Kolumbien: der Kongress und die Friedensverhandlungen
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Nummer 6 2014 ISSN 1862-3573 Kolumbien: der Kongress und die Friedensverhandlungen Angelika Rettberg und Daniel Quiroga Am 7. August 2014 beginnt die zweite Amtszeit des kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos, der sich in einer Stichwahl gegen Oscar Iván Zuluaga durchsetzen konn- te. Konträre Positionen zu den anstehenden Friedensverhandlungen dominierten den Wahlkampf, vor allem vor der Stichwahl. Analyse Die Unterzeichnung eines Friedensabkommens ist ein erster wichtiger Schritt zur Been- digung des ältesten internen Krieges in Lateinamerika. Eine Schlüsselrolle bei der Umset- zung des Abkommens hat der kolumbianische Kongress, dessen Mitglieder bereits im März neu gewählt wurden. Präsident Santos braucht hier Verbündete, um die notwen- digen Gesetze zu verabschieden. Im Vergleich zu anderen Parlamenten lateinamerikanischer Staaten mit Präsidialsys tem verfügt der kolumbianische Kongress – insbesondere seit Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 1991 – über umfangreichere Zuständigkeiten und Kon- trollfunktionen. Parallel zur Ausweitung der Fragestellungen im Friedensprozess seit den 1990er Jah- ren, beispielsweise auf die Entschädigung von Opfern, war der Kongress zunehmend an der Diskussion und Erarbeitung der gesetzlichen Grundlagen für die Umsetzung von Vereinbarungen beteiligt. Obwohl die Regierung Santos auch im neuen Kongress über eine Mehrheit verfügt, ist ihr Handlungsspielraum kleiner geworden. Sie muss die Bedenken der Gegner des Friedensabkommens ernst nehmen. Die Aushandlungsprozesse im Kongress verringern zwar die Reichweite eines künf- tigen Friedensabkommens, helfen aber, mögliche Konflikte bei der Umsetzung schon im Vorfeld zu erkennen und auszuräumen. Schlagwörter: Kolumbien, Wahl, Kongress (Parlament), Voraussetzungen für Frieden, Friedensverhandlungen www.giga-hamburg.de/giga-focus
Präsidentschaftswahl und Einer der zentralen Schauplätze dieser wich- Friedensverhandlungen tigen und schwierigen Debatte ist das kolumbia- nische Parlament, der Kongress, die einflussreichs- Am 15. Juni 2014 setzte sich der kolumbianische Prä- te Institution des Landes neben dem Verfassungs- sident Juan Manuel Santos im zweiten Wahlgang der gericht und dem Präsidenten. Hier müssen – wie Präsidentschaftswahl unerwartet knapp gegen sei- in der Vergangenheit bei vergleichbaren Prozes- nen Herausforderer Oscar Iván Zuluaga durch. Die sen – die notwendigen rechtlichen Rahmenbedin- Wahl muss auch als Abstimmung über die Zukunft gungen für die Umsetzung des Friedensabkom- der Friedensverhandlungen gesehen werden, die mens geschaffen werden. Santos im August 2012 mit den Fuerzas Armadas Zwar wurde Präsident Santos erneut zum Präsi- Revolucionarias de Colombia (FARC, Revolutionäre denten gewählt – doch seit den Parlamentswahlen Streitkräfte Kolumbiens) aufgenommen hatte (Kur- am 30. März 2014 haben sich die Mehrheitsver- tenbach 2012). Santos hatte die Fortsetzung und den hältnisse im Kongress verändert. Kann sich San- zügigen Abschluss der Verhandlungen zum Kern- tos auf die Bereitschaft der Mehrheit der Abge- thema seiner zweiten Amtszeit erklärt. Kurz vor der ordneten verlassen, die für die Implementierung Stichwahl verkündete der Präsident zudem, dass er eines Abkommens notwendigen Gesetze zu ver- auch mit der zweiten noch aktiven Guerilla-Gruppe, abschieden? Zur Beantwortung dieser Frage ist es dem Ejército de Liberación Nacional (ELN, Natio- zunächst notwendig, kurz die Struktur des Kon- nale Befreiungsarmee), erste Gespräche aufgenom- gresses, seine Gesetzgebungspraxis sowie Erfah- men habe. Sollten die Verhandlungen mit beiden rungen aus vorhergehenden Friedensprozessen Gruppen erfolgreich