KOLLEKTIVE INTER-ESSENVERTRETUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS
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GE W ERK SCH A F T EN I M WA N DEL 4.0 A R BEI T U N D SOZI A L E GERECH T I GK EI T KOLLEKTIVE INTER Arbeiter_innen und die organisierte Arbeitnehmer- schaft setzen sich mit der Nutzung digitaler Techno- ESSENVERTRETUNG logien auseinander. Dies führt zu offensiven und defensiven Arbeitskämpfen sowohl im Globalen Norden IM DIGITALEN als auch im Globalen Süden. KAPITALISMUS Kollektive Interessen- und Arbeitnehmer_innen vertretungen weisen – ins- Alte und neue Arbeitskämpfe besondere in der Plattform- ökonomie – eine zunehmende Vielfalt und Dynamik auf. Victoria Basualdo, Hugo Dias, Mirko Herberg, Stefan Schmalz, Melisa Serrano und Kurt Vandaele Oktober 2021 Die Verbindung der Macht- ressourcen von Basisinitiativen und »etablierten« Gewerk- schaften ist der Schlüssel zur Stärkung der Macht und der Rechte von Lohnabhängigen.
KOLLEKTIVE INTERESSENVERTRETUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS Alte und neue Arbeitskämpfe Die neuen Formen der digitalen Ar- Diese Auseinandersetzungen nehmen Während die defensiven Kämpfe in beit restrukturieren das Machtverhält- unterschiedliche Formen an: In etablier- erster Linie von Gewerkschaften ge- nis zwischen Kapital und Arbeit und ten Branchen finden defensive Kämp- führt werden, lässt sich in der digi- verstärken den anhaltenden Trend zur fe statt, in denen es in erster Linie da- talen bzw. Plattformökonomie eine Prekarisierung und Informalisierung rum geht, bestehende Standards zu zunehmende Vielfalt an kollektiven Ar- von Arbeit sowie zur Absenkung von verteidigen. Im Vergleich dazu zielen beitnehmer_innen verbänden und an- Arbeitsstandards. Während ein tech- Offensivkämpfe in der Regel darauf ab, deren Formen der Interessenvertre- nologiegesteuerter race to the bot- aufstrebende Branchen und neue Be- tung von Beschäftigten beobachten. tom bevorstehen könnte, hat das Pro- schäftigtengruppen zu organisieren, Bottom-up-Initiativen und Allianzen jekt »Trade Unions in Transformation um den Arbeitnehmer_innen grund- zwischen Basisnetzwerken und »eta- 4.0« (TUiT 4.0) ermittelt, welche Ausei- legende Rechte und Absicherungen blierten« Gewerkschaften spielen im nandersetzungen Gewerkschaften und zu verschaffen oder ihre bestehenden Kampf um die Macht und die Rechte neue Organisationen von Beschäftigten Rechte zu erweitern. der Arbeitnehmer_innen eine wichtige im digitalen Kapitalismus des 21. Jahr- Rolle. Die Suche nach geeigneten For- hunderts führen. men der Zusammenarbeit könnte der Schlüssel zu einer offensiven Agenda für die organisierte Arbeitnehmerschaft im digitalen Kapitalismus sein. Weitere Informationen zum Thema erhalten Sie hier: https://www.fes.de/lnk/transform
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Interessenvertretung im digitalen K apitalismus A R BEI T U N D SOZI A L E GERECH T I GK EI T KOLLEKTIVE INTER ESSENVERTRETUNG IM DIGITALEN KAPITALISMUS Alte und neue Arbeitskämpfe In der neuen Arbeitswelt verändern Unternehmen durch den Einsatz digitaler Technologien Arbeitsverhältnisse und -organisation, meistens zu Lasten von Beschäftigten. Das FES-Projekt »Gewerkschaften im Wandel 4.0« untersucht, wie Gewerkschaften ihre Machtressourcen mobilisieren und strategisch einsetzen, um der schleichenden oder disruptiven Prekarisierung ihrer Arbeit entgegen zu treten. Mit einem dialog- und aktionsorientierten Ansatz zielt das Projekt dar- auf ab, gewerkschaftliche Strategiebildung, Experimentieren und zielgerichtete Transformation zu unterstützen.
INHALT Inhalt 1 EINLEITUNG 2 2 TECHNOLOGISCHER WANDEL UND DER MACHTRESSOURCENANSATZ 4 2.1 Neue Technologien und die Reaktion der Arbeitnehmer_innen .......... 4 2.2 Machtressourcen ............................................................. 5 2.3 Das »Unmaking und Remaking« von Arbeiterklassen ..................... 6 3 DIGITALISIERUNG, INDUSTRIE 4.0 UND ORGANISIERTE ARBEITNEHMERSCHAFT 7 3.1 Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Innovationen im Bankensektor .. 8 3.2 Ausweitung der Verhandlungsagenda in der Automobilindustrie ........ 8 3.3 Organisierung im IKT-Sektor ................................................. 9 4 KOLLEKTIVES HANDELN VON BESCHÄFTIGTEN IN DER DIGITALEN PLATTFORMÖKONOMIE 10 4.1 Die Hauptziele kollektiven Handelns ........................................ 10 4.2 Das Konfliktrepertoire ........................................................ 11 5 ORGANISATIONSMACHT: VARIANTEN VON »PLATTFORM-GEWERKSCHAFTEN« 13 5.1 Variante: Kooperation mit Gewerkschaften ................................ 13 5.2 Variante: Organisierte informelle Gruppe ................................... 14 5.3 Variante: Gewerkschaftsgründung .......................................... 14 5.4 Variante: Hybridisierung von Gewerkschaften .............................. 15 6 FAZIT: ORGANISIERTE VIELFALT NUTZEN 16 6.1 Organisatorische Vielfalt als neue Normalität ............................... 16 Literaturverzeichnis ........................................................... 17 Anhang ........................................................................ 19 1
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Interessenvertretung im digitalen K apitalismus 1 EINLEITUNG In den letzten zehn Jahren haben sich die Machtverhält- mangelt es bisher generell an Organisationserfahrung in der nisse auf den Arbeitsmärkten grundlegend gewandelt. Plattformökonomie und im Informations- und Kommunika- Die Kapitalseite hat neue Technologien eingeführt und tionstechnologie-Sektor (IKT). Es gibt jedoch Fälle von Wi- genutzt, um den Produktions- und Dienstleistungssektor derstand, sowohl im Globalen Norden als auch im Globalen zu reorganisieren – mit spürbaren Auswirkungen auf die Süden (Basualdo et al. 2021; Minter 2017; Trappmann et industriellen Beziehungen. Während »Industrie 4.0« mit al. 2021; Vandaele 2021; Wood et al. 2018). Das von der neuen intelligenten Produktionstechnologien das Tempo Friedrich-Ebert-Stiftung initiierte Projekt »Gewerkschaften der Automatisierung und der lean production im Indus- im Wandel 4.0« (Trade Unions in Transformation 4.0, kurz: triesektor erhöht, erlebt der Dienstleistungssektor eine TUiT 4.0) hat solche Kämpfe von Gewerkschaften und neuen tiefgreifende technologische Disruption. Branchen wie der Organisationen von Beschäftigten im digitalen Kapitalismus Bankensektor, der Einzelhandel, der Transportsektor, das des 21. Jahrhunderts untersucht. Einen Überblick über die Gastgewerbe und Lebensmittel-Lieferdienste werden durch entsprechenden Fallstudien bietet Tabelle 1 im Anhang1. die Nutzung von plattformbasierten Dienstleistungen, von Die zwölf Studien von insgesamt 34 Autor_innen decken Big Data und künstlicher Intelligenz transformiert. Durch eine Reihe von Sektoren der Plattformökonomie