Kontrolliertes Trinken bei Alkoholkonsumstörungen: Eine systematische Übersicht - Blaues ...
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SUCHT, 61 (3), 2015, 147 – 174 Übersichtsarbeit https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/0939-5911.a000367 - Thursday, January 23, 2020 4:57:13 AM - Bayerische Staatsbibliothek München IP Address:194.95.59.195 Kontrolliertes Trinken bei Alkoholkonsumstörungen: Eine systematische Übersicht Joachim Körkel Evangelische Hochschule Nürnberg, Institut für innovative Suchtbehandlung und Suchtforschung, Nürnberg Zusammenfassung: Hintergrund: Verhaltenstherapeutische Behandlungen zum selbstkontrollierten Trinken (KT) wurden in den letzten 50 Jahren vielfltig erforscht. Eine aktuelle bersicht ber den gegenwrtigen Status dieses Ansatzes liegt nicht vor. Fragestellung: Es wird ein systematischer berblick ber die Konzept- und Forschungsgeschichte des KT (Definition, theoretische Wurzeln, Behandlungsme- thoden), Wirksamkeit von KT-Behandlung (inkl. Prognosefaktoren) sowie Implementierung von KT in das Behandlungssystem (Ak- zeptanz und Verbreitung) vorgenommen. Methodik: Gemß den PRISMA Richtlinien wurde in den Datenbanken PsycINFO, Medline und Psyndex nach psychologischen Behandlungen zum selbstkontrollierten Alkoholkonsum bei Menschen mit klinisch relevanten Alkohol- problemen recherchiert und 676 einschlgige Beitrge identifiziert. Ergebnisse: KT wird als regelgeleitet-planvoller Alkoholkonsum definiert. Seine theoretischen Wurzeln reichen von Lerntheorien bis zur Psychologie der Selbstregulation. In der Behandlung haben Behavioral Self-Control Trainings frhere Methoden (z. B. aversive Konditionierung, Kontingenzmanagement und Reizexposition) ab- gelçst. Einzel und Gruppenbehandlungen sowie Selbsthilfemanuale zum KT erweisen sich ber das gesamte Spektrum des problemati- schen Alkoholkonsums als kurz- und langfristig wirksam zur Reduktion des Alkoholkonsums und alkoholassoziierter Probleme wie auch zur Fçrderung des bergangs zur Abstinenz. Prognostisch bedeutsam sind v. a. der Zielentscheid des Patienten pro KT und seine Zu- versicht in die Realisierbarkeit von KT. Akzeptanz und Verbreitung von KT haben in den letzten Jahrzehnten zugenommen und variieren u. a. lnderspezifisch. Schlussfolgerungen: Angesichts der Wirksamkeit von KT-Behandlungen sowie gesundheitspolitischer, ethischer, therapeutischer und çkonomischer berlegungen sollten Reduktionsbehandlungen gleichrangig neben Abstinenzbehandlungen in ein zieloffen ausgerichtetes Behandlungssystem integriert werden. Schlsselwçrter: Kontrolliertes Trinken, Reduktionsziel, Behavioral Self-Control Training, Kurzintervention, Alkoholabhngigkeit Controlled Drinking as a Treatment Goal for at-risk Drinking and Alcohol Use Disorders: A systematic Review Abstract: Background: Over the last 50 years, research on behavioural treatments aimed at controlled drinking (CD) have increased. No systematic review summarising the current empirical and theoretical status of this approach exists. Aims: The review addresses the history of CD (definition, theoretical roots, treatment methods), results of CD treatment (including predictors of success) and implementation of CD into the treatment system (acceptance and dissemination). Methods: According to the PRISMA statement a systematic search for psychological treatments of CD for people with alcohol problems (at least at-risk drinking) was carried out in the electronic databases PsycINFO, Medline, and Psyndex. 676 relevant articles were identified and analysed. Results: CD can be defined as an alcohol consumption corresponding to self-control rules set up by the user. Theoretical roots of CD are learning theory and cognitive behavior therapy, psychology of self-regulation and research concerning Jellineks disease model of alcoholism. Meanwhile Behavioral Self-Control Trainings have replaced other methods (e. g. aversive conditioning, contingency management and cue exposure) as gold standard in CD treatment. For the whole range of alcohol use disorders individual and group treatments as well as self-help manuals for CD are effective in reducing alcohol consumption and alcohol-related difficulties as well as fostering transitions to abstinence. For matching patients to moderation treatment, patient preference for a treatment goal of CD and CD self-efficacy are most relevant. Acceptance and dissemination of CD have increased in the last decades and vary between countries. Conclusions: Given the effectiveness of CD treatment and taking public health, ethical, therapeutical and economical reasons into consideration, free goal choice and availability of moderation treatment should become part of the addiction and medical treatment system. Keywords: Controlled drinking, moderation goal, behavioral self-control training, brief intervention, alcohol dependence Serie „Konsumreduktion psychoaktiver Substanzen als Therapieoption“ DOI: 10.1024/0939-5911.a000367 SUCHT 61 (3) 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
148 J. Kçrkel: Kontrolliertes Trinken: Eine bersicht Einleitung control* strateg*“, „drinking moderation“. Auf diese Weise wurden 2574 englisch-, franzçsisch- und deutsch- Das Ziel einer Alkoholkonsumreduktion hat neuerdings sprachige Beitrge identifiziert und weitere 21 Arti- vermehrt Beachtung gefunden: Es ist in die Leitlinien zur kel ber deren Literaturlisten ermittelt. Alle Dubletten https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/0939-5911.a000367 - Thursday, January 23, 2020 4:57:13 AM - Bayerische Staatsbibliothek München IP Address:194.95.59.195 Behandlung alkoholbezogener Stçrungen nahezu aller (n = 526) und Arbeiten, die sich gemß Titel und Ab- europischer (Rehm, Rehm et al., 2013) und vieler anderer stract nicht mit psychologischen Behandlungen zum Lnder (z. B. Australien: Haber, Lintzeris, Proude & Lo- Aufbau eines selbstkontrollierten Trinkverhaltens bei patko, 2009) eingegangen – auch in die deutschen S3-Leit- Menschen mit klinisch relevanten Alkoholproblemen linien „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezo- (mindestens riskanter Konsum) befassen (n = 1192), gener Stçrungen“ (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft- wurden ausgeschlossen. Weitere 201 Publikationen wur- lichen Medizinischen Fachgesellschaften [AWMF], 2015). den aus dem zuvor genannten Grund nach einer Voll- Zudem taucht es als die Abstinenz ergnzende Zieldimen- textanalyse ausgeschlossen. Bei fraglicher Relevanz ein- sion in den „Guidelines of the development of medicinal zelner Publikationen lasen zwei Personen Abstract und products for the treatment of alcohol dependence“ der Eu- ggf. Volltext der Publikation und entschieden ber deren ropean Medicines Agency (2010) auf. Verhaltensthera- Ein- oder Ausschluss. Die verbleibenden 676 Publikatio- peutische Behandlungsanstze zum selbstkontrollierten nen wurden nach ihrem Beitrag fr die einleitend ge- Trinken bilden neben Pharmakotherapien und mßi- nannten Fragestellungen analysiert. gungsorientierten Selbsthilfegruppen eine von drei – prin- – Dabei wurden zunchst die zu KT bereits vorliegenden zipiell kombinierbaren – Behandlungsvarianten zur narrativen (Ambrogne, 2002; Bhringer, 2008; Heather Trinkmengenreduktion. Der folgende Beitrag gibt einen & Robertson, 1981; Hester, 2003; Klingemann, Room, systematischen berblick ber den aktuellen theoreti- Rosenberg, Schatzmann, Sobell & Sobell, 2004; Kçrkel, schen und empirischen Status der Forschung und Behand- 2002a, 2002b; Marlatt, 1983; Miller, 1983; Roizen, 1987; lung zum selbstkontrollierten Alkoholkonsum (im Fol- Rosenberg, 1993, 2002; Saladin & Santa Ana, 2004; So- genden kurz „Kontrolliertes Trinken“ [KT] genannt). In bell & Sobell, 1993; van Amsterdam & van den Brink, drei Abschnitten werden die Konzept- und Forschungsge- 2013) und metanalytischen (Apodaca & Miller, 2003; schichte dieses Ansatzes dargestellt (d. h. die Definition Miller & Wilbourne, 2002; Miller, Wilbourne & Hettema, von KT, seine theoretischen Wurzeln und die angewandten 2003; Walters, 2000) Reviews verarbeitet und anschlie- Behandlungsmethoden), ein berblick ber die Wirk- ßend die weiteren in der Literaturrecherche identifi- samkeitsnachweise (inkl. Erfolgsprdiktoren) gegeben und zierten, v. a. neueren Quellen, eingearbeitet. die Befunde sowie berlegungen zur Implementierung von KT in das Behandlungssystem erçrtert (Akzeptanz von KT unter Behandlern und faktische Verbreitung von KT in Ergebnisse zur Konzeptentwicklung unterschiedlichen Lndern). Durch diese, ber eine Zu- sammenstellung von Effektivitts- und Effizienznachwei- und Forschungsgeschichte sen fr KT-Behandlungen hinausgehende Darstellung sol- len sowohl die theoretisch-konzeptionelle Basis von KT- Begriff und Operationalisierung von KT Behandlungen als auch die Implikationen, die die For- schung zu KT fr die Ausrichtung des Behandlungssystems Ausgehend von den „Begriffserfindern“ Reinert und Bo- haben kann, verdeutlicht werden. wen (1968) ist der Kern der verschiedenen Definitionsva- rianten von selbstkontrolliertem Alkoholkonsum, dass eine Person ihr Trinkverhalten an einem zuvor von ihr selbst Methodik festgelegten Konsumplan bzw. Konsumregeln ausrichtet (Kçrkel, 2002a; vgl. zu weiteren Definitionen z. B. Duckert, Zur Sichtung und Auswahl der publizierten Literatur zu KT 1995, S. 1168 f.; Schippers & Cramer, 2002, S. 72; Sobell & wurde gemß den PRISMA Richtlinien (Liberati et al., Sobell, 2004b; van Amsterdam & van den Brink, 2013, 2009) wie folgt vorgegangen (vgl. Abbildung 1): S. 988). Punktabstinenz, bei der regelhaft Alkoholabsti- – In den Datenbanken PsycINFO, Medline und Psyndex nenz in bestimmten Situationen (z. B. im Kontext von Au- wurde am 1. 9. 2014 (Update 1. 2. 2015) eine systemati- tofahrten) oder Lebensphasen eingeplant wird, stellt eine sche Literaturrecherche nach folgenden, im Titel oder auf ausgewhlte Zeiten/Zeitperioden limitierte Variante Abstract auftauchenden Begriffen vorgenommen: „con- von KT dar. Beim fremdkontrollierten Trinken – praktiziert trolled drinking“, „kontrolliertes Trinken“, „behavioral z. B. in manchen Alten- und Pflegeheimen sowie Wohn- self control training AND alcohol*“, „moderation orien- heimen fr chronisch Alkoholabhngige – werden die ted cue exposure AND alcohol*“, „guided self change Konsummenge und -bedingungen (z. B. Uhrzeit und Ort) AND alcohol*“, „moderation management AND alco- durch andere Personen festgelegt bzw. bençtigen deren hol*“, „behavioral self management AND alcohol*“, Zustimmung (Bçhlke & Schfer, 2002; Ihlefeld, 1999; „non abstinent AND alcohol*“, „drinking goal“, „mo- Naumann, 1999; Rast, 2015; Wolff, 2005). Von normalem deration goal AND alcohol*“, „drinking reduction trai- Trinken lsst sich in Abgrenzung zu KT sprechen, wenn ning“, „reduc* heavy drink“ AND alcohol*“, „drink* jemand ohne vorherigen Konsumplan aus der Situation SUCHT 61 (3) 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
J. Kçrkel: Kontrolliertes Trinken: Eine bersicht 149 https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/0939-5911.a000367 - Thursday, January 23, 2020 4:57:13 AM - Bayerische Staatsbibliothek München IP Address:194.95.59.195 Abbildung 1. Selektionsprozess der einbezogenen Beitrge. heraus entscheidet, ob er oder sie Alkohol (weiter) trinkt duktion der Trinkhufigkeit und -menge operationalisiert, „with the knowledge and complete confidence that well z. T. auch ber weitergehende Kriterien, wie die ber- before he gets into any trouble he will have simply lost windung von Abhngigkeitssymptomen und Beendigung his appetite for more“ (Reinert & Bowen, 1968, S. 286). Als konsumbedingter sozialer, rechtlicher oder gesundheitli- moderates Trinken wird ein Alkoholkonsum bezeichnet, cher Probleme („asymptomatic drinking“; bersicht zur der weder beim Konsumenten noch in der Gesellschaft Erfolgsbemessung: Heather & Tebbutt, 1989). Die Cut- Probleme nach sich zieht (National Institute on Alcohol Off-Werte fr KT werden meist konservativ gewhlt (vgl. Abuse and Alcoholism 2000, S. 1), also etwa nicht die z. B. Foy, Nunn & Rychtarik, 1984; Shaw, Waller, Latham, Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher Schdigungen des Dunn & Thomson, 1998; Sieber, 2000). Beispielsweise stuft Konsumenten erhçht (Seitz & Bhringer, 2007). Definito- Sieber (2000) nur diejenigen als kontrolliert trinkend ein, risch betrachtet, kann somit – muss aber nicht – selbst- die im Katamnesezeitraum (1.) tglich maximal 0,6 (Frau- kontrolliertes Trinken mit moderaten Konsummengen en) bzw. 0,9 (Mnner) Liter Bier (bzw. ein Alkoholqui- einhergehen wie auch in „normales Trinken“ bergehen. valent) konsumierten und (2.) keine wiederholten Alko- Die Operationalisierungen von KT variieren in der holrusche und (3.) keine Abhngigkeitssymptome und Forschungsliteratur. In der Regel wird die Realisierung (4.) maximal einen Rckfall von hçchstens drei Tagen eines selbstkontrollierten Alkoholkonsums ber die Re- Dauer aufweisen. SUCHT 61 (3) 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
150 J. Kçrkel: Kontrolliertes Trinken: Eine bersicht Theoretische Wurzeln derung erfolgsorientierter Attributionsmuster und positive Verstrkung von Erfolgen. In die Behandlungsanstze zum KT fließen Grundlagen aus verschiedenen Forschungs- und Theoriestrngen ein https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/0939-5911.a000367 - Thursday, January 23, 2020 4:57:13 AM - Bayerische Staatsbibliothek München IP Address:194.95.59.195 (vgl. Kçrkel, 2012b; Rosenberg, 2004b). Forschung zum klassischen Krankheitsmodell des Alkoholismus Lernpsychologie/Kognitive Verhaltenstherapie Der Ansatz des KT sttzte sich von Anfang an auf For- schungsergebnisse, die den auf die Anonymen Alkoholi- Nach lerntheoretischer Sichtweise wird der Umgang mit ker (2011, Original 1939) und Jellinek (1960) zurckge- Alkohol auf verschiedenen Funktionsebenen (Verhalten, henden axiomatischen Grundannahmen ber Alkoholis- Kognitionen, biologische Prozesse) erlernt und kann durch mus („dispositionelles Krankheitsmodell“) widersprechen geeignete kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventi- (vgl. Fingarette, 1988; Kçrkel, 2005, 2014a; Miller, 1993). So onsmaßnahmen verlernt oder neu gelernt werden werden wurden bereits in der Mitte des letzten Jahrhunderts Stu- (Krasnegor, 1979; Rosenberg, 2004b). Der lern- und ver- dienergebnisse vorgelegt, die dem Postulat, kein „Alko- haltenstheoretische Ansatz bietet nicht nur eine Erklrung holiker“ kçnne jemals zu einem symptomfreien, selbst- der Mçglichkeit von KT, sondern er dominiert auch die kontrollierten Trinkverhalten zurckfinden, entgegenste- Methodenpalette der Behandlungen zum KT (aversive hen (s. u.) – eine Mçglichkeit, die selbst Bill und Bob, die Konditionierung, Expositionsbehandlung, Selbstkontroll- Begrnder der Anonymen Alkoholiker, fr