enden, fände einer der längs darzulegen. Ein Vergleich der Zusammensetzung ten und brutalsten internen bewaffneten Konflikte des bisherigen (2010-2014) und des neuen (2014- der Welt nach 50 Jahren und Tausenden von Opfern 2018) Parlaments erlaubt es dann, die Herausforde- endlich ein Ende. rungen für die Umsetzung des Friedensprozesses Der Erfolg und die Nachhaltigkeit des Frie- zu skizzieren. densabkommens hängen aber nicht nur von sei- ner Unterzeichnung und der Entwaffnung der über 10.000 Kämpfer ab. Dies ist ein notwendiger er- Das Parlament Kolumbiens: der Kongress ster Schritt. Doch damit der Frieden stabil bleibt, müssen die Interessen der Opfer, der kolumbia- Der kolumbianische Kongress kann – im Gegensatz nischen Gesellschaft insgesamt und auch des Mi- zu den meisten lateinamerikanischen Parlamenten – litärs einbezogen werden. Erfahrungen anderer seit 1958 auf eine ununterbrochene formal demo- Länder sind dabei lehrreich: Zwar sind Verhand- kratische Tradition zurückblicken. Dennoch hat er lungen oft erfolgreicher, wenn die Agenda nur we- einen vergleichbar schlechten Ruf. Seine Mitglie- nige Punkte umfasst und nur wenige Akteure di- der gelten als korrupt, im besten Fall als faul und rekt beteiligt sind. Vielfach führt dies aber dazu, inkompetent (Rodríguez-Raga und Seligson 2012). dass die erreichten Friedensabkommen bald wie- Trotz vieler Reformen ist Klientelismus verbreitet. der gebrochen werden, die Unzufriedenheit jah- Auf lokaler Ebene ist der Austausch von Stimmen relang schwärt und neue soziale Konflikte auf- gegen persönliche Zugeständnisse oder die Bevor- brechen. Die Einbeziehung der kolumbianischen zugung spezifischer sozialer Klientelgruppen zu Gesellschaft in den Friedensprozess kann deshalb beobachten. Kolumbiens Kongress ist außerdem ein wichtiger Schritt sein, um eine nachhaltige Lö- parteipolitisch stark fragmentiert, seinen Mitglie- sung zu erreichen. Ob es Kolumbien gelingt, sei- dern wird Nepotismus und mangelnde Disziplin ne Geschichte der Gewalt und der „hundert Jah- vorgeworfen. re Einsamkeit“1 zu überwinden, wird maßgeblich Das politische System Kolumbiens ist ein klas- von der sozialen Legitimation der aktuellen Ab- sisches Präsidialsystem mit schwachem Parlament kommen abhängen (Rettberg 2012). (Shugart und Carey 1992). Im politischen Alltag spielt der Kongress dennoch eine zentrale Rolle, vor allem bei der Gesetzgebung. Hier werden Ge- 1 So der Titel des bekanntesten Werkes des am 17. April 2014 verstorbenen kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel setzesvorlagen debattiert und verabschiedet, aber García Márquez, in dem er die wiederkehrenden Zyklen der auch die Richter der obersten Gerichte und ande- Gewalt in einer imaginären lateinamerikanischen Gesellschaft rer Kontrollorgane, wie der Ombudsbehörde, ge- schildert. GIGA Focus Lateinamerika 6/2014 -2-
wählt. Anders als Parlamente in anderen lateina- ments und in fünf Sonderwahlkreisen, durch die merikanischen Staaten verfügt der kolumbianische eine Repräsentation ethnischer Minderheiten und Kongress über reale Macht und Verhandlungsfä- im Ausland lebender Staatsbürger sichergestellt higkeit. Bei wichtigen Themen setzt er sich vielfach werden soll. Am Gesetzgebungsverfahren – vom durch. Deshalb muss die jeweilige Regierung über Vorschlag eines Gesetzes über seine Beratung bis ausreichend Verbündete im Kongress verfügen, zur Verabschiedung und Veröffentlichung – sind um ihre politischen Ziele durchsetzen zu können. zusätzlich viele weitere Akteure beteiligt. Geset- Der Kongress besteht aus zwei Kammern. Die zesvorhaben können von Parlamentariern, politi- 102 Mitglieder des Senats werden über eine natio- schen Parteien, Bürgern und Regierungsangehö- nale Liste gewählt, die 166 Mitglieder des Reprä- rigen initiiert