Macht«, indem sie verschiedene
führe, um so die »Probleme mit der Profitabilität und der           Machtressourcen in Offline- und Online-Aktionen miteinan-
Kontrolle über die Arbeiter« zu lösen (Silver 2003: 91). Mit        der kombinieren (Helmerich et al. 2020). Folglich haben die

                                                                4
TECHNOLOGISCHER WANDEL UND DER MACHTRESSOURCENANSATZ

neuen Technologien die Organisierung von Arbeiter_innen                         Strukturelle Macht ergibt sich aus der Stellung der Lohn-
sowohl behindert als auch erleichtert.                                          abhängigen im Produktionsprozess, entweder aus ihrer
                                                                                Produktionsmacht (also ihrer Fähigkeit, die Produktion zu
In diesen Kämpfen entwickelten die Arbeiter_innen auch                          stoppen) oder ihrer Marktmacht (also dem Besitz seltener
ihre eigene Vision von Technologien und Produktionspro-                         Qualifikationen oder der Möglichkeit, sich vom Arbeits-
zessen. Historisch neigt das Kapital dazu, neue Technologien                    markt zurückzuziehen). Die Organisationsmacht bezieht sich
nach dem Top-Down-Ansatz zu implementieren, wobei                               auf die Stärke der organisierten Beschäftigten, die durch
die organisierte Arbeit auf Veränderungen im Produktions-                       Faktoren wie Mitgliederstärke, Mitgliederbeteiligung und
prozess reagiert. Ende der 1960er und Anfang der 1970er                         infrastrukturelle Ressourcen beeinflusst werden kann. Insti-
Jahre – als sich die Arbeiterbewegung in den entwickelten                       tutionelle Macht bezieht sich auf das Arbeitsrecht und ins-
kapitalistischen Ländern auf dem Höhepunkt ihrer Macht                          titutionelle Rechte, auf die sich individuelle und organisierte
befand –, konzentrierte sich die Mobilisierung der Arbei-                       Beschäftigte berufen können. Gleichwohl ist institutionelle
ter_innen jedoch auf die Kontrolle der Kapitalseite über die                    Macht nicht nur emanzipatorisch, da viele institutionelle
Technologie und den Produktionsprozess selbst und stellte                       Regelungen auch Handlungseinschränkungen beinhalten.
somit das hierarchische tayloristische Fabriksystem ihrer Zeit                  Gesellschaftliche Macht kann entweder von Netzwerken
in Frage (Schmalz und Weinmann 2016). In mehreren Unter-                        mit anderen gesellschaftlichen Akteuren – z. B. sozialen Be-
nehmen wurden neue, von Arbeitnehmer_innen gesteuerte                           wegungen – ausgehen (Kooperationsmacht) oder von der
sozio-technische Ansätze eingeführt, inspiriert von den                         Fähigkeit, erfolgreich in öffentliche Debatten einzugreifen
Arbeiten des Tavistock Institute3, das sich dafür aussprach,                    (Diskursmacht). Alle vier Machtressourcen sind miteinander
dass Technologie niemals ein einziges Organisationsmodell                       verknüpft und in Machtverhältnisse eingebettet. Dadurch
vorschreiben sollte und damit deterministische techno-                          werden sie von den sich wandelnden Klassenverhältnissen
logische Standpunkte in Frage stellte (Coriat 1979). Das                        und Entwicklungen im globalen Kapitalismus beeinflusst. 4
bekannteste Beispiel für einen solchen Ansatz ist das 1974
eröffnete Volvo-Werk in Kalmar (Schweden), in dem das                           Wie die vorangegangene Diskussion der Geschichte von
herkömmliche hierarchische Fließband durch ein Gruppen-                         Technologie und Arbeit gezeigt hat, ist Technologie eine
arbeits-Produktionssystem mit unabhängigen Produktions-                         bedeutende Triebkraft für einen solchen Wandel. Neue Tech-
teams ersetzt wurde.                                                            nologien führen potenziell zu einer »kreativen Zerstörung«
                                                                                veralteter Geschäftsmodelle und formen Arbeitsorganisie-
In diesem Zusammenhang wurden progressive Strategien                            rung und Arbeitsbeziehungen. Um es mit den Worten des
wie das Industrial Democracy Program in Norwegen (später                        Machtressourcenansatzes zu sagen: Technologische Innovati-
auch in Schweden und Dänemark) verabschiedet, bei dem                           on führt tendenziell zu einer Veränderung der Machtstruktu-
Gewerkschaften und Arbeiter_innen an der Gestaltung der                         ren. Mit sich wandelnden Produktionsmitteln verändern sich
Einführung neuer Technologien und Organisationsmodelle                          auch die Möglichkeiten, den Produktionsprozess zu stoppen
mitwirkten (Thorsrud und Emery 1970). Zusammenfassend                           (Produktionsmacht). Zudem wird ein Teil der Arbeitskräfte
lässt sich sagen: Wenn die Arbeiter_innen über große Macht                      entlassen, während gleichzeitig neue Gruppen von quali-
verfügen, ist die Arbeiter_innenbewegung in der Lage, die                       fizierten Lohnabhängigen entstehen (Marktmacht). Mit dem
Kontrolle der Kapitalseite über den Einsatz von Technologie                     Wandel der strukturellen Macht wandelt sich auch die Or-
im Produktionsprozess in Frage zu stellen.                                      ganisationsmacht. Die Restrukturierung der Arbeitnehmer-
                                                                                schaft und des Arbeitsprozesses stellt die Gewerkschaften
                                                                                vor große Herausforderungen (z. B. Repräsentationslücken),
2.2 MACHTRESSOURCEN                                                             kann durch steigende Gewerkschafts-Mitgliederzahlen aber
                                                                                auch zu potenziellen Vorteilen führen. Darüber hinaus lösen
Um die Auswirkungen des technologischen Wandels auf die                         neue Technologien auch Kämpfe aus, in denen es darum
Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit zu untersuchen,                         geht, wie neue Formen von Beschäftigung und Arbeit zu
wird in den folgenden Abschnitten der Machtressourcenan-                        regeln sind (Institutionelle Macht). In einigen Fällen führen
satz (MRA) verwendet (zum MRA siehe: Schmalz et al. 2018;                       sie sogar zu politischen Diskussionen (z. B. Datenschutz im
Schmalz/Dörre 2014; Brinkmann et al. 2008). Sämtliche                           digitalen Kapitalismus), durch die sich neue Möglichkeiten
Studien des Projekts TUiT 4.0 verwenden den Machtressour-                       für Allianzen mit Nicht-Regierungsorganisationen und Bür-
cenansatz als Analyserahmen, um die Herausforderungen                           gerrechtsbewegungen ergeben (Gesellschaftliche Macht).
der organisierten Arbeitnehmerschaft und die Zukunft der
Arbeit zu theoretisieren und zu reflektieren.4 Abbildung 1
zeigt, dass der Machtressourcenansatz zwischen vier Quel-
len von Lohnabhängigenmacht unterscheidet: Strukturelle,
Organisations-, Institutionelle und Gesellschaftliche Macht.
                                                                                4    Wir haben den Machtressourcenansatz für die Untersuchung ge-
                                                                                     wählt, weil er sich im Vorfeld dieses Projektes als nützlicher Analyse-
                                                                                     rahmen für die Untersuchung von Arbeitskämpfen im Globalen Nor-
3   Das Tavistock Institute of Human Relations ist ein Forschungsinstitut            den und im Globalen Süden erwiesen hat. Bereits im Rahmen des
    mit Sitz in London, das sich vor allem der Erforschung von Arbeits-              Vorläuferprojekts der FES »Trade Unions in Transformation » wurden
    beziehungen widmet und seit dem Nachkriegsboom maßgeblich an                     verschiedene strategischen Antworten der organisierten Beschäftig-
    der Förderung sozio-technischer Ansätze in industriellen Beziehun-               ten auf den globalisierten Kapitalismus untersucht; siehe Fichter et al
    gen beteiligt war.                                                               (2018).

