Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin

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Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin
RURIKTITEL

              Nr. 4
            LIEBEN

   Liebe braucht
geschenkte Zeit
                         zoé   // 1
Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin
EDITORIAL

                                                                                                                                                                                                    Liebe Leserinnen und Leser,
LIEBE                                                                                                                                                                                               die erste Partnerschaft, der erste Kuss, die eigenen                           September 2019

SCHMECKT
                                                      Wenn du mal keine Liebe kriegst //                                                                                                            Kinder – wir alle haben eigene Bilder im Kopf beim
                                                      Und einsam und klein, ganz allein //                                                                                                          Wort Liebe. Biblisch ist dieses Wort noch viel wei-

GUT                                                   unter deiner Decke liegst //                                                                                                                  ter gefasst: Eigenliebe, Nächstenliebe, Feindesliebe.
                                                                                                                                                                                                    Und überall soll sich die Gottesliebe ausdrücken. Ein
                                                                                                                                                                                                                                                                                Nr. 4
                                                                                                                                                                                                                                                                              LIEBEN
                                                      Dich verkriechst und selbst liebst //
                                                                                                                                                                                                    Riesenwort also, dem wir uns in dieser Zoé in ver-
                                                      Bis du müde bist, müde bist, müde bist, müde bist, … //
                                                                                                                                                                                                    schiedenen Geschichten nähern.
Denkst du auch, dass es Liebe ist? //                 Wenn du dich fragst, wo die Liebe ist //
Fühlst du auch, dass es anders ist? //                Und ob sie dich einfach hängen lässt //                                                                                                       Dass Liebe geschenkte Zeit braucht, wie Papst Fran-
Dass die Welt anders schmeckt, anders riecht //       Dann kommt sie irgendwann bei dir an //                                                                                                       ziskus in Amoris Laetitia (224) schreibt, ist offen-
                                                                                                                                                                                                                                                                                 Titelthema
Anders tickt, wenn du bei mir bist? //                Und zeigt dir, dass du besonders bist //                                                                                                      kundig. Das gilt auch für Michael Schmülling, der                               4
                                                                                                                                                                                                    als Religionslehrer und Sozialpädagoge vielfältige
Oh, es ist schön, wenn du Liebe gibst //              Lieber mit Lust die Liebe leben //                                                                                                                                                                                 Damit sie sich schätzen
                                                                                                                                                                                                    Beziehungsarbeit an seiner Schule leistet. Oder für
Weil du plötzlich ganz anders liebst //               Als im Leben nie Lust oder Liebe erleben //                                                                                                                                                                        und dadurch schützen
                                                                                                                                                                                                    unsere Kollegin Kerstin Ostendorf. Sie hat vor einem
Mit dem Körper die Seele verführst //                                                                                                                                                                                                                                Ein Religionslehrer und Sozialpädagoge
                                                                                                                                                                                                    Jahr geheiratet und blickt zurück auf den Trubel der
Und nich' nur meine Haut berührst //                                                                                                                                                                                                                                     als Mann für Beziehungsarbeit
                                                   Grossstadtgeflüster, Liebe schmeckt gut,                                                                                                         Vorbereitung. Und darauf, was sich mit der Hochzeit
Lieber mit Lust die Liebe leben //                 auf: Muss laut sein                                                                                                                              verändert hat.                                                               10
Als im Leben nie Lust oder Liebe erleben //                                                                                                                                                                                                                        Ich muss den Täter nicht mögen
Liebe macht sexy, Liebe macht schön //                                                                                                                                                              Wir danken allen Lehrerinnen und Lehrern, die mit                   Reflexion über die Feindesliebe
                                                                                                                                                                                                    eigenen Texten und Ideen diese Ausgabe möglich
Liebe muss man nicht kaufen, Liebe muss nicht vergeh'n //                                                                                                                                                                                                                        11
                                                                                                                                                                                                    gemacht haben. Gleichzeitig laden wir wieder alle
Liebe gibt es schon ewig, Liebe gibt's nie genug //                                                                                                                                                 Leserinnen und Leser ein: Senden Sie uns Ihre Vor-               Ich packe meine Schultasche
Liebe riecht frisch gebacken //                                                                                                                                                                     schläge für Geschichten, für Ihre Impulse im Alltag.          Was eine Religionslehrerin im Beruf antreibt
Mmmh ... Liebe schmeckt so gut //
                                                                                                                                                                                                    Und nun viel Freude beim Lesen!
                                                                                                                                                                                                                                                                                   12
                                                                                                                                                                                                                                                                           Lieben ist das eine,
                                                                                                                                                                                                                                                                           Heiraten das andere
                                                                                                                                                                                                                                                               Rückblick auf den Irrsinn einer Hochzeitsvorbereitung
                                                                                                                                                                                                                       Rainer Middelberg                                            16
                                                                                                                                                                                                                       Chefredakteur                                         Trauernder Onkel
                                                                                                                                                                                                                                                                 Wie sich angesichts des Todes seiner Nichte
                                                                                                                                                                                                                                                                     Perspektiven eines Priesters ändern