werden, vielfach bringt aber die Re- sentantenhauses in Wahlkreisen der 32 Departe- gierung Gesetzesvorlagen ein (Cárdenas, Junguito Tabelle 1: Gesetze und Verfassungsreformen im Kontext von Friedensprozessen (2004-2014) Abstimmungsergebnis (in Prozent)* Gesetzesvorhaben Aktueller Stand Eingeleitete Reformen Ent- Ja Nein hltg. • Demobilisierung und Reintegration der Mitglieder der illegalen Streitkräfte Ley 975 de 2005: • Strafminderung für demobilisierte Füh- Ley de Justicia y Paz verabschiedet rungspersonen im Gegenzug zum Ein kA kA kA (Gerechtigkeit und (25. Juli 2005) geständnis der Verbrechen Frieden) • Maßnahmen zur Entschädigung der Opfer paramilitärischer Einheiten durch die Justiz • Offizielle Anerkennung eines bewaff- neten Konflikts und Entwicklung von Ley 1448 de 2011: Mechanismen für die Betreuung und Ley de Víctimas y verabschiedet Entschädigung der Opfer auf dem Ver- Restitución de Tierras 57 2 38 (10. Juni 2011) waltungsweg (Opfer und Land • Maßnahmen zur Rückgabe von Land, rückgabe) das sich bewaffnete Gruppen angeeignet haben • Mechanismen der Rechtsprechung beim Übergang zur Beendigung des bewaff- Acto legislativo 01 de neten Konflikts 2012: • Instrumente zur Erleichterung der Marco Legal para la verabschiedet Demobilisierung illegaler bewaffneter 55 4 33 Paz** (31. Juli 2012) Gruppen, Garantie der Rechte von (Rechtlicher Rahmen Opfern in Hinblick auf Gerechtigkeit, für den Frieden) Wahrheit und Entschädigung unter Vor- rang der schwersten Verbrechen • Verfahren zur Durchführung eines an das Verfas- Verfassungsreferendums anlässlich der Referendo por la Paz** sungsgericht Friedensgespräche zwischen Regierung (Referendum für den 55 3 39 überwiesen und FARC Frieden) (12. Nov. 2013) • Durchführung des Referendums zeit- gleich mit anderen Abstimmungen * Die Stimmanteile wurden auf Basis der Abstimmungen im Vermittlungsprozess kalkuliert. Es wurden jeweils die Stim- men (Ja-Nein-Enthaltung) in Senat und Repräsentantenhaus addiert; fehlende Stimmabgaben wurden nicht einbezogen (kA = keine Angabe, die Daten waren nicht ermittelbar). ** Verfassungsgesetze (Leyes Estatutarias) betreffen Themen von besonderer Bedeutung, zum Beispiel die Grundrechte, die Justizverwaltung oder den Ausnahmezustand. Sie müssen mit absoluter Mehrheit angenommen und vom Verfas- sungsgericht überprüft werden. Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Basis der Daten von Congreso Visible, Departamento de Ciencia Política, Uni- versidad de los Andes (). GIGA Focus Lateinamerika 6/2014 -3-
und Pachón 2006). Vor der Verabschiedung gibt Senatoren eingeführt. Diese Regelungen, wie auch es vier Debatten (acht im Fall von Verfassungsre- nachfolgende Reformen etwa der Parteienfinanzie- formen) in den zuständigen Kommissionen und rung, sollten die Machtfülle der Exekutive zugun- im Plenum des Senats und des Repräsentanten- sten der Legislative verringern (Botero und Rodrí- hauses. Bei großen Meinungsverschiedenheiten guez Raga 2011; Wills 2009). werden Gesetzesvorhaben in eine Vermittlungs- Gleichzeitig veränderten sich Reichweite und kommission überwiesen. Der Präsident muss den Orientierung der Friedensverhandlungen, sodass endgültigen Text unterschreiben, kann eine Vor- die Einbeziehung des Kongresses immer notwen- lage aber auch ablehnen und erneut an den Kon- diger wurde. Die internationale Gesetzgebung zur gress überweisen. Und schließlich entscheidet das Ahndung schwerer Menschenrechtsverletzungen Verfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit ist beispielsweise gegen eine Reduzierung der von Gesetzen. Im Verlauf dieses langen Prozesses Agenda auf eine reine Demobilisierung gerichtet. besteht folglich viel Raum für politische Verhand- Bei einer Ausweitung auf Fragen der Vergangen- lungen und Zugeständnisse, die Gesetzesvorlagen heitsbewältigung und der Entschädigung der Op- teilweise wesentlich verändern. fer muss aber die gesamte Gesellschaft einbezo- gen werden. Solche Fragen lassen sich nicht allein am Verhandlungstisch lösen. Schon deshalb spielte Die Rolle des Kongresses in bisherigen der Kongress in den Amtszeiten der Regierungen Friedensprozessen Álvaro Uribe (2002-2010) und Juan Manuel Santos (2010-2014) zunehmend eine Rolle bei der Diskus- Kolumbien besitzt eine lange Erfahrung mit Frie- sion von Gesetzen zur Befriedung des Landes (sie densprozessen. Bislang haben rund zwanzig ver- he Tabelle 1). schiedene Verhandlungsprozesse stattgefunden Das Gesetz „Gerechtigkeit und Frieden“ aus und zur (mehr oder weniger erfolgreichen) Demo- dem Jahr 2005 war die Grundlage für die Demobi- bilisierung verschiedener bewaffneter Gruppen lisierung der rechtsextremen Paramilitärs. Gleich- geführt. Ein zentraler Mangel bisheriger Verfah- zeitig schuf es erstmalig einen institutionellen Rah- ren war die ungenügende Implementierung von men für die Entschädigung der Opfer von Men- Vereinbarungen, die vielfach zur Enttäuschung der schenrechtsverletzungen und ermöglichte ver- demobilisierten Kämpfer führte oder sie in die Kri- schiedene Initiativen zur Vergangenheitsbewäl- minalität drängte. tigung (Restrepo und Bagley 2011; Nussio 2012). Der Kongress hat nicht immer eine aktive Rolle Das Gesetz „Opfer und Landrückgabe“ stärkte die in diesen Friedensprozessen gespielt. In den 1980er Rechte der über sechs Millionen Opfer von Men- und 1990er Jahren lag die Initiative überwiegend schenrechtsverletzungen – darunter Mord, Ent- aufseiten der jeweiligen Regierung. Der Kongress führungen, sexueller Missbrauch und Landver- war – jenseits von einzelnen Parlamentariern mit treibung – auf Anerkennung und Entschädigung. individuellem Interesse – an Amnestien, Begnadi- Das Gesetz über den rechtlichen Rahmen für den gungen oder anderen öffentlichen Angeboten zur Frieden (2012) regelte Amnestien und Begnadi- Deeskalation kaum beteiligt. Dies änderte sich erst gungen im Falle einer Demobilisierung von Gue- mit der neuen Verfassung von 1991, die von vorn- rilla-Gruppen (und eventuell von Militärs). Erst im herein als Instrument zur Friedensförderung kon- November 2013 stimmte der Kongress dem Gesetz zipiert war. Viele Reformen zielten auf eine Erwei- über ein Friedensreferendum zu, das der kolum- terung und Vertiefung der politischen Repräsen- bianischen Bevölkerung die Abstimmung über ein tanz und auf eine Stärkung der Rolle des Parla- eventuelles Friedensabkommen ermöglicht. ments. Demobilisierte Kämpfer verschiedener be- Alle Gesetze wurden mit klaren Mehrheiten an- waffneter Gruppen konnten bereits an der Diskus- genommen. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzu- sion zum Entwurf der neuen Verfassung teilneh- führen, dass beide Regierungen erfolgreich Koali- men. Hierfür wurde eigens ein Sonderwahlkreis tionen geschmiedet, die unterschiedlichen politi- gebildet, der seither die Beteiligung von Minder- schen Kräfte im Kongress gut vernetzt sowie sorg- heiten sicherstellt. Zudem wurde die Möglichkeit fältig politische Gefälligkeiten verteilt hatten. Da- zur Verhängung des Ausnahmezustands und zur ran wird aber auch die immer wichtiger werdende Anwendung von Präsidialdekreten beschränkt Rolle des Kongresses deutlich, für die Verhand- und es wurden nationale Listen für die Wahl der lungen eine breite Öffentlichkeit zu schaffen und GIGA Focus Lateinamerika 6/2014 -4-