und der den Aufstieg des »digitalen Kapitalismus« (Schiller 1999), konventionellen Wirtschaft sowie zwölf Länder im Globalen »Plattformkapitalismus« (Srnicek 2016) oder »Überwa- Norden und im Globalen Süden ab.2 Es gibt zwei Studien chungskapitalismus« (Zuboff 2019) sind mächtige neue zum Produktionssektor. Sechs Studien befassen sich mit dem transnationale Plattformunternehmen wie Amazon, Uber, Transportsektor, zwei mit dem Bankensektor, eine mit IKT Facebook, Airbnb und Deliveroo entstanden, die die heuti- und eine mit der Kreativbranche. ge Weltwirtschaft prägen. Diese Unternehmen stellen nicht nur traditionelle Geschäftsmodelle in Frage, sondern för- Die Leitfragen des TUiT 4.0-Projektes lauteten: Wie haben dern auch ultraflexible, prekäre Arbeitsmodelle wie Arbeit Arbeitnehmer_innen und Gewerkschaften auf die Bedro- auf Abruf bei Lieferdiensten, hochgradig repetitive digitale hungen des digitalen Kapitalismus reagiert, welche neuen Arbeit im Online-Handel sowie freiberufliche, digital erfass- Kämpfe sind zu beobachten und welche Hauptfaktoren sind te Arbeit (logged labour), verrichtet von Uber-Fahrer_innen, entscheidend für den Erfolg der Bemühungen um die Or- die keine Arbeitgeber_innen haben, mit denen sie über ganisierung von Arbeitskräften in der digitalen Wirtschaft? grundlegende Beschäftigungsbedingungen verhandeln In diesem Abschlussbericht werden drei Thesen entwickelt. können (Huws 2016; Delfanti 2021). Erstens: Die Anwendung digitaler Technologien wird von den Gewerkschaften herausgefordert, was zu Arbeitskämp- Diese neuen Formen der digitalen Arbeit verstärken die anhaltende Entwicklung hin zu einer Prekarisierung und Informalisierung der Arbeit noch mehr. Darüber hinaus re- 1 Die im Rahmen des Projekts TUiT 4.0 erstellten Fallstudien wurden strukturieren sie auch das Machtverhältnis zwischen Kapital wie folgt ausgewählt: Über die internationalen Gewerkschaftsver- und Arbeit. Die neuen Formen der digitalen Arbeit und Platt- bände, die Global Labour University und das FES-Netzwerk wurde ein open call veröffentlicht. Es gingen 18 Kurzfassungen ein, von de- formarbeit gehen in der Regel mit einer aggressiven Senkung nen die Auswahlkommission nach ausführlicher Beratung zwölf aus- von Arbeitsstandards, einer Umgehung des Arbeitsrechts wählte. Die Auswahlkommission bestand aus Regionalkoordinator_ und neuen Formen algorithmischer Überwachung und Kon- innen der Friedrich-Ebert-Stiftung und Wissenschaftler_innen, die im Globalen Norden und im Globalen Süden auf dem Gebiet der In- trolle einher. Dieser Prozess drängt die Gewerkschaften in die dustriellen Beziehungen und der Arbeitssoziologie arbeiten. Die Aus- Defensive und droht damit einen neuen, technologiegesteu- wahlkommission bestand aus folgenden Personen: Victoria Basualdo, erten race to the bottom (Tonelson 2002) herbeizuführen. Anja Bodenmüller-Raeder, Hugo Dias, Uta Dirksen, Thomas Greven, Jannis Grimm, Mirko Herberg, Dominique Klawonn, Carmen Ludwig, Auf den ersten Blick scheint dies darauf hinzudeuten, dass Marc Meinardus, Stefan Schmalz, Melisa Serrano und Kurt Vandaele. Gewerkschaften im Niedergang begriffen sind. Die Auto- 2 Alle Studien des Projekts sind online auf der Website der FES ab- matisierung könnte zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit rufbar: https://www.fes.de/en/themenportal-gewerkschaften- führen. Der technologische Wandel wird benutzt, um unge- und-gute-arbeit/international-trade-union-policy/trade-unions-in- transformation-40. Unter dem Link http://library.fes.de/pdf-files/ sicherte Arbeitsplätze zu schaffen. Institutionen der Tarifpoli- iez/17797-20210602.pdf bieten wir auch eingängige Berichte, die tik werden ins Abseits gedrängt, und den Gewerkschaften von Journalist_innen verfasst wurden (Dirksen und Herberg 2021). 2
EINLEITUNG fen und Protesten gegen ihren Einsatz im Arbeitsprozess geführt hat. Zweitens: Es gibt verschiedene Formen der Auseinandersetzung: offensive Kämpfe, die darauf abzielen, aufstrebende Branchen und neue Beschäftigtengruppen zu organisieren, und defensive Kämpfe in etablierten Branchen, die in erster Linie auf die Verteidigung bestehender Beschäf- tigungsstandards abzielen. Drittens: Die digitale Ökonomie weist eine zunehmende Vielfalt von kollektiven Interessen- vertretungen auf. Insbesondere in der Plattformökonomie spielen Basisinitiativen (bottom-up initiatives) und Allianzen zwischen Basisnetzwerken und »etablierten« Gewerkschaf- ten eine wichtige Rolle im Kampf um die Stärkung der Macht und der Rechte von Beschäftigten. Die meisten unserer Studien berichten entweder von inspirie- renden Fällen, die zeigen, wie es »etablierten« Gewerkschaf- ten gelang, den technologischen Wandel zu bewältigen, oder davon, wie sich Basisinitiativen (in einigen Fällen mit Unterstützung von Gewerkschaften) erfolgreich in der digi- talen Ökonomie organisieren konnten. Gewerkschaften oder neuartige Organisationen von Beschäftigten mussten es mit mächtigen Unternehmen aufnehmen und neue Strategien entwickeln, um Beschäftigte zu organisieren. Einige Fall- studien gehen auch auf die Probleme bei der Organisierung von Beschäftigten während der Covid-19-Pandemie ein und erörtern, wie die organisierte Arbeitnehmerschaft die soziale Distanzierung und die Wirtschaftskrise bewältigte. Der vorliegende Bericht hat folgende Struktur: In Abschnitt 2 wird ein Analyserahmen vorgestellt und mit ihm analysiert, wie der technologische Wandel die Machtressourcen von Arbeitnehmer_innen verändert. Abschnitt 3 erörtert die Auswirkungen von Digitalisierung und Industrie 4.0 auf die traditionellen Mitgliederhochburgen der Gewerkschaften und ihre erfolgreichen Defensivkämpfe zur Bewältigung des technologischen Wandels. Abschnitt 4 zeigt, wie die Platt- formökonomie zu einem Nährboden für Arbeitsunruhen wurde und welche Formen offensiver Kämpfe sich in diesem Sektor entwickelten. In Abschnitt 5 wird untersucht, wel- che Rolle die Gewerkschaften und andere Organisationen von Lohnabhängigen in diesen Kämpfen spielen, wobei zwischen verschiedenen Varianten des »Plattformgewerk- schaftswesens« unterschieden wird. Abschnitt 6 kommt zu dem Schluss, dass die organisierte Arbeit vor der Aufgabe steht, neue Koalitionsformen und eine offensive Agenda zu entwickeln, um die Herausforderung der digitalen Transfor- mation bewältigen zu können. 3
