Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin
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EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, LIEBE die erste Partnerschaft, der erste Kuss, die eigenen September 2019 SCHMECKT Wenn du mal keine Liebe kriegst // Kinder – wir alle haben eigene Bilder im Kopf beim Und einsam und klein, ganz allein // Wort Liebe. Biblisch ist dieses Wort noch viel wei- GUT unter deiner Decke liegst // ter gefasst: Eigenliebe, Nächstenliebe, Feindesliebe. Und überall soll sich die Gottesliebe ausdrücken. Ein Nr. 4 LIEBEN Dich verkriechst und selbst liebst // Riesenwort also, dem wir uns in dieser Zoé in ver- Bis du müde bist, müde bist, müde bist, müde bist, … // schiedenen Geschichten nähern. Denkst du auch, dass es Liebe ist? // Wenn du dich fragst, wo die Liebe ist // Fühlst du auch, dass es anders ist? // Und ob sie dich einfach hängen lässt // Dass Liebe geschenkte Zeit braucht, wie Papst Fran- Dass die Welt anders schmeckt, anders riecht // Dann kommt sie irgendwann bei dir an // ziskus in Amoris Laetitia (224) schreibt, ist offen- Titelthema Anders tickt, wenn du bei mir bist? // Und zeigt dir, dass du besonders bist // kundig. Das gilt auch für Michael Schmülling, der 4 als Religionslehrer und Sozialpädagoge vielfältige Oh, es ist schön, wenn du Liebe gibst // Lieber mit Lust die Liebe leben // Damit sie sich schätzen Beziehungsarbeit an seiner Schule leistet. Oder für Weil du plötzlich ganz anders liebst // Als im Leben nie Lust oder Liebe erleben // und dadurch schützen unsere Kollegin Kerstin Ostendorf. Sie hat vor einem Mit dem Körper die Seele verführst // Ein Religionslehrer und Sozialpädagoge Jahr geheiratet und blickt zurück auf den Trubel der Und nich' nur meine Haut berührst // als Mann für Beziehungsarbeit Grossstadtgeflüster, Liebe schmeckt gut, Vorbereitung. Und darauf, was sich mit der Hochzeit Lieber mit Lust die Liebe leben // auf: Muss laut sein verändert hat. 10 Als im Leben nie Lust oder Liebe erleben // Ich muss den Täter nicht mögen Liebe macht sexy, Liebe macht schön // Wir danken allen Lehrerinnen und Lehrern, die mit Reflexion über die Feindesliebe eigenen Texten und Ideen diese Ausgabe möglich Liebe muss man nicht kaufen, Liebe muss nicht vergeh'n // 11 gemacht haben. Gleichzeitig laden wir wieder alle Liebe gibt es schon ewig, Liebe gibt's nie genug // Leserinnen und Leser ein: Senden Sie uns Ihre Vor- Ich packe meine Schultasche Liebe riecht frisch gebacken // schläge für Geschichten, für Ihre Impulse im Alltag. Was eine Religionslehrerin im Beruf antreibt Mmmh ... Liebe schmeckt so gut // Und nun viel Freude beim Lesen! 12 Lieben ist das eine, Heiraten das andere Rückblick auf den Irrsinn einer Hochzeitsvorbereitung Rainer Middelberg 16 Chefredakteur Trauernder Onkel Wie sich angesichts des Todes seiner Nichte Perspektiven eines Priesters ändern 17 Glück gehabt // Dumm gelaufen zoé – leben mit anderen augen sehen 22 22 Fragen an Martina Kreidler-Kos Das Magazin für Religionslehrerinnen und -lehrer Die Theologin ist Expertin in Sachen Liebe in den (Erz-)Bistümern Berlin, Hildesheim und 26 Osnabrück. Mehr Infos: www.zoe-magazin.de Unsere Tankstelle zu Gott Worship-Musik als Vehikel für Spiritualität Fotos: Titelseite: Andreas Kühlken // S. 3 privat 28 Alle Erkenntnisse waren schon da zoé bezeichnet in der altgriechischen Sprache physisches Trainerin erkennt auf dem Jakobsweg nicht nur ihren Leben im Gegensatz zum Tod. Dabei geht es aber nicht Illustration: Patrick Schoden Traumberuf, sondern auch das Ende ihrer Beziehung nur um die Frage, wie und wodurch man lebt, sondern auch woraus und wozu. Im Neuen Testament ist Jesus selbst der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6), 32 Auszeit // 34 Aufgelesen das er schenkt. Diese Zeitschrift möchte diese Dimensi- onen von zoé miteinander verknüpfen und erforschen. zoé // 3
LIEBEN LIEBEN Damit sie sich schätzen und dadurch schützen Auch heute einen wertschätzenden Umgang mit Liebe und Sexualität zu vermitteln, ist nur eine Herausforderung im Alltag von Michael Schmülling. Er ist Religionslehrer und Sozialpädagoge in Göttingen. Ein Mann für Beziehungsarbeit auf vielen Ebenen Das Zwiegespräch ist eine Stärke von Michael Schmülling. Ohne Ablenkung durch das Umfeld bekommt er die Aufmerksamkeit seiner Schüler 4 // 4zoé // zoé zoé zoé // 5
LIEBEN LIEBEN D ie Gitarre in der Ecke, Fotos von Schul- fahrten an den Wänden und die Sitz- ecke mit Glastisch und kleiner Ikone – sie alle spiegeln die Arbeit von Michael Schmülling wider. Er ist Sozialpädagoge und Religionslehrer an der Bonifatius-Ober- schule in Göttingen. Und ein in der Wolle gefärbter Pfadfinder, der den Weg in seinen heutigen Beruf erst suchen und finden musste: erst Banklehre, dann Fachabitur, Freiwilliges Soziales Jahr, Studium der Sozialpädagogik und später die Fortbildung Schüler fläzen sich eher auf ihren Stühlen, als dass sie eine Ar- beitshaltung einnehmen. Kurz vor den Ferien findet das ausge- teilte Arbeitsblatt wenig Beachtung. Die Schultern hochgezogen, das Gesicht verheult, den Blick auf den Boden gerichtet öffnet Maike (Schülernamen sind geändert) die Tür des Klassenzimmers. Sie schleicht zu ihrem Platz, ein einzelner Platz ganz hinten im Raum. „Wo kommst du denn jetzt noch her?“, fragt Michael Schmülling. Sein Ton ist ruhig, aber be- stimmt. „Ich konnte nicht eher ... Ich habe mit ...“ Die Stimme des zum Religionslehrer. Mädchens bricht. Sie blickt zu Boden. „Beruhige dich erst mal“, sagt Schmülling. Seine gelassene Reaktion zeigt, dass unvorherge- Gesprächspartner ohne Notenbuch im Hinterkopf sehene Situationen sein tägliches Geschäft sind. Kurze Zeit später geht er mit der Zwölfjährigen auf den Flur. „Ihr andern macht bit- Nach verschiedenen Tätigkeiten in der kirchlichen Verbands- te mit dem Arbeitsblatt weiter.“ arbeit ist er seit 2006 an der Bonifatiusschule. Hier arbeitet er Michael Schmülling und Maike sprechen auf dem Flur, die mittlerweile mit jeweils halber Stelle als Sozialpädagoge und als Tür bleibt offen. Später erklärt er, dass er so nicht nur der Auf- Religionslehrer. Mit seiner Stellenbeschreibung kann er unkom- sichtspflicht nachkommen, sondern auch zweifelhafte Situatio- plizierte Beratungsangebote machen. In ihm finden Jugendliche nen alleine mit dem Mädchen ausschließen will. Hier wie auch einen vertrauensvollen Gesprächspartner, der eben kein Noten- in Pausengesprächen zeigt sich, dass Schmülling ein Mann für buch im Hinterkopf hat. Beziehungsarbeit ist, bei Konflikten zwischen Schülern, Schü- Der Weg zu Schmüllings erster Stunde heute ist eher ein Spa- lern und Lehrern, Schule und Elternhaus, Lehrern untereinan- ziergang durch den Süden der Göttinger Altstadt mit hohen Bäu- der. „Vielleicht ist das ja gelebte Solidarität“, sinniert er. Viel- men und Altbauten. Die Schule hat vier Gebäude, drei mit weit leicht auch praktische Nächstenliebe. In jedem Fall prägt seine mehr als 100 Jahren auf dem Buckel. Sie liegen im Viertel ver- Arbeit das Miteinander. teilt und haben kein gemeinsames Schulgelände. Die Stimmung in der Klasse schaukelt sich derweil auf. Klaus Die Luft im Gebäude an der Bürgerstraße ist drückend heiß. genießt es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und wirft ein Der Gong schlägt. Zwei Mädchen begrüßen Michael Schmülling Radiergummi durch den Raum. Lautstarke Kommentare von schon auf dem Flur. „Wir wollen Sie abholen“, flöten sie und Mitschülern folgen. Die wenigen Minuten ohne Lehrer genü- geleiten ihren Lehrer in den Raum der 6a. Die dritte Stunde be- gen, um die Arbeitsatmosphäre aus den Angeln zu heben. Wie Unweit des Grabmals von Carl Friedrich Gauß liegt das Sandsteingebäude, in dem Michael Schmülling sein Büro hat. Die Pracht der ginnt, Vertretungsunterricht Erdkunde. 