                                                                                                                                                                                                                                                                                         17
                                                                                                                                                                                                                                                                      Glück gehabt // Dumm gelaufen
                                                                                                                                                                                                      zoé – leben mit anderen augen sehen                                                22
                                                                                                                                                                                                                                                                     22 Fragen an Martina Kreidler-Kos
                                                                                                                                                                                                       Das Magazin für Religionslehrerinnen und -lehrer             Die Theologin ist Expertin in Sachen Liebe
                                                                                                                                                                                                        in den (Erz-)Bistümern Berlin, Hildesheim und                                     26
                                                                                                                                                                                                       Osnabrück. Mehr Infos: www.zoe-magazin.de                          Unsere Tankstelle zu Gott
                                                                                                                                                                                                                                                                      Worship-Musik als Vehikel für Spiritualität
                                                                                                                                                Fotos: Titelseite: Andreas Kühlken // S. 3 privat
                                                                                                                                                                                                                                                                                          28
                                                                                                                                                                                                                                                                      Alle Erkenntnisse waren schon da
                                                                                                                                                                                                    zoé bezeichnet in der altgriechischen Sprache physisches
                                                                                                                                                                                                                                                                Trainerin erkennt auf dem Jakobsweg nicht nur ihren
                                                                                                                                                                                                    Leben im Gegensatz zum Tod. Dabei geht es aber nicht
                                                                                                                Illustration: Patrick Schoden

                                                                                                                                                                                                                                                                Traumberuf, sondern auch das Ende ihrer Beziehung
                                                                                                                                                                                                    nur um die Frage, wie und wodurch man lebt, sondern
                                                                                                                                                                                                    auch woraus und wozu. Im Neuen Testament ist Jesus
                                                                                                                                                                                                    selbst der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6),               32 Auszeit // 34 Aufgelesen
                                                                                                                                                                                                    das er schenkt. Diese Zeitschrift möchte diese Dimensi-
                                                                                                                                                                                                    onen von zoé miteinander verknüpfen und erforschen.

                                                                                                                                                                                                                                                                                                             zoé    // 3
Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin
LIEBEN                                                                                                 LIEBEN

                                               Damit sie sich
                                                 schätzen
                                                und dadurch
                                                 schützen
                                                 Auch heute einen wertschätzenden Umgang mit Liebe und
                                                Sexualität zu vermitteln, ist nur eine Herausforderung im Alltag
                                              von Michael Schmülling. Er ist Religionslehrer und Sozialpädagoge
                                               in Göttingen. Ein Mann für Beziehungsarbeit auf vielen Ebenen

       Das Zwiegespräch ist eine Stärke von
       Michael Schmülling. Ohne Ablenkung
       durch das Umfeld bekommt er die
       Aufmerksamkeit seiner Schüler

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              zoé                                                                                             zoé   // 5
Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin
LIEBEN                                                                                                                                                                                                                                                                         LIEBEN

D                          ie Gitarre in der Ecke, Fotos von Schul-
                           fahrten an den Wänden und die Sitz-
                           ecke mit Glastisch und kleiner Ikone
– sie alle spiegeln die Arbeit von Michael Schmülling wider. Er
ist Sozialpädagoge und Religionslehrer an der Bonifatius-Ober-
schule in Göttingen. Und ein in der Wolle gefärbter Pfadfinder,
der den Weg in seinen heutigen Beruf erst suchen und finden
musste: erst Banklehre, dann Fachabitur, Freiwilliges Soziales
Jahr, Studium der Sozialpädagogik und später die Fortbildung
                                                                      Schüler fläzen sich eher auf ihren Stühlen, als dass sie eine Ar-
                                                                      beitshaltung einnehmen. Kurz vor den Ferien findet das ausge-
                                                                      teilte Arbeitsblatt wenig Beachtung.
                                                                         Die Schultern hochgezogen, das Gesicht verheult, den Blick auf
                                                                      den Boden gerichtet öffnet Maike (Schülernamen sind geändert)
                                                                      die Tür des Klassenzimmers. Sie schleicht zu ihrem Platz, ein
                                                                      einzelner Platz ganz hinten im Raum. „Wo kommst du denn jetzt
                                                                      noch her?“, fragt Michael Schmülling. Sein Ton ist ruhig, aber be-
                                                                      stimmt. „Ich konnte nicht eher ... Ich habe mit ...“ Die Stimme des
zum Religionslehrer.                                                  Mädchens bricht. Sie blickt zu Boden. „Beruhige dich erst mal“,
                                                                      sagt Schmülling. Seine gelassene Reaktion zeigt, dass unvorherge-
Gesprächspartner ohne Notenbuch im Hinterkopf                         sehene Situationen sein tägliches Geschäft sind. Kurze Zeit später
                                                                      geht er mit der Zwölfjährigen auf den Flur. „Ihr andern macht bit-
Nach verschiedenen Tätigkeiten in der kirchlichen Verbands-           te mit dem Arbeitsblatt weiter.“
arbeit ist er seit 2006 an der Bonifatiusschule. Hier arbeitet er        Michael Schmülling und Maike sprechen auf dem Flur, die
mittlerweile mit jeweils halber Stelle als Sozialpädagoge und als     Tür bleibt offen. Später erklärt er, dass er so nicht nur der Auf-
Religionslehrer. Mit seiner Stellenbeschreibung kann er unkom-        sichtspflicht nachkommen, sondern auch zweifelhafte Situatio-
plizierte Beratungsangebote machen. In ihm finden Jugendliche         nen alleine mit dem Mädchen ausschließen will. Hier wie auch
einen vertrauensvollen Gesprächspartner, der eben kein Noten-         in Pausengesprächen zeigt sich, dass Schmülling ein Mann für
buch im Hinterkopf hat.                                               Beziehungsarbeit ist, bei Konflikten zwischen Schülern, Schü-
   Der Weg zu Schmüllings erster Stunde heute ist eher ein Spa-       lern und Lehrern, Schule und Elternhaus, Lehrern untereinan-
ziergang durch den Süden der Göttinger Altstadt mit hohen Bäu-        der. „Vielleicht ist das ja gelebte Solidarität“, sinniert er. Viel-
men und Altbauten. Die Schule hat vier Gebäude, drei mit weit         leicht auch praktische Nächstenliebe. In jedem Fall prägt seine
mehr als 100 Jahren auf dem Buckel. Sie liegen im Viertel ver-        Arbeit das Miteinander.
teilt und haben kein gemeinsames Schulgelände.                           Die Stimmung in der Klasse schaukelt sich derweil auf. Klaus
   Die Luft im Gebäude an der Bürgerstraße ist drückend heiß.         genießt es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und wirft ein
Der Gong schlägt. Zwei Mädchen begrüßen Michael Schmülling            Radiergummi durch den Raum. Lautstarke Kommentare von
schon auf dem Flur. „Wir wollen Sie abholen“, flöten sie und          Mitschülern folgen. Die wenigen Minuten ohne Lehrer genü-
geleiten ihren Lehrer in den Raum der 6a. Die dritte Stunde be-       gen, um die Arbeitsatmosphäre aus den Angeln zu heben. Wie             Unweit des Grabmals von Carl Friedrich Gauß liegt das Sandsteingebäude, in dem Michael Schmülling sein Büro hat. Die Pracht der
ginnt, Vertretungsunterricht Erdkunde. 18 Schülerinnen und            in einem Brennglas zeigt sich in dieser Klasse die Situation in        ehrwürdigen Gebäude außen weicht typischem Schulcharme innen – mit Schmülling als Ansprechpartner in Unterricht und Pause