mçglich hiel- training etc.; s. u.). ten: „Wenn jemand, der frher nicht kontrolliert trinken konnte, plçtzlich eine Kehrtwendung zustandebringt und wie ein Gentleman trinken kann, dann ziehen wir unseren Lösungs- und ressourcenorientierte Therapie Hut vor ihm“ (Anonyme Alkoholiker, 2011, S. 36). Diese Einsicht ist im Rahmen der Ideologisierung ihres Ansat- Theoretische Annahmen zur Mçglichkeit von KT wur- zes (z. B. durch Milam und Ketcham, 1983) ignoriert wor- den auch in lçsungs-/resourcenorientierten Therapiever- den (vgl. Miller, 1993). Empirische Belege sprechen zudem fahren entwickelt und in Behandlungsmethoden berfhrt dafr, dass abhngiger Alkoholkonsum nicht Ausdruck (de Shazer & Isebaert, 2003; Nelle, 2005). Der lçsungs-/ eines biologisch determinierten kompletten „Kontroll- resourcenorientierte Ansatz teilt grundlegende Annahmen verlusts“ („loss of control“; Jellinek, 1960), sondern einer der Verhaltenstherapie (z. B. Umlernbarkeit von Verhal- graduell variierenden, prinzipiell vernderbaren Kon- ten), verzichtet auf die Kontrollverlustannahme (s. u.) und trolleinschrnkung („impaired control“; Heather, 1991) ist nutzt zum Aufbau von KT neue Methoden (z. B. „Wunder- (Heather & Dawe, 2005; Miller, 1993). Weiterhin gibt es frage“) und solche, die denen der Verhaltenstherapie h- keine Nachweise fr einen qualitativen Sprung von der neln (z. B. exakte Verhaltensanalyse und Fokusierung auf Nicht-Abhngigkeit in die Abhngigkeit (Miller, 1996), Nicht-Problemverhalten, Verstrkung von Erfolgen etc.). weshalb diese Unterscheidung im DSM-5 aufgegeben worden ist (American Psychiatric Association 2013). Psychologie der Selbstregulation Das Konzept des KT fgt sich in eine lange, bis heute an- Forschungsstränge und historische haltende psychologische Theorie- und Forschungstradition Meilensteine zur Selbstregulation, Selbststeuerung bzw. Selbstkontrolle ein (berblick: Hofmann, Friese, Mller & Strack, 2011). Kontrolliertes Trinken nach Abstinenzbehandlung Vor allem in der Motivationspsychologie (Heckhausen & Heckhausen, 2009) und Klinischen Psychologie (Kanfer, Zweifel am Abstinenzparadigma des dispositionellen 1996; Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2012) wurden die Krankheitsmodells nhrten seit den 1940er-Jahren Follow- selbstregulatorischen Prozesse herausgearbeitet, die bei Up-Studien, die von der Aufnahme eines unproblemati- der berwindung „festgefahrener“ Konsummuster (z. B. schen Trinkverhaltens bei einem Teil der behandelten Al- Essstçrungen; Sommer 1977) von Bedeutung sind. Diese koholabhngigen berichteten (vgl. Heather & Robertson, Prozesse stehen auch beim gezielten, therapeutisch unter- 1981, S. 28 ff; Sobell & Sobell, 1973b, S. 52). Aufsehen er- sttzten (Wieder-) Aufbau eines selbstkontrollierten Al- regte aber erst Davies (1962) Beobachtung, dass 7 – koholkonsums im Mittelpunkt: systematische Selbstbeob- 11 Jahre nach einer Abstinenztherapie 7 von 93 Alkohol- achtung und Registrierung des Verhaltens (mittels Trink- abhngigen einen Alkoholkonsum innerhalb der kulturell tagebuch), realistische Anspruchsniveausetzung bei der vorgegebenen Normen praktizierten (was sich als Irrtum Festlegung von Konsumzielen, Bewertung von Vernde- herausstellte: Edwards, 1985, 1994). Sptere Studien mit rungen in Relation zum eigenen Ausgangsniveau („indivi- grçßeren Patientenstichproben replizierten und erweiter- duelle Bezugsnormorientierung“), Strkung von Selbst- ten die lteren Befunde. So ermittelten Polich und Kol- wirksamkeitsberzeugungen durch nderungserfolg, Fçr- legen (Polich, Armor & Braiker, 1981: „Rand-Report“) an SUCHT 61 (3) 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
J. Kçrkel: Kontrolliertes Trinken: Eine bersicht 151 einer großen US-amerikanischen Patientenstichprobe, dass 1970) und den USA (Sobell & Sobell, 1973a, 1973b) zum nach stationrer Abstinenztherapie 12 % der Patienten ber Einsatz. Die Debatte um das KT entflammte v. a. um die die gesamten vier Nachbefragungjahre hinweg kontrolliert „IBTA-Studie“ der Sobells, die zeigen konnten, dass bei Alkohol tranken. Mittlerweile liegt eine Flle an Alkoho- kçrperlich Alkoholabhngigen („Gamma-Alkoholiker“) https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/0939-5911.a000367 - Thursday, January 23, 2020 4:57:13 AM - Bayerische Staatsbibliothek München IP Address:194.95.59.195 lismusstudien vor, zu denen die weltweit grçßten (MATCH eine KT-Behandlung kurz-, mittel- und langfristig (nach [Project MATCH Research Group, 1998a], COMBINE ein, zwei, drei und zehn Jahren) bessere Effekte als eine [Anton et al., 2006], UKATT [Adamson, Heather, Morton Abstinenzbehandlung erzielte (Caddy, Addington & Per- & Raistrick, 2010]) und auch deutschsprachige (z. B. Sieber, kins, 1978; Sobell & Sobell, 1973a, 1973b, 1976, 1978, 1984), 2000; Meyer, Wapp, Strik & Moggi, 2014) gehçren, die fast woraus Marlatt (1983) folgerte, dass Abstinenz keines- ausnahmslos das Gleiche berichten: Ein von Studie zu Stu- wegs das realistischere oder humanere Behandlungsziel die variierender Anteil der auf Abstinenz Behandelten geht sei. Auch in Deutschland (Heil & Jaensch, 1978; Vollmer, zu einem reduzierten Alkoholkonsum ber (Gastfriend, Kraemer, Schneider, Feldhege, Schulze & Krauthahn, Garbutt, Pettinati & Forman, 2007; Miller, Walters & Ben- 1982a, 1982b), sterreich (Czypionka & Demel, 1976) und nett, 2001), obwohl in Abstinenztherapien keine Kompe- der Schweiz (Noschis, Mller & Weiss, 1989; Polli, Ketterer tenzvermittlung zu KT erfolgt, sondern meist strikt davon & Weber, 1989; Polli, 1997; Sondheimer, 2000) wurde schon abgeraten und mit der Vorhersage versehen wird, dass der vor Jahrzehnten von positiven Erfahrungen mit dem Ein- Versuch des KT unweigerlich im „Absturz“ ende. Interes- satz und der Wirksamkeit von Behandlungsprogrammen santerweise wird in der internationalen Katamnesefor- zum KT berichtet (vgl. Kçrkel, 2002b). schung – auch der dem klassischen Krankheitsmodell na- Im Laufe der inzwischen fast 50-jhrigen Geschichte hestehenden pharmakologischen (vgl. z. B. Mason & Lehert, des KT haben sich die Behandlungsformen zum Aufbau 2012; Rçsner, Hackl-Herrwerth, Leucht, Vecchi, Srisura- eines selbstkontrollierten Trinkverhaltens gewandelt. Wa- panont & Soyka, 2010) – der Erfolg von Abstinenzbehand- ren frher – der damaligen Methodenentwicklung und lungen nicht bzw. nicht hauptschlich am Prozentsatz der -prferenz der Verhaltenstherapie entsprechend – v. a. dauerhaft Abstinenten bemessen, sondern am Prozentsatz aversives Konditionieren (Verabreichen leichter Strom- abstinenter Tage, dem Prozentsatz schwerer Trinktage, der stçße bei bermßigem Alkoholkonsum [Caddy & Lovi- durchschnittlichen Konsummenge an Trinktagen sowie der bond, 1976; Lovibond & Caddy, 1970; Sobell & Sobell, Gesamtkonsummenge pro Woche oder Monat (siehe z. B. 1973b]), Kontingenzmanagement (z. B. Erhalt von Ver- Sobell & Sobell 2006) – also an Indikatoren eines redu- gnstigungen [Wohnung, Geld etc.] bei Einhalten von zierten Alkoholkonsums, den es nach dem Kontrollver- Trinkobergrenzen [Cohen, Liebson & Faillace, 1973]), lustparadigma bei Alkoholabhngigen gar nicht geben Blutalkoholdiskriminationstraining (Foy et al., 1984) und drfte (Gastfriend et al., 2007). Reizexposition (dem weiteren Alkoholkonsum nach einer ersten Alkoholdosis widerstehen lernen: „Moderation- Oriented Cue Exposure“ [MOCE; Heather et al., 2000]) Kontrolliertes Trinken ohne Suchtbehandlung