Positionen aus der Gesellschaft einfließen zu las- der FARC und zum illegalen Drogenanbau vor; an sen, zum Beispiel durch öffentliche Anhörungen. einem Teilabkommen über die Entschädigung der Noch wichtiger war die direkte Teilnahme einzel- Opfer wird derzeit gearbeitet. ner Parlamentarier an Kontakten und Verhand- Für die Umsetzung vieler dieser politischen lungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit in Ha- Vereinbarungen fehlt eine gesetzliche Grundlage. vanna, Kuba. Die Unterstützung durch den Kongress ist damit unerlässlich. Dies ist nicht nur aus verfassungs- rechtlicher Sicht geboten, sondern auch essentiell Wird der Kongress den aktuellen für ihre Legitimierung. Eine grundlegende Agrar- Friedensprozess unterstützen? reform beispielsweise, die Kritiker des kolumbi- anischen Wirtschaftsmodells und auch die FARC Am 26. August 2012 kündigten die kolumbianische seit Jahrzehnten fordern, setzt eine Reform der ju- Regierung und die Führer der FARC die Aufnahme ristischen Definition des Privateigentums und die von Friedensverhandlungen an. Die vereinbarte Modernisierung der Landwirtschaft, der Arbeits- Agenda umfasste fünf Punkte: Agrarreform, poli- bedingungen im ländlichen Raum sowie des Steu- tische Beteiligung, Beendigung des Konflikts, ille- ersystems voraus. Zudem muss die Agrarreform galer Drogenanbau und Entschädigung der Opfer die Reduzierung des illegalen Drogenanbaus er- (Mesa de conversaciones 2012). Darüber hinaus möglichen. Die Beteiligung der direkt betroffenen wurde festgelegt, dass „nichts beschlossen ist, bis Bevölkerungsgruppen an der Diskussion und an alles beschlossen ist“, das heißt, bis nicht alle The- den Entscheidungen kann durch ihre formellen men verhandelt sind, gilt keines der Teilabkom- Vertreter im Kongress erleichtert werden. men als definitiv und bindend. Ein Waffenstill- Auch eine Erweiterung der politischen Partizi- stand wurde nicht vereinbart, die Verhandlungen pation bedeutet tiefgehende Veränderungen, die im finden also vor dem Hintergrund eines anhal- Kongress diskutiert und vereinbart werden müs- tenden Konflikts statt. Bis heute liegen Teilabkom- sen. Dabei ist entscheidend, dass sowohl die de- men zur Agrarreform, zur politischen Beteiligung mobilisierten und nach Umfrageergebnissen weit- Tabelle 2: Zusammensetzung des kolumbianischen Kongresses (2010-2018) 2010-2014 2014-2018 Reprä- Reprä- Partei Senat % sentan- % Senat % sentan- % tenhaus tenhaus Partido Social de Unidad 28 27.7 48 29.1 21 20.6 37 22.3 Nacional* Liberal* 17 16.8 36 21.8 17 16.7 39 23.5 Conservador* 22 21.8 36 21.8 19 18.6 27 16.3 Cambio Radical* 8 7.9 16 9.7 9 8.8 14 8.4 Polo Democrático** 5 5.0 5 3.0 6 5.9 3 1.8 Centro Democrático** - - - - 18 17.6 20 12.0 Partido Verde*** 8 7.9 3 1.8 - - - - Alianza Verde*** - - - - 4 3.9 6 3.6 PIN*** 8 7.9 11 6.7 - - - - MIRA*** 3 3.0 - - - - 3 1.8 Apertura Liberal*** - - 2 1.2 - - - - Unidad Liberal*** - - 2 1.2 - - - - Opción Ciudadana*** - - - - 5 4.9 6 3.6 andere 2 2.0 6 3.6 3 2.9 11 6.6 insgesamt 101 100 165 100 102 100 166 100 * Parteien der Regierungskoalition; ** Parteien der Opposition; *** unabhängige Parteien. Quelle: Eigene Zusammenstellung auf Basis der Daten der Registraduría Nacional und von Congreso Visible. GIGA Focus Lateinamerika 6/2014 -5-
gehend unbeliebten Guerilleros eine Chance im (18 Senatoren und 20 Abgeordnete im Repräsen- Wahlkampf haben, sich aber auch die Rechtsextre- tantenhaus) über starken Einfluss. Noch wich- misten nicht ausgeschlossen fühlen, um einer mög- tiger (zumindest symbolisch) ist die Tatsache, lichen Sabotage des Friedensprozesses vorzubeu- dass Präsident Santos in der ersten Runde der gen. Ein Statut über die Rechte der Opposition ist Präsidentschaftswahlen seinem Herausforde- dafür ebenso wichtig wie die Einrichtung von Son- rer unterlag, obwohl er als Amtsinhaber ins Ren- derwahlkreisen, die eine Teilnahme der dann de- nen ging, und dass er seine Wiederwahl im Juni mobilisierten Guerillagruppen an Wahlen ermög- nur mit beträchtlichen politischen Zugeständ- lichen, sowie die Bereitstellung der dafür notwen- nissen