18 Schülerinnen und in einem Brennglas zeigt sich in dieser Klasse die Situation in ehrwürdigen Gebäude außen weicht typischem Schulcharme innen – mit Schmülling als Ansprechpartner in Unterricht und Pause 6 // zoé zoé // 7
LIEBEN LIEBEN »Ich habe das Bedürfnis, die Mädchen vor gierigen Blicken zu schützen.« Hitze, Ferien im Blick, Vertretungsunterricht – bis zu einer Arbeitsatmosphäre dauert es vielen integrierten Systemen wie Ober- und Sekundarschulen auf ihren Arm, starrt auf die Worte und biegt den Stift, bis er Schmülling hält auch die Kleiderordnung an seiner Schule für in Deutschland. Mit der Abschaffung der Schullaufbahnemp- bricht. Wie getrieben greift sie den nächsten Stift und verwan- wichtig. Mädchen sind angehalten, keine Hotpants und freizügige fehlung ist in Niedersachsen seit 2015 eine Entscheidungshilfe delt ihren Unterarm in eine einzige rote Farbfläche. Von Micha- Tops zu tragen. „Ich habe das Bedürfnis, die Mädchen vor gierigen für Eltern zur Wahl der weiterführenden Schule entfallen. Die el Schmüllings Versuch einer Ergebnissammlung bekommt sie Blicken zu schützen.“ Die mitunter doch sehr knappen Shorts und Übergangsquote zum Gymnasium hat sich auf rund 43 Prozent, nichts mit. Er lässt sie in Ruhe. Tops an diesem heißen Tag zeigen gleichwohl die Grenzen dieses zur Integrierten Gesamtschule auf 16 Prozent und zur Ober- Ein Streit mit dem Freund, eskaliert auf dem Schulhof, war Wunsches auf. schule auf rund 21 Prozent eingependelt. der Grund für ihren Frust. Schmülling spricht sie am Ende der Umso wichtiger ist die Sensibilität auf allen Seiten. „Die Ju- Gleichzeitig ist die Inklusionsquote, also der Anteil der Schüler Stunde noch einmal an: „Wir können das Problem hier nicht lö- gendlichen müssen ein Gefühl dafür entwickeln, dass sie nur mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen stark sen. Vielleicht bringt dir die Pause etwas Ablenkung. Wenn du schützen können, was sie auch schätzen.“ Im Kollegium wirbt gestiegen. Besuchten in Niedersachsen 2008 noch 23.000 Kinder Hilfe benötigst, kannst du zu mir kommen. In der sechsten Stun- er dafür, bis Jahrgang 7 getrennt geschlechtliche Lerngruppen eine Förderschule für die Bereiche Lernen bzw. Emotionale-So- de habe ich für dich Zeit.“ einzuführen. „Dann müssen sich Mädchen und Jungen im Un- ziale Entwicklung, waren es 2018 nur noch 9.000 Mädchen und terricht nicht mehr voreinander produzieren. Vielleicht näh- Jungen. Entsprechend mehr Kinder mit diesen Förderbedarfen Gegenentwurf für eine an Pornos gewöhnte Jugend me so eine Schutzzone in der ersten Phase der Pubertät etwas verteilen sich nun auf Regelschulen – nachweislich weit überpro- Druck raus.“ portional auf Haupt- und Oberschulen. Liebeskummer, so normal und doch so brutal. Liebe und Sexualität Schmülling hat das Thema heute auch im Religionsunter- Genau dieser Entwicklung und Kindern wie Klaus stellt sich werden auch hier in der Sekundarstufe I auf vielen Ebenen thema- richt auf den Plan gesetzt. „Was verbindet ihr mit dem Begriff Michael Schmülling. Klaus wirft wieder Gegenstände durch den tisiert. Vom Sexualkundeunterricht in Biologie über Liebeslyrik in Liebe?“, lautet die Frage. „Füreinander da sein“, „Freundschaft“, Raum. Er spricht laut, ohne äußeren Anlass und lehnt sich zum Deutsch bis zur Werteerziehung in Religion. Es ist der Versuch ei- „Nie mehr allein sein“ lauten einige Antworten. „Zärtlichkeit“, Hintermann zurück. Bis zum Ende der Stunde bleibt sein Blatt nes Gegenentwurfs zu einer an Pornokonsum gewöhnten Jugend, „Sex“ – nein, diese Worte fallen nicht. Vielleicht können sie es leer. Mehrere Kinder seiner Klasse sind laut Schmülling hyper- die erst kürzlich ihre Auswüchse bis auf einen Spielplatz in Göttin- in diesem erneut unruhigen Unterrichtsumfeld auch nicht. Erst aktiv oder leiden unter Aufmerksamkeitsstörungen. gen fand: Dort hatte eine Zwölfjährige einen Gleichaltrigen befrie- recht nicht, wenn das andere Geschlecht mit dabei ist. Was aber Schmüllings Büro zeigt, wie er an Michael Schmülling bleibt dennoch ruhig. Von Platz zu digt. Wie kann und soll Schule mit so etwas umgehen? auffällt: Im persönlichen Gespräch mit ihrem Lehrer sind die Schülern hängt: Überall finden sich Bilder Platz geht er, spricht die Schüler einzeln zu den Aufgaben auf Ein Präventionskonzept, die enge Vernetzung mit Beratungs- einzelnen Mädchen und Jungen trotz des Trubels konzentriert. und Fotos von Projekten dem Arbeitsblatt an, sucht den Augenkontakt. Die Unruhe in einrichtungen und offene Augen und Ohren der Lehrerinnen und Sie scheinen Michael Schmülling ernst zu nehmen, einfach als der Klasse scheint er ausblenden zu können. Ihm gelingt in Lehrer an der Bonifatiusschule sollen helfen, einen angemesse- Persönlichkeit. Vielleicht ist dieser individuelle Zugang ein Weg, jedem kurzen Gespräch ein ebenso kurzer wie konzentrierter nen Umgang mit Sexualität zu vermitteln. Kein leichtes Unterfan- um mehr Sensibilität wachsen zu lassen. Austausch. gen. „Gerade als Mann habe ich eine Schere im Kopf: Ich möchte Völlig unbeteiligt davon kauert Maike an ihrem Tisch. „Tut im persönlichen Gespräch auch jedem Mädchen gegenübertre- TEXT: RAINER MIDDELBERG mir leid. Ich habe dich nicht verdient“, schreibt sie mit Filzstift ten können. Gleichzeitig achte ich aber auf körperliche Distanz.“ FOTOS: ANDREAS KÜHLKEN 8 // zoé zoé // 9