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Interessenvertretung im digitalen K apitalismus 2 TECHNOLOGISCHER WANDEL UND DER MACHTRESSOURCENANSATZ Der technologische Wandel ist seit jeher umstritten und anderen Worten: In vielen Fällen haben neue Technologien hat zu intensiven Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Un- geführt. Historisch gesehen waren die Vorläufer der Arbei- ternehmen gestärkt, sondern auch das Verhältnis zwischen terbewegung im 18. und frühen 19. Jahrhundert »Maschi- Kapital und Arbeit selbst verändert. Ein markantes Beispiel nenstürmer« (Hobsbawm 1952). Die Protagonisten der für einen solchen »technologischen fix« ist die »Umstellung Ludditenbewegung (1811–1813) in Großbritannien zer- des Schifftransports auf Container und die Automatisierung störten Maschinen als eine Form von »Tarifverhandlungen in der Hafenarbeit«, die die »in der zweiten Hälfte des 20. durch Aufruhr » (collective bargaining by riot, ebd. 59), um Jahrhunderts – historisch für ihre Militanz bekannten – Ha- Zugeständnisse bei Löhnen oder Arbeitsbedingungen zu fenarbeiter drastisch reduzierte« (Silver 2003: 101, siehe erhalten. In vielen Fällen, wie bei den Maschinenstürmern auch Levinson 2006), was zu einer Schwächung der organi- von Lancashire (1778–1780), waren solche Aufstände sierten Arbeitnehmerschaft in der Frachtindustrie führte. Bei sogar eine Form des »ganz bewussten Widerstands gegen anderen Umbrüchen wie der lean production und der just- die Maschine in den Händen von Kapitalisten« (ebd. 62), in-time-Produktion lassen sich ähnliche Fälle beobachten, in weil die Protestierenden befürchteten, durch arbeitsspa- denen die Zahl der Arbeitskräfte verringert und neue Formen rende Technologien ersetzt oder verdrängt zu werden. Das der Arbeitskontrolle eingeführt wurden. Das algorithmische »Maschinenstürmen« verbreitete sich in der ganzen Welt Management in der Plattformökonomie kann heute also und wurde im Europa des frühen 19. Jahrhunderts und in betrachtet werden als neuer »technologischer fix«, die das anderen Regionen der Welt zu einer üblichen Praxis (Van bestehende Arbeitsrecht und institutionelle Beschäftigungs- der Linden 2008: 174). Auch in der weiteren Entwicklung standards umgeht (Vandaele 2018, 2021). des Kapitalismus spielten Kämpfe um den technologischen Wandel eine große Rolle. Ende des 20. Jahrhunderts setz- Die Einführung neuer Technologien führte auch zu wider- ten sich Gewerkschaften wie die Gesellschaft der Beamten sprüchlichen Entwicklungen. Paradoxerweise trug die Einfüh- und Angestellten im öffentlichen Dienst (Society of Civil rung der Webmaschine – gegen die sich die Ludditen heftig and Public Servants) im Großbritannien der Thatcher-Ära wehrten –, dazu bei, die Organisierung der Arbeiter_innen aktiv gegen den Einsatz von Computern in der öffentlichen zu fördern und voranzutreiben, denn dies war ein Vorläufer Verwaltung ein, da die Angestellten fürchteten, durch der kapitalistischen Fabrik und der industriellen Arbeiterbe- technologiegesteuerte Rationalisierung ihre Arbeitsplätze wegung des neunzehnten Jahrhunderts (Marx 1976). Auch zu verlieren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die die Einführung des Fließbandes Anfang des 20. Jahrhunderts meisten Kämpfe gegen neue Technologien nicht einfach nur ging mit einer rigiden tayloristischen Arbeitskontrolle einher, antimodern waren, sondern um Machtverhältnisse gingen, erleichterte aber koordinierte Streikaktionen. Die häufigen da das Kapital, das den technologischen Wandel vorantrieb, Arbeitsunruhen in der Automobilindustrie der USA in den dazu neigte, die Interessen der Arbeitnehmer_innen zu 1930er Jahren, in Westeuropa Ende der 1960er und 1970er ignorieren. Jahre und in Brasilien/ Südkorea in den 1980er Jahren waren weitgehend darauf zurückzuführen, dass Arbeitskräfte über die Macht verfügten, das Fließband und damit die Produk- 2.1 NEUE TECHNOLOGIEN UND DIE tion zu stoppen (Silver 2003: 47–66). Auch die hochflexiblen REAKTION DER ARBEITNEHMER_INNEN globalen Produktionsnetzwerke, die seit den 1990er Jahren entstanden, machten die globale Produktion und Logistik Auf konzeptioneller Ebene argumentierte die Arbeitssozio- anfälliger für Arbeitsniederlegungen und schufen für die or- login Beverly Silver, dass das Kapital »technologische fixes« ganisierten Beschäftigten damit neue Möglichkeiten, Druck (technological fix) einsetze, um auf Arbeitsunruhen zu auf transnationale Unternehmen auszuüben (Fichter et al. reagieren und die organisierte Arbeitnehmerschaft heraus- 2018: 7f.). Digitale Technologien ermöglichen heute neue zufordern, indem es tiefgreifende Prozessinnovationen ein- Formen der »vernetzten Macht«, indem sie verschiedene führe, um so die »Probleme mit der Profitabilität und der Machtressourcen in Offline- und Online-Aktionen miteinan- Kontrolle über die Arbeiter« zu lösen (Silver 2003: 91). Mit der kombinieren (Helmerich et al. 2020). Folglich haben die 4
TECHNOLOGISCHER WANDEL UND DER MACHTRESSOURCENANSATZ neuen Technologien die Organisierung von Arbeiter_innen Strukturelle Macht ergibt sich aus der Stellung der Lohn- sowohl behindert als auch erleichtert. abhängigen im Produktionsprozess, entweder aus ihrer Produktionsmacht (also ihrer Fähigkeit, die Produktion zu In diesen Kämpfen entwickelten die Arbeiter_innen auch stoppen) oder ihrer Marktmacht (also dem Besitz seltener ihre eigene Vision von Technologien und Produktionspro- Qualifikationen oder der Möglichkeit, sich vom Arbeits- zessen. Historisch neigt das Kapital dazu, neue Technologien markt zurückzuziehen). Die Organisationsmacht bezieht sich nach dem Top-Down-Ansatz zu implementieren, wobei auf die Stärke der organisierten Beschäftigten, die durch die organisierte Arbeit auf Veränderungen im Produktions- Faktoren wie Mitgliederstärke, Mitgliederbeteiligung und prozess reagiert. Ende der 1960er und Anfang der 1970er infrastrukturelle Ressourcen beeinflusst werden kann. Insti- Jahre – als sich die Arbeiterbewegung in den entwickelten tutionelle Macht bezieht sich auf das Arbeitsrecht und ins- kapitalistischen Ländern auf dem Höhepunkt ihrer Macht titutionelle Rechte, auf die sich individuelle und organisierte befand –, konzentrierte sich die Mobilisierung der Arbei- Beschäftigte berufen können. Gleichwohl ist institutionelle ter_innen jedoch auf die Kontrolle der Kapitalseite über die Macht nicht nur emanzipatorisch, da viele institutionelle Technologie und den Produktionsprozess selbst und stellte Regelungen auch Handlungseinschränkungen beinhalten. somit das hierarchische tayloristische Fabriksystem ihrer Zeit Gesellschaftliche Macht kann entweder von Netzwerken in Frage (Schmalz und Weinmann 2016). In mehreren Unter- mit anderen gesellschaftlichen Akteuren – z. B. sozialen Be- nehmen wurden neue, von Arbeitnehmer_innen gesteuerte wegungen – ausgehen (Kooperationsmacht) oder von der sozio-technische Ansätze eingeführt, inspiriert von den Fähigkeit, erfolgreich in öffentliche Debatten einzugreifen Arbeiten des Tavistock Institute3, das sich dafür aussprach, (Diskursmacht). Alle vier Machtressourcen sind miteinander dass Technologie niemals ein einziges Organisationsmodell verknüpft und in Machtverhältnisse eingebettet. Dadurch vorschreiben sollte und damit deterministische techno- werden sie von den sich wandelnden Klassenverhältnissen logische Standpunkte in Frage stellte (Coriat 1979). Das und Entwicklungen im globalen Kapitalismus beeinflusst. 