blich, sind heutzutage Selbstkontrolltrainings Standard. („untreated remission“) Unter den Selbstkontrolltrainings sind im englisch- sprachigen und deutschen Sprachraum „Behavioral Self- Zweifel am Kontrollverlustparadigma nhren auch Stu- Control-Trainings“ (Hester, 2003; Miller, 1977) fhrend dien, die unbehandelte Alkoholabhngige im Zeitverlauf (Heather et al., 2000: „Goldstandard“). Sie kommen ber untersucht und gezeigt haben, dass die berwindung einer das gesamte Spektrum an Alkoholkonsumstçrungen zum Alkoholabhngigkeit in Form eines unproblematischen Einsatz und wurden hufig auf ihre Wirksamkeit unter- Konsums nicht nur mçglich, sondern wahrscheinlich ist sucht (s. u.). Daneben wurde im franzçsischsprachigen Teil (bersicht: Klingemann & Sobell, 2007; Rumpf, 2014). Kanadas und der Schweiz das ebenfalls behavioral aus- So zeigt etwa die epidemiologische Querschnittstudie gerichtete Selbstkontrollprogramm „Alcochoix+“ entwi- („NESARC“) von Dawson, Grant, Stinson, Chou, Huang ckelt (Simoneau, Landry & Tremblay, 2004, 2005) und und Ruan (2005) bei N = 4422 (Ex-) Alkoholabhngigen, verbreitet (Cournoyer, Simoneau, Landry, Tremblay & dass in den USA mehr Personen ihre Alkoholabhngigkeit Patenaude, 2009). Es richtet sich an Personen mit riskant durch den bergang zu einem unproblematischen Trink- hohem Alkoholkonsum und kann eigenstndig (in Form verhalten als durch Abstinenz berwinden. eines Selbsthilfemanuals) oder therapeutengesttzt umge- setzt werden. In der Schweiz kommt es auch bei Alkohol- abhngigen zum Einsatz (Klingemann, Dampz & Perret, Kontrolliertes Trinken nach Reduktionsbehandlung 2010). Sobell und Sobell (1993; 2005a) haben unter dem Na- Den „Frontalangriff“ auf das Abstinenzparadigma stellte men „Guided Self-Change Treatment“ (GSC) eine zielof- die Entwicklung verhaltenstherapeutischer Behandlungen fene Kurzintervention mit variabler Sitzungsanzahl fr mit dem expliziten Ziel des KT dar. Diese von Anfang an nicht-abhngige Problemtrinker entwickelt, bei der die auf ihre Wirksamkeit untersuchten Behandlungen kamen Patienten entscheiden, ob sie Konsumreduktion oder Ab- erstmals in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts in stinenz anstreben. GSC ist durch einen „geschmeidigen Australien (Caddy & Lovibond, 1976; Lovibond & Caddy, Gesprchsstil“ i.S.d. Motivational Interviewing (Miller & SUCHT 61 (3) 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
152 J. Kçrkel: Kontrolliertes Trinken: Eine bersicht Rollnick, 2013) charakterisiert und kombiniert Elemente zwischen aus vielen anderen Lndern vor (bersicht: von BSCTs (z. B. systematische Selbstbeobachtung des Kçrkel, 2002a; 2013). Auch im Internet sind strukturierte Konsums, Nutzung von Selbsthilfematerialien), kognitiver Selbsthilfeprogramme zum KT vielfltig verfgbar (z. B. Verhaltenstherapie und Rckfallprvention. www.downyourdrink.org.uk; www.minderdrinken.nl; https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/0939-5911.a000367 - Thursday, January 23, 2020 4:57:13 AM - Bayerische Staatsbibliothek München IP Address:194.95.59.195 www.moderatedrinking.com; www.selbsthilfealkohol.de), oftmals mit interaktiven Komponenten und Online-Fo- Behavioral Self-Control Training (BSCT) ren. Andere Internetseiten enhalten Elemente von BSCTs (z. B. Trinktagebuch mit Wochenzielfestlegung: www.my- „Behavioral Self-Control Training“ ist der auf Miller (1977) drinkcontrol.ch). zurckgehende Sammelbegriff fr eine Klasse lerntheo- retisch und motivationspsychologisch begrndeter Trink- mengenreduktionsprogramme, bei denen dem Konsu- Einzel- und Gruppenbehandlungen menten Kompetenzen zur Selbstkontrolle des Konsums vermittelt werden. Zu diesen Kompetenzen gehçrt, vom Seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts kommen aktuellen Konsumniveau ausgehend wçchentlich drei Ziele Einzel- und Gruppenbehandlungen zum KT zum Einsatz, festzulegen (Anzahl alkoholfreier Tage, Maximalkonsum die eine intensivere Untersttzung als Selbsthilfemanuale pro Tag und pro Woche) und diese Ziele durch Beobachten, ermçglichen (bersicht: Kçrkel, 2002a, 2002b). Sie um- Zhlen und Registrieren des Konsums (Trinktagebuch), fassen in der Regel 6 – 12 manualisierte, strukturierte Sit- Einsatz individualisierter Kontrollstrategien (z. B. „vor und zungen von 1 – 2 Stunden Dauer mit den fr BSCTs typi- nach jedem alkoholischen Getrnk ein großes nichtalkoho- schen Inhalten (Fhren und Auswerten eines Trinktage- lisches Getrnk trinken“), Vorbereitung auf und Umgang buchs, wçchentliche Zielfestlegungen etc.) und werden mit Risikosituationen und „Ausrutschern“, Aktivierung al- zum Teil durch Auffrischungssitzungen, Selbsthilfemanuale koholfreier Formen der Problembewltigung/Freizeitge- (z. B. zur eigenstndigen „Nachsorge“ nach Behandlungs- staltung u. a.m. zu erreichen (vgl. detaillierte Inhaltsauflis- ende; Kçrkel, 2013) oder reduktionsorientierte Selbsthilfe- tung der BSCTs bei Hester, 2003; Kçrkel, 2012b). Fr For- gruppen ergnzt. schung und klinische Anwendung haben Bonar et al. (2011; Kraus et al., 2012; Hoffmann et al., 2013) einen Fragebogen zur Erfassung der Zuversicht, jede von 31 vorgegebenen Konsumreduktionsstrategien in Risikosituationen einsetzen Selbsthilfegruppen zu kçnnen, entwickelt und psychometrisch geprft („Alco- hol Reduction Strategies—Current Confidence [ARS-CC] Die bekannteste Selbsthilfevereinigung mit dem Ziel des questionnaire“). moderaten/kontrolliertenTrinkens ist „Moderation Mana- Viele der in BSCTs vermittelten Selbstkontrollstrate- gement“ (MM) (Lembke & Humphreys, 2012; Rotgers, gien sind identisch mit denen, die Menschen intuitiv zur Kern & Hoeltzel, 2002; www.moderation.org). MM wurde Konsumlimitierung einsetzen (vgl. Schippers & Cramer, 1994 in den USA als Alternative zu den Anonymen Al- 2002) und zwischen den in Abstinenz- und KT-Behand- koholikern v. a. fr die Zielgruppe der nicht-abhngigen lungen vermittelten Kompetenzen gibt es viele Parallelen „Problemtrinker“ gegrndet. MM liegt ein nicht-sprituell (z. B. Befhigung zum Umgang mit Verlangen, sozialem ausgerichtetes „9-Schritte-Programm“ mit Inhalten wie in Druck zum Mittrinken und „Ausrutschern“; Duckert, 1995, BSCTs und fester Ablaufstruktur zugrunde. Neben der S. 1168). Zudem nimmt Abstinenz auch in BSCTs eine Vor-Ort-Teilnahme an MM-Gruppen gibt es die Mçglich- gewichtige Bedeutung ein, indem bei den wçchentlichen keit der Teilnahme an Online-Meetings und Online-Foren, Zielfestlegungen angeregt wird, abstinente Zeiten (Tage) der Nutzung eines Online-Trinktagebuchs u. a.m. Die vor- in Erwgung zu ziehen/einzuplanen und ggf. zu einer ab- liegenden, nicht-repsentativen Studien zum Mitglieder- stinenten Lebensweise berzuwechseln, falls sich das ge- profil von MM zeigen, dass auch Alkoholabhngige MM- wnschte Ausmaß an Reduktion als nicht erreichbar bzw. Angebote wahrnehmen und im Vergleich zu Gruppen zu „kontrollaufwndig“ erweist und erste Reduktions- der Anonymen Alkoholiker die Abhngigkeitsschwere erfolge die Abstinenzbereitschaft und -zuversicht genhrt und Abbruchquoten geringer ausfallen und der Frauen- haben sollten. anteil hçher liegt (Humphreys, 2003; Humphreys & Klaw, BSCTs bzw. Elemente aus diesen kommen in den fol- 2001; Klaw, Luft & Humphreys, 2003; Kosok, 2006). 19 % genden, miteinander kombinierbaren Anwendungsvarian- der Nutzer von MM geben an, bei MM Untersttzung bei ten zum Einsatz. der Zielentscheidung (Abstinenz oder KT) zu suchen (Kosok, 2006), was die Annahme strkt, dass Reduktions- angebote die Aufnahme einer Abstinenzbehandlung fçr- Selbsthilfemanuale („Bibliotherapie“) dern kçnnen. Im deutschsprachigen Raum haben sich Selbsthilfe- Anleitungen zum selbststndigen Erlernen eines kontrol- gruppen zum KT aus Teilnehmern des „Ambulanten lierten Alkoholkonsums liegen seit 1976 aus den USA Gruppenprogramms zum Kontrollierten Trinken“ (Kçrkel, (Miller & MuÇoz, 1976; neueste Auflage 2013) und in- Schellberg, Haberacker, Langguth & Neu, 2002) gebildet. SUCHT 61 (3) 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