6 //   zoé                                                                                                                                                                                                                                                                     zoé   // 7
Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin
LIEBEN                                                                                                                                                                                                                                                             LIEBEN

                                                                                                              »Ich habe
                                                                                                           das Bedürfnis,
                                                                                                          die Mädchen vor
                                                                                                          gierigen Blicken
                                                                                                           zu schützen.«

Hitze, Ferien im Blick, Vertretungsunterricht – bis zu einer Arbeitsatmosphäre dauert es

vielen integrierten Systemen wie Ober- und Sekundarschulen                auf ihren Arm, starrt auf die Worte und biegt den Stift, bis er        Schmülling hält auch die Kleiderordnung an seiner Schule für
in Deutschland. Mit der Abschaffung der Schullaufbahnemp-                 bricht. Wie getrieben greift sie den nächsten Stift und verwan-        wichtig. Mädchen sind angehalten, keine Hotpants und freizügige
fehlung ist in Niedersachsen seit 2015 eine Entscheidungshilfe            delt ihren Unterarm in eine einzige rote Farbfläche. Von Micha-        Tops zu tragen. „Ich habe das Bedürfnis, die Mädchen vor gierigen
für Eltern zur Wahl der weiterführenden Schule entfallen. Die             el Schmüllings Versuch einer Ergebnissammlung bekommt sie              Blicken zu schützen.“ Die mitunter doch sehr knappen Shorts und
Übergangsquote zum Gymnasium hat sich auf rund 43 Prozent,                nichts mit. Er lässt sie in Ruhe.                                      Tops an diesem heißen Tag zeigen gleichwohl die Grenzen dieses
zur Integrierten Gesamtschule auf 16 Prozent und zur Ober-                   Ein Streit mit dem Freund, eskaliert auf dem Schulhof, war          Wunsches auf.
schule auf rund 21 Prozent eingependelt.                                  der Grund für ihren Frust. Schmülling spricht sie am Ende der             Umso wichtiger ist die Sensibilität auf allen Seiten. „Die Ju-
   Gleichzeitig ist die Inklusionsquote, also der Anteil der Schüler      Stunde noch einmal an: „Wir können das Problem hier nicht lö-          gendlichen müssen ein Gefühl dafür entwickeln, dass sie nur
mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen stark                sen. Vielleicht bringt dir die Pause etwas Ablenkung. Wenn du          schützen können, was sie auch schätzen.“ Im Kollegium wirbt
gestiegen. Besuchten in Niedersachsen 2008 noch 23.000 Kinder             Hilfe benötigst, kannst du zu mir kommen. In der sechsten Stun-        er dafür, bis Jahrgang 7 getrennt geschlechtliche Lerngruppen
eine Förderschule für die Bereiche Lernen bzw. Emotionale-So-             de habe ich für dich Zeit.“                                            einzuführen. „Dann müssen sich Mädchen und Jungen im Un-
ziale Entwicklung, waren es 2018 nur noch 9.000 Mädchen und                                                                                      terricht nicht mehr voreinander produzieren. Vielleicht näh-
Jungen. Entsprechend mehr Kinder mit diesen Förderbedarfen                Gegenentwurf für eine an Pornos gewöhnte Jugend                        me so eine Schutzzone in der ersten Phase der Pubertät etwas
verteilen sich nun auf Regelschulen – nachweislich weit überpro-                                                                                 Druck raus.“
portional auf Haupt- und Oberschulen.                                     Liebeskummer, so normal und doch so brutal. Liebe und Sexualität          Schmülling hat das Thema heute auch im Religionsunter-
   Genau dieser Entwicklung und Kindern wie Klaus stellt sich             werden auch hier in der Sekundarstufe I auf vielen Ebenen thema-       richt auf den Plan gesetzt. „Was verbindet ihr mit dem Begriff
Michael Schmülling. Klaus wirft wieder Gegenstände durch den              tisiert. Vom Sexualkundeunterricht in Biologie über Liebeslyrik in     Liebe?“, lautet die Frage. „Füreinander da sein“, „Freundschaft“,
Raum. Er spricht laut, ohne äußeren Anlass und lehnt sich zum             Deutsch bis zur Werteerziehung in Religion. Es ist der Versuch ei-     „Nie mehr allein sein“ lauten einige Antworten. „Zärtlichkeit“,
Hintermann zurück. Bis zum Ende der Stunde bleibt sein Blatt              nes Gegenentwurfs zu einer an Pornokonsum gewöhnten Jugend,            „Sex“ – nein, diese Worte fallen nicht. Vielleicht können sie es
leer. Mehrere Kinder seiner Klasse sind laut Schmülling hyper-            die erst kürzlich ihre Auswüchse bis auf einen Spielplatz in Göttin-   in diesem erneut unruhigen Unterrichtsumfeld auch nicht. Erst
aktiv oder leiden unter Aufmerksamkeitsstörungen.                         gen fand: Dort hatte eine Zwölfjährige einen Gleichaltrigen befrie-    recht nicht, wenn das andere Geschlecht mit dabei ist. Was aber      Schmüllings Büro zeigt, wie er an
   Michael Schmülling bleibt dennoch ruhig. Von Platz zu                  digt. Wie kann und soll Schule mit so etwas umgehen?                   auffällt: Im persönlichen Gespräch mit ihrem Lehrer sind die         Schülern hängt: Überall finden sich Bilder
Platz geht er, spricht die Schüler einzeln zu den Aufgaben auf                Ein Präventionskonzept, die enge Vernetzung mit Beratungs-         einzelnen Mädchen und Jungen trotz des Trubels konzentriert.         und Fotos von Projekten
dem Arbeitsblatt an, sucht den Augenkontakt. Die Unruhe in                einrichtungen und offene Augen und Ohren der Lehrerinnen und           Sie scheinen Michael Schmülling ernst zu nehmen, einfach als
der Klasse scheint er ausblenden zu können. Ihm gelingt in                Lehrer an der Bonifatiusschule sollen helfen, einen angemesse-         Persönlichkeit. Vielleicht ist dieser individuelle Zugang ein Weg,
jedem kurzen Gespräch ein ebenso kurzer wie konzentrierter                nen Umgang mit Sexualität zu vermitteln. Kein leichtes Unterfan-       um mehr Sensibilität wachsen zu lassen.
Austausch.                                                                gen. „Gerade als Mann habe ich eine Schere im Kopf: Ich möchte
   Völlig unbeteiligt davon kauert Maike an ihrem Tisch. „Tut             im persönlichen Gespräch auch jedem Mädchen gegenübertre-              TEXT: RAINER MIDDELBERG
mir leid. Ich habe dich nicht verdient“, schreibt sie mit Filzstift       ten können. Gleichzeitig achte ich aber auf körperliche Distanz.“      FOTOS: ANDREAS KÜHLKEN