4 bekannteste Beispiel für einen solchen Ansatz ist das 1974 eröffnete Volvo-Werk in Kalmar (Schweden), in dem das Wie die vorangegangene Diskussion der Geschichte von herkömmliche hierarchische Fließband durch ein Gruppen- Technologie und Arbeit gezeigt hat, ist Technologie eine arbeits-Produktionssystem mit unabhängigen Produktions- bedeutende Triebkraft für einen solchen Wandel. Neue Tech- teams ersetzt wurde. nologien führen potenziell zu einer »kreativen Zerstörung« veralteter Geschäftsmodelle und formen Arbeitsorganisie- In diesem Zusammenhang wurden progressive Strategien rung und Arbeitsbeziehungen. Um es mit den Worten des wie das Industrial Democracy Program in Norwegen (später Machtressourcenansatzes zu sagen: Technologische Innovati- auch in Schweden und Dänemark) verabschiedet, bei dem on führt tendenziell zu einer Veränderung der Machtstruktu- Gewerkschaften und Arbeiter_innen an der Gestaltung der ren. Mit sich wandelnden Produktionsmitteln verändern sich Einführung neuer Technologien und Organisationsmodelle auch die Möglichkeiten, den Produktionsprozess zu stoppen mitwirkten (Thorsrud und Emery 1970). Zusammenfassend (Produktionsmacht). Zudem wird ein Teil der Arbeitskräfte lässt sich sagen: Wenn die Arbeiter_innen über große Macht entlassen, während gleichzeitig neue Gruppen von quali- verfügen, ist die Arbeiter_innenbewegung in der Lage, die fizierten Lohnabhängigen entstehen (Marktmacht). Mit dem Kontrolle der Kapitalseite über den Einsatz von Technologie Wandel der strukturellen Macht wandelt sich auch die Or- im Produktionsprozess in Frage zu stellen. ganisationsmacht. Die Restrukturierung der Arbeitnehmer- schaft und des Arbeitsprozesses stellt die Gewerkschaften vor große Herausforderungen (z. B. Repräsentationslücken), 2.2 MACHTRESSOURCEN kann durch steigende Gewerkschafts-Mitgliederzahlen aber auch zu potenziellen Vorteilen führen. Darüber hinaus lösen Um die Auswirkungen des technologischen Wandels auf die neue Technologien auch Kämpfe aus, in denen es darum Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit zu untersuchen, geht, wie neue Formen von Beschäftigung und Arbeit zu wird in den folgenden Abschnitten der Machtressourcenan- regeln sind (Institutionelle Macht). In einigen Fällen führen satz (MRA) verwendet (zum MRA siehe: Schmalz et al. 2018; sie sogar zu politischen Diskussionen (z. B. Datenschutz im Schmalz/Dörre 2014; Brinkmann et al. 2008). Sämtliche digitalen Kapitalismus), durch die sich neue Möglichkeiten Studien des Projekts TUiT 4.0 verwenden den Machtressour- für Allianzen mit Nicht-Regierungsorganisationen und Bür- cenansatz als Analyserahmen, um die Herausforderungen gerrechtsbewegungen ergeben (Gesellschaftliche Macht). der organisierten Arbeitnehmerschaft und die Zukunft der Arbeit zu theoretisieren und zu reflektieren.4 Abbildung 1 zeigt, dass der Machtressourcenansatz zwischen vier Quel- len von Lohnabhängigenmacht unterscheidet: Strukturelle, Organisations-, Institutionelle und Gesellschaftliche Macht. 4 Wir haben den Machtressourcenansatz für die Untersuchung ge- wählt, weil er sich im Vorfeld dieses Projektes als nützlicher Analyse- rahmen für die Untersuchung von Arbeitskämpfen im Globalen Nor- 3 Das Tavistock Institute of Human Relations ist ein Forschungsinstitut den und im Globalen Süden erwiesen hat. Bereits im Rahmen des mit Sitz in London, das sich vor allem der Erforschung von Arbeits- Vorläuferprojekts der FES »Trade Unions in Transformation » wurden beziehungen widmet und seit dem Nachkriegsboom maßgeblich an verschiedene strategischen Antworten der organisierten Beschäftig- der Förderung sozio-technischer Ansätze in industriellen Beziehun- ten auf den globalisierten Kapitalismus untersucht; siehe Fichter et al gen beteiligt war. (2018). 5
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Interessenvertretung im digitalen K apitalismus Abbildung 1 Lohnabhängigenmacht aus dem Blickwinkel des Machtressourcenansatzes Der Machtressourcenansatz LOHNABHÄNGIGENMACHT BASIEREND AUF VIER MACHTRESSOURCEN Strukturelle Macht Organisationsmacht Verhandlungsmacht am Arbeitsmarkt Stabilität/Vitalität der gewerkschaft- (Marktmacht) und Arbeitsplatz lichen Organisation; Gewerkschafts- (Produktionsmacht); Störung demokratie, Beteiligung der Kapitalverwertung Institutionelle Macht Gesellschaftliche Macht Sicherung und Stabilisierung Macht über den Arbeitsplatz hinaus: von Einfluss in institutionellen Kooperations- und Diskursmacht Arrangements (Bündnisse, Allianzen, Agenda-Setting) Quelle: Fichter et al. 2018: 4 2.3 DAS »UNMAKING UND REMAKING« ein Kampf für verkürzte Arbeitszeit ohne Lohnkürzung eine VON ARBEITERKLASSEN offensive Agenda dar. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der technologische Wandel einen Paradigmenwechsel Der technologische Wandel hat auch die Art und die Form für die Gewerkschaftsbewegung darstellt, durch den die der Arbeitskämpfe geprägt. Er hat in hohem Maße zur bestehenden Machtverhältnisse unter Druck geraten und »ständigen Zersetzung und Neubildung von Arbeiterklassen die organisierte Arbeitnehmerschaft neue Wege des Wider- » beigetragen (Silver 2005: 41). Aufstrebende Industriebran- stands und des Organisierens erschließt. chen führten zur »Bildung« oder »Neugestaltung« neuer Arbeiterklassen (z. B. in der US-amerikanischen Automobil- industrie der 1920er und 1930er Jahre), während der tech- nologische Wandel gleichzeitig eine Rationalisierung und Deindustrialisierung und damit eine »Auflösung« bereits existierender Arbeiterklassen anstößt (z. B. seit den 1980er Jahren in der westeuropäischen Stahlindustrie). Aus diesem Grund sind viele Kämpfe in aufstrebenden Branchen in erster Linie »offensiv« und darauf ausgerichtet, die Macht und die Rechte der Lohnabhängigen von einem Ausgangspunkt ext- remer Schwäche aus zu etablieren und sich auf neue Formen struktureller Macht zu stützen, während die Kämpfe in In- dustriebranchen unter Druck (z. B. der Kohleindustrie) meist »defensiv« sind und sich auf bestehende Machtressourcen – institutionelle Macht und Organisationsmacht – stützen. Beide Formen des Kampfes sind Idealtypen im Weberschen Sinne (Weber 1978). Mit anderen Worten: Eigentlich ist die postulierte Verknüpfung »defensiver Kampf–Branchen unter Druck« und »offensiver Kampf–aufstrebende Branche« viel zu einfach. Es gibt auch Mischformen solcher Kämpfe, vor allem in Branchen, die sich im Wandel befinden (z. B. die grüne Transformation der Automobilindustrie). Hier stellt 6