                                                                            5
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Inter­essenvertretung im digitalen ­K apitalismus

  Abbildung 1
  Lohnabhängigenmacht aus dem Blickwinkel des Machtressourcenansatzes

                                                                  Der Machtressourcenansatz

                                                                  LOHNABHÄNGIGENMACHT
                                                            BASIEREND AUF VIER MACHTRESSOURCEN

                                    Strukturelle Macht                                               Organisationsmacht

                         Verhandlungsmacht am Arbeitsmarkt                                    Stabilität/Vitalität der gewerkschaft-
                            (Marktmacht) und Arbeitsplatz                                     lichen Organisation; Gewerkschafts-
                             (Produktionsmacht); Störung                                             demokratie, Beteiligung
                                 der Kapitalverwertung

                                   Institutionelle Macht                                           Gesellschaftliche Macht

                                Sicherung und Stabilisierung                                 Macht über den Arbeitsplatz hinaus:
                               von Einfluss in institutionellen                               Kooperations- und Diskursmacht
                                       Arrangements                                                (Bündnisse, Allianzen,
                                                                                                      Agenda-Setting)

  Quelle: Fichter et al. 2018: 4

2.3 DAS »UNMAKING UND REMAKING«                                                   ein Kampf für verkürzte Arbeitszeit ohne Lohnkürzung eine
VON ARBEITERKLASSEN                                                               offensive Agenda dar. Zusammenfassend lässt sich sagen,
                                                                                  dass der technologische Wandel einen Paradigmenwechsel
Der technologische Wandel hat auch die Art und die Form                           für die Gewerkschaftsbewegung darstellt, durch den die
der Arbeitskämpfe geprägt. Er hat in hohem Maße zur                               bestehenden Machtverhältnisse unter Druck geraten und
»ständigen Zersetzung und Neubildung von Arbeiterklassen                          die organisierte Arbeitnehmerschaft neue Wege des Wider-
» beigetragen (Silver 2005: 41). Aufstrebende Industriebran-                      stands und des Organisierens erschließt.
chen führten zur »Bildung« oder »Neugestaltung« neuer
Arbeiterklassen (z. B. in der US-amerikanischen Automobil-
industrie der 1920er und 1930er Jahre), während der tech-
nologische Wandel gleichzeitig eine Rationalisierung und
Deindustrialisierung und damit eine »Auflösung« bereits
existierender Arbeiterklassen anstößt (z. B. seit den 1980er
Jahren in der westeuropäischen Stahlindustrie). Aus diesem
Grund sind viele Kämpfe in aufstrebenden Branchen in erster
Linie »offensiv« und darauf ausgerichtet, die Macht und die
Rechte der Lohnabhängigen von einem Ausgangspunkt ext-
remer Schwäche aus zu etablieren und sich auf neue Formen
struktureller Macht zu stützen, während die Kämpfe in In-
dustriebranchen unter Druck (z. B. der Kohleindustrie) meist
»defensiv« sind und sich auf bestehende Machtressourcen
– institutionelle Macht und Organisationsmacht – stützen.
Beide Formen des Kampfes sind Idealtypen im Weberschen
Sinne (Weber 1978). Mit anderen Worten: Eigentlich ist die
postulierte Verknüpfung »defensiver Kampf–Branchen unter
Druck« und »offensiver Kampf–aufstrebende Branche« viel
zu einfach. Es gibt auch Mischformen solcher Kämpfe, vor
allem in Branchen, die sich im Wandel befinden (z. B. die
grüne Transformation der Automobilindustrie). Hier stellt