an andere politische Kräfte erreichte. Das digen finanziellen Mittel. Daneben sollte der Kon- knappe Wahlergebnis wird teilweise als vorgezo- gress auch dazu beitragen, die physische Sicherheit genes Referendum interpretiert, das zeigt, dass der demobilisierten Gruppen zu garantieren, da- viele Kolumbianer zwar den Frieden wollen, aber mit sich die Ereignisse der 1980er Jahre nicht wie- nur in geringem Maß zu Zugeständnissen bereit derholen, als zahlreiche Mitglieder linker Parteien, sind. Aufgrund der Polarisierung wird die Regie- darunter viele demobilisierte FARC-Mitglieder, er- rung mit stärkerer und substantieller Opposition mordet wurden. Jedes dieser Themen lässt sich auf sowohl im Parlament als auch in der öffentlichen vielfältige Weise bearbeiten. Im Falle einer Agrar- politischen Debatte rechnen müssen. Dies wird reform reicht das Spektrum der Optionen von eher sich auf die Umsetzung eines Friedensabkom- kosmetischen Korrekturen bis hin zu einer grund- mens auswirken, vor allem bei sensiblen The- sätzlichen Neuausrichtung der Beziehung zwischen men wie Strafverfolgung der Täter, Agrarreform Land, Produktivität und Entwicklung. oder politische Partizipation ehemals bewaffneter Die Ergebnisse der Parlaments- und der Präsi- Gruppen. Dagegen ist für die Themen Entschädi- dentschaftswahlen in diesem Jahr sichern zwar die gung der Opfer und illegaler Drogenanbau mehr Kontinuität des Friedensprozesses, allerdings ver- Verhandlungsspielraum zu erwarten. fügt die Regierungskoalition jetzt über geringere Die Stärkung der Opposition durch die Handlungsspielräume. Eine Analyse der verän- Wahlen erfordert auch mehr Transparenz in derten Machtverhältnisse ermöglicht Rückschlüsse den Friedensverhandlungen. Das hat Vor- und auf die potenzielle Unterstützung für die Reformen Nachteile: Die Abschirmung der Verhandlungen und damit auch auf die Chancen ihrer Umsetzung. vor der Öffentlichkeit gründet auf der Furcht, Ein Vergleich der Sitzverteilung (siehe Tabelle 2) dass die Beteiligung zu vieler Akteure und die verweist auf drei zentrale Aspekte: öffentliche Diskussion ihrer jeweiligen Stand- punkte Vertrauen zerstören, politische Posi- 1. Die Regierung konnte ihre parlamentarische tionen zuspitzen und damit die Kosten eines Mehrheit verteidigen: Präsident Santos und Kompromisses erhöhen könnte. Allerdings seine Regierungskoalition (die aus vier Parteien könnte die Einbeziehung wichtiger gesellschaft- gebildete „Unidad Nacional“) verfügen über bis licher Gruppen schon frühzeitig auf mögliche zu 70 Prozent der Stimmen. In beiden Häusern Probleme bei der Implementierung hinweisen. haben die Abgeordneten und Senatoren der Uni- Nach dem klaren Signal der Präsidentschafts- dad Nacional die Regierung systematisch unter- wahl wird die gestärkte Opposition im Kongress stützt und bislang ein hohes Maß an parteipo- auf Inhalt, Rhythmus und Transparenz der Ver- litischer Disziplin bewiesen. Mit dieser Einheit handlungen Einfluss nehmen. sind die Voraussetzungen für die Umsetzung 3. Linke Parteien haben an Einfluss verloren. Das eines Friedensabkommens im neuen Kongress schlechte Abschneiden der linken Parteien lässt gegeben. sich als Warnung an demobilisierte Guerille- 2. Die rechte Opposition, das Centro Democrático, ros interpretieren, dass sie sich eine Wähler- angeführt vom ehemaligen Präsidenten Álvaro basis erarbeiten müssen. Die FARC sehen das Uribe (2002-2010), hat an Einfluss gewonnen. Im schlechte Ergebnis hauptsächlich als Zeichen Vorfeld der Wahlen war zwar erwartet worden, dafür, dass der Kongress breite Teile der Bevöl- dass das Centro Democrático aufgrund seiner kerung nicht repräsentiert; sie betrachten ihn fundamentalen Kritik am Friedensprozess noch als einen Treffpunkt der kolumbianischen Elite. größere Unterstützung finden würde. Doch auch Zudem verweisen sie auf den hohen Anteil der so verfügen die Fraktionen der Uribe-Koalition Nichtwähler. Mehr als 55 Prozent der Bevölke- GIGA Focus Lateinamerika 6/2014 -6-
rung haben sich bei den letzten Parlaments- und Literatur Präsidentschaftswahlen der Wahl enthalten, was die FARC als Folge eines geringen Interesses an Botero, Felipe, und Juan Carlos Rodríguez Raga der Politik und an den Friedensverhandlungen, (2011), Escepticismo optimista: la reforma electo- aber auch als Indiz für ein geringes Zugehörig- ral colombiana del 2003, in: Felipe Botero (Hrsg.), keitsgefühl zum politischen System interpretie- Partidos y elecciones en Colombia, Bogota: Univer- ren. Vor diesem Hintergrund fordern sie die Ein- sidad de los Andes, 521-551. berufung einer Verfassunggebenden Versamm- Cárdenas, Mauricio, Roberto Junguito und Mónica lung, die eine Verbesserung der Repräsentativi- Pachón (2006), Political Institutions and Policy Out- tät des politischen Systems und Fragen der Frie- comes in Colombia: The Effects of the 1991 Constitu- densimplementierung diskutieren soll. tion, Research Network Working Papers, R-508, Washington: Inter-American Development Bank. Nichtsdestotrotz haben die verschiedenen Minder- Kurtenbach, Sabine (2012): Kolumbien – der weite heiten im Kongress insgesamt an Vetomacht gewon- Weg zu Kriegsbeendigung und Frieden, GIGA Fo- nen, weil Präsident Santos zwischen der ersten cus Lateinamerika, 11, online: (19. Juli 2014). Bei den für die Umsetzung eines Friedensabkom- Mesa de conversaciones (2012), Acuerdo general para mens notwendigen Reformen werden diese Grup- la terminación del conflicto y la construcción de una pen entscheidende Partner der Regierungskoalition paz estable y duradera, Bogota, online: (19. Juli 2014). fluss auf substantielle politische und wirtschaftliche Nussio, Enzo (2012), La vida después de la desmoviliza- Reformen im Land ausüben. ción: Percepciones, emociones y estrategias de expara- militares en Colombia, Bogota: Ediciones Uniandes. Restrepo, Elvira María, und Bruce Bagley (Hrsg.) Das Ende von „hundert Jahren Einsamkeit“? (2011), La desmovilización de los paramilitares en Co- lombia: entre el escepticismo y la esperanza, Bogota: Die Chancen für ein baldiges Friedensabkommen Ediciones Uniandes; Miami: University of Mia- in Kolumbien stehen gut. Aufgrund der Ergebnisse mi, Department of International Studies. der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sind Rettberg, Angelika (Hrsg.) (2012), Construcción de viele der öffentlichen Debatten zum Friedenspro- paz en Colombia, Bogota: Ediciones Uniandes. zess aufgenommen und in den Kongress verlagert Rodríguez-Raga, Juan Carlos, und Mitchell A. Se- worden. Die Inhalte eines Abkommens werden ligson (2012), The Political Culture of Democracy in so zwar weniger ambitioniert ausfallen, als viele Colombia and the Americas, 2012: Towards Equality gehofft haben, dafür könnte das Abkommen sich of Opportunity, Bogota: USAID; Nashville: Van- aber als stabiler und nachhaltiger erweisen, weil es derbilt University. auf einer breiteren Koalition basiert. Der Grund- Shugart, Matthew Soberg, und John M. Carey (1992), satz, nach dem die kolumbianische Regierung und Presidents and Assemblies: Constitutional Design and die FARC die Verhandlungen aufgenommen hat- Electoral Dynamics, Cambridge: Cambridge Uni- ten – „nichts ist beschlossen, bis alles beschlossen versity Press. ist“ –, erscheint so in einem ganz neuen Licht. Er Wills, Laura (2009), El sistema político colombiano: bezieht sich nun nicht mehr allein auf die Debat- las reformas electorales de 1991 y 2003 y la cap- ten zwischen den Wortführern am Verhandlungs- acidad de adaptación de los partidos, in: Felipe tisch, sondern auch auf die Beteiligten in anderen Botero (Hrsg.), ¿Juntos pero no revueltos? Partidos, wesentlichen Institutionen und auf jene gesell- candidatos y campañas en las elecciones legislativas de schaftlichen Kräfte, die in das Abkommen und 2006 en Colombia, Bogota: Universidad de los An- seine Umsetzung einbezogen werden müssen. des, Facultad de Ciencias Sociales, 11-46. GIGA Focus Lateinamerika 6/2014 -7-