DIGITALISIERUNG, INDUSTRIE 4.0 UND ORGANISIERTE ARBEITNEHMERSCHAFT 3 DIGITALISIERUNG, INDUSTRIE 4.0 UND ORGANISIERTE ARBEITNEHMERSCHAFT Bevor diese neuen Formen der organisierten Arbeitnehmer- Mehrere Studien im Rahmen des Projekts TUiT 4.0 haben schaft einer Analyse unterzogen werden, muss man aufzei- jedoch gezeigt, dass Gewerkschaften kreative Wege finden gen, wie sich die Arbeitsbeziehungen durch Digitalisierung können, um mit diesen tiefgreifenden Restrukturierungs- und Industrie 4.0 veränderten, und dann ausarbeiten, entwicklungen umzugehen. Im Rahmen des Projekts welches die größten Herausforderungen für die organisierte wurden zwei Branchen untersucht, die unter ständigem Arbeitnehmerschaft sind. Die TUiT 4.0-Studien deuten da- Innovationsdruck stehen: die Automobilindustrie und der rauf hin, dass durch die Einführung neuer digitaler Techno- Bankensektor. Industrie 4.0, die grüne Transformation der logien zwei bedeutende Strömungen der Umstrukturierung Automobilindustrie und die Digitalisierung im Bankensektor ausgelöst wurden: Die erste Strömung – die in diesem Ka- haben enorme Auswirkungen auf Beschäftigungsverhältnis- pitel erläutert wird –, geht mit der Rationalisierung einher. se und Arbeitsbedingungen. In den TUiT 4.0-Fallstudien sind Hierfür untersuchen wir mehrere Branchen mit etablierten Gewerkschaften in diesen Branchen traditionell stark: Sie Gewerkschaften, die stark von Digitalisierung und Industrie stützen sich auf eine starke Organisationsmacht, die sich in 4.0 betroffen sind (z. B. die Automobilindustrie oder der einem relativ hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad Einzelhandel). Die zweite Strömung, die im darauf folgen- widerspiegelt; auf strukturelle Macht, die es möglich macht, den Kapitel beschrieben wird, hängt mit dem Aufstieg der Fertigungsprozesse und Dienstleistungen zu unterbrechen; Plattformökonomie zusammen. und auf institutionelle Macht, die sich aus Tarifverträgen ab- leitet. Das bringt sie – im Vergleich zu anderen »etablierten« Industrie 4.0, manchmal auch Smart Manufacturing ge- Branchen wie der Textil- oder Bekleidungsindustrie sowie nannt, verknüpft die industrielle Produktion mit Big Data, Dienstleistungssektoren wie dem Einzelhandel – in eine maschinellem Lernen und digitalen Technologien zum Zweck stabile Position für ihre größtenteils defensiven Kämpfe um einer Steigerung der Arbeitsleistung und Effizienz in der die Erhaltung von Arbeitsplätzen, hohen Löhnen und an- Produktion. Industrie 4.0 ist eine relativ neue Form der gemessenen Arbeitsbedingungen. Restrukturierung im Industriesektor. Sie reicht zurück bis in die 1980er Jahre, als viele bedeutende Branchen – wie Die Fallstudien zeigen auch, dass es den Gewerkschaften die Automobilindustrie oder der Maschinenbau – eine nicht gerecht wird, wenn man ihre Bemühungen so darstellt, Automatisierungswelle durchliefen (Kern und Schuhmann als würden sie lediglich versuchen, das zu schützen, was sie 1984). Aus der Sicht der organisierten Arbeitnehmer_innen bereits erreicht haben. Obwohl sie unter starkem Druck setzte diese Entwicklung die Hochburgen der industriellen stehen, streben sie vielmehr danach, die Digitalisierung nach Arbeiterbewegung unter Druck. Die etablierten Gewerk- ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Der Schlüssel zur schaften haben mehrere Rationalisierungswellen, Betriebs- »offensiven Agenda in der Defensive«, die Gewerkschaften verlagerungen und eine veränderte Zusammensetzung von verfolgen, um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen Belegschaften erlebt. Die Digitalisierung hat mit ihren neuen zu erreichen, ist ihr »tiefgründiges Wissen« (salient know- Geschäftsmodellen wie Online-Buchungsplattformen einen ledge, Ganz 2009) über die Arbeitswelt sowie ihre Rolle als ähnlichen Abwärtstrend im Dienstleistungssektor ausgelöst Betreiber des Wandels und der Innovation – Faktoren, die sie und die Gewerkschaften in die Defensive gedrängt. Seit an den Verhandlungstisch bringen können. Das Ausmaß, in den 2000er Jahren hat sich die Digitalisierung eher disruptiv dem diese offensive Agenda verfolgt werden kann, ist höher auf die etablierten Arbeitsbeziehungen in Branchen wie bei Gewerkschaften, die über größere institutionelle Macht Finanzdienstleistung und Einzelhandel ausgewirkt. In diesen und über eine Tradition der »Konfliktpartnerschaft« (Mül- Branchen wird Digitalisierung meist als Bedrohung für die ler-Jentsch 1999) verfügen und in ihrer Rolle als Verhand- organisierte Arbeitnehmerschaft angesehen, da sie Rationa- lungspartner von Arbeitgeber_innen und Staat anerkannt lisierung und Arbeitsplatzverluste mit sich bringt. Industrie werden. Die TUiT 4.0-Studien zeigen jedoch, dass sowohl im 4.0 und Digitalisierung haben deshalb oft zu defensiven Globalen Norden als auch im Globalen Süden gewerkschaft- Arbeitskämpfen geführt, in denen Arbeitnehmer_innen liche Handlungsfähigkeit, aktive Mitgliederbeteiligung sowie gegen Arbeitsplatzverlust, sinkende Löhne und die Senkung strategische Führung (und eine damit einhergehende große von Arbeitsstandards kämpfen und dabei auf ihre institutio- Organisationsmacht) erfolgsentscheidend sind. nelle Macht und ihre Organisationsmacht zurückgreifen. 7
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Interessenvertretung im digitalen K apitalismus 3.1 ARBEITSKÄMPFE UND 3.2 AUSWEITUNG DER GEWERKSCHAFTLICHE INNOVATIONEN VERHANDLUNGSAGENDA IN DER IM BANKENSEKTOR AUTOMOBILINDUSTRIE Im Bankensektor geht es bei defensiven Kämpfen fast immer Die Automobilindustrie ist in hohem Maße globalisiert und um den Erhalt von Arbeitsplätzen, da die Branche durch dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt; aus diesem die Digitalisierung stark umstrukturiert wurde (Pittaluga Grund war sie im Laufe des 20. Jahrhunderts Gegenstand et al. 2020; Spatari und Guga 2020). Die wichtigsten Ver- mehrerer technologischer fixes (Silver 2003: 41–73). Für die handlungsgebiete in diesem Sektor sind Fortbildung und IG Metall (Schäfers und Schroth 2020), und die ABC-Metall- Qualifizierung. Die Gewerkschaften verhandeln mit Unter- arbeitergewerkschaft (SMABC, Sindicato dos Metalúrgicos nehmen, um sie davon zu überzeugen, in die Fortbildung do ABC) in Brasilien (Araujo 2020) ist der Umgang mit tech- und Umschulung der Arbeitnehmer_innen zu investieren, nologischen Innovationen in diesem Sektor nichts Neues. statt sie zu entlassen. Die Vereinigung der Versicherungs- Beide Gewerkschaften versuchten, ihre Organisationsmacht und Bankengewerkschaften (FSAB, Federația Sindicatelor und ihre institutionelle Macht zu mobilisieren, um »Industrie din Asigurări și Bănci) in Rumänien nahm den Arbeitskräf- 4.0« zu gestalten. temangel im Bankensektor zum Anlass, um eine Strategie zu entwerfen und dabei ihre große Marktmacht zu nutzen, Die Grundvoraussetzungen für kollektives Handeln sind je- um einen defensiven Kampf in einen offensiven Kampf doch in beiden Ländern verschieden, da ihre Stellung in der um den Abschluss einer Vereinbarung auf Branchenebene internationalen Arbeitsteilung und ihre industriellen Bezie- zu verwandeln (Spatari und Guga 2020). Obwohl die EU hungssysteme unterschiedlich sind. Erstens sind Volkswagen Strukturreformen zum Abbau des Tarifverhandlungssystems und Mercedes Benz in Deutschland heimische Unterneh- auferlegt hatte, konnte FSAB die großen Arbeitgeber (oft men, in Brasilien jedoch ausländische Unternehmen. Folglich Banken in ausländischem Besitz) dazu zwingen, sich auf eine liegen die Entscheidungszentren in Deutschland näher und Branchenvereinbarung zu verpflichten, die den Umgang mit können durch eine Kombination aus Organisationsmacht, Massen- und Einzelentlassungen regelte, interne Mobilität institutioneller Macht und struktureller Macht beeinflusst und Telearbeit gewährleistete und den Arbeitnehmer_in- werden. Diese fehlende Nähe in Brasilien ist ein Handicap nen berufliche Weiterbildung ermöglichte. Die Einigung für die Gewerkschaften, das durch die Mobilisierung inter- auf eine Regelung, die Geschäftsleitungen verpflichtet, nationaler Akteure mittels transnationaler Gewerkschaftsko- die Fortbildung von Mitarbeitern zu bezahlen, ist für den operation ausgeglichen werden muss. Zweitens erlaubt die rumänischen Kontext bemerkenswert und entspricht den Gesetzeslage in Deutschland die Bildung von Betriebsräten Forderungen der Gewerkschaften nach einem »gerechten am Arbeitsplatz, die wesentliche Aspekte des Arbeitsprozes- Übergang«. Auch in Uruguay legt die Vereinigung der Bank- ses und der Arbeitsbedingungen beeinflussen. In Brasilien kaufleute von Uruguay (AEBU, Asociación de Bancarios del gibt es keine gesetzlichen Regelungen für die Mitbestim- Uruguay) einen Schwerpunkt auf Aus- und Weiterbildung mung auf Betriebsebene. Die existierenden Betriebsräte bei (Pittaluga et al. 2020). Ihre Forderung war Teil einer Stra- Volkswagen und Mercedes Benz sind vielmehr ein Ergebnis tegie, die darauf abzielte, gering qualifizierte, vorwiegend des kollektiven Handelns der SMABC und der dort vorherr- weibliche Mitarbeiter_innen von bisher nicht organisierten schenden »Konfliktpartnerschaftskultur«; diese Betriebsräte Versicherungsgesellschaften, Genossenschaftsbanken und haben jedoch weniger institutionelle Rechte und Einfluss- Geldtransportunternehmen in den Verhandlungsprozess möglichkeiten auf Management-Entscheidungen. zu integrieren. Ihre organisatorische Flexibilität stärkte die Position der AEBU bei den Verhandlungen mit den Arbeit- Trotz dieser Unterschiede waren die Strategien von IG Metall geber_innen. Eine echte Innovation dieser Strategie ist die und SMABC ähnlich: Beide Gewerkschaften versuchten – »Robotersteuer«. Angesichts des Beschäftigungsabbaus im anhand einer Kombination aus Arbeitnehmerfortbildung Bankensektor und der damit verbundenen Bedrohung des und Einflussnahme auf Politik und Unternehmensentschei- Rentenfonds handelte die AEBU aus, dass Beiträge zum Ren- dungen – eine Agenda voranzutreiben, die auf den Schutz tenfonds an die Umsatzerlöse des Unternehmens gekoppelt von Arbeitsplätzen abzielt. In Deutschland hat die Tatsache, werden. Wenn also der Umsatz eines Unternehmens steigt, dass Arbeitnehmer_innen durch den Betriebsrat stärker in seine Lohnkosten aber unverändert bleiben oder sogar die Entscheidungsfindung auf Unternehmensebene ein- durch Automatisierung sinken, steigen die Beiträge zum gebunden werden, eine proaktive Agenda ermöglicht, die Rentenfonds trotzdem. Diese Initiative kann den Verlust auf Mitbestimmungsrechte am technologischen Wandel, von Arbeitsplätzen zwar nicht aufhalten, schützt aber die eine verbesserte Arbeitszeitplanung oder die Zahlung von Gewerkschaft und bewahrt ihre Fähigkeit, Verhandlungen Kurzarbeitergeld bei Tochtergesellschaften im Globalen zu führen und für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Süden drängte. Eine Schlüsselrolle spielte dabei das Projekt Dieser Erfolg war nur deshalb möglich, weil die Gewerk- »Arbeit + Innovation«, ein öffentlich gefördertes Projekt der schaft ihre gesellschaftliche Macht strategisch nutzte, mit IG Metall. politischen Akteuren (z. B. der Frauenbewegung) kooperierte und ihr Ansehen steigerte, indem sie ihre politische Agenda In den teilnehmenden Unternehmen konnten die Arbeitneh- und ihre Mitgliederbasis (geringqualifizierte Arbeitskräfte) mer_innen aktiv Vorschläge entwickeln und Innovationen am erweiterte. Arbeitsplatz einführen, um die Digitalisierung zu gestalten. Solche innovativen Lösungen wurden mit Vertreter_innen 8
DIGITALISIERUNG, INDUSTRIE 4.0 UND ORGANISIERTE ARBEITNEHMERSCHAFT der Unternehmensleitung (die Teil des Projekts »Arbeit + »authentischen und vielfältigen Gruppe von Arbeitnehmer- Innovation« waren) umgesetzt und durch einen Tarifvertrag führer_innen« (Fisher 2020: 9). Zusammenfassend lässt sich »festgeschrieben«. Im Fall Brasiliens begann kollektives Han- sagen, dass durch die Anpassung der Organisierungsansätze deln, als die Unternehmen technologische Veränderungen an den High-Tech-Arbeitsmarkt ein defensiver Arbeitskampf ankündigten, die auch einen Abbau von Arbeitsplätzen in einen offensiven umgewandelt werden konnte. beinhalteten. Obwohl beide Unternehmen – Volkswagen und Mercedes Benz – eine Tradition des sozialen Dialoges Insgesamt besteht die Herausforderung für Gewerkschaf- haben, musste die SMABC durch Arbeitsniederlegungen ten in etablierten Industrien darin, durch die Mobilisierung und Massenkundgebungen ihre gesamte Organisations- und von Machtressourcen aus defensiven Kämpfen hybride strukturelle Macht aufbieten, um einen Verhandlungspro- oder offensive Kämpfe zu machen. Dies ist möglich, wenn zess in Gang zu bringen. Ähnlich wie der gewerkschaftliche defensive Maßnahmen erfolgreich umgesetzt und durch Ansatz im deutschen Fall bestand die Strategie von SMABC offensive Strategien erweitert werden. Im Fall der IG Metall darin, das Spektrum der verhandelten Themen proaktiv und der SMABC erwiesen sich transnationale Maßnahmen zu erweitern. Indem sie erörterte, wie die Attraktivität von als entscheidend für die Stärkung der Organisationsmacht, Produktionsstandorten bewahrt und hochqualifizierte während bei Histadrut letztlich die Organisierung neuer Arbeitskräfte gehalten werden können, und indem sie ihr Beschäftigtengruppen zum Erfolg führte. In allen Fällen transnationales Netzwerk nutzte, konnte die Gewerkschaft wurden auch neue institutionelle Initiativen (Pensionsfonds erfolgreich für eine Erhöhung der Investitionen in neue Pro- AEBU) sowie der Aufbau von Kapazitäten und Kompetenzen dukte und Produktionslinien plädieren, um Arbeitsplätze in (Lernfabrik) genutzt. Dadurch wurde die Organisations- und der brasilianischen Automobilindustrie zu sichern. institutionelle Macht gestärkt, was sich als entscheidend für kollektive Maßnahmen erwies. Indem sie ihre gesellschaft- liche Macht nutzten, gelang es den Gewerkschaften außer- 3.3 ORGANISIERUNG IM IKT-SEKTOR dem, den öffentlichen Diskurs über die Tech-Industrie und die digitale Arbeit zu ändern (siehe Tabelle 2 im Anhang). Eine erfolgreiche »Gewerkschaft 4.0«-Strategie in voll entwickelten Branchen bedeutet also mehr als reine Lohn- verhandlung. Sie verfolgt einen ganzheitlicheren Ansatz und erweitert die Verhandlungsagenda um Themen wie Investition, Industriepolitik, Fortbildung und Qualifizierung. Darüber hinaus erkennt sie, wie wichtig es ist, Lücken in der Arbeitnehmer_innenvertretung in weniger sichtbaren Branchen, die weniger gute Arbeitsbedingungen bieten, zu schließen. Dies gilt auch für (Büro-)Angestellte, da der technologische Wandel auch hochqualifizierte und gut be- zahlte Fachkräfte betrifft. Technologische Restrukturierung, Outsourcing und Plattformbildung bieten eine Chance für das gewerkschaftliche Organisieren von Tech-Beschäftigten, die sich traditionell auf ihre große individuelle Marktmacht verlassen konnten und sich eher selten gewerkschaftlich organisierten. Im Fall des israelischen Informations- und Kommunikationstechnologiesektors (IKT) beispielsweise wa- ren die Tech-Beschäftigten mit Entlassungen und einer be- drohten Arbeitsplatzsicherheit konfrontiert (Fisher 2020). Sie wandten sich deshalb an eine »etablierte« Gewerkschaft, die in der Vergangenheit ihrerseits unter einer Erosion ihrer Or- ganisationsmacht sowie ihrer strukturellen und gesellschaft- lichen Macht gelitten hatte. Die Gewerkschaft Histadrut, die bereits 2010 eine eigene Erschließungsabteilung gegründet hatte, zeigte organisatorische Flexibilität bzw. »institutionel- le Vitalität« (Behrens et al. 2004: 22): Im Jahr 2014 gründete die Histadrut die Gewerkschaft für Beschäftigte in der Mobil- funk-, Internet- und Hightech-Branche (Cellular, Internet and High-Tech Union), deren Ziel darin besteht, den IKT-Sektor gewerkschaftlich zu organisieren, Betriebsräte zu bilden und Tarifverträge auszuhandeln. Der Organisierungserfolg kann darauf zurückgeführt werden, dass Histadrut in der Lage war, einen Organisierungsansatz zu entwickeln, der für die Beschäftigten im israelischen IKT-Sektor relevant und hilfreich war: Die Gewerkschaft fungierte als »Berater« für die Tech-Beschäftigten und unterstützte die Bildung einer 9
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Kollektive Interessenvertretung im digitalen K apitalismus 4 KOLLEKTIVES HANDELN VON BESCHÄFTIGTEN IN DER DIGITALEN PLATTFORMÖKONOMIE Eine ähnliche Herausforderung, die sich aus dem tiefgrei- durch digitale Anwendungen bringt regulatorische Heraus- fenden technologischen Wandel ergibt, stellt sich den orga- forderungen mit sich. In den meisten Ländern, in denen nisierten Beschäftigten in den aufstrebenden Branchen der diese Unternehmen präsent sind, gibt es immer noch keinen Plattformökonomie, wo Lohnabhängigenmacht außerhalb klaren Rechtsrahmen für digitale Plattformaktivitäten. Dies der Hochburgen der »etablierten« Gewerkschaften auf- hat in Verbindung mit anderen Faktoren – wie dem Verspre- gebaut werden muss. Insbesondere die rasant wachsende chen von Flexibilität sowie begrenzten Arbeitsmöglichkeiten »Gig«- oder Plattformökonomie hat völlig neue Branchen im formellen Sektor – dazu beigetragen, dass es Tausende und Geschäftsmodelle geschaffen, in denen die staatliche Menschen als sogenannte »Partner« oder »Freiberufler« zu Arbeitsregulierung schwach ist (institutionelle Macht) und diesen Plattformen zieht, was in den letzten zehn Jahren die Gewerkschaften nur wenig Organisierungserfahrung zu einem exponentiellem Wachstum dieser Unternehmen haben (Organisationsmacht). Zu diesen neuen Branchen ge- geführt hat. Seitdem die Plattformunternehmen ihre Ge- hören standortgebundene Plattformen im Transportsektor schäftstätigkeit ausweiten und der Markt für App-basierte mit Dienstleistungsunternehmen wie Uber, mächtige digitale Dienstleistungen von Mitbewerber_innen überflutet wird, Cloud-Plattformunternehmen wie YouTube, selbständige/ ist die anfängliche Euphorie über die Plattformarbeit – z. B. freiberufliche Arbeit, Crowdwork-Plattformen wie Crowd- Pauschaltarife pro Fahrt oder Lieferung, hohe Prämien, viele Flower sowie Online-Handelsriesen wie Amazon mit ihren Leistungsanreize und flexible Arbeitszeiten – jedoch schnell großen Vertriebszentren. Viele dieser (Plattform-)Unter- verflogen. In vielen Fällen legen die Plattformunternehmen nehmen zeichnen sich durch Beschäftigungsformen aus, bei einseitig Tarife, Punktesysteme, Leistungsprämien und Boni denen die Arbeitnehmer nach Klicks oder Bestellungen be- fest. Sie bestimmen über die Aussetzung oder Deaktivierung zahlt werden (wie bei Deliveroo), während andere auf hoch der Anwendung und kontrollieren und steuern das Ver- repetitive und körperlich anstrengende Niedriglohnarbeit halten der Fahrer_innen durch das algorithmische App-Ma- setzen (wie Amazon). Vor allem die Plattformökonomie hat nagement. Gefangen in Scheinselbständigkeit, d. h., ohne eine Welle von Kämpfen um Löhne, Arbeitsplatzsicherheit Schutz durch das Arbeitsrecht, verfügen diese Beschäftigten und Arbeitsbedingungen erlebt, die oft von Basisinitiativen über keinerlei institutionelle Macht. Aus diesem Grund er- vorangetrieben und in einigen Fällen von Gewerkschaften leben Plattformbeschäftigte weltweit eine zunehmende Ver- unterstützt werden (Joyce und Stuart 2021; Vandaele 2018, schlechterung ihrer Arbeitsbedingungen in Form von langen 2021). Diese Mobilisierungsbestrebungen finden oft in Arbeitszeiten, sinkenden Einkommen und Leistungsanreizen, einem für die organisierten Beschäftigten unvorteilhaften beruflichen Risiken sowie einer verstärkten Arbeitskontrolle wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Kontext statt. durch Algorithmen (der »unsichtbare Chef«). In den TUiT Die digitale Plattformökonomie bietet zwar vielen Menschen 4.0-Projektstudien, die sich z. B. mit Essenslieferant_innen Beschäftigung oder Lebensunterhalt, schafft aber auch »eine in Belgien und den Niederlanden, Go-Jek- und Grab-Fah- prekäre Klasse von abhängigen Auftragnehmer_innen und rer_innen in Indonesien und Rappi-Lieferant_innen in Arbeiter_innen auf Abruf« (UNCTAD 2021: 14). Infolge Argentinien befassten, entwickelten die »Partner_innen«, dieser Entwicklung zielen die meisten Kämpfe des neu auf- »Freiberufler_innen« und »Auftragnehmer_innen« schnell kommenden »digitalen Prekariats« nicht nur offensiv auf ein Bewusstsein dafür, dass sie prekäre Arbeitskräfte in steigende Löhne ab, sondern streben auch eine Regulierung hochflexiblen und deregulierten Arbeitsverhältnissen sind, dieses weitgehend unregulierten Sektors sowie eine Dekom- und dass sie in hohem Maße von den Plattformen, für die sie modifizierung der Arbeit durch arbeitsrechtliche Regelungen arbeiten, abhängig sind. zur sozialen Absicherung und zu Sozialleistungen an. Eine kollektive Mobilisierung findet vor allem bei standort- 4.1 DIE HAUPTZIELE KOLLEKTIVEN basierten digitalen Plattformen im Transportsektor statt, z. B. HANDELNS bei Liefer- und Kurierdiensten. Sie gehören zu den Platt- formunternehmen, die in den letzten zehn Jahren wie Pilze Ihr Kampf wurde hauptsächlich von dem Wunsch nach einer aus dem Boden geschossen sind und die im Rahmen des Regulierung und Dekommodifizierung ihrer Beschäftigungs- Projekts TUiT 4.0 untersucht wurden. Ihre »virtuelle« Präsenz form angetrieben. Ein Beispiel: Das Plattformunternehmen 10
KOLLEKTIVES HANDELN VON BESCHÄFTIGTEN IN DER DIGITALEN PLATTFORMÖKONOMIE Rappi in Argentinien sperrte als Vergeltung für einen digi- 4.2 DAS KONFLIKTREPERTOIRE talen Streik der Lieferfahrer_innen im Jahr 2018 und die Gründung des Verbandes der Plattformbeschäftigten (APP, Insgesamt befinden sich die Plattformkuriere und -fahrer_in- Asociación de Personal de Plataformas) die Plattform für die nen in der gleichen Situation wie die meisten prekär Beschäf- Leiter_innen des APP. Der Verband leitete rechtliche Schritte tigten. Ihr »repertoire of contention« (Konfliktrepertoire) ein, um Rappi dazu zu zwingen, seine gewerkschaftsfeind- besteht deshalb aus einer Kombination von »routinemäßi- lichen und diskriminierenden Geschäftspraktiken zu ändern, gen und konventionellen Formen« sowie neu erfundenen, seine Arbeitsbedingungen zu verbessern und ein formelles »modularen« Formen digitaler Kollektivaktionen (Tarrow Arbeitsverhältnis zwischen der Plattform und ihren Fah- 1993). Zum konventionellen Repertoire gehören Petitionen, rer_innen zu schaffen (Perelman et al. 2020). Gerichtsverfahren und Anhörungen, die Fahrer- und Kurier- organisationen in allen vier im Rahmen des Projektes TUiT 4.0 In Indonesien sagten die IT Jalanan, eine Gruppe von Go- untersuchten Fällen durchführten. Die Essenslieferant_innen Jek- und Grab-Fahrer_innen, die über autodidaktische Fähig- in Belgien/den Niederlanden und die Go-Jek- und Grab-Fah- keiten im Umgang mit digitalen Technologien verfügen, dem rer_innen in Indonesien verfolgten mit der Veranstaltung von algorithmischen Arbeitsdruck den Kampf an, indem sie Bugs Streiks und Versammlungen den konventionellen Ansatz. in die App einbauten, um den Algorithmus so zu verändern, Zudem bringt kollektives Handeln in der Plattformökono- dass die Arbeitsbelastung der Fahrer_innen reduziert wurde mie – in einem durch die digitale Technologie vermittelten (Panimbang et al. 2020). Die Kämpfe in der Plattformöko- Kontext –auch passende Aktionsformen hervor, bei denen nomie waren also von Grundinteressen angetrieben, für neue Formen struktureller und Organisationsmacht zum die sich Arbeitskräfte bereits in der Epoche der industriellen Tragen kommen. Zu diesen Aktionsformen gehören nicht- Revolution organisierten – Lohninteressen, das Interesse an traditionelle Streiks und digitale Protestaktionen, nicht-tra- besseren Arbeitsbedingungen und Beschäftigungssicherheit ditionelle Versammlungen, die Mobilisierung öffentlicher (Offe und Wiesenthal 1980: 82). Die »Handlungsbereit- Unterstützung durch soziale Medien und Netzwerke sowie schaft« der Plattformbeschäftigten, die von ihren Arbeitge- die Entwicklung digitaler Apps, die den Beschäftigten ge- ber_innen nicht als Lohnarbeiter_innen anerkannt werden, hören und von ihnen selbst entwickelt werden. entsteht durch ihre neu aufkommende kollektive Identität als Arbeitnehmer_innen. So radelten die Essenslieferant_innen in Belgien in einer ge- meinsamen Aktion mit Critical Mass Brussels zum Hauptsitz In vielen Fallstudien des Projekts TUiT 4.0 wurden grund- von Deliveroo, um auf die Gefahren des Radfahrens in der legende Ansprüche durch kollektives Handeln verfolgt. belgischen Hauptstadt hinzuweisen und öffentliche Unter- Erstens setzen sich Kuriere und Fahrer_innen in der Platt- stützung für die Sache der Fahrer_innen zu gewinnen. Meh- formökonomie für Lohnerhöhungen ein. Das Einkommen rere Restaurants machten mit und nahmen für den Zeitraum in der Plattformökonomie wird in der Regel von Tarifsätzen, der Aktion keine Plattformbestellungen an. Die Rappi-Fah- Prämien und Leistungsanreizen abgeleitet, die von den rer_innen in Argentinien wechselten zu digitalen Formen des Plattformunternehmen einseitig festgelegt und geändert Protests und führten – wie bereits erwähnt – den ersten Di- werden. Kuriere und Fahrer_innen wehrten sich gegen die gitalstreik in Lateinamerika durch; bei dieser Aktion nahmen Senkung der Tarife, Boni und Leistungsanreize und die damit die Fahrer_innen die ihnen zugewiesenen Aufträge der App einhergehende Reduzierung ihres Einkommens und kämpf- vorerst an, um sie zwei Stunden später abzulehnen. In Indo- ten stattdessen um Lohnerhöhungen. nesien schalteten Go-Jek- und Grab-Fahrer_innen kollektiv ihre Apps ab, um den Geschäftsverkehr zu unterbrechen. Zweitens: Da Plattform-Fahrer_innen aufgrund ihrer Arbeit Die belgischen Gewerkschaften initiierten unkonventionelle im Straßenverkehr verstärkt der Gefahr von Unfällen und Arbeitnehmerversammlungen: Sie führten Fahrradreparatur- Krankheiten ausgesetzt sind, fordern sie eine Verbesserung Aktionen durch und bestellten über die App bei zahlreichen ihrer Arbeitsbedingungen durch Arbeitsschutzmaßnahmen Restaurants Pizzen, um diese von den Fahrer_innen an und soziale Absicherung (z. B. Kranken-, Lebens- und Un- denselben Ort liefern zu lassen und auf diese Weise eine fallversicherungen). Ihre dritte Forderung gilt der Sicherheit Versammlung einzuberufen. Um öffentliche Unterstützung ihrer Arbeitsplätze. Für viele plattformbasierte Fahrer_innen durch soziale Medien und Netzwerke zu mobilisieren, en- beginnt die Arbeit erst dann, wenn sie die App öffnen. gagierte sich der Verband der Plattformarbeiter_innen (APP) Wenn ihre Arbeitgeber_innen ihnen die Nutzung der App nach dem Streik im Jahr 2018 intensiv in den sozialen Me- verwehren, indem sie sie sperren, deaktivieren oder auf tem- dien und Netzwerken, um öffentliche Aufmerksamkeit und porär unverfügbar schalten, ist dies eine Form der digitalen Sympathie für die Arbeitsbedingungen und Forderungen Ausschließung. Im Kampf um ein stabiles Einkommen und der Fahrer_innen in Argentinien zu gewinnen. In Uganda Arbeitsplatzsicherheit haben Essenslieferant_innen in Argen- schließlich entwickelten Bodaboda- und Flughafen-Taxifah- tinien, Belgien, Indonesien und den Niederlanden rechtliche rer_innen ihre eigene Fahrdienst-App, während der APP in Schritte eingeleitet, um gegen Scheinselbstständigkeit und Argentinien für seine Mitglieder eine Kommunikations-App ihre Fehlklassifikation als unabhängige Auftragnehmer_in- für Nachrichten, digitale Mitgliedschaft, Beschwerden und nen vorzugehen, ihr Arbeitsverhältnis mit den Plattformen georeferenzierte Warnmeldungen entwickelte. nachzuweisen und damit auf die Schaffung geregelter Lohn- verhältnisse zu drängen. All diese neuen Formen des kollektiven Handelns setzen digi- tale Technologie ein. Vor allem die Entwicklung einer eigenen 11
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