                                                                              6
DIGITALISIERUNG, INDUSTRIE 4.0 UND ORGANISIERTE ARBEITNEHMERSCHAFT

3

DIGITALISIERUNG, INDUSTRIE 4.0 UND
ORGANISIERTE ARBEITNEHMERSCHAFT

Bevor diese neuen Formen der organisierten Arbeitnehmer-            Mehrere Studien im Rahmen des Projekts TUiT 4.0 haben
schaft einer Analyse unterzogen werden, muss man aufzei-            jedoch gezeigt, dass Gewerkschaften kreative Wege finden
gen, wie sich die Arbeitsbeziehungen durch Digitalisierung          können, um mit diesen tiefgreifenden Restrukturierungs-
und Industrie 4.0 veränderten, und dann ausarbeiten,                entwicklungen umzugehen. Im Rahmen des Projekts
welches die größten Herausforderungen für die organisierte          wurden zwei Branchen untersucht, die unter ständigem
Arbeitnehmerschaft sind. Die TUiT 4.0-Studien deuten da-            Innovationsdruck stehen: die Automobilindustrie und der
rauf hin, dass durch die Einführung neuer digitaler Techno-         Bankensektor. Industrie 4.0, die grüne Transformation der
logien zwei bedeutende Strömungen der Umstrukturierung              Automobilindustrie und die Digitalisierung im Bankensektor
ausgelöst wurden: Die erste Strömung – die in diesem Ka-            haben enorme Auswirkungen auf Beschäftigungsverhältnis-
pitel erläutert wird –, geht mit der Rationalisierung einher.       se und Arbeitsbedingungen. In den TUiT 4.0-Fallstudien sind
Hierfür untersuchen wir mehrere Branchen mit etablierten            Gewerkschaften in diesen Branchen traditionell stark: Sie
Gewerkschaften, die stark von Digitalisierung und Industrie         stützen sich auf eine starke Organisationsmacht, die sich in
4.0 betroffen sind (z. B. die Automobilindustrie oder der           einem relativ hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad
Einzelhandel). Die zweite Strömung, die im darauf folgen-           widerspiegelt; auf strukturelle Macht, die es möglich macht,
den Kapitel beschrieben wird, hängt mit dem Aufstieg der            Fertigungsprozesse und Dienstleistungen zu unterbrechen;
Plattformökonomie zusammen.                                         und auf institutionelle Macht, die sich aus Tarifverträgen ab-
                                                                    leitet. Das bringt sie – im Vergleich zu anderen »etablierten«
Industrie 4.0, manchmal auch Smart Manufacturing ge-                Branchen wie der Textil- oder Bekleidungsindustrie sowie
nannt, verknüpft die industrielle Produktion mit Big Data,          Dienstleistungssektoren wie dem Einzelhandel – in eine
maschinellem Lernen und digitalen Technologien zum Zweck            stabile Position für ihre größtenteils defensiven Kämpfe um
einer Steigerung der Arbeitsleistung und Effizienz in der           die Erhaltung von Arbeitsplätzen, hohen Löhnen und an-
Produktion. Industrie 4.0 ist eine relativ neue Form der            gemessenen Arbeitsbedingungen.
Restrukturierung im Industriesektor. Sie reicht zurück bis
in die 1980er Jahre, als viele bedeutende Branchen – wie            Die Fallstudien zeigen auch, dass es den Gewerkschaften
die Automobilindustrie oder der Maschinenbau – eine                 nicht gerecht wird, wenn man ihre Bemühungen so darstellt,
Automatisierungswelle durchliefen (Kern und Schuhmann               als würden sie lediglich versuchen, das zu schützen, was sie
1984). Aus der Sicht der organisierten Arbeitnehmer_innen           bereits erreicht haben. Obwohl sie unter starkem Druck
setzte diese Entwicklung die Hochburgen der industriellen           stehen, streben sie vielmehr danach, die Digitalisierung nach
Arbeiterbewegung unter Druck. Die etablierten Gewerk-               ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Der Schlüssel zur
schaften haben mehrere Rationalisierungswellen, Betriebs-           »offensiven Agenda in der Defensive«, die Gewerkschaften
verlagerungen und eine veränderte Zusammensetzung von               verfolgen, um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen
Belegschaften erlebt. Die Digitalisierung hat mit ihren neuen       zu erreichen, ist ihr »tiefgründiges Wissen« (salient know-
Geschäftsmodellen wie Online-Buchungsplattformen einen              ledge, Ganz 2009) über die Arbeitswelt sowie ihre Rolle als
ähnlichen Abwärtstrend im Dienstleistungssektor ausgelöst           Betreiber des Wandels und der Innovation – Faktoren, die sie
und die Gewerkschaften in die Defensive gedrängt. Seit              an den Verhandlungstisch bringen können. Das Ausmaß, in
den 2000er Jahren hat sich die Digitalisierung eher disruptiv       dem diese offensive Agenda verfolgt werden kann, ist höher
auf die etablierten Arbeitsbeziehungen in Branchen wie              bei Gewerkschaften, die über größere institutionelle Macht
Finanzdienstleistung und Einzelhandel ausgewirkt. In diesen         und über eine Tradition der »Konfliktpartnerschaft« (Mül-
Branchen wird Digitalisierung meist als Bedrohung für die           ler-Jentsch 1999) verfügen und in ihrer Rolle als Verhand-
organisierte Arbeitnehmerschaft angesehen, da sie Rationa-          lungspartner von Arbeitgeber_innen und Staat anerkannt
lisierung und Arbeitsplatzverluste mit sich bringt. Industrie       werden. Die TUiT 4.0-Studien zeigen jedoch, dass sowohl im
4.0 und Digitalisierung haben deshalb oft zu defensiven             Globalen Norden als auch im Globalen Süden gewerkschaft-
Arbeitskämpfen geführt, in denen Arbeitnehmer_innen                 liche Handlungsfähigkeit, aktive Mitgliederbeteiligung sowie
gegen Arbeitsplatzverlust, sinkende Löhne und die Senkung           strategische Führung (und eine damit einhergehende große
von Arbeitsstandards kämpfen und dabei auf ihre institutio-         Organisationsmacht) erfolgsentscheidend sind.
nelle Macht und ihre Organisationsmacht zurückgreifen.
                                                                7
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Inter­essenvertretung im digitalen ­K apitalismus

3.1 ARBEITSKÄMPFE UND                                                3.2 AUSWEITUNG DER
GEWERKSCHAFTLICHE INNOVATIONEN                                       VERHANDLUNGSAGENDA IN DER
IM BANKENSEKTOR                                                      AUTOMOBILINDUSTRIE

Im Bankensektor geht es bei defensiven Kämpfen fast immer            Die Automobilindustrie ist in hohem Maße globalisiert und
um den Erhalt von Arbeitsplätzen, da die Branche durch               dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt; aus diesem
die Digitalisierung stark umstrukturiert wurde (Pittaluga            Grund war sie im Laufe des 20. Jahrhunderts Gegenstand
et al. 2020; Spatari und Guga 2020). Die wichtigsten Ver-            mehrerer technologischer fixes (Silver 2003: 41–73). Für die
handlungsgebiete in diesem Sektor sind Fortbildung und               IG Metall (Schäfers und Schroth 2020), und die ABC-Metall-
Qualifizierung. Die Gewerkschaften verhandeln mit Unter-             arbeitergewerkschaft (SMABC, Sindicato dos Metalúrgicos
nehmen, um sie davon zu überzeugen, in die Fortbildung               do ABC) in Brasilien (Araujo 2020) ist der Umgang mit tech-
und Umschulung der Arbeitnehmer_innen zu investieren,                nologischen Innovationen in diesem Sektor nichts Neues.
statt sie zu entlassen. Die Vereinigung der Versicherungs-           Beide Gewerkschaften versuchten, ihre Organisationsmacht
und Bankengewerkschaften (FSAB, Federația Sindicatelor               und ihre institutionelle Macht zu mobilisieren, um »Industrie
din Asigurări și Bănci) in Rumänien nahm den Arbeitskräf-            4.0« zu gestalten.
temangel im Bankensektor zum Anlass, um eine Strategie
zu entwerfen und dabei ihre große Marktmacht zu nutzen,              Die Grundvoraussetzungen für kollektives Handeln sind je-
um einen defensiven Kampf in einen offensiven Kampf                  doch in beiden Ländern verschieden, da ihre Stellung in der
um den Abschluss einer Vereinbarung auf Branchenebene                internationalen Arbeitsteilung und ihre industriellen Bezie-
zu verwandeln (Spatari und Guga 2020). Obwohl die EU                 hungssysteme unterschiedlich sind. Erstens sind Volkswagen
Strukturreformen zum Abbau des Tarifverhandlungssystems              und Mercedes Benz in Deutschland heimische Unterneh-
auferlegt hatte, konnte FSAB die großen Arbeitgeber (oft             men, in Brasilien jedoch ausländische Unternehmen. Folglich
Banken in ausländischem Besitz) dazu zwingen, sich auf eine          liegen die Entscheidungszentren in Deutschland näher und
Branchenvereinbarung zu verpflichten, die den Umgang mit             können durch eine Kombination aus Organisationsmacht,
Massen- und Einzelentlassungen regelte, interne Mobilität            institutioneller Macht und struktureller Macht beeinflusst
und Telearbeit gewährleistete und den Arbeitnehmer_in-               werden. Diese fehlende Nähe in Brasilien ist ein Handicap
nen berufliche Weiterbildung ermöglichte. Die Einigung               für die Gewerkschaften, das durch die Mobilisierung inter-
auf eine Regelung, die Geschäftsleitungen verpflichtet,              nationaler Akteure mittels transnationaler Gewerkschaftsko-
die Fortbildung von Mitarbeitern zu bezahlen, ist für den            operation ausgeglichen werden muss. Zweitens erlaubt die
rumänischen Kontext bemerkenswert und entspricht den                 Gesetzeslage in Deutschland die Bildung von Betriebsräten
Forderungen der Gewerkschaften nach einem »gerechten                 am Arbeitsplatz, die wesentliche Aspekte des Arbeitsprozes-
Übergang«. Auch in Uruguay legt die Vereinigung der Bank-            ses und der Arbeitsbedingungen beeinflussen. In Brasilien
kaufleute von Uruguay (AEBU, Asociación de Bancarios del             gibt es keine gesetzlichen Regelungen für die Mitbestim-
Uruguay) einen Schwerpunkt auf Aus- und Weiterbildung                mung auf Betriebsebene. Die existierenden Betriebsräte bei
(Pittaluga et al. 2020). Ihre Forderung war Teil einer Stra-         Volkswagen und Mercedes Benz sind vielmehr ein Ergebnis
tegie, die darauf abzielte, gering qualifizierte, vorwiegend         des kollektiven Handelns der SMABC und der dort vorherr-
weibliche Mitarbeiter_innen von bisher nicht organisierten           schenden »Konfliktpartnerschaftskultur«; diese Betriebsräte
Versicherungsgesellschaften, Genossenschaftsbanken und               haben jedoch weniger institutionelle Rechte und Einfluss-
Geldtransportunternehmen in den Verhandlungsprozess                  möglichkeiten auf Management-Entscheidungen.
zu integrieren. Ihre organisatorische Flexibilität stärkte die
Position der AEBU bei den Verhandlungen mit den Arbeit-              Trotz dieser Unterschiede waren die Strategien von IG Metall
geber_innen. Eine echte Innovation dieser Strategie ist die          und SMABC ähnlich: Beide Gewerkschaften versuchten –
»Robotersteuer«. Angesichts des Beschäftigungsabbaus im              anhand einer Kombination aus Arbeitnehmerfortbildung
Bankensektor und der damit verbundenen Bedrohung des                 und Einflussnahme auf Politik und Unternehmensentschei-
Rentenfonds handelte die AEBU aus, dass Beiträge zum Ren-            dungen – eine Agenda voranzutreiben, die auf den Schutz
tenfonds an die Umsatzerlöse des Unternehmens gekoppelt              von Arbeitsplätzen abzielt. In Deutschland hat die Tatsache,
werden. Wenn also der Umsatz eines Unternehmens steigt,              dass Arbeitnehmer_innen durch den Betriebsrat stärker in
seine Lohnkosten aber unverändert bleiben oder sogar                 die Entscheidungsfindung auf Unternehmensebene ein-
durch Automatisierung sinken, steigen die Beiträge zum               gebunden werden, eine proaktive Agenda ermöglicht, die
Rentenfonds trotzdem. Diese Initiative kann den Verlust              auf Mitbestimmungsrechte am technologischen Wandel,
von Arbeitsplätzen zwar nicht aufhalten, schützt aber die            eine verbesserte Arbeitszeitplanung oder die Zahlung von
Gewerkschaft und bewahrt ihre Fähigkeit, Verhandlungen               Kurzarbeitergeld bei Tochtergesellschaften im Globalen
zu führen und für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen.             Süden drängte. Eine Schlüsselrolle spielte dabei das Projekt
Dieser Erfolg war nur deshalb möglich, weil die Gewerk-              »Arbeit + Innovation«, ein öffentlich gefördertes Projekt der
schaft ihre gesellschaftliche Macht strategisch nutzte, mit          IG Metall.
politischen Akteuren (z. B. der Frauenbewegung) kooperierte
und ihr Ansehen steigerte, indem sie ihre politische Agenda          In den teilnehmenden Unternehmen konnten die Arbeitneh-
und ihre Mitgliederbasis (geringqualifizierte Arbeitskräfte)         mer_innen aktiv Vorschläge entwickeln und Innovationen am
erweiterte.                                                          Arbeitsplatz einführen, um die Digitalisierung zu gestalten.
                                                                     Solche innovativen Lösungen wurden mit Vertreter_innen

                                                                 8
DIGITALISIERUNG, INDUSTRIE 4.0 UND ORGANISIERTE ARBEITNEHMERSCHAFT

der Unternehmensleitung (die Teil des Projekts »Arbeit +               »authentischen und vielfältigen Gruppe von Arbeitnehmer-
Innovation« waren) umgesetzt und durch einen Tarifvertrag              führer_innen« (Fisher 2020: 9). Zusammenfassend lässt sich
»festgeschrieben«. Im Fall Brasiliens begann kollektives Han-          sagen, dass durch die Anpassung der Organisierungsansätze
deln, als die Unternehmen technologische Veränderungen                 an den High-Tech-Arbeitsmarkt ein defensiver Arbeitskampf
ankündigten, die auch einen Abbau von Arbeitsplätzen                   in einen offensiven umgewandelt werden konnte.
beinhalteten. Obwohl beide Unternehmen – Volkswagen
und Mercedes Benz – eine Tradition des sozialen Dialoges               Insgesamt besteht die Herausforderung für Gewerkschaf-
haben, musste die SMABC durch Arbeitsniederlegungen                    ten in etablierten Industrien darin, durch die Mobilisierung
und Massenkundgebungen ihre gesamte Organisations- und                 von Machtressourcen aus defensiven Kämpfen hybride
strukturelle Macht aufbieten, um einen Verhandlungspro-                oder offensive Kämpfe zu machen. Dies ist möglich, wenn
zess in Gang zu bringen. Ähnlich wie der gewerkschaftliche             defensive Maßnahmen erfolgreich umgesetzt und durch
Ansatz im deutschen Fall bestand die Strategie von SMABC               offensive Strategien erweitert werden. Im Fall der IG Metall
darin, das Spektrum der verhandelten Themen proaktiv                   und der SMABC erwiesen sich transnationale Maßnahmen
zu erweitern. Indem sie erörterte, wie die Attraktivität von           als entscheidend für die Stärkung der Organisationsmacht,
Produktionsstandorten bewahrt und hochqualifizierte                    während bei Histadrut letztlich die Organisierung neuer
Arbeitskräfte gehalten werden können, und indem sie ihr                Beschäftigtengruppen zum Erfolg führte. In allen Fällen
transnationales Netzwerk nutzte, konnte die Gewerkschaft               wurden auch neue institutionelle Initiativen (Pensionsfonds
erfolgreich für eine Erhöhung der Investitionen in neue Pro-           AEBU) sowie der Aufbau von Kapazitäten und Kompetenzen
dukte und Produktionslinien plädieren, um Arbeitsplätze in             (Lernfabrik) genutzt. Dadurch wurde die Organisations- und
der brasilianischen Automobilindustrie zu sichern.                     institutionelle Macht gestärkt, was sich als entscheidend für
                                                                       kollektive Maßnahmen erwies. Indem sie ihre gesellschaft-
                                                                       liche Macht nutzten, gelang es den Gewerkschaften außer-
3.3 ORGANISIERUNG IM IKT-SEKTOR                                        dem, den öffentlichen Diskurs über die Tech-Industrie und
                                                                       die digitale Arbeit zu ändern (siehe Tabelle 2 im Anhang).
Eine erfolgreiche »Gewerkschaft 4.0«-Strategie in voll
entwickelten Branchen bedeutet also mehr als reine Lohn-
verhandlung. Sie verfolgt einen ganzheitlicheren Ansatz
und erweitert die Verhandlungsagenda um Themen wie
Investition, Industriepolitik, Fortbildung und Qualifizierung.
Darüber hinaus erkennt sie, wie wichtig es ist, Lücken in
der Arbeitnehmer_innenvertretung in weniger sichtbaren
Branchen, die weniger gute Arbeitsbedingungen bieten,
zu schließen. Dies gilt auch für (Büro-)Angestellte, da der
technologische Wandel auch hochqualifizierte und gut be-
zahlte Fachkräfte betrifft. Technologische Restrukturierung,
Outsourcing und Plattformbildung bieten eine Chance für
das gewerkschaftliche Organisieren von Tech-Beschäftigten,
die sich traditionell auf ihre große individuelle Marktmacht
verlassen konnten und sich eher selten gewerkschaftlich
organisierten. Im Fall des israelischen Informations- und
Kommunikationstechnologiesektors (IKT) beispielsweise wa-
ren die Tech-Beschäftigten mit Entlassungen und einer be-
drohten Arbeitsplatzsicherheit konfrontiert (Fisher 2020). Sie
wandten sich deshalb an eine »etablierte« Gewerkschaft, die
in der Vergangenheit ihrerseits unter einer Erosion ihrer Or-
ganisationsmacht sowie ihrer strukturellen und gesellschaft-
lichen Macht gelitten hatte. Die Gewerkschaft Histadrut, die
bereits 2010 eine eigene Erschließungsabteilung gegründet
hatte, zeigte organisatorische Flexibilität bzw. »institutionel-
le Vitalität« (Behrens et al. 2004: 22): Im Jahr 2014 gründete
die Histadrut die Gewerkschaft für Beschäftigte in der Mobil-
funk-, Internet- und Hightech-Branche (Cellular, Internet and
High-Tech Union), deren Ziel darin besteht, den IKT-Sektor
gewerkschaftlich zu organisieren, Betriebsräte zu bilden
und Tarifverträge auszuhandeln. Der Organisierungserfolg
kann darauf zurückgeführt werden, dass Histadrut in der
Lage war, einen Organisierungsansatz zu entwickeln, der
für die Beschäftigten im israelischen IKT-Sektor relevant und
hilfreich war: Die Gewerkschaft fungierte als »Berater« für