Die Autoren Dr. Angelika Rettberg ist Politikwissenschaftlerin und Professorin an der Universidad de los Andes in Bogota, Kolumbien. Dort leitet sie das Forschungsprogramm „Bewaffnete Konflikte und Friedensbildung“ (). Zurzeit ist sie mit Unterstützung eines Georg Forster-Forschungssti- pendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung Gastwissenschaftlerin am GIGA Institut für Latein amerika-Studien. E-Mail: Daniel Quiroga ist Politologe mit einem M.A.-Abschluss der Universidad de los Andes in Bogota, Kolum- bien. Derzeit forscht er an der Fundación Ideas para la Paz (FIP); zuvor war er am Programa Congreso Visible und am Programa de Investigación sobre Conflicto Armado y Construcción de Paz (ConPaz) an der Universidad de los Andes beteiligt. E-Mail: GIGA-Forschung zum Thema Bewaffnete Konflikte und deren Beendigung bearbeitet das Forschungsteam 3 „Kriegs- und Friedenspro- zesse“ im GIGA Forschungsschwerpunkt 2 „Gewalt und Sicherheit“. In diesem Kontext untersucht das Netzwerkprojekt „Institutions for Sustainable Peace“ (ISP) die Erfolgsbedingungen von Institutionen für nachhaltige Friedenskonsolidierung (). GIGA Publikationen zum Thema Destradi, Sandra, und Johannes Vüllers (2013), Speech is Silver, Silence is Golden? The Consequences of Failed Mediation in Civil Wars, in: Civil Wars, 15, 4, 486-507. Kurtenbach, Sabine, und Andreas Mehler (Hrsg.) (2013), Institutions for Sustainable Peace? Determinants and Effects of Institutional Choices in Divided Societies, Sonderheft/Special Issue: Civil Wars, 15, 1. Kurtenbach, Sabine (2012), Kolumbien – der weite Weg zu Kriegsbeendigung und Frieden, GIGA Focus Latein- amerika, 11, online: . Mehler, Andreas, Franzisca Zanker und Claudia Simons (im Erscheinen), Spatiality, Power and Peace in Africa: Revisiting Territorial Power-Sharing, in: African Affairs. Der GIGA Focus ist eine Open-Access-Publikation. Sie kann kostenfrei im Netz gelesen und heruntergeladen werden unter und darf gemäß den Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz Attribution-No Derivative Works 3.0 frei vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies umfasst insbesondere die korrekte Angabe der Erstveröffentli chung als GIGA Focus, keine Bearbeitung oder Kürzung. Das GIGA German Institute of Global and Area Studies – Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien in Hamburg gibt Focus-Reihen zu Afrika, Asien, Lateinamerika, Nahost und zu globalen Fragen heraus. Ausgewählte Texte werden in der GIGA Focus International Edition auf Englisch und Chinesisch veröffentlicht. Der GIGA Focus Lateinamerika wird vom GIGA Institut für Lateinamerika-Studien redaktionell gestaltet. Die vertretenen Auffassungen stellen die der Autoren und nicht unbedingt die des Instituts dar. Die Autoren sind für den Inhalt ihrer Beiträge ver- antwortlich. Irrtümer und Auslassungen bleiben vorbehalten. Das GIGA und die Autoren haften nicht für Richtigkeit und Vollständigkeit oder für Konsequenzen, die sich aus der Nutzung der bereitgestellten Informationen ergeben. Auf die Nennung der weiblichen Form von Personen und Funktionen wird ausschließlich aus Gründen der Lese- freundlichkeit verzichtet. Redaktion: Sabine Kurtenbach; Gesamtverantwortlicher der Reihe: Hanspeter Mattes; Lektorat: Ellen Baumann; Kontakt: ; GIGA, Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg www.giga-hamburg.de/giga-focus
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