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Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin
LIEBEN

                »Ich muss den Täter                                                                                                                                                                       Ich packe meine Schultasche
                   nicht mögen«                                                                                                                                                                                    Religionsunterricht ist mehr als Stundentafel und Kerncurriculum.
                                                                                                                                                                                                                Doch was treibt mich in meinem Beruf an? Gedanken von Dunja Gerdes

                         Wie weit geht die Feindesliebe? Reflexionen von
                     Klaus Mertes darüber, wie wir über Vergebung sprechen

D         as Talionsprinzip („Auge um Auge, Zahn um Zahn“)
          wird oft als Racheprinzip missverstanden. Dabei heißt
es in Ex 21,23 ganz klar: „Du sollst geben: Auge für Auge …“ Das
ist an den Täter gerichtet und verpflichtet ihn zu Schadenersatz,
                                                                    Nach dem Schlaf, morgens um sieben //
                                                                    So steht es in einem Urteil geschrieben //
                                                                    Richtet man mich im Keller hin //                                                                                                Das hat mich zu meinem                      Das habe ich für mich                            Meine Arbeit als
                                                                    Weil ich der gesuchte Mörder bin //                                                                                                 Studium inspiriert:                      aus dem Umgang mit                             Religionslehrerin lohnt
und nicht an das Opfer, um diesem die Bahn freizugeben für Ge-
gengewalt. Das Missverständnis gab es schon immer. Jesus rückt                                                                                                                                                                                 Schülerinnen und Schülern                             sich, weil …
es in der Bergpredigt zurecht. An die Opfer gewandt fordert er:     Bis dahin war mir völlig fremd //                                                                                             Lehrerin sein – das war und ist mein                  gelernt:
„Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die     Wie es in dem Moment //                                                                                                       Traumberuf. Es bereitet mir großen Spaß,                                                 … ich den Schülerinnen und Schülern
andere auch dar.“ (Mt 5,39). Feindesliebe.                          Wo man weiß, jetzt endet das Leben //                                                                                         anderen etwas zu vermitteln und gemein-    Jeder Schüler bringt seine eigene Ge-         in diesem Fach persönlich begegnen
                                                                                                                                                                                                  sam über Sinnfragen zu philosophieren.     schichte und damit unterschiedliche           kann. Dazu gehört auch, dass ich offen,
                                                                    Und es wird keine Gnade geben //
Es reicht, wenn ein Opfer auf Lynchjustiz verzichtet                                                                                                                                              Vor allem durch meine Erfahrungen in       Sichtweisen mit, natürlich auch abhän-        tolerant und gesprächsbereit bin. Das
                                                                                                                                                                                                  der Jugendarbeit bei den Pfadfindern war   gig vom Entwicklungsstand. Durch diese        Fach bietet mehr Freiheiten als ande-
Nun muss das keineswegs bedeuten, dass ich den Menschen, der        Auge um Auge, Zahn um Zahn //                                                                                                 für mich das Fach Religion gesetzt.        Erkenntnis bin ich deutlich gelassener        re Fächer. Religion hat nicht zuletzt
mir etwas angetan hat, mögen soll. Lieben bezieht sich nicht auf    Es trennen Welten Vernunft und Wahn //                                                                                                                                   geworden. Oftmals spiegele ich Schüler-       deshalb einen hohen Stellenwert im
Gefühle, sondern auf Taten beziehungsweise auf Unterlassung von     Auge um Auge, Zahn um Zahn //                                                                                                                                            beiträge nur. Oder ich schildere ihre Wahr-   Schulleben. Beispielsweise richten wir
Taten. Es reicht schon, wenn ein Opfer auf Lynchjustiz verzichtet   Auserkoren, krank vom Wahn //                                                                                                     Diese Schülerfrage bzw.                nehmung aus einer anderen Perspektive,        jetzt – angeregt durch einen Besuch bei
und die Vergeltung dem Herrn überlässt, oder säkular gesprochen:                                                                                                                                         Situation ist mir im                ohne zu bewerten oder zu kommentieren.        der Caritas-Beratungsstelle in Meppen
dem Gericht. Das ist auch schon Feindesliebe und, je schlimmer                                                                                                                                                                               Durch die Auseinandersetzung ist mir          im Rahmen des Oberstufenunterrichts
                                                                    Es hat was Gutes zu verstehen //                                                                                                   Gedächtnis geblieben:
und nachhaltiger der angerichtete Schaden ist, umso mehr.                                                                                                                                                                                    auch mein Glaube klarer geworden.             (Ekklesiologie und Diakonia) – das An-
   Eine missglückte Predigt im Bistum Münster über Vergebung        Ein Kind kann keinen Mord begehen //
                                                                                                                                                                                                  Als Lehrerin an der Deutschen Schule                                                     gebot zu einem Sozialpraktikum ein.
schlug kürzlich bundesweit Wellen. Sie bleibt ein guter Anlass,     Die Sanduhr rinnt, vorbei die Zeit //                                                                                                                                                                                  Aus dem Religionsunterricht im Jahr-
                                                                                                                                                                                                  in Windhoek, Namibia, unterrichtete
darüber nachzudenken, wie wir in der Kirche über das Thema          Ich trete vor, nun ist es so weit //                                                                                                                                                Mit meinem                         gang 5 ist ein digitaler Adventskalender
                                                                                                                                                                                                  ich etliche evangelikal ausgerichtete
Vergebung sprechen können und wie wir besser nicht sprechen                                                                                                                                                                                                                                entstanden.
                                                                                                                                                                                                  Jugendliche. Wie gewohnt praktizierte           Religionsunterricht bin
sollten. Opfer vergeben schon dann, wenn sie darauf verzichten,
                                                                    Ach, wie musst du gelitten haben //                                                                                           ich einen konstruktiv-kritischen Unter-         ich zufrieden, wenn …