die Tech-Beschäftigten und unterstützte die Bildung einer
                                                                   9
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Inter­essenvertretung im digitalen ­K apitalismus

4

KOLLEKTIVES HANDELN VON
BESCHÄFTIGTEN IN DER DIGITALEN
PLATTFORMÖKONOMIE

Eine ähnliche Herausforderung, die sich aus dem tiefgrei-              durch digitale Anwendungen bringt regulatorische Heraus-
fenden technologischen Wandel ergibt, stellt sich den orga-            forderungen mit sich. In den meisten Ländern, in denen
nisierten Beschäftigten in den aufstrebenden Branchen der              diese Unternehmen präsent sind, gibt es immer noch keinen
Plattformökonomie, wo Lohnabhängigenmacht außerhalb                    klaren Rechtsrahmen für digitale Plattformaktivitäten. Dies
der Hochburgen der »etablierten« Gewerkschaften auf-                   hat in Verbindung mit anderen Faktoren – wie dem Verspre-
gebaut werden muss. Insbesondere die rasant wachsende                  chen von Flexibilität sowie begrenzten Arbeitsmöglichkeiten
»Gig«- oder Plattformökonomie hat völlig neue Branchen                 im formellen Sektor – dazu beigetragen, dass es Tausende
und Geschäftsmodelle geschaffen, in denen die staatliche               Menschen als sogenannte »Partner« oder »Freiberufler« zu
Arbeitsregulierung schwach ist (institutionelle Macht) und             diesen Plattformen zieht, was in den letzten zehn Jahren
die Gewerkschaften nur wenig Organisierungserfahrung                   zu einem exponentiellem Wachstum dieser Unternehmen
haben (Organisationsmacht). Zu diesen neuen Branchen ge-               geführt hat. Seitdem die Plattformunternehmen ihre Ge-
hören standortgebundene Plattformen im Transportsektor                 schäftstätigkeit ausweiten und der Markt für App-basierte
mit Dienstleistungsunternehmen wie Uber, mächtige digitale             Dienstleistungen von Mitbewerber_innen überflutet wird,
Cloud-Plattformunternehmen wie YouTube, selbständige/                  ist die anfängliche Euphorie über die Plattformarbeit – z. B.
freiberufliche Arbeit, Crowdwork-Plattformen wie Crowd-                Pauschaltarife pro Fahrt oder Lieferung, hohe Prämien, viele
Flower sowie Online-Handelsriesen wie Amazon mit ihren                 Leistungsanreize und flexible Arbeitszeiten – jedoch schnell
großen Vertriebszentren. Viele dieser (Plattform-)Unter-               verflogen. In vielen Fällen legen die Plattformunternehmen
nehmen zeichnen sich durch Beschäftigungsformen aus, bei               einseitig Tarife, Punktesysteme, Leistungsprämien und Boni
denen die Arbeitnehmer nach Klicks oder Bestellungen be-               fest. Sie bestimmen über die Aussetzung oder Deaktivierung
zahlt werden (wie bei Deliveroo), während andere auf hoch              der Anwendung und kontrollieren und steuern das Ver-
repetitive und körperlich anstrengende Niedriglohnarbeit               halten der Fahrer_innen durch das algorithmische App-Ma-
setzen (wie Amazon). Vor allem die Plattformökonomie hat               nagement. Gefangen in Scheinselbständigkeit, d. h., ohne
eine Welle von Kämpfen um Löhne, Arbeitsplatzsicherheit                Schutz durch das Arbeitsrecht, verfügen diese Beschäftigten
und Arbeitsbedingungen erlebt, die oft von Basisinitiativen            über keinerlei institutionelle Macht. Aus diesem Grund er-
vorangetrieben und in einigen Fällen von Gewerkschaften                leben Plattformbeschäftigte weltweit eine zunehmende Ver-
unterstützt werden (Joyce und Stuart 2021; Vandaele 2018,              schlechterung ihrer Arbeitsbedingungen in Form von langen
2021). Diese Mobilisierungsbestrebungen finden oft in                  Arbeitszeiten, sinkenden Einkommen und Leistungsanreizen,
einem für die organisierten Beschäftigten unvorteilhaften              beruflichen Risiken sowie einer verstärkten Arbeitskontrolle
wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Kontext statt.         durch Algorithmen (der »unsichtbare Chef«). In den TUiT
Die digitale Plattformökonomie bietet zwar vielen Menschen             4.0-Projektstudien, die sich z. B. mit Essenslieferant_innen
Beschäftigung oder Lebensunterhalt, schafft aber auch »eine            in Belgien und den Niederlanden, Go-Jek- und Grab-Fah-
prekäre Klasse von abhängigen Auftragnehmer_innen und                  rer_innen in Indonesien und Rappi-Lieferant_innen in
Arbeiter_innen auf Abruf« (UNCTAD 2021: 14). Infolge                   Argentinien befassten, entwickelten die »Partner_innen«,
dieser Entwicklung zielen die meisten Kämpfe des neu auf-              »Freiberufler_innen« und »Auftragnehmer_innen« schnell
kommenden »digitalen Prekariats« nicht nur offensiv auf                ein Bewusstsein dafür, dass sie prekäre Arbeitskräfte in
steigende Löhne ab, sondern streben auch eine Regulierung              hochflexiblen und deregulierten Arbeitsverhältnissen sind,
dieses weitgehend unregulierten Sektors sowie eine Dekom-              und dass sie in hohem Maße von den Plattformen, für die sie
modifizierung der Arbeit durch arbeitsrechtliche Regelungen            arbeiten, abhängig sind.
zur sozialen Absicherung und zu Sozialleistungen an.