J. Kçrkel: Kontrolliertes Trinken: Eine bersicht 153 Ärztliche Kurzinterventionen die fast ausschließlich Einzel- und Gruppenbehandlungen zum KT umfassen, sind BSCTs insgesamt wirksam (n = 17 Schon vor Jahrzehnten waren Elemente von BSCTs (z. B. Studien, d = .33, SE = .08, 95 % CI .17 – .49), wirksamer als Trinktagebuch, Anregungen zum Festlegen von Reduk- keine Intervention (no treatment control, n = 4 Studien, https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/0939-5911.a000367 - Thursday, January 23, 2020 4:57:13 AM - Bayerische Staatsbibliothek München IP Address:194.95.59.195 tionszielen, Tipps zum Umgang mit Risikosituationen d = .94, SE = .16, 95 % CI .63 – 1.25) und wirksamer als etc.) Bestandteil vieler rztlicher Kurzinterventionen bei andere, nicht auf Abstinenz ausgerichtete Interventionen Alkoholproblemen (z. B. TrEAT [Fleming, Barry, Man- (z. B. eine Alkohol-Informationsgruppe, n = 11, d = .20, well, Johnso & London, 1997], Health [Ockene, Wheeler, SE = .10, 95 % CI .01 – .39). BSCTs sind abstinenzbezoge- Adams, Hurley & Hebert, 1997], DRAMS [Heather, nen Programmen mindestens ebenbrtig (n = 6, d = .28, Campion, Neville & MacCabe, 1987]; Noschis et al., 1989; SE = .16, 95 % CI -.03 – .59), lngerfristig (Katamnese- Sondheimer, 2000) und sind dies bis heute (vgl. AWMF, zeitraum 1 Jahr) tendenziell berlegen (n = 5, d = .35, 2015; Kaner et al., 2013). SE = .18, 95 % CI .00 – .70). Auch die grçßte Alkoholis- musstudie Großbritanniens („United Kingdom Alcohol Treatment Trial“; UKATT Research Team, 2001) illustriert Stepped Care dies: Unabhngig davon, ob man die Reduktion der Trink- menge, den Zuwachs an alkoholfreien Tagen oder den Bei der Umsetzung von KT-Interventionen wird die An- Rckgang der Abhngigkeitssymptomatik als Erfolgskrite- wendung des Prinzips „stepped care“ (Sobell & Sobell, rium zugrundelegt, schneiden Patienten ohne Abstinenzziel 2000) empfohlen. Das bedeutet, mit der Reduktionsmaß- im einjhrigen Nacherhebungszeitraum genauso gut ab wie nahme zu beginnen, die am einfachsten umzusetzbar ist, am diejenigen mit Abstinenzziel (Adamson et al. 2010). wenigsten in Alltgsablufe eingreift, kostengnstig ist, Die Erfolgsquote von KT-Behandlungen liegt nach gute Ergebnisse verspricht und mit Nutzerzufriedenheit verschiedenen Ergebnisbersichten (Kçrkel, 2002a; Miller, einhergeht. Fhrt eine entsprechende Maßnahme – z. B. 1983) bei einer Katamnesedauer von mindestens einem die Bearbeitung eines Selbsthilfemanuals oder eine rztli- Jahr bei durchschnittlich 65 %. Bezogen auf den Alko- che Kurzintervention – nicht zum gewnschten Erfolg, ist holkonsum werden als Erfolg eine Trinkmengenreduktion schrittweise eine intensivere Maßnahme (z. B. eine Einzel- und der bergang zur Abstinenz, zu dem es bei 10 – 30 % oder Gruppenbehandlung) zu empfehlen. der Patienten whrend oder nach einer KT-Behandlung kommt, gewertet. In die summarischen Erfolgsquoten ge- hen Studien mit unterschiedlichen Operationalisierungen Wirksamkeit von Behandlungen von KT, Nacherhebungszeitrumen und Stichproben ein, weshalb nicht verwundert, dass das Erfolgsspektrum zwi- zum KT schen den Studien von 25 % bis 90 % reicht. Die in manchen KT-Programmen geforderte Eingangs- Gemß einer Sichtung aller zur Wirksamkeit von Alkoho- abstinenz (z. B. von 3 Wochen: Sanchez-Craig, 1980) fçrdert lismusbehandlung verçffentlichten RCTs (Projekt „MESA nach manchen Studien den Behandlungserfolg (z. B. Elal- Grande“: Miller & Wilbourne, 2002; Miller, Wilbourne & Lawrence, Slade & Dewey, 1986), nach anderen nicht (z. B. Hettema, 2003) liegen die meisten RCTs zu BSCTs vor (bei Sanchez-Craig & Lei, 1986). Auffrischsitzungen (booster der letzten MESA Grande Aktualisierung 46 Studien), die sessions) nach einer KT-Behandlung verbesserten bei Booth, zudem eine berdurchschnittlich hohe methodologische Dale, Slade und Dewey (1992) den Behandlungserfolg, bei Qualitt aufweisen (a.a.O.). Die Wirksamkeitsnachweise Connors und Walitzer (2001; Walitzer & Connors, 2007) von KT-Behandlungen sind inzwischen in verschiedenen nur bei den schweren Alkoholkonsumentinnen. Booster- narrativen Reviews (Heather & Robertson, 1981; Klinge- Sitzungen fçrderten bei diesen schwer alkoholabhngigen mann et al., 2004; Kçrkel, 2002a; Miller, 1983; Rosenberg, Frauen zudem die Nutzung der whrend der KT-Behand- 1993; Saladin & Santa Ana, 2004) und statistischen Meta- lung vermittelten Selbstkontrollstrategien und der Strate- analysen (Apodaca & Miller, 2003; Miller & Wilbourne, gieeinsatz begnstigte den weiteren Reduktionserfolg in den 2002; Miller et al., 2003; Walters, 2000) zusammengefasst ersten sechs Katamnesemonaten nach Behandlungsende worden. Deren Ergebnisse, ergnzt durch neuere Studien, (Mendoza, Walitzer & Connors, 2012). Reizexpositionsbe- werden im Folgenden dargestellt. handlung ist vergleichbar effektiv wie BSCT, aber wesent- lich aufwndiger (Heather et al., 2000; Dawe et al., 2002). Gesamtergebnisse Weitere Veränderungen Trinkmengenreduktion Nach Walters (2000) Metaanalyse fhren BSCTs nicht nur Nach den vorliegenden narrativen Reviews wird durch zu einer Reduktion des Alkoholkonsums (n = 11 Studien, eine KT-Behandlung der Alkoholkonsum signifikant und d = .22, SE = .09, 95 % CI .04 – .40), sondern auch alko- klinisch bedeutsam reduziert. Auch nach Walters (2000) holassoziierter Probleme (n = 7, d = .29, SE = .14, 95 % CI statistischer Metaanalyse der 17 bis 1997 publizierten RCTs, .02 – .56). Ergnzend dazu berichtet eine neuere Studie als SUCHT 61 (3) 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
154 J. Kçrkel: Kontrolliertes Trinken: Eine bersicht Ergebnis von Reduktionsbehandlung den Rckgang di- und nicht vorwiegend von der Therapierichtung abhngt verser psychiatrischer Symptome (Walitzer & Connors, (Miller & Moyers, 2014; Project MATCH Research Group, 2007), eine andere den Anstieg an Lebensqualitt (Blan- 1998b), gibt es erste Studien, die dies auch fr Interven- kers, Koeter & Schippers, 2011). Diese Befunde liegen in tionen mit Moderationsziel besttigen (Wiprovnick, https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/0939-5911.a000367 - Thursday, January 23, 2020 4:57:13 AM - Bayerische Staatsbibliothek München IP Address:194.95.59.195 einer Linie mit denen aus abstinenzbezogener Alkoholis- Kuerbis & Morgenstern, 2015). musbehandlung: Nach Ende einer Abstinenzbehandlung stehen diejenigen, die zu KT bergegangen sind, den ab- stinent Lebenden in nichts nach, was den Rckgang der Angst- und Depressionssymptomatik, den Anstieg des Befunde zu unterschiedlichen Selbstwertgefhls, die Zufriedenheit mit der eigenen Le- Behandlungsformen benssituation/-qualitt (Maffli, Wacker & Mathey, 1995; Shaw et al., 1998) und den Rckgang alkoholbezogener Selbsthilfemanuale Probleme (Dunn & Strain, 2013; Maisto, Clifford, Stout & Davis, 2007) anbelangt. Apodaca und Miller (2003) kommen bei