                                                                                                                                          Illustration: Adobe Stock.com: toey20 // Foto: privat
selbst die Richter zu sein. „Meinen Hass bekommt ihr nicht“ (An-
                                                                    Es gibt Menschen, die sich daran laben //                                                                                     richt, bis mich eine Mutter aufsuchte.
toine Leiris) – so kann man auch die andere Wange hinhalten.
                                                                    Wenn einer leidet in Todesangst //                                                                                            Ihre Tochter frage sich, ob ich denn an    … die Schülerinnen und Schüler selbst-
TEXT: KLAUS MERTES                                                  Gern verzichte ich auf diesen Tanz //                                                                                         Gott glaube. Zweifel an der wortwörtli-    ständig arbeiten, Fragen entwickeln,
                                                                                                                                                                                                  chen Bibelexegese und meine tolerante      Neugierde zeigen und sich Diskussi-                             Dunja Gerdes ist Lehrerin
                                                                                                                                                                                                  Haltung sorgten für erheblichen Klä-       onen ergeben. Die Basis dafür bilden                            für katholische Religion
                                                                    Auge um Auge, Zahn um Zahn //
                                                                                                                  Foto: Andreas Kühlken

                                                                                                                                                                                                  rungsbedarf. Im Unterricht ergaben         Kooperation, Aktivität und Fachwissen.                          und Deutsch am Windt-
                                                                    Es trennen Welten Vernunft und Wahn //                                                                                        sich tiefgehende Diskussionen, beson-      Zudem gehört dazu, eine eigene Mei-                             horst-Gymnasium in
                                                                    Auge um Auge, Zahn um Zahn //                                                                                                 ders über das Verhältnis von Glaube und    nung zu ermöglichen und dabei jeden                             Meppen und Fachleiterin
                  Klaus Mertes ist Jesuitenpater                    Auserkoren, krank vom Wahn //                                                                                                 Naturwissenschaft.                         Schüler ernst zu nehmen.                                        für katholische Religion
                  und Direktor des Kollegs
                  Sankt Blasien                                     In Extremo, Auge um Auge, auf: Sterneneisen

10 //   zoé                                                                                                                                                                                                                                                                                                              zoé    // 11
Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin
LIEBEN                                                                                                                                     LIEBEN

                               Lieben ist das eine,
                               Heiraten das andere
                                    Kerstin und Marco Ostendorf haben vor einem Jahr geheiratet.
                                     Ein sehr persönlicher Rückblick von Kerstin auf den Irrsinn der
                                    Vorbereitung und auf das, was sich für sie seitdem geändert hat