LIEBEN »Ich muss den Täter Ich packe meine Schultasche nicht mögen« Religionsunterricht ist mehr als Stundentafel und Kerncurriculum. Doch was treibt mich in meinem Beruf an? Gedanken von Dunja Gerdes Wie weit geht die Feindesliebe? Reflexionen von Klaus Mertes darüber, wie wir über Vergebung sprechen D as Talionsprinzip („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) wird oft als Racheprinzip missverstanden. Dabei heißt es in Ex 21,23 ganz klar: „Du sollst geben: Auge für Auge …“ Das ist an den Täter gerichtet und verpflichtet ihn zu Schadenersatz, Nach dem Schlaf, morgens um sieben // So steht es in einem Urteil geschrieben // Richtet man mich im Keller hin // Das hat mich zu meinem Das habe ich für mich Meine Arbeit als Weil ich der gesuchte Mörder bin // Studium inspiriert: aus dem Umgang mit Religionslehrerin lohnt und nicht an das Opfer, um diesem die Bahn freizugeben für Ge- gengewalt. Das Missverständnis gab es schon immer. Jesus rückt Schülerinnen und Schülern sich, weil … es in der Bergpredigt zurecht. An die Opfer gewandt fordert er: Bis dahin war mir völlig fremd // Lehrerin sein – das war und ist mein gelernt: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die Wie es in dem Moment // Traumberuf. Es bereitet mir großen Spaß, … ich den Schülerinnen und Schülern andere auch dar.“ (Mt 5,39). Feindesliebe. Wo man weiß, jetzt endet das Leben // anderen etwas zu vermitteln und gemein- Jeder Schüler bringt seine eigene Ge- in diesem Fach persönlich begegnen sam über Sinnfragen zu philosophieren. schichte und damit unterschiedliche kann. Dazu gehört auch, dass ich offen, Und es wird keine Gnade geben // Es reicht, wenn ein Opfer auf Lynchjustiz verzichtet Vor allem durch meine Erfahrungen in Sichtweisen mit, natürlich auch abhän- tolerant und gesprächsbereit bin. Das der Jugendarbeit bei den Pfadfindern war gig vom Entwicklungsstand. Durch diese Fach bietet mehr Freiheiten als ande- Nun muss das keineswegs bedeuten, dass ich den Menschen, der Auge um Auge, Zahn um Zahn // für mich das Fach Religion gesetzt. Erkenntnis bin ich deutlich gelassener re Fächer. Religion hat nicht zuletzt mir etwas angetan hat, mögen soll. Lieben bezieht sich nicht auf Es trennen Welten Vernunft und Wahn // geworden. Oftmals spiegele ich Schüler- deshalb einen hohen Stellenwert im Gefühle, sondern auf Taten beziehungsweise auf Unterlassung von Auge um Auge, Zahn um Zahn // beiträge nur. Oder ich schildere ihre Wahr- Schulleben. Beispielsweise richten wir Taten. Es reicht schon, wenn ein Opfer auf Lynchjustiz verzichtet Auserkoren, krank vom Wahn // Diese Schülerfrage bzw. nehmung aus einer anderen Perspektive, jetzt – angeregt durch einen Besuch bei und die Vergeltung dem Herrn überlässt, oder säkular gesprochen: Situation ist mir im ohne zu bewerten oder zu kommentieren. der Caritas-Beratungsstelle in Meppen dem Gericht. Das ist auch schon Feindesliebe und, je schlimmer Durch die Auseinandersetzung ist mir im Rahmen des Oberstufenunterrichts Es hat was Gutes zu verstehen // Gedächtnis geblieben: und nachhaltiger der angerichtete Schaden ist, umso mehr. auch mein Glaube klarer geworden. (Ekklesiologie und Diakonia) – das An- Eine missglückte Predigt im Bistum Münster über Vergebung Ein Kind kann keinen Mord begehen // Als Lehrerin an der Deutschen Schule gebot zu einem Sozialpraktikum ein. schlug kürzlich bundesweit Wellen. Sie bleibt ein guter Anlass, Die Sanduhr rinnt, vorbei die Zeit // Aus dem Religionsunterricht im Jahr- in Windhoek, Namibia, unterrichtete darüber nachzudenken, wie wir in der Kirche über das Thema Ich trete vor, nun ist es so weit // Mit meinem gang 5 ist ein digitaler Adventskalender ich etliche evangelikal ausgerichtete Vergebung sprechen können und wie wir besser nicht sprechen entstanden. Jugendliche. Wie gewohnt praktizierte Religionsunterricht bin sollten. Opfer vergeben schon dann, wenn sie darauf verzichten, Ach, wie musst du gelitten haben // ich einen konstruktiv-kritischen Unter- ich zufrieden, wenn … Illustration: Adobe Stock.com: toey20 // Foto: privat selbst die Richter zu sein. „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ (An- Es gibt Menschen, die sich daran laben // richt, bis mich eine Mutter aufsuchte. toine Leiris) – so kann man auch die andere Wange hinhalten. Wenn einer leidet in Todesangst // Ihre Tochter frage sich, ob ich denn an … die Schülerinnen und Schüler selbst- TEXT: KLAUS MERTES Gern verzichte ich auf diesen Tanz // Gott glaube. Zweifel an der wortwörtli- ständig arbeiten, Fragen entwickeln, chen Bibelexegese und meine tolerante Neugierde zeigen und sich Diskussi- Dunja Gerdes ist Lehrerin Haltung sorgten für erheblichen Klä- onen ergeben. Die Basis dafür bilden für katholische Religion Auge um Auge, Zahn um Zahn // Foto: Andreas Kühlken rungsbedarf. Im Unterricht ergaben Kooperation, Aktivität und Fachwissen. und Deutsch am Windt- Es trennen Welten Vernunft und Wahn // sich tiefgehende Diskussionen, beson- Zudem gehört dazu, eine eigene Mei- horst-Gymnasium in Auge um Auge, Zahn um Zahn // ders über das Verhältnis von Glaube und nung zu ermöglichen und dabei jeden Meppen und Fachleiterin Klaus Mertes ist Jesuitenpater Auserkoren, krank vom Wahn // Naturwissenschaft. Schüler ernst zu nehmen. für katholische Religion und Direktor des Kollegs Sankt Blasien In Extremo, Auge um Auge, auf: Sterneneisen 10 // zoé zoé // 11
LIEBEN LIEBEN Lieben ist das eine, Heiraten das andere Kerstin und Marco Ostendorf haben vor einem Jahr geheiratet. Ein sehr persönlicher Rückblick von Kerstin auf den Irrsinn der Vorbereitung und auf das, was sich für sie seitdem geändert hat Anfang September 2017 Mitte Oktober 2017 Irgendwie war Marco an diesem Tag merkwürdig. Er drucks- Die großen Drei stehen: Termin, Location und Musik. Wir wer- te herum, er war stiller als sonst, er war alles andere als ent- den am 1. September 2018 standesamtlich heiraten. Am 14. Sep- spannt. Dabei war es unser letzter Urlaubstag am Königssee in tember ist die kirchliche Trauung und das große Fest mit Famili- Bayern. Als ich ihn darauf ansprach, fragte er mich: „Willst du en, Freunden und Arbeitskollegen. mich heiraten?“ Jetzt können wir uns erst einmal entspannt zurücklehnen Damit hatte ich nicht gerechnet. Und doch war es so, wie ich und Ideen sammeln. Ich bin ein großer Fan von Pinterest. Tolle es mir vorgestellt hatte: Es war unser ganz persönlicher Mo- Fotos, gute Ideen, viele Anregungen. Aber Achtung: Brauche ich ment, ohne Publikum, ohne Tanz-Flashmob. Er fragte mich, ob wirklich eine Bar, an der meine Gäste Früchte in ihr Mineral- wir nicht endgültig und ganz offiziell alle Höhen und Tiefen un- wasser geben können? Und muss ich ernsthaft für alle Frauen zu seres Lebens gemeinsam bewältigen wollen. später Stunde Flip-Flops bereithalten? Und ich sagte „Ja“. November 2017 Zwei Wochen später Die zweite Hürde: das Kleid „Na, endlich!