Eine kollektive Mobilisierung findet vor allem bei standort-           4.1 DIE HAUPTZIELE KOLLEKTIVEN
basierten digitalen Plattformen im Transportsektor statt, z. B.        HANDELNS
bei Liefer- und Kurierdiensten. Sie gehören zu den Platt-
formunternehmen, die in den letzten zehn Jahren wie Pilze              Ihr Kampf wurde hauptsächlich von dem Wunsch nach einer
aus dem Boden geschossen sind und die im Rahmen des                    Regulierung und Dekommodifizierung ihrer Beschäftigungs-
Projekts TUiT 4.0 untersucht wurden. Ihre »virtuelle« Präsenz          form angetrieben. Ein Beispiel: Das Plattformunternehmen

                                                                  10
KOLLEKTIVES HANDELN VON BESCHÄFTIGTEN IN DER DIGITALEN PLATTFORMÖKONOMIE

Rappi in Argentinien sperrte als Vergeltung für einen digi-           4.2 DAS KONFLIKTREPERTOIRE
talen Streik der Lieferfahrer_innen im Jahr 2018 und die
Gründung des Verbandes der Plattformbeschäftigten (APP,               Insgesamt befinden sich die Plattformkuriere und -fahrer_in-
Asociación de Personal de Plataformas) die Plattform für die          nen in der gleichen Situation wie die meisten prekär Beschäf-
Leiter_innen des APP. Der Verband leitete rechtliche Schritte         tigten. Ihr »repertoire of contention« (Konfliktrepertoire)
ein, um Rappi dazu zu zwingen, seine gewerkschaftsfeind-              besteht deshalb aus einer Kombination von »routinemäßi-
lichen und diskriminierenden Geschäftspraktiken zu ändern,            gen und konventionellen Formen« sowie neu erfundenen,
seine Arbeitsbedingungen zu verbessern und ein formelles              »modularen« Formen digitaler Kollektivaktionen (Tarrow
Arbeitsverhältnis zwischen der Plattform und ihren Fah-               1993). Zum konventionellen Repertoire gehören Petitionen,
rer_innen zu schaffen (Perelman et al. 2020).                         Gerichtsverfahren und Anhörungen, die Fahrer- und Kurier-
                                                                      organisationen in allen vier im Rahmen des Projektes TUiT 4.0
In Indonesien sagten die IT Jalanan, eine Gruppe von Go-              untersuchten Fällen durchführten. Die Essenslieferant_innen
Jek- und Grab-Fahrer_innen, die über autodidaktische Fähig-           in Belgien/den Niederlanden und die Go-Jek- und Grab-Fah-
keiten im Umgang mit digitalen Technologien verfügen, dem             rer_innen in Indonesien verfolgten mit der Veranstaltung von
algorithmischen Arbeitsdruck den Kampf an, indem sie Bugs             Streiks und Versammlungen den konventionellen Ansatz.
in die App einbauten, um den Algorithmus so zu verändern,             Zudem bringt kollektives Handeln in der Plattformökono-
dass die Arbeitsbelastung der Fahrer_innen reduziert wurde            mie – in einem durch die digitale Technologie vermittelten
(Panimbang et al. 2020). Die Kämpfe in der Plattformöko-              Kontext –auch passende Aktionsformen hervor, bei denen
nomie waren also von Grundinteressen angetrieben, für                 neue Formen struktureller und Organisationsmacht zum
die sich Arbeitskräfte bereits in der Epoche der industriellen        Tragen kommen. Zu diesen Aktionsformen gehören nicht-
Revolution organisierten – Lohninteressen, das Interesse an           traditionelle Streiks und digitale Protestaktionen, nicht-tra-
besseren Arbeitsbedingungen und Beschäftigungssicherheit              ditionelle Versammlungen, die Mobilisierung öffentlicher
(Offe und Wiesenthal 1980: 82). Die »Handlungsbereit-                 Unterstützung durch soziale Medien und Netzwerke sowie
schaft« der Plattformbeschäftigten, die von ihren Arbeitge-           die Entwicklung digitaler Apps, die den Beschäftigten ge-
ber_innen nicht als Lohnarbeiter_innen anerkannt werden,              hören und von ihnen selbst entwickelt werden.
entsteht durch ihre neu aufkommende kollektive Identität
als Arbeitnehmer_innen.                                               So radelten die Essenslieferant_innen in Belgien in einer ge-
                                                                      meinsamen Aktion mit Critical Mass Brussels zum Hauptsitz