              Anfang September 2017                                                 Mitte Oktober 2017
              Irgendwie war Marco an diesem Tag merkwürdig. Er drucks-              Die großen Drei stehen: Termin, Location und Musik. Wir wer-
              te herum, er war stiller als sonst, er war alles andere als ent-      den am 1. September 2018 standesamtlich heiraten. Am 14. Sep-
              spannt. Dabei war es unser letzter Urlaubstag am Königssee in         tember ist die kirchliche Trauung und das große Fest mit Famili-
              Bayern. Als ich ihn darauf ansprach, fragte er mich: „Willst du       en, Freunden und Arbeitskollegen.
              mich heiraten?“                                                          Jetzt können wir uns erst einmal entspannt zurücklehnen
                 Damit hatte ich nicht gerechnet. Und doch war es so, wie ich       und Ideen sammeln. Ich bin ein großer Fan von Pinterest. Tolle
              es mir vorgestellt hatte: Es war unser ganz persönlicher Mo-          Fotos, gute Ideen, viele Anregungen. Aber Achtung: Brauche ich
              ment, ohne Publikum, ohne Tanz-Flashmob. Er fragte mich, ob           wirklich eine Bar, an der meine Gäste Früchte in ihr Mineral-
              wir nicht endgültig und ganz offiziell alle Höhen und Tiefen un-      wasser geben können? Und muss ich ernsthaft für alle Frauen zu
              seres Lebens gemeinsam bewältigen wollen.                             später Stunde Flip-Flops bereithalten?
                 Und ich sagte „Ja“.
                                                                                    November 2017
              Zwei Wochen später                                                    Die zweite Hürde: das Kleid
              „Na, endlich!“ – das haben wir in den vergangenen Wochen häu-         Für alle Bräute-in-spe ist die „Vox“-Sendung „Tüll und Tränen“
              fig gehört, wenn wir von unserer Verlobung erzählt haben. Wir         Pflicht. A-Linie oder Prinzessin? Mermaid-Stil oder lieber Boho?
              spüren: Unsere Familien und Freunde freuen sich für uns.              Spitze? Glitzer? Oder beides? Zwei Dinge hat „Vox“ mir beige-
                  Dass wir einmal heiraten wollen, war für uns immer klar. Es       bracht: Der Schleier ist die Krönung, zum Schluss weint jede Frau.
              ging mehr um das „Wann“, nicht um das „Ob“. Nach neun Jahren             Jetzt ist mein Moment gekommen: Ich stehe in einem wun-
              Beziehung wollen wir nun den nächsten Schritt wagen – offiziell       derschönen Brautkleid vor dem Spiegel. Es schwingt, es schmei-
              als Ehepaar und mit dem Schutz und Segen Gottes.                      chelt meiner Figur und Hautfarbe. Meine Mutter, meine Trau-
                                                                                    zeugin und meine Freundin sind genauso begeistert wie ich.
              Anfang Oktober 2017                                                      Aber: Als die Beraterin mir den Schleier ins Haar steckt, den-
              Die erste Hürde: der Termin                                           ke ich: „Nein. Auf gar keinen Fall“. Mein Beratungsteam ist der
              Marco und ich haben das Glück, dass wir uns fast immer sehr           gleichen Meinung.
              schnell einig sind. So steht für uns schnell fest, dass wir im Sep-   Dann wäre jetzt der richtige Moment für die Freudentränen. Aber
              tember heiraten möchten. Das sollte mit fast einem Jahr Pla-          es rührt sich nichts. Nicht einmal feuchte Augen bekomme ich.
              nung im Voraus ja kein Problem sein. Denke ich.                          Wieso weinen die anderen? Bin ich nicht normal? Ist es nicht
                 Das Standesamt in Osnabrück und meine Pfarrgemeinde                das richtige Kleid? Vielleicht sollte ich noch mal in einem ande-
              im münsterländischen Recke belehren mich eines Besseren.              ren Geschäft suchen.
              Fast alle Termine sind bereits belegt. „Da müssen wir erst               Halt! Stopp! Durchatmen und Kopf anschalten. So wollte ich
              mal schauen, was überhaupt noch frei ist“, bekomme ich zu             doch nicht werden. Ich drehe mich eine weitere Runde im Kleid,
              hören.                                                                übe ein paar Tanzschritte – und kaufe es. Eine gute Entscheidung.

12 //   zoé                                                                                                                               zoé    // 13
Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin
LIEBEN                                                                                                                                                                LIEBEN

              »Vor einem Jahr habe ich
                gesagt, dass ich nicht
                                          Januar 2018
              glaube, dass die Hochzeit   Ich habe mir eine App heruntergeladen: „Ehe.Wir.Heiraten“.
                                                                                                               gel aus Erdbeeren und Maracuja („Bei Fruchtstücken bekommt
                                                                                                               nicht jeder Gast gleich viel Frucht“). Rosen, etwas Schleierkraut
               viel verändert. Ich habe   Einmal in der Woche bekomme ich nun einen Impuls zuge-
                                          schickt; kurze Texte, Fotos oder Videos. Wenn freitagabends
                                                                                                               und viele Früchte sind die Deko.
                                                                                                                  Die Torte ist bestellt. Was kann jetzt noch kommen? „Ent-
               mich geirrt. … Etwas ist   mein Handy brummt und der nächste Impuls freigeschaltet              schuldigung, wir müssen noch besprechen, wie wir die Serviet-
                                          wird, nehme ich mir die Zeit, kurz darüber nachzudenken: Wie         ten falten sollen.“
               anders geworden. Es ist    kommunizieren Marco und ich miteinander? Wie streiten wir?
                                          Wie versöhnen wir uns? Die App ist eine kleine, aber gute Alter-     September 2018
              ein stärkeres Gefühl von    native zu einem Ehevorbereitungskurs.                                Am 14. September haben wir geheiratet. Für uns war es tatsäch-