metaanalytischer Auswertung von 22 RCTs zum Ergebnis, dass ber das gesamte Spektrum des problematischen Alkoholkonsums Nachhaltigkeit der Veränderungen die autodidaktische Bearbeitung eines KT-Selbsthilfema- nuals („Bibliotherapie“), kombiniert mit maximal einem Der hufig geußerte Vorbehalt, KT gelinge – falls ber- persçnlichen Kontakt, zu einem markanten Rckgang haupt – nur kurzfristig und werde von Rckfllen in das des Alkoholkonsums fhrt und die alleinige Manualbear- alte Konsumverhalten abgelçst, ist nach den vorliegenden beitung einer Einzel- oder Gruppenbehandlung nicht ge- narrativen Reviews, Walters (2000) Metaanalyse sowie nerell unterlegen ist (vgl. auch Miller & Wilbourne, 2002). neueren Katamnesestudien (z. B. Kçrkel, 2006; Walitzer & Dieser Effekt zeigt sich einheitlicher bei Patienten, die Connors, 2007) nicht haltbar. Es zeigt sich vielmehr in US- wegen eines Alkoholproblems ambulante Hilfe suchen amerikanischen, schwedischen und anderen Langzeitstu- („treatment seekers“), als bei Personen, die eine Reduk- dien, dass systematisch erlerntes KT ber viele Jahre hin- tionsanleitung aufgrund eines positiven Alkoholscreenings weg erfolgreich aufrecht erhalten werden kann – bei erhalten („opportunistic interventions“). In einer neue- Nordstrçm, Berglund und Frank (2004) ber einen mehr ren Pilotstudie bei stationr notfallbehandelten Patienten als 15jhrigen Nacherhebungszeitraum. Das erste Jahr er- mit problematischem Alkoholkonsum fçrderte die Mitga- folgreichen kontrollierten Trinkens lsst eine gute Pro- be eines Selbsthilfemanuals den Beginn einer Alkoholis- gnose fr die Beibehaltung dieses Verhaltens ber die fol- musbehandlung nach Entlassung aus der Klinik (Apodaca, genden sieben Jahre zu (Miller, Leckman, Delaney & Miller, Schermer & Amrhein, 2007). Tinkcom, 1992). Mit zunehmendem Abstand vom Be- Zur Reduktion des Alkoholkonsums haben sich v. a. handlungsende gehen die durch eine KT-Behandlung er- bei Risikokonsumenten auch Online-Selbstkontrollinter- zielten Effekte zurck (Walters, 2000). Dies gilt jedoch in ventionen ohne Therapeutenkontakt als wirksam erwiesen, gleicher Weise fr Abstinenzbehandlungen (Rosenberg, wie die Metaanlyse von Riper et al. (2011) und Folge-RCTs 1993, S. 130), bei denen zudem eine Effektstabilisierung (Blankers et al., 2011; Hester, Delaney & Campbell, 2011) durch den Besuch von Abstinenzselbsthilfegruppen statt- zeigen. Dabei ist ein einzelner Kontakt mit normativem findet (vgl. z. B. Kfner, Feuerlein & Huber, 1988). Konsumfeedback weniger wirksam als umfangreichere Programme (Riper et al., 2011). Nach den Ergebnissen von Wallace et al. (2011) fhrt das Internet-Programm „Down Reguläre Behandlungsbeendigung Your Drink“ zu keiner grçßeren Alkoholkonsumreduk- tion als eine Internet-Alkoholinformationsplattform. Bei Pomerleau, Pertschuk, Adkins und Brady (1978) stellten Blankers et al. (2011) zieht die Bearbeitung eines Internet- bei randomisierter Zuweisung zu einer Abstinenz- oder Selbsthilfeprogramms zur Alkoholreduktion sechs Monate KT-Behandlung hufigere Behandlungsabbrche bei den nach Studienbeginn etwas geringere Konsumrckgnge auf Abstinenz hin behandelten Patienten fest. Zum glei- und Lebensqualittssteigerungen nach sich als sieben re- chen Ergebnis gelangen Schippers und Nelissen (2006) in duktionsorientierte Internet-Chats mit einem Therapeu- einer nicht-randomisierten Studie. Innerhalb einer KT- ten. Behandlung kam es in der Studie von Sanchez-Craig, Spi- vak und Davila (1991) bei erfahrenen Therapeuten zu einer geringeren Drop-out-Quote als bei unerfahreren. Einzel- und Gruppenbehandlungen Gemß Walters (2000) Metaanalyse sind Einzel- und Qualität der therapeutischen Beziehung Gruppenbehandlungen (BSCTs) zur Reduktion des Al- koholkonsums und alkoholassoziierter Probleme geeignet. So wie ganz generell der Erfolg von Suchtbehandlung we- Die Effekte zeigen sich auch bei Follow-Up-Zeitrumen sentlich von der Qualitt der therapeutischen Beziehung von mehr als einem Jahr. Einzel- und Gruppenbehand- SUCHT 61 (3) 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
J. Kçrkel: Kontrolliertes Trinken: Eine bersicht 155 lungen unterscheiden sich in ihrer Wirksamkeit nicht. Ein turierten KT-Behandlung (in Form eines BSCTs) optimie- RCT von Miller (1978) kommt zum Ergebnis, dass die ren ließe. Aushndigung eines KT-Selbsthilfemanuals am Ende einer KT-Einzelbehandlung die erreichten Vernderungen sta- https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/0939-5911.a000367 - Thursday, January 23, 2020 4:57:13 AM - Bayerische Staatsbibliothek München IP Address:194.95.59.195 bilisiert. Die Umsetzung des Konsumreduktionsansatzes im Differentielle Effekte/Prädiktoren Rahmen des Behandlungspakets von Guided Self-Change ist nach verschiedenen Studien ebenfalls wirksam (Sobell Soziodemografische und suchtbiografische Merkmale & Sobell, 2005a). Bei Rubio et al. (2002) erbringt die Vergabe von Nal- In einer Vielzahl Studien wurde post-hoc geprft, welche trexon im 3-monatigen Behandlungszeitraum keinen Zu- soziodemografischen und suchtbiografischen Merkmale satznutzen zu einer KT-Einzelbehandlung, wohl aber im den Erfolg einer KT-Behandlung vorherzusagen vermçgen 12-Monats-Follow-Up. und sich somit fr eine Indikations-/Allokationsempfeh- lung eignen (bersicht: Heather & Robertson, 1981; Ro- senberg, 1993, 2004a; Saladin & Santa Ana, 2004). Zu die- Selbsthilfegruppen sen Merkmalen gehçren „severity of dependence, client attitudes and beliefs about controlled drinking and abstin- Die Nutzung der Online-Ressourcen der Selbsthilfean- ence, previous treatment, pretreatment drinking style, satzes „Moderation Management“ (MM; moderatedrin- psychological and social stability, demographic characte- king.com) wie auch seine Kombination mit dem Online- ristics, family history of drinking, referral source, and BSCT „ModerateDrinking.com“ fhren in einem 3- und posttreatment adjustment and drinking” (Rosenberg, 1993, 12-Monats-Follow-Up bei nicht-abhngigen „Problem- S. 129). Die Mehrzahl dieser Variablen eignet sich nicht trinkern“ zu einer Reduktion des Alkoholkonsums wie zur Ergebnisprdiktion (Bhringer, 2008): Einige Studien auch alkoholassoziierter Probleme; die Anzahl alkohol- berichten von einem positiven, andere von keinem und freier Tage erhçht sich strker bei Kombination beider wiederum andere von einem negativen Einfluss des je- Online-Hilfen (Hester, Delaney & Campbell, 2011; Hester, weiligen Merkmals auf das Erreichen eines selbstkontrol- Delaney, Campbell & Handmaker, 2009). Zur Wirksam- lierten Trinkverhaltens. Die Studienlage zu ausgewhlten keit der Face-to-face-Teilnahme an MM-Treffen oder an- Prognosevariablen wird im Folgenden eingehender darge- deren auf Reduktion ausgerichteten Selbsthilfegruppen stellt. liegen bislang keine Studien vor (Lembke & Humphreys, 2012). Alkoholmissbrauch – Alkoholabhängigkeit Ärztliche Kurzinterventionen Nach Walters (2000) Metaanalyse profitieren nicht-ab- hngige Problemtrinker (n = 10 Studien, d = .34, SE = .11, Bei Patienten mit einem nicht-abhngigen, aber riskant ho- 95 % CI .12 – .56) und Alkoholabhngige (n = 7; d = .32, hen Alkoholkonsum sind die Rckmeldung des berhçhten SE = .14, 95 % CI .05 – .59) gleichermaßen von einer KT- Alkoholkonsums (z. B. eines Screeningtest- oder Laborer- Behandlung. Walters resmiert: „The results of the current gebnisses) und Aushndigung einer Selbsthilfebroschre meta-analysis suggest that alcohol-dependent subjects are fr eine dauerhafte Trinkmengenabsenkung ausreichend; just as likely to benefit from behavioral self-control training lngere Gesprche erbringen keinen Zusatznutzen (Kaner as persons classified as problem drinkers … The extent, et al., 2009; Kaner et al., 2013). Zur Wirksamkeit oppor- severity, and chronicity of problem drinking appears to tunistischer Kurzinterventionen bei alkoholabhngigen have little bearing on who will and will not profit from Patienten ist die Studienlage uneinheitlich (vgl. AWMF, enrollment in a program of behavioral self-control trai- 2015). Bei Patienten mit Alkoholabhngigkeit, die Hilfe ning” (S. 145). Zum gleichen Ergebnis kommen Saladin wegen ihres Alkoholproblems suchen und keine Absti- und Santa Ana (2004) in ihrem Review und auch neuere nenz, sondern Konsumreduktion anstreben, hat sich die Studien (z. B. Enggasser et al., 2015; Kçrkel, 2006). Fr die Abfolge mehrerer alkoholbezogener Gesprche als wirk- aus dem Krankheitsmodell des Alkoholismus ableitbare sam erwiesen, wobei bei einem Teil der Patienten eine Annahme, es fnde sich eine biologisch vorgegebene medikamentçse Untersttzung mit Naltrexon (Maisel, Grenze, ab der kontrollierter Konsum unmçglich wre, gibt Blodgett, Wilbourne, Humphreys & Finney, 2012; Rubio es somit keine Nachweise (Bhringer, 2008). In Einklang et al., 2002) oder Nalmefen (Mann, 2014, 2015; Mann, mit dieser Befundlage sehen Schweizer KT-Behandler eine Bladstrom, Torup, Gual & van den Brink, 2013) den Re- KT-Behandlung auch bei Alkoholabhngigen als sinnvoll duktionserfolg erhçhen kann. Bei Nalmefen ist das expli- an (Klingemann, Dampz & Perret, 2010). Diese Ergebnisse zite Anwendungsziel die Trinkmengenreduktion (Mann, schließen, wie Miller (1983) anmerkt, nicht aus, dass „it is 2015). Ungeprft ist dabei – wie bei nahezu allen pharma- altogether possible (if not likely) that for some problem kologischen Studien – ob sich die Konsumreduktion durch drinkers moderation is a permanent impossibility, whereas die Kombination von Pharmakotherapie mit einer struk- for others it is attainable“ (S. 71). SUCHT 61 (3) 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
156 J. Kçrkel: Kontrolliertes Trinken: Eine bersicht Schwere der Alkoholabhängigkeit bertson, MacPherson, Allsop & Fulton, 1987; Heather et al. 2000; Kçnig, Gehring, Kçrkel & Drinkmann, 2007; Stockwell (1986, 1988) entfachte im British Journal of Orford & Keddie, 1986a, 1986b; Shaw et al., 1998; Sithar- Addiction in den Jahren 1986 – 1988 eine Debatte, in der er than, Kavanagh & Sayer, 1996; Vogler, Compton & Weiss- https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/0939-5911.a000367 - Thursday, January 23, 2020 4:57:13 AM - Bayerische Staatsbibliothek München IP Address:194.95.59.195 die Mçglichkeit von KT bei schwer Alkoholabhngigen in bach, 1975). Bereits Polich et al. (1981) hatten im Rah- Zweifel zog (eine Position, die er nach einer Fallvignette men des „Rand-Reports“ nachgewiesen, dass 12 % der von Booth [1990] korrigierte [Stockwell, 1990]). In der Tat Schwerstabhngigen ihrer Stichprobe whrend des letzten kommt eine Reihe Post-hoc-Analysen von KT-Behand- Halbjahres einer 4-Jahres-Nachbefragung nach stationrer lungen ohne Vergleichgruppen Abstinenzbehandelter zum Abstinenztherapie ein problemfreies Trinken aufwiesen. Ergebnis, dass mit zunehmender Schwere der Alkoholab- Heather et al. (2000) konnten zeigen, dass schwer kçrper- hngigkeit KT seltener gelingt („severity of dependence lich Alkoholabhngige (gemß Severity of Alcohol De- hypothesis“) (Miller et al., 1992). Diese Ergebnisse, die pendence Questionnaire) ihren Alkoholkonsum von Be- meist weder auf einer theoretisch begrndeten noch ein- ginn einer KT-Behandlung bis zur sechsmonatigen Nach- heitlichen Schwere-Definition, sondern einem intuitiven erhebung sogar wesentlich strker reduzierten als nicht Schwereverstndnis (z. B. „chronic alcoholics“) beruhen, bzw. leicht Abhngige, weshalb die Autoren folgern, dass veranlassten Sobell und Sobell (1995a) vor 20 Jahren zu „there is no reason why higher dependence clients should dem Resmee, dass „recoveries of individuals who have not be offered a moderation goal“ (S. 569). In Einklang been severely dependent on alcohol predominantly involve damit spielt bei franzçsischen Alkoholismusbehandlern die abstinence“ (S. 1149). Diese Einschtzung wurde in den Schwere der Alkoholabhngigkeit nur eine untergeordnete Folgejahren von ihnen (z. B. Sobell & Sobell, 2006, 2011) Rolle bei der Indikationsstellung fr eine KT-Behandlung wiederholt und findet sich auch in anderen Reviews (Ro- (Luquiens, Reynaud & Aubin, 2011). senberg, 1993). Eine Reihe Autoren hat daraus gefolgert, Drittens legen verschiedene Feldstudien nahe, dass dass eine KT-Behandlung bei schwerer Alkoholabhngig- Menschen mit schwerer Alkoholabhngigkeit/sehr hohem keit nicht indiziert sei. Dawe, Rees, Mattick, Sitharthan und Alkoholkonsum – z. B. langjhrig Wohnungslose – eine Heather (2002) stellen dazu kritisch fest: „The current Abstinenzbehandlung erst gar nicht beginnen oder durch- practice of reserving a CD [Controlled Drinking] goal al- halten, eine KT-Behandlung aber durchaus (vgl. Kçrkel, most exclusively for persons with relatively mild problem 2007). severity and low alcohol dependence rests on clinical con- Viertens kçnnten bei schwer Abhngigen mit einer in- vention rather than on a systematic review of the treat- tensiveren bzw. lngeren KT-Begleitung ggf. grçßere und ment outcome literature“ (S. 1045). Die Folgerung, KT sei stabilere Erfolge erzielt werden (Heather, 1995, S. 1161). fr schwer Alkoholabhngige nicht indiziert (da relativ In diesem Sinne haben Kçnig et al. (2007) bei der Umset- unwahrscheinlich) oder gar kontraindiziert, ist nach Hea- zung von KT bei schwer alkoholabhngigen Wohnungslo- ther (1995) und anderen Autoren (z. B. Kçrkel, 2001a) aus sen die Zahl der Behandlungstermine von 10 auf 20 erhçht mehreren Grnden nicht gerechtfertigt: und berichten von positiven Erfahrungen mit dieser Ex- Erstens sprechen die wenigen RCTs, in denen schwer tension. Alkoholabhngige per Zufall einer Abstinenz- oder KT- Fnftens geben verschiedene Autoren zu bedenken, Behandlung zugewiesen wurden, nicht fr bessere Erfolge dass es mçglicherweise nicht die Schwere der Abhngigkeit einer Abstinenztherapie. So kommt die IBTA-Studie von per se ist, die schlechtere Behandlungsergebnisse bei KT- Sobell und Sobell (1984) bei „poor-prognosis, chronic alc- und Abstinenzbehandlungen nach sich zieht, sondern die oholic state hospital patients“ (S. 413; davon 37 % mit mit einer schweren Alkoholabhngigkeit assoziierten wei- schweren Entzugserscheinungen [Halluzinationen, Deliri- teren, prognostisch ungnstigen Lebensfaktoren (Arbeits- en etc.]) – im Jellinekschen (1960) Sinne „Gamma-Alko- und/oder Wohnsitzlosigkeit, psychiatrische Komorbiditt, holiker“ – zum bereits berichteten Ergebnis, dass die Pa- instabile soziale Netzwerke etc.; Heather, 1995, S. 1161; tienten mit KT-Behandlung besser abschnitten als dieje- Sobell & Sobell, 1995a, S. 1150). nigen mit Abstinenzbehandlung. Differenziert man inner- halb dieser Stichprobe nochmals nach der Anzahl frherer Hospitalisierungen (als weiteren Indikator der Abhngig- Zielvorstellungen und Zielentscheid keitsschwere), ergeben sich ebenfalls keine Belege fr die des Patienten Schweregradhypothese (Maisto, Sobell & Sobell, 1980). Zweifel an der Besttigbarkeit dieser Hypothese erge- Eine Vielzahl Studien kommt zum Ergebnis, dass die ben sich auch daraus, dass eine schwere Alkoholabhn- Zielwahl des Patienten (Abstinenz oder KT) einen wich- gigkeit auch in Abstinenzbehandlungen mit schlechteren tigen Prdiktor des Behandlungserfolgs darstellt (Adam- Behandlungsergebnissen einhergeht (z. B. Foy et al., 1984; son, Sellman & Frampton, 2009; Bujarski, OMalley, Lunny Kfner, Feuerlein & Huber, 1988). & Ray, 2013; Rosenberg, 1993, 2004a). In den dazu durch- Zweitens widerspricht eine erhebliche Zahl randomi- gefhrten Studien wurden der Behandlungsverlauf und das sierter und nicht-randomisierter Studien der „severity of Behandlungsergbnis von Patienten geprft, deren Kon- dependence hypothesis“ (Booth, 1990, 2006; Dawe et al., sumziel mit dem Behandlungsziel bereinstimmte (z. B. 2002; Elal-Lawrence, Slade & Dewey, 1986; Heather, Ro- Enggasser et al., 2015) oder nicht bereinstimmte (z. B. SUCHT 61 (3) 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