In vielen Fallstudien des Projekts TUiT 4.0 wurden grund-             von Deliveroo, um auf die Gefahren des Radfahrens in der
legende Ansprüche durch kollektives Handeln verfolgt.                 belgischen Hauptstadt hinzuweisen und öffentliche Unter-
Erstens setzen sich Kuriere und Fahrer_innen in der Platt-            stützung für die Sache der Fahrer_innen zu gewinnen. Meh-
formökonomie für Lohnerhöhungen ein. Das Einkommen                    rere Restaurants machten mit und nahmen für den Zeitraum
in der Plattformökonomie wird in der Regel von Tarifsätzen,           der Aktion keine Plattformbestellungen an. Die Rappi-Fah-
Prämien und Leistungsanreizen abgeleitet, die von den                 rer_innen in Argentinien wechselten zu digitalen Formen des
Plattformunternehmen einseitig festgelegt und geändert                Protests und führten – wie bereits erwähnt – den ersten Di-
werden. Kuriere und Fahrer_innen wehrten sich gegen die               gitalstreik in Lateinamerika durch; bei dieser Aktion nahmen
Senkung der Tarife, Boni und Leistungsanreize und die damit           die Fahrer_innen die ihnen zugewiesenen Aufträge der App
einhergehende Reduzierung ihres Einkommens und kämpf-                 vorerst an, um sie zwei Stunden später abzulehnen. In Indo-
ten stattdessen um Lohnerhöhungen.                                    nesien schalteten Go-Jek- und Grab-Fahrer_innen kollektiv
                                                                      ihre Apps ab, um den Geschäftsverkehr zu unterbrechen.
Zweitens: Da Plattform-Fahrer_innen aufgrund ihrer Arbeit             Die belgischen Gewerkschaften initiierten unkonventionelle
im Straßenverkehr verstärkt der Gefahr von Unfällen und               Arbeitnehmerversammlungen: Sie führten Fahrradreparatur-
Krankheiten ausgesetzt sind, fordern sie eine Verbesserung            Aktionen durch und bestellten über die App bei zahlreichen
ihrer Arbeitsbedingungen durch Arbeitsschutzmaßnahmen                 Restaurants Pizzen, um diese von den Fahrer_innen an
und soziale Absicherung (z. B. Kranken-, Lebens- und Un-              denselben Ort liefern zu lassen und auf diese Weise eine
fallversicherungen). Ihre dritte Forderung gilt der Sicherheit        Versammlung einzuberufen. Um öffentliche Unterstützung
ihrer Arbeitsplätze. Für viele plattformbasierte Fahrer_innen         durch soziale Medien und Netzwerke zu mobilisieren, en-
beginnt die Arbeit erst dann, wenn sie die App öffnen.                gagierte sich der Verband der Plattformarbeiter_innen (APP)
Wenn ihre Arbeitgeber_innen ihnen die Nutzung der App                 nach dem Streik im Jahr 2018 intensiv in den sozialen Me-
verwehren, indem sie sie sperren, deaktivieren oder auf tem-          dien und Netzwerken, um öffentliche Aufmerksamkeit und
porär unverfügbar schalten, ist dies eine Form der digitalen          Sympathie für die Arbeitsbedingungen und Forderungen
Ausschließung. Im Kampf um ein stabiles Einkommen und                 der Fahrer_innen in Argentinien zu gewinnen. In Uganda
Arbeitsplatzsicherheit haben Essenslieferant_innen in Argen-          schließlich entwickelten Bodaboda- und Flughafen-Taxifah-
tinien, Belgien, Indonesien und den Niederlanden rechtliche           rer_innen ihre eigene Fahrdienst-App, während der APP in
Schritte eingeleitet, um gegen Scheinselbstständigkeit und            Argentinien für seine Mitglieder eine Kommunikations-App
ihre Fehlklassifikation als unabhängige Auftragnehmer_in-             für Nachrichten, digitale Mitgliedschaft, Beschwerden und
nen vorzugehen, ihr Arbeitsverhältnis mit den Plattformen             georeferenzierte Warnmeldungen entwickelte.
nachzuweisen und damit auf die Schaffung geregelter Lohn-
verhältnisse zu drängen.                                              All diese neuen Formen des kollektiven Handelns setzen digi-
                                                                      tale Technologie ein. Vor allem die Entwicklung einer eigenen
                                                                 11
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