              Sicherheit, von Verbind-    März 2018
                                                                                                               lich ein perfekter Tag. Wir haben gebetet, gelacht, getanzt, gefei-
                                                                                                               ert. Nur geweint haben wir nicht – dafür war es zu schön!
                lichkeit und Stärke.«     „Wo bleiben denn eure Einladungskarten?“ Mist! Hätte ich die
                                          Karten schon Weihnachten verteilen sollen? Haben jetzt alle ih-      Juni 2019
                                          ren Sommerurlaub gebucht und sind im September nicht da?             Unsere Hochzeit war für uns ein unglaublich schöner Tag. Auch
                                             Marco kann über meine kurze Panik nur müde lächeln. Er hat        mit mehreren Monaten Abstand ist das immer noch unser Fazit.
                                          die Karten entworfen, sich bei Druckereien informiert und hilft      Alles hat genauso geklappt, wie wir es uns gewünscht haben. In
                                          mir nun, sie fertig zu basteln. Er ist wie fast immer tiefenent-     all dem Hochzeitstrubel darf man sich nicht verrückt machen
                                          spannt. In diesem Punkt ergänzen wir uns gut. Ich treibe an und      lassen. Wir haben so gefeiert, wie wir es für richtig gehalten ha-
                                          mahne zur Eile, Marco schreibt noch locker eine Whatsapp und         ben. Und wir haben uns die Freiheit gegönnt, uns am Hochzeits-
                                          sucht den Autoschlüssel. Letztendlich sind wir immer pünktlich       tag von unseren Gästen überraschen zu lassen.
                                          – unsere Karten übrigens auch.                                           Vor einem Jahr habe ich gesagt, dass ich nicht glaube, dass die
                                                                                                               Hochzeit viel verändert. Ich habe mich geirrt. Ich kann gar nicht
                                          Juni 2018                                                            genau sagen, was es ist. Ich weiß nur: Etwas ist anders geworden.
                                          Kurzurlaub an der Nordsee: Auf’s Meer schauen, lange Spazier-        Es ist ein stärkeres Gefühl von Sicherheit, von Verbindlichkeit
                                          gänge, im Strandkorb ein Buch lesen – und den Hochzeitsgottes-       und Stärke. Auch ohne Trauschein würde man nach einer so lan-
                                          dienst vorbereiten.                                                  gen Zeit, eine Beziehung nicht einfach aufgeben, aber ich habe
                                             Musik, Essen, Location, Brautkleid – das sind für die meisten     jetzt noch stärker das Gefühl: Wir gehören zusammen.
                                          Brautpaare die Topthemen zur Hochzeit. Für uns gehört ganz
                                          klar auch der Gottesdienst in diese Reihe. Im Gottesdienst ist der   FOTOS: ANDREAS KÜHLKEN
                                          Moment, wo Marco und ich für uns, vor unseren Gästen, vor der
                                          Gemeinde und vor Gott sagen: „Ja, mit dir will ich meinen Weg
                                          gehen.“ Das ist der wichtigste Punkt des Tages.

                                          August 2018                                                                     Gefunkt hat es im Stadion
                                          Dritte Hürde: die Hochzeitstorte
                                          Bis zu diesem Tag ist mir nicht klar gewesen, wie kompliziert es                Marco (33) und Kerstin Ostendorf (31) leben in Osna-
                                          sein kann, eine Torte zu bestellen. Unsere Bedingung: Sie muss                  brück. Vor knapp elf Jahren haben sie sich beim VfL
                                          schmecken. Der Bäcker: zwei- oder drei-stöckig? Klassischer Stil                Osnabrück kennengelernt. Marco arbeitete im Marke-
                                          oder „undone“? Welcher Geschmack? Erdbeer? Schoko? Manda-                       tingbereich des Vereins und war unter anderem für die
                                          rine? Joghurt oder Sahne? Buttercreme? Dekoration mit Früch-                    Videowände zuständig. Kerstin studierte in Osnabrück
                                          ten, Blumen oder beides?                                                        und gehörte zum Videowand-Team. Zwischen Torjubel,
                                             Letztlich bestellen wir eine zweistöckige Torte im Undo-                     Stadionwurst und Werbejingles hat es gefunkt.
                                          ne-Stil mit Schoko-Drip-Effekt. Im Inneren gibt es Fruchtspie-

14 //   zoé                                                                                                                                                           zoé    // 15
Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin
LIEBEN                                                                                                                                                                                                                                                                                              RURIKTITEL

                          Trauernder Onkel
                 So eng die liebevolle Verbindung in einer Familie sein kann, so groß
                   kann die Trauer werden. Felix Evers, Priester in Hamburg, über
                   seinen neuen Blick auf Seelsorge nach dem Tod seiner Nichte                                                                                                                                   Glück                                                  Dumm
                                                                                                                                                                                                                gehabt                                                 gelaufen
                                                                                                                                                                                                 Neue Schule, neues Kollegium – dass dies                   Zu viel Enthusiasmus kann sehr anstrengend
                                                                                                                                                                                                 bei einer neuen Stelle viel Glück bedeuten                  werden. Das erlebte Verena Breitmeyer bei
                                                                                                                                                                                                   kann, erlebt Kathrin Schlick jeden Tag                              ihrer ersten Klassenfahrt