J. Kçrkel: Kontrolliertes Trinken: Eine bersicht 157 Bujarski et al., 2013; im Regelfall KT-Ziel von Patienten in zu erwarten sind, wenn sich Patienten in Abstinenzbe- Abstinenzbehandlung). Vier zentrale Ergebnisse zeichnen handlung befinden, obwohl sie keine Abstinenz anstre- sich ab: en (z. B. Bujarski et al., 2013; Dunn & Strain, 2013; Meyer Erstens: ber das gesamte Spektrum problematischen et al., 2014; Mowbray, Krentzman, Bradley, Cranford, Ro- https://econtent.hogrefe.com/doi/pdf/10.1024/0939-5911.a000367 - Thursday, January 23, 2020 4:57:13 AM - Bayerische Staatsbibliothek München IP Address:194.95.59.195 Alkoholkonsums – von Risikokonsum bis Abhngigkeit – binson & Grogan-Kaylor, 2013). Das erstaunt bereits strebt ein erheblicher Teil, meist die Mehrzahl der Betrof- aufgrund der fehlenden therapeutischen Maßnahmen fenen, eine Konsumreduktion und nicht Abstinenz an (vgl. zur Fçrderung des Reduktionsziels und i. d. R. fehlender z. B. Adamson & Sellman, 2001; Enggasser et al., 2015; reduktionsorientierter Nachsorgeangebote nicht. Umso Hodgins, Leigh, Milne & Gerrish, 1997; Orford & Keddie, berraschender ist es, dass Al-Otaiba et al. (2008) in einer 1986a, 1986b; Sanchez-Craig, Annis, Bornet & MacDonald, 18-Monats-Katamnese die gleichen Behandlungserfolge 1984; Sanchez-Craig, Leigh, Spivak, & Lei, 1989; Schippers unabhngig davon festgestellten, ob die in Abstinenzbe- & Nelissen, 2006; Vollmer et al., 1982a, 1982b). Fokusiert handlung befindlichen alkoholabhngigen Patientinnen auf die Alkoholabhngigen, fassen van Amsterdam und Abstinenz anstrebten oder nicht. van den Brink (2013) die Studienlage wie folgt zusammen: Viertens nimmt meist eine beachtliche Zahl Patien- „A sizeable fraction (20 – 80 %) of people with alcohol de- ten whrend oder nach KT-Behandlungen (z. B. Enggasser pendence favour RRD [Reduced-Risk Drinking] over ab- et al., 2015; Hodgins et al., 1997) oder Abstinenzbehand- stinence as a treatment goal“ (S. 994). Die Zielentschei- lungen (z. B. Meyer et al., 2014) Zielwechsel vor. Bei dung treffen nach den vorliegenden Studien de facto die Hodgins et al. (1997) entschieden sich mehr Patienten Patienten selbst – und diese fllt hufig gegen die Absti- whrend einer KT-Behandlung fr Abstinenz als Patien- nenzzielvorgabe von Behandlungseinrichtungen aus. Als ten in Abstinenzbehandlung fr KT; auch andere Studien illusionr bezeichnen deshalb Sobell und Sobell (1995a) die berichten, dass KT-Behandlungen Abstinenzentscheide Annahme, dass „treatment goals are determined by service begnstigen (Kçrkel, 2006; Miller et al., 1992; jehagen & providers“ (S. 1150). Berglund, 1989). Bei Sanchez-Craig et al. (1984) fanden Zweitens verfolgen Patienten das Konsumziel (Absti- sich hingegen die meisten Zielwechsler im Abstinenzbe- nenz oder Reduktion), das sie sich selbst gesetzt haben handlungsarm (d. h. Wechsel vom Ziel der Abstinenz zu (z. B. Booth, 1990; Booth, Dale & Ansari, 1984; Chang, dem des KT), wiederum andere Studien ermittelten gleich McNamara, Orav & Wilkins-Haug, 2006; Elal-Lawrence, viele Zielwechsler von Abstinenz zu KT bzw. in umge- Slade & Dewey, 1986; jehagen & Berglund, 1989; San- kehrter Richtung (Enggasser et al., 2015). Prognostisch chez-Craig et al., 1984; Sanchez-Craig & Lei, 1986), auch entscheidend scheint das zu Behandlungsende gewhlte wenn dieses Ziel im Gegensatz zu dem in der Behandlung Ziel zu sein (Hodgins et al., 1997; Meyer et al., 2014). vorgegebenen Ziel steht (z. B. Al-Otaiba, Worden, McC- Nach einigen Studien begnstigt ein abschließender Ab- rady & Epstein, 2008). Von dieser „normativen Kraft des stinenzentscheid einen katamnestisch gnstigeren Verlauf Faktischen“ ausgehend, empfiehlt McMurran (2006) KT- (Adamson & Sellman, 2001; Hodgins et al., 1997), nach Behandlungen auch fr Nicht-Abstinenzwillige, die auf- anderen fhren KT- und Abstinenzentscheide zu Behand- grund eines alkoholbezogenen Deliktes straffllig gewor- lungsende zu keinem anderen Katamneseergebnis (Engg- den sind und Rast (2015) fr Subgruppen alkoholabhn- asser et al., 2015; jehagen & Berglund, 1989). giger Bewohner von soziotherapeutischen Einrichtungen und Altenheimen. Drittens: Bessere Behandlungsergebnisse werden er- Selbstwirksamkeitsüberzeugungen zielt, wenn Patienten die Behandlung erhalten, die ihrem eigenen Konsumziel (Abstinenz oder KT) entspricht In verschiedenen Studien ließ sich die „persuasion hypo- (Booth et al., 1984; Booth et al., 1992; Elal-Lawrence, Slade thesis“ besttigen, wonach eine hohe Zuversicht bzw. & Dewey, 1986; Maisto, Sobell & Sobell, 1980; Lozano & Selbstwirksamkeitsberzeugung (self-efficacy expectati- Stephens, 2010; Orford & Keddie, 1986a, 1986b; Sanchez- on), KT praktizieren zu kçnnen, die Drop-out-Rate aus Craig et al., 1984; Schippers & Nelissen, 2006). Heather einer KT-Behandlung, die konsumierte Alkoholmenge und et al. (2006) stellen in diesem Sinne nach Sichtung der in- die Rckfallwahrscheinlichkeit verringert (Kavanagh, Si- ternationalen Forschungsliteratur fest: „Acceptance of a tharthan & Sayer, 1996; Mackenzie, Funderburk & Allen, service users … drinking goal is likely to result in a more 1994; Orford & Keddie, 1986a) und umgekehrt Reduk- successful outcome“ (S. 24). Nach den Ergebnissen von tionserfolge die Zuversicht erhçhen, dem schwerem Trin- Lozano und Stephens (2010) liegt dies u. a.daran, dass eine ken widerstehen zu kçnnen (Walitzer & Connors, 2007). freie Zielwahl die Selbstverpflichtung zur Zielerreichung Unter franzçsischen Alkoholismusbehandlern bildet die („commitment“) und die Zuversicht in die Erreichbarkeit Zutrauen der Patienten in die Umsetzbarkeit von KT das des Ziels („self-efficacy“) erhçht. Fr die Wahl eines Re- zweitwichtigste Indikationskriterium fr KT (Luquiens duktionsziels bedeutet das: „The patients choice to select et al., 2011). Zur Erfassung der Zuversicht, in unter- RRD [Reduced-Risk Drinking] as the preferred treatment schiedlichen Situationen kontrolliert trinken zu kçnnen, goal seems to be an important determinant for a successful haben Sitharthan und Kollegen (Sitharthan, Job, Kava- outcome“ (van Amsterdam & van den Brink, 2013, S. 994). nagh, Sitharthan & Hough, 2003; Sitharthan, Kavanagh & Es bedeutet auch, dass schlechtere Behandlungsergebnisse Sayer, 1996; Sitharthan, Sitharthan, Hough & Kavanagh, SUCHT 61 (3) 2015 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
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