“ – das haben wir in den vergangenen Wochen häu- Für alle Bräute-in-spe ist die „Vox“-Sendung „Tüll und Tränen“ fig gehört, wenn wir von unserer Verlobung erzählt haben. Wir Pflicht. A-Linie oder Prinzessin? Mermaid-Stil oder lieber Boho? spüren: Unsere Familien und Freunde freuen sich für uns. Spitze? Glitzer? Oder beides? Zwei Dinge hat „Vox“ mir beige- Dass wir einmal heiraten wollen, war für uns immer klar. Es bracht: Der Schleier ist die Krönung, zum Schluss weint jede Frau. ging mehr um das „Wann“, nicht um das „Ob“. Nach neun Jahren Jetzt ist mein Moment gekommen: Ich stehe in einem wun- Beziehung wollen wir nun den nächsten Schritt wagen – offiziell derschönen Brautkleid vor dem Spiegel. Es schwingt, es schmei- als Ehepaar und mit dem Schutz und Segen Gottes. chelt meiner Figur und Hautfarbe. Meine Mutter, meine Trau- zeugin und meine Freundin sind genauso begeistert wie ich. Anfang Oktober 2017 Aber: Als die Beraterin mir den Schleier ins Haar steckt, den- Die erste Hürde: der Termin ke ich: „Nein. Auf gar keinen Fall“. Mein Beratungsteam ist der Marco und ich haben das Glück, dass wir uns fast immer sehr gleichen Meinung. schnell einig sind. So steht für uns schnell fest, dass wir im Sep- Dann wäre jetzt der richtige Moment für die Freudentränen. Aber tember heiraten möchten. Das sollte mit fast einem Jahr Pla- es rührt sich nichts. Nicht einmal feuchte Augen bekomme ich. nung im Voraus ja kein Problem sein. Denke ich. Wieso weinen die anderen? Bin ich nicht normal? Ist es nicht Das Standesamt in Osnabrück und meine Pfarrgemeinde das richtige Kleid? Vielleicht sollte ich noch mal in einem ande- im münsterländischen Recke belehren mich eines Besseren. ren Geschäft suchen. Fast alle Termine sind bereits belegt. „Da müssen wir erst Halt! Stopp! Durchatmen und Kopf anschalten. So wollte ich mal schauen, was überhaupt noch frei ist“, bekomme ich zu doch nicht werden. Ich drehe mich eine weitere Runde im Kleid, hören. übe ein paar Tanzschritte – und kaufe es. Eine gute Entscheidung. 12 // zoé zoé // 13
LIEBEN LIEBEN »Vor einem Jahr habe ich gesagt, dass ich nicht Januar 2018 glaube, dass die Hochzeit Ich habe mir eine App heruntergeladen: „Ehe.Wir.Heiraten“. gel aus Erdbeeren und Maracuja („Bei Fruchtstücken bekommt nicht jeder Gast gleich viel Frucht“). Rosen, etwas Schleierkraut viel verändert. Ich habe Einmal in der Woche bekomme ich nun einen Impuls zuge- schickt; kurze Texte, Fotos oder Videos. Wenn freitagabends und viele Früchte sind die Deko. Die Torte ist bestellt. Was kann jetzt noch kommen? „Ent- mich geirrt. … Etwas ist mein Handy brummt und der nächste Impuls freigeschaltet schuldigung, wir müssen noch besprechen, wie wir die Serviet- wird, nehme ich mir die Zeit, kurz darüber nachzudenken: Wie ten falten sollen.“ anders geworden. Es ist kommunizieren Marco und ich miteinander? Wie streiten wir? Wie versöhnen wir uns? Die App ist eine kleine, aber gute Alter- September 2018 ein stärkeres Gefühl von native zu einem Ehevorbereitungskurs. Am 14. September haben wir geheiratet. Für uns war es tatsäch- Sicherheit, von Verbind- März 2018 lich ein perfekter Tag. Wir haben gebetet, gelacht, getanzt, gefei- ert. Nur geweint haben wir nicht – dafür war es zu schön! lichkeit und Stärke.« „Wo bleiben denn eure Einladungskarten?“ Mist! Hätte ich die Karten schon Weihnachten verteilen sollen? Haben jetzt alle ih- Juni 2019 ren Sommerurlaub gebucht und sind im September nicht da? Unsere Hochzeit war für uns ein unglaublich schöner Tag. Auch Marco kann über meine kurze Panik nur müde lächeln. Er hat mit mehreren Monaten Abstand ist das immer noch unser Fazit. die Karten entworfen, sich bei Druckereien informiert und hilft Alles hat genauso geklappt, wie wir es uns gewünscht haben. In mir nun, sie fertig zu basteln. Er ist wie fast immer tiefenent- all dem Hochzeitstrubel darf man sich nicht verrückt machen spannt. In diesem Punkt ergänzen wir uns gut. Ich treibe an und lassen. Wir haben so gefeiert, wie wir es für richtig gehalten ha- mahne zur Eile, Marco schreibt noch locker eine Whatsapp und ben. Und wir haben uns die Freiheit gegönnt, uns am Hochzeits- sucht den Autoschlüssel. Letztendlich sind wir immer pünktlich tag von unseren Gästen überraschen zu lassen. – unsere Karten übrigens auch. Vor einem Jahr habe ich gesagt, dass ich nicht glaube, dass die Hochzeit viel verändert. Ich habe mich geirrt. Ich kann gar nicht Juni 2018 genau sagen, was es ist. Ich weiß nur: Etwas ist anders geworden. Kurzurlaub an der Nordsee: Auf’s Meer schauen, lange Spazier- Es ist ein stärkeres Gefühl von Sicherheit, von Verbindlichkeit gänge, im Strandkorb ein Buch lesen – und den Hochzeitsgottes- und Stärke. Auch ohne Trauschein würde man nach einer so lan- dienst vorbereiten. gen Zeit, eine Beziehung nicht einfach aufgeben, aber ich habe Musik, Essen, Location, Brautkleid – das sind für die meisten jetzt noch stärker das Gefühl: Wir gehören zusammen. Brautpaare die Topthemen zur Hochzeit. Für uns gehört ganz klar auch der Gottesdienst in diese Reihe. Im Gottesdienst ist der FOTOS: ANDREAS KÜHLKEN Moment, wo Marco und ich für uns, vor unseren Gästen, vor der Gemeinde und vor Gott sagen: „Ja, mit dir will ich meinen Weg gehen.“ Das ist der wichtigste Punkt des Tages. August 2018 Gefunkt hat es im Stadion Dritte Hürde: die Hochzeitstorte Bis zu diesem Tag ist mir nicht klar gewesen, wie kompliziert es Marco (33) und Kerstin Ostendorf (31) leben in Osna- sein kann, eine Torte zu bestellen. Unsere Bedingung: Sie muss brück. Vor knapp elf Jahren haben sie sich beim VfL schmecken. Der Bäcker: zwei- oder drei-stöckig? Klassischer Stil Osnabrück kennengelernt. Marco arbeitete im Marke- oder „undone“? Welcher Geschmack? Erdbeer? Schoko? Manda- tingbereich des Vereins und war unter anderem für die rine? Joghurt oder Sahne? Buttercreme? Dekoration mit Früch- Videowände zuständig. Kerstin studierte in Osnabrück ten, Blumen oder beides? und gehörte zum Videowand-Team. Zwischen Torjubel, Letztlich bestellen wir eine zweistöckige Torte im Undo- Stadionwurst und Werbejingles hat es gefunkt. ne-Stil mit Schoko-Drip-Effekt. Im Inneren gibt es Fruchtspie- 14 // zoé zoé // 15
LIEBEN RURIKTITEL Trauernder Onkel So eng die liebevolle Verbindung in einer Familie sein kann, so groß kann die Trauer werden. Felix Evers, Priester in Hamburg, über seinen neuen Blick auf Seelsorge nach dem Tod seiner Nichte Glück Dumm gehabt gelaufen Neue Schule, neues Kollegium – dass dies Zu viel Enthusiasmus kann sehr anstrengend bei einer neuen Stelle viel Glück bedeuten werden. Das erlebte Verena Breitmeyer bei kann, erlebt Kathrin Schlick jeden Tag ihrer ersten Klassenfahrt Vor zwei Jahren entschied ich mich, nach Celle, ei- „Deinen jugendlichen Aktionismus wirst du schon ner mir bislang unbekannten Stadt, zu ziehen. Über- verlieren“, hieß es von älteren Kollegen. „Sei es all fremde Gesichter und die große Frage, was das drum!“, dachte ich und plante mit einem halben Jahr wohl bringen mag. „Hoffentlich werde ich eine tolle Lehrerlebenserfahrung die erste Klassenfahrt. Ziel Schule finden, die mich auch haben möchte“, dach- sollte die Lüneburger Heide sein. Eines Montagmor- te ich und bewarb mich in und um Celle. Aufgeregt gens tummelten sich auf dem Hamelner Bahnhof fuhr ich von Schule zu Schule, unwissend, was mich circa 90 Kinder aus drei Klassen des 5. Jahrgangs. Ihr erwarten würde. Anhang bereitete einen herzlichen Abschied. Fünf Bei den Vorstellungsgesprächen stach eine Schule entspannte Kolleginnen und Kollegen und eine vor F besonders heraus. Mehrmals betonten die anwesen- Aufregung und Stolz fast platzende Frau Breitmeyer. den Kollegen das gut funktionierende Team. „Glück Ausgerüstet mit Listen, Erste-Hilfe-Köfferchen, rüh morgens rief mich mein Bruder an. Judith, meine selbst verwundet werden muss, um Wunden heilen zu können. gehabt“ ging mir schon da durch den Kopf, ebenso bei Fahrplänen und Fahrkarten ging die Reise los. Die Nichte, war in der Nacht gestorben. Mit 13 Jahren. Sie Wenn mir heute jemand ein Schicksal anvertraut, das meinem der Schulbesichtigung mit dem herzlichen Rektor und Kinder verhielten sich vorbildlich. Dann der dritte hatte Deo aus einer Plastiktüte geschnüffelt, war in Ohnmacht ähnelt, beginne auch ich manchmal zu weinen. Unprofessionell? erst recht, als ich die Zusage erhielt. Schnell erkannte Umstieg. Wegen Umbaumaßnahmen wurde unsere gefallen und an ihrem Erbrochenen erstickt. Als mein Bruder Diese Kategorie habe ich aus meinem Wortschatz gestrichen; ich ich, was die Kollegen meinten. Wenn mal eine Stun- Reisegruppe – also auch geschätzte 748 Gepäckstücke sie wecken wollte, sei sie schon ganz kalt gewesen. Ich sagte alle kann und will mich nicht verstellen. de nicht so läuft wie geplant, rauscht man einfach ins – fortan mit dem Schienenersatzverkehr transportiert. Termine ab. Von meinem damaligen Arbeitsort Neubranden- Auch Trauerfeiern gestalte ich anders. Manche Predigt und Lehrerzimmer. Da wartet ein Team auf dich, das dei- „Ich geh schon mal vor!“, ließ mich mein Leichtsinn burg fuhr ich nach Kronshagen bei Kiel. Im Auto drehte ich Rod Ansprache der vergangenen 20 Jahre empfinde ich heute als ne Sorgen in Lösungen umwandelt. Und schwupps äußern und navigierte so viele Kinder so schnell wie Stewart auf, um den Kopf freizubekommen. akademisch, abgehoben, nüchtern. Heute gehe ich individuell – kann man wieder mit neuem Elan vor die Klasse möglich in den ersten Bus. Ehe ich mich versah, schloss In 20 Jahren als Priester habe ich auf rund 400 Beerdigungen auf die Trauersituation ein. Ich lege die vorgeschriebenen Bü- treten. Hinterher freuen sich alle, egal, ob frischgeba- die Tür und der Bus fuhr los. Da standen wir nun, ein- gepredigt. Doch diese Trauerfeier für Judith war anders. Ich be- cher zur Seite, ringe nach eigenen, persönlichen Worten. ckene oder erfahrene Lehrkraft, über den Erfolg, weil gepfercht wie die Ölsardinen bei geschätzten 52 Grad reitete sie mit einem evangelischen Pastor vor. Am Familiengrab Und ich bin ungnädig, ja zornig, wenn ich erlebe, dass Kollegen alle mit Herzblut dabei sind. „Glück gehabt“, denke ich mit Gepäckstücken in Rücken, Seite oder Kniekehle. spürte ich, wie ich vom leitenden Geistlichen zum trauernden bei einer Trauerfeier den Namen des Verstorbenen falsch ausspre- folglich noch immer. Denn ernste Gespräche gehören Die Kinder ließen natürlich ihrem Unmut freien Lauf. Onkel wurde. Mir wurde schlecht. Ich weinte, fühlte mich hilflos chen, unter Zeitnot fahrig werden, nur aus einer DIN-A5-Mappe ebenso zum Schulalltag wie Späße. Dann der Blick aus dem Fenster: Dort winkten und träumte mich an andere Orte. Doch dann musste ich – wäh- ablesen. Dann sehe ich mich wieder am Familiengrab in Kronsha- So wurden aus fremden Gesichtern u.a. tolle Kolle- fröhlich lächelnd noch gerade fünf Kollegen und 15 rend Judiths Lieblingslied erklang – Erde auf ihren weißen Sarg gen, als der trauernde Onkel. Das sind die heiligsten Momente im gen bzw. Freunde und die Stadt Celle ist mein Zuhause Kinder. Erst da wurde mir klar, was das für die nächs- werfen. In meiner Trauer umarmte ich meinen Pastorenkolle- Leben. In denen muss alles stimmen. Denn sie sollen trösten. geworden – Glück gehabt! ten 60 Minuten bedeuten sollte … Dumm gelaufen! gen und ließ ihn nicht mehr los. In den Tagen danach blieb die Familie beisammen. Wir TEXT: FELIX EVERS schauten uns Erinnerungsbilder und Videos an, saßen in Judiths Foto: privat // photocase.de: Tinvo leerem Kinderzimmer und blätterten in ihren Schulheften. Das tat uns gut. Nach meiner Rückkehr nach Neubrandenburg zog Verena Breitmeyer unterrichtet ich mich eine Woche zu Exerzitien zurück. Judiths Tod hatte Kathrin Schlick ist Lehrerin für Deutsch und katholische Religion mich in meinem Gottvertrauen verwundet. Deutsch und katholische Religion an der Theodor-Heuss-Realschule Fotos: privat Mein Verständnis von Seelsorge hat sich seitdem gewandelt. Felix Evers ist an der Grundschule Oldau in Hameln Ich bin empathischer geworden. Vielleicht stimmt es, dass man Pastor in Hamburg 16 // zoé zoé // 17
RUBRIKTITEL NACHGEDACHT Ein Kampf durch Geröll Paulus tritt die agape, die Liebe, in den Weg WENN ICH Und hätte die Liebe nicht. – Agape, Anklang eines Wortes, das angesichts der Verlorenheit IN DEN SPRACHEN in zirkulierenden Massen aus der Einsamkeit wohl erlösen könnte, aber es hat sich noch DER MENSCHEN kein Sinn verfestigt. Apape: baumkahler Hügel der Erkenntnis, aber das Erkennbare ist noch UND ENGEL REDETE, nicht geworden. Kraterland. – Es gibt in den Briefen des Paulus HÄTTE ABER keine Bäume. Keine Palmenwedel rauschen in papierner Schärfe. Keine Pinien knarren. Keine DIE LIEBE NICHT, Zitronen blühen. Keine Zedern, keine Eichen stehen am Wegrand. Nicht einmal ein Hibiskus- WÄRE ICH strauch, in dessen Blüten die blauschwarzen Kolibris ihre gebogenen Schnäbel tauchen, DRÖHNENDES ERZ kommt vor. Hat er sie nicht gesehen? Lief er in Kleinasien nie bewusst über Hänge voll ODER EINE Lavendel? Atmete er nie den Thymianduft in den Bergen? Dieses Defizit bildet einen LÄRMENDE PAUKE. bemerkenswerten Unterschied zu den Evangelienerzählungen in ihrer lebenssatten Sinnlichkeit. Paulus lebte wohl in einem Krater. 1 Kor 13,1 Er nahm wenig wahr. Er kämpfte sich noch dort durch Geröll, wo andere selbstsicher und Illustration: Patrick Schoden komfortabel lebten. Die Städte nahmen ihn nicht auf, und das Land war nichts als eine Strecke, die es schnell zu durchmessen galt. Aber nun tritt ihm die agape, die Liebe, in den Weg. zoé // 19
NACHGEDACHT NACHGEDACHT »Liebe ist der Tonfall seiner Sprache. Paulus an die Gemeinde Ahab oder agapan: Seit der Zeit, als der Das Dasein eines Bild; dann aber von Angesicht zu Ange- Jerusalemer Tempel nach 586 v. Chr. zer- sicht.“ Dieses unvorstellbare Gesicht im jeden Geschöpfes in Korinth stört durch die Babylonier lag und Teile des israelitischen Volkes ein traumati- ist Liebe, durch Liebe Gesicht, des Gottes in dem des Menschen und umgekehrt, könnte man vielleicht sches Exil im Zweistromland erlebten, verstehen wie ein „Gegenüber zweier 1 Kor 13,1-3 wurde aus einem seelischen Ausdruck ein hervorgerufen.« Spiegel, die ihr Nichtvorhandensein, die Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die spiritueller Weg. Es war die Liebe, die in ein und dasselbe Bild der Nichtigkeit Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. der Fremde den Menschen in einen nun reflektieren“ (E. M. Cioran), denn es ist Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und nicht mehr lokalisierbaren „heiligen Be- nichts, was sich zwischen ihnen ereignet, alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit zirk“ führen konnte, sie wurde gefordert sie ereignen sich eins im anderen. Und die versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib von dem unbehausten Gott, während die kultischen Ordnungen nur noch auf »Die Liebe gibt ihnen Liebe gibt ihnen ihre Wirklichkeit als je- nen unendlichen Raum ihrer wechselsei- opferte, um mich zu rühmen, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts. Trümmer wiesen. „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du ihre Wirklichkeit tigen Spieglung: „ ... dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben als jenen unendlichen „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele der Herr allein. Und du sollst den Herrn, und mit all deiner Kraft.“ (Deuteronomi- Raum ihrer wechsel- deinen Gott, liebhaben von ganzem Her- um 6,4-5) Sinnlich wurde diese Liebe in zen, von ganzer Seele und mit all deiner der Sammlung und im Studium der nun seitigen Spieglung.« Kraft.“ Der Befehl der Liebe (was für mehr und mehr zur Schrift gerinnenden eine Zumutung!) birgt die ganze Ambi- Überlieferung und im fraglosen Befolgen valenz der Tora, die im Wesen eben kein A der Gebote aus der Wüstenzeit. Gesetz, sondern einen Berührung ist, Kann man Gott lieben? Die Frage ist wie eine scheinbar ganz unbeabsichtigte gapē. Wer ist die agapē? Das ferung, Treue und Eifersucht. Nichts, was alt wie das Liebesgebot selbst, und die Bi- Zärtlichkeit, ein erstes Erkennen: Du? Wort zieht aus dem vorbib- die griechische agapē auszeichnete, aber bel ist sehr vorsichtig: Lieben kann man Es gibt dich? Dann erst und viel später, lischen Griechisch herauf wie ein Ne- das ist ja nun auch ein Verwandlungsspiel. Gott wohl nur im Sinne der Resonanz findet das Gesetz, Ritual der Liebe, zur bel, ein vager, langsam herabsinkender Ahab ist in seiner Bedeutung weit wie einer Schwingung, die von Gott ausgeht, Kann man Gott lieben? In der dürren Erfüllung, wiederholt wie der Liebesakt Dunst. Agapē war ein seltenes Wort. Das »Die Zärtlichkeiten der deutsche Ausdruck „lieben“. In der die seiner Stimme eigen ist und jedem Sprache der Theorie gefragt, nüchterner: und unergründlich. Hosea hat als einer ihm zugehörige Verb agapan schwankte in der Bedeutung, meinte etwas zwischen des liebenden Gottes hebräischen Bibel hat das Verb vor al- lem dann einen verstörend tiefen Klang, Wortlaut beigegeben. Liebe – sie ist wie der Klang, in dem Gott die Dinge hervor- Kann Gott das Objekt eines transitiven Verbs sein? Auch die althebräische Spra- der frühesten namentlich bekannten Propheten diesen tiefen Grund der israe- „sich zufriedengeben“, „etwas gerne mö- sind nicht immer wenn es auf Gott als Subjekt trifft. Dann spricht, sie schaffend benennt, sagen wir che, die viel assoziativer als das Deutsche litischen „Gesetzesreligion“ in visionärer gen“ und „bevorzugen“. Verglichen mit bildet ahab einen warmen Grundton, besser: besingt. Liebe ist der Tonfall sei- ist und keine vergleichbar klaren Sub- Schau gesehen: „Darum siehe, ich will sie dem rauschhaften eros, der von den Grie- menschengemäß. über dem sich die meist rechtlich-theo- ner Sprache. Das Dasein eines jeden Ge- jekt-Objekt-Beziehungen kennt, lässt locken und will sie in die Wüste führen chen verehrten sinnlichen Liebe, war die logischen Metaphern des israelitischen schöpfes ist Liebe, durch Liebe hervorge- diese Frage zu: Kann ich mit Gott etwas und freundlich mit ihr reden ... “ (Hosea, agapē kühl und diffus wie der Tau. Die Herkunft des Gottesverständnisses wie eine Oberton- rufen, und in einer biblischen Spitze kann machen, sei es: IHN lieben? 2,16) Gemeint ist Israel, und die gan- Erst als Übersetzung wird das Wort dichter, empfängt Substanz aus einem Gottes der Israeliten reihe aufbauen. Liebe – das ist eine Bewe- gung weit unterhalb der Regelungen des es heißen: Gott selber sei die Liebe (1 Joh 4,16). Liebe – das ist das Grundgeräusch Die Frage perlt an dem Wort agapē ab. Die Agapē führt in die Auflösung solcher ze Geschichte des Auszugs aus Ägypten wird zu einer Liebesgeschichte. „Ich“ – anderen Kulturraum, es saugt sich voll: Die Septuaginta setzt das Wort fast durch- ist vulkanisch: Bundesschlusses, unterhalb der Tora, der kultischen Bestimmungen zu Opfer und der Dinge, Polyphonie des Staunens über ihr Erscheinen. (...) festen grammatischen Zuordnungen, weil das liebende Subjekt sich verliert das ist dabei der Gott, und der Weg führt stracks in die Weite des unwirtlichen Si- gehend für das hebräische Verb ahab. Im Er ist unberechenbar, Reinheit, eine Schwingung in seltsamer Angst ist jedenfalls der Liebe zu Gott in der Liebe, nicht mehr Herr und nicht naigebirges. Grunde wird eine hebräische Vokabel Ambivalenz, rohes Grollen oder Gesang. zu eigen, denn ihr Verlangen bewegt sich mehr haltbares Gefäß seiner selbst ist. griechisch eingekleidet. Und der dunkle glühend.« Die Zärtlichkeiten des liebenden Gottes hinein in einen Bereich, der nicht mehr Das verschwimmende Wesen der Lieben- semitische Körper gibt dem Schleier seine sind nicht immer menschengemäß. Die menschlich ist. Dem hellenistischen Ju- den blitzt am Rand der Worte des Apos- Auszug aus Christian Lehnert: Korinthische Form: In das Gewand fügen sich Sinnlich- Herkunft des Gottes der Israeliten ist vul- dentum galt das Martyrium als letzter tels auf im Bild des Spiegels: „Wir sehen Brocken. Ein Essay über Paulus. Suhrkamp keit und Verlangen, Fürsorge und Aufop- kanisch: Er ist unberechenbar, glühend. Ausdruck der agapē. jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Verlag. 4. Auflage 2018. 24,95 Euro 20 // zoé zoé // 21
INTERVIEW »Liebe ist ein Feuer, 22 Fragen von dem man nie weiß, an Martina Kreidler-Kos wie es ausgeht.« Sie selbst mag ein katholisches Ideal leben. Der Einsatz von Martina Kreidler-Kos gilt aber mindestens ebenso jenen, die diesem vermeintlichen Ideal nicht entsprechen. Ein Gespräch mit einer Expertin in Sachen Liebe 1 Was heißt für Sie Liebe? 3 Sie sind verheiratet, haben vier Kin- grandios! Es gibt kein Ideal von Familie Das ist eine steile Frage zum Einstieg! der, sind kirchlich hochengagiert. Sie – und auch wir sind alles andere als ideal. Aber: Ich habe das Glück, seit 26 Jahren sind das katholische Ideal. Wir müssen uns den gleichen Herausfor- mit ein und demselben Mann verheiratet (lacht) Ja, absolut. Wir sind eine katholi- derungen stellen, wie alle anderen Fami- zu sein und das sehr gerne! Wenn ich an sche Bilderbuchfamilie, das weiß ich! lien. Da ist es völlig egal, ob das Etikett ihn denke, fällt mir eine schöne Definiti- katholisch drüberhängt oder nicht. on ein: „Liebe ist ein Feuer, von dem man 4 Und wie gehen Sie mit diesem Ideal um? nie weiß, wie es ausgeht!“ Natürlich gibt Das Schöne ist, dass ich so tatsächlich hei- 6 Aber die Ehe bleibt ja die katholische es unterschiedliche Phasen und Facetten ße Eisen in der Kirche leichter anpacken Hochform von Partnerschaft. auch in unserer Liebe, aber mein Mann kann. Mit dieser Biografie kann ich mich Ja. Wenn wir Beziehungen anschauen, ist und ich, wir hüten dieses Feuer. Wir müs- stärker zum Beispiel für Partnerschafts- die sakramentale Ehe der Goldstandard. sen nicht solche Sätze sagen, wie „An Be- segnungen einsetzen als andere. Und da Aber nicht, weil sie dieses Etikett hat, son- ziehungen muss man arbeiten“ oder „Be- bin ich durchaus zu strategischem Tun dern, weil dahinter das steht, wonach die ziehungen kommen in die Jahre“. bereit. meisten Menschen sich sehnen: Ausschließ- lichkeit, Treue, Verlässlichkeit, Kinder. 2 Aber solche Sätze hört und liest Die Frage von Segnungen für gleich- man doch sehr oft. geschlechtliche Paare liegt Martina 7 Da würden Ihnen nichtgläubige Ja, das kriegt man immer wieder zu hö- Kreidler-Kos am Herzen. Sie versucht Paare aber auch zustimmen. ren! Ich finde, das klingt nach ganz viel die Arbeitsebene in den Diözesen zu Ja, aber wir Christen und Christinnen glau- Nüchternheit und, ehrlich gesagt, oft ge- vernetzen und möchte gemeinsam ben, dass diese Werte durch die sakramen- nug freudlos. Die Vorstellung, man kön- schauen, was in diesem Punkt möglich tale Ehe geschützt sind, dass Gott das, was ne Liebe zusammenzimmern, halte ich ist – und was nicht. bei den Menschen schon da ist, schützt für falsch. Liebe kann man nicht bauen. und unterstützt. Daran glaube ich und ich Das ist zumindest meine Erfahrung. Man 5 Sehen Sie sich denn auch als Ideal? schätze und hoffe und liebe es, dass Gottes muss schon immer mal wieder zusam- Nein! In Amoris Laetitia schreibt Papst Segen über unserer Familie liegt. menarbeiten, aber ich würde meinen Franziskus: „Familie ist eine herausfor- Mann und mich nach all den Jahren als dernde Collage aus vielen unterschied- 8 Fühlen sich Ihre Kinder denn als Teil ein Liebespaar bezeichnen – nicht als ein lichen Wirklichkeiten aus Freuden, einer Idealfamilie? gut eingespieltes Team. Dramen und Träumen.“ Das finde ich Ich glaube nicht. Sie haben schon mitbe- 22 // zoé zoé // 23
INTERVIEW INTERVIEW kommen, dass es etwas Besonderes ist, 15 Was meinen Sie mit dieser irre! Wenn man verliebte Menschen fra- Lehre der Kirche in den Mittelpunkt, in einer Großfamilie aufzuwachsen. Das produktiven Kraft genau? gen würde, würden sie sagen, die Schöp- sondern das Leben der Menschen. Das ist gibt es ja nur noch selten. Aber ich habe Bei Paaren, die sagen „Wir zwei sind uns fung ist ganz großartig, weil sie diesen ei- völlig neu. auch noch sehr gut in Erinnerung, dass genug“, werde ich immer skeptisch. Ich nen Menschen hervorgebracht hat. Man unser Ältester kurz vor seinem Abitur würde sagen: Damit geht es doch los! ist Gott nie dankbarer für seine gelunge- 21 Auf was beziehen Sie sich bei Ihrer gesagt hat, er hätte bislang eine Überdo- Wenn man das Gefühl hat: Genau der ne Schöpfung, wenn man in den Armen Arbeit stärker? Den Katechismus und sis Familie gehabt und bräuchte jetzt ein oder die muss es sein! Und er oder sie ist eines geliebten Menschen liegt. Wenn die Kirchenlehre oder Amoris Laetitia? bisschen Abstand. nicht nur genug, sondern die Fülle über- wir verliebt sind, dann spüren wir, dass Immer auf Amoris Laetitia. haupt für mich, dann hat das eine Kraft, wir nichts dafür tun können und dass wir 9 Und wie war das für Sie? die sich entfalten muss. die Liebe überhaupt nicht im Griff haben. 22 Sie sind ein echter Fan des Das war schrecklich! Ich bin eine Glucke! Da spüren wir ein Stück Unverfügbarkeit Papstschreibens! Ich hätte sie am liebsten alle vier ganz 16 Wann spüren Sie diese Kraft? und – ja auch den Überschwang Gottes. Ja! Papst Franziskus zeigt darin, dass er nahe bei mir. Ich muss viel lernen, um sie Wenn ich im Lot bin, wenn wir als Paar keine Angst vor der Liebe hat. Das faszi- loszulassen und sie gehen zu lassen. Zu- und Familie im Lot sind, wenn ich das 19 Ein Grund, warum das Gelände so niert mich sehr. Am Anfang, als ich Amo- gleich bin ich auf alle wahnsinnig stolz, Gefühl habe, da gibt es ein festes Fun- vermint ist, ist die kirchliche Sexualmoral. ris Laetitia lesen sollte, dachte ich mir: dass sie ihre eigenen Wege gehen. Wenn dament, das nicht wackelt, dann schaffe Im Moment kann man die Kirche wirk- Jetzt will mir also ein Papst die Liebe er- ich mir vorstelle, sie würden noch alle zu ich total viel. Dann kann ich mich auch lich als so eine Art Moralagentur wahr- klären. Dann bin ich mal neugierig, wie er Hause wohnen, wäre das auch schlimm. gerade hier im Büro mit unglaublich vie- nehmen. Das müssten wir stoppen. Es das macht. Und er macht es so schön! Er Eigentlich haben mein Mann und ich al- len und komplizierten Dingen befassen. muss um etwas anderes gehen, nicht um findet ganz berührende Worte und wird les richtig gemacht, wenn sie abenteuer- Wenn zu Hause alles in Ordnung ist, dann Verbote, sondern um Orientierungshilfe. nicht peinlich, vielleicht ein bisschen lustig sind und voller Energie und Pläne denke ich oft, ich kann hier wirklich alles Unsere Gesellschaft bietet ja wenig, wo- großväterlich, aber das ist okay. Er ist ihr Leben anpacken. stemmen. Ich wüsste nicht, was passiert, ran sich die Menschen inhaltlich orien- über 80 Jahre alt. Er hat keinerlei Berüh- 11 In ihrem Beruf erleben Sie immer nicht oft sieht, dann lebt man sich ausein- wenn mein Fundament wankt. tieren können. Als Kirche hätten wir da rungsängste und das finde ich wohltuend. 10 Worauf haben Sie in ihrer wieder, dass Beziehungen scheitern. ander. Papst Franziskus sagt ganz richtig: was zu bieten: Treue, Ausschließlichkeit, Wenn wir daraus eine Kultur entwickeln Erziehung denn Wert gelegt? Was Sie sehen und wissen, was in einer „Liebe braucht geschenkte Zeit!“ 17 Welche Rolle spielt Gott für Sie Verlässlichkeit. könnten und schätzen könnten, was die wollten Sie Ihren Kindern mitgeben? Partnerschaft alles schiefgehen kann. in der Liebe? Liebenden der Welt geben und was sie Sie sollten sowohl den Menschen, denen Wie sehen Sie mit diesem Wissen Ihre 13 Was noch? Das ist ein Punkt, über den die Kirche 20 Und doch sind das Kirchenrecht auch der Kirche geben, fände ich das sie begegnen, als auch der Welt an sich zu- eigene Familie? Genießt zu zweit! Findet Dinge, die euch viel offener sprechen müsste. Was hat ein und der Katechismus sehr eindeutig. großartig. gewandt sein. Das ist eine tiefe Hoffnung Es ist ein großes Glück und als gläubige guttun. Man muss viel Zeit damit verbrin- liebender Gott mit Erfahrungen von Lie- Papst Franziskus setzt mit seinem Fa- von mir, dass sie einfach gerne leben und Frau würde ich auch sagen: Das ist Gnade, gen, das Leben zu managen. Aber es ist be zu tun? Das betrifft auch den Bereich milienpapier Amoris Laetitia ganz neue INTERVIEW: KERSTIN OSTENDORF glücklich werden. Das wünscht sich na- für die wir gar nichts können. Das ist mir wichtig, so ein paar Dinge zu finden, die der Sexualität. Die berührendsten Er- Impulse. Das Schreiben rückt nicht die FOTO: ANDREAS KÜHLKEN türlich jede Mutter, aber ich sehe da auch wichtig: Es ist weder verdient, noch ein- man als Paar gerne macht. Wir tanzen zum fahrungen machen Menschen dort. Aber ein Stück Spiritualität: Die Welt, das Le- gefädelt, noch erarbeitet. Am Ende ist es Beispiel. Das ist total schön und wichtig. wir denken eher: Der liebe Gott hat etwas ben und die Zeit, die meine Söhne haben, ein Geschenk, über das mein Mann und Das ist Paarzeit für uns, ganz unverzweckt. damit zu tun, wie ich mich sozial verhal- sind ihnen geschenkt. ich nur staunen können. Letztendlich ist te, wie ich die Welt sehe, wie ich mich zur die Liebe ein Geheimnis. 14 Und haben Sie noch Umwelt verhalte, und beten – das geht Martina Kreidler-Kos und ihr Mann einen Ratschlag? für andere, für Kranke. Aber Liebes- und Theologin, Autorin und Dozentin haben ihre Kinder ermutigt, ihre 12 Welche Ratschläge würden Sie Habt Kinder zusammen! (lacht) Das klingt Glaubenserfahrungen zusammenzubrin- Talente zu nutzen. Der älteste will jungen Paaren mit auf den Weg geben? jetzt wieder superkatholisch, aber so bin gen – da haben wir ganz wenig Fantasie in Martina Kreidler-Kos (*1967) ist in Bad Waldsee in Oberschwaben aufgewach- nach einem Philosophie- und Literatur- Investiert Zeit! Egal, ob die Kinder klein ich es gerne! Ich denke oft, dass die Liebe der Kirche. sen und studierte Katholische Theologie in Tübingen. Sie ist Diözesanrefe- studium nun promovieren, der zweite sind oder beide in tollen Jobs stecken, immer über sich hinauswächst. Liebe hat rentin für Ehe und Familie im Bistum Osnabrück und leitet den Fachbereich arbeitet am Theater und will Regie die Gefahr ist riesig, dass man für alles eine produktive Kraft. Das können gemein- 18 Warum? Übergemeindliche Pastoral. Außerdem arbeitet sie als Autorin und Dozentin. studieren. Ihre jüngeren Söhne Zeit findet, außer füreinander. Und das same Kinder sein, Adoptiv- oder Pflege- Wir halten uns da bedeckt, weil das Sie ist mit dem Moraltheologen Elmar Kos verheiratet, hat vier Kinder und lebt gönnen sich nach dem Abitur eine ist schwierig. Das kennt ja jeder auch kinder oder auch ein gemeinsames gesell- schnell schwierig wird, weil das Gelände im Osnabrücker Land. Work-and-Travel-Auszeit. von Freundschaften: Wenn man Freunde schaftliches oder kulturelles Engagement. so vermint ist. Dabei ist das eigentlich 24 // zoé zoé // 25
MEINE QUELLE MEINE QUELLE »Unsere Tankstelle zu Gott« H i, ich bin Kenny, wir können uns duzen.“ Kendrick Maca- sero, 29 Jahre, führt uns in die Cumpaney, einen rotgeklinkerten Altbau neben der »Wir haben uns gefragt, wie ein ziellen Fragen und schreiben manche Tex- te um.“ Seit 2014 gibt es die Exodus-Band. Anfangs besuchten sie Treffen einer evan- gelikalen Gruppe in Hannover. In solchen St.-Benno-Kirche in Hannover-Linden. Gottesdienst aussehen Gruppen gehört das Halleluja-Rufen und Eingängige Musik als Vehikel für ein Glaubensgefühl und Spiritualität. Ein Viertel, das sich mit seinem Alterna- Hände-in-die-Höhe-Halten oft dazu. „So Worship-Musik spricht derzeit gerade jüngere Erwachsene an. tiv-Hipster-Studenten-Umfeld als das muss, zu dem wir ein Zugang ist aber nichts für mich.“ So auch in der Jungen Kirche Exodus in Hannover Kreuzberg Hannovers bezeichnet. Drin- nen begrüßen uns Sebastian Hemme, 31 hingehen wollen.« Mittlerweile feiern sie einmal im Mo- nat mit bis zu 50 Leuten und wechseln- Jahre, und Sarah Zwittian, 23 Jahre. den Priestern eine Messe. Das kann in In der Wohnung – hohe Decken, knar- einer Kirche oder in der angesagten Disco zende Türen – stehen auf dem Boden zialpädagoge von Rhythmus und Text sein. Auch die Band mit bis zu neun Mu- Farbeimer, ein Kreuz und abgebaute Kü- spricht, von ihrer Form des Glaubens – all sikern setzt sich immer neu zusammen. chenmöbel. So wenig die Wohnung fer- das lässt erahnen, warum für diese drei Dass alle an einem Termin Zeit finden, ist tig ist, so sehr passt sie zu Exodus – eine „Großer Gott, wir loben dich“ spirituelles eher selten. christliche Gemeinschaft von und für Graubrot ist. Das mag unverbindlich klingen, scheint junge Erwachsene und eine Band, die ei- Worship-Musik, also Lobpreismusik, es aber nicht zu sein. Die Grundform der nes nicht ist: fertig, abgeschlossen, mit setzt oft auf charttaugliche Melodien und Liturgie ist unverändert und das Anliegen klarer Struktur. Instrumentierungen, viele Wiederholun- eines gemeinsamen Gottesdienstes eben- Vielmehr wirkt sie wie eine Suchbe- gen und eingängige Texte. Kritiker bemän- so. Eher ist es eine Form von Spiritualität, wegung. „Wir haben uns gefragt, wie ein geln fehlende textliche Tiefe, die Begren- die in klassischen Gottesdienstformaten Gottesdienst sein muss, zu dem wir hinge- zung auf das Lob Gottes, eine Nabelschau nicht vorkommt. Die sich darin eingeengt hen wollen“, erzählt Sebastian, ein Grund- auf das „Ich-mit-Gott“ und eine Gleichset- fühlt. Die ausdrucksstark ist, wie es in schullehrer. „Der unsere Tankstelle zu zung von Popkonzert und Anbetung. Deutschland bisher eher untypisch ist – Gott sein kann.“ Musikalisch ansprechend Bei Exodus in Hannover geht es aber vielleicht aber typischer wird. sollte er sein, die Gebete emotional. Die nicht um Gefühlsduselei. „Wir drei sind Menschen sollten eine „echte Gemein- klassisch kirchlich sozialisiert. Ich war TEXT: RAINER MIDDELBERG schaft“ bilden. Dazu passte für sie tradi- Messdienerin“, erzählt Sarah. „Aber das FOTO: ANDREAS KÜHLKEN tionelle Kirchenmusik nicht, Gospel und hier spricht mich viel unmittelbarer an. neues geistliches Lied auch nicht. Bei der Wir suchen uns auch Lieder zu existen- Mehr Infos: www.exodusgemeinschaft.de Worship-Musik von Hillsong und anderen häufig evangelikalen Gruppen aus den USA und Australien sprang der Funke über. „Komm, wir machen einen Lobpreis“, sagt Kendrick. Ja, einen Lobpreis ma- KOMM, KOMM – FÜLLE UNSERE HERZEN. // chen. Nicht, ein Lied singen zum Lobe Gottes. Sebastian und Kendrick grei- KOMM, KOMM – SCHENK UNS DEINEN GEIST. // fen zu den Gitarren. Sarah stimmt mit KOMM, KOMM – NUR DU KENNST KEINE GRENZEN. // ein, gemeinsam singen Sie voller Nach- druck: „Komm, komm – fülle unsere Her- KOMM MIT DEINER HERRLICHKEIT IN UNSERE ZEIT. // zen. Komm, komm – schenk uns deinen Geist ...“ Religiöser Folk-Pop mit innerer Exodus Quarterly Projekt – In deine Hand Überzeugung. „Musik darf auch Gebet Lobpreis mit abgebauten Küchenmöbeln: Sebastian, Sarah und Kendrick (v.l.). Das Kreuz auf dem Boden? Stand tatsächlich so da sein“, sagt Kendrick. Die Art, wie der So- 26 // zoé zoé // 27
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