                                                                                                                                                                                                 Vor zwei Jahren entschied ich mich, nach Celle, ei-        „Deinen jugendlichen Aktionismus wirst du schon
                                                                                                                                                                                                 ner mir bislang unbekannten Stadt, zu ziehen. Über-        verlieren“, hieß es von älteren Kollegen. „Sei es
                                                                                                                                                                                                 all fremde Gesichter und die große Frage, was das          drum!“, dachte ich und plante mit einem halben Jahr
                                                                                                                                                                                                 wohl bringen mag. „Hoffentlich werde ich eine tolle        Lehrerlebenserfahrung die erste Klassenfahrt. Ziel
                                                                                                                                                                                                 Schule finden, die mich auch haben möchte“, dach-          sollte die Lüneburger Heide sein. Eines Montagmor-
                                                                                                                                                                                                 te ich und bewarb mich in und um Celle. Aufgeregt          gens tummelten sich auf dem Hamelner Bahnhof
                                                                                                                                                                                                 fuhr ich von Schule zu Schule, unwissend, was mich         circa 90 Kinder aus drei Klassen des 5. Jahrgangs. Ihr
                                                                                                                                                                                                 erwarten würde.                                            Anhang bereitete einen herzlichen Abschied. Fünf
                                                                                                                                                                                                    Bei den Vorstellungsgesprächen stach eine Schule        entspannte Kolleginnen und Kollegen und eine vor

F
                                                                                                                                                                                                 besonders heraus. Mehrmals betonten die anwesen-           Aufregung und Stolz fast platzende Frau Breitmeyer.
                                                                                                                                                                                                 den Kollegen das gut funktionierende Team. „Glück             Ausgerüstet mit Listen, Erste-Hilfe-Köfferchen,
          rüh morgens rief mich mein Bruder an. Judith, meine        selbst verwundet werden muss, um Wunden heilen zu können.                                                                   gehabt“ ging mir schon da durch den Kopf, ebenso bei       Fahrplänen und Fahrkarten ging die Reise los. Die
          Nichte, war in der Nacht gestorben. Mit 13 Jahren. Sie     Wenn mir heute jemand ein Schicksal anvertraut, das meinem                                                                  der Schulbesichtigung mit dem herzlichen Rektor und        Kinder verhielten sich vorbildlich. Dann der dritte
hatte Deo aus einer Plastiktüte geschnüffelt, war in Ohnmacht        ähnelt, beginne auch ich manchmal zu weinen. Unprofessionell?                                                               erst recht, als ich die Zusage erhielt. Schnell erkannte   Umstieg. Wegen Umbaumaßnahmen wurde unsere
gefallen und an ihrem Erbrochenen erstickt. Als mein Bruder          Diese Kategorie habe ich aus meinem Wortschatz gestrichen; ich                                                              ich, was die Kollegen meinten. Wenn mal eine Stun-         Reisegruppe – also auch geschätzte 748 Gepäckstücke
sie wecken wollte, sei sie schon ganz kalt gewesen. Ich sagte alle   kann und will mich nicht verstellen.                                                                                        de nicht so läuft wie geplant, rauscht man einfach ins     – fortan mit dem Schienenersatzverkehr transportiert.
Termine ab. Von meinem damaligen Arbeitsort Neubranden-                  Auch Trauerfeiern gestalte ich anders. Manche Predigt und                                                               Lehrerzimmer. Da wartet ein Team auf dich, das dei-           „Ich geh schon mal vor!“, ließ mich mein Leichtsinn
burg fuhr ich nach Kronshagen bei Kiel. Im Auto drehte ich Rod       Ansprache der vergangenen 20 Jahre empfinde ich heute als                                                                   ne Sorgen in Lösungen umwandelt. Und schwupps              äußern und navigierte so viele Kinder so schnell wie
Stewart auf, um den Kopf freizubekommen.                             akademisch, abgehoben, nüchtern. Heute gehe ich individuell                                                                 – kann man wieder mit neuem Elan vor die Klasse            möglich in den ersten Bus. Ehe ich mich versah, schloss
    In 20 Jahren als Priester habe ich auf rund 400 Beerdigungen     auf die Trauersituation ein. Ich lege die vorgeschriebenen Bü-                                                              treten. Hinterher freuen sich alle, egal, ob frischgeba-   die Tür und der Bus fuhr los. Da standen wir nun, ein-
gepredigt. Doch diese Trauerfeier für Judith war anders. Ich be-     cher zur Seite, ringe nach eigenen, persönlichen Worten.                                                                    ckene oder erfahrene Lehrkraft, über den Erfolg, weil      gepfercht wie die Ölsardinen bei geschätzten 52 Grad
reitete sie mit einem evangelischen Pastor vor. Am Familiengrab          Und ich bin ungnädig, ja zornig, wenn ich erlebe, dass Kollegen                                                         alle mit Herzblut dabei sind. „Glück gehabt“, denke ich    mit Gepäckstücken in Rücken, Seite oder Kniekehle.
spürte ich, wie ich vom leitenden Geistlichen zum trauernden         bei einer Trauerfeier den Namen des Verstorbenen falsch ausspre-                                                            folglich noch immer. Denn ernste Gespräche gehören         Die Kinder ließen natürlich ihrem Unmut freien Lauf.
Onkel wurde. Mir wurde schlecht. Ich weinte, fühlte mich hilflos     chen, unter Zeitnot fahrig werden, nur aus einer DIN-A5-Mappe                                                               ebenso zum Schulalltag wie Späße.                             Dann der Blick aus dem Fenster: Dort winkten
und träumte mich an andere Orte. Doch dann musste ich – wäh-         ablesen. Dann sehe ich mich wieder am Familiengrab in Kronsha-                                                                 So wurden aus fremden Gesichtern u.a. tolle Kolle-      fröhlich lächelnd noch gerade fünf Kollegen und 15
rend Judiths Lieblingslied erklang – Erde auf ihren weißen Sarg      gen, als der trauernde Onkel. Das sind die heiligsten Momente im                                                            gen bzw. Freunde und die Stadt Celle ist mein Zuhause      Kinder. Erst da wurde mir klar, was das für die nächs-
werfen. In meiner Trauer umarmte ich meinen Pastorenkolle-           Leben. In denen muss alles stimmen. Denn sie sollen trösten.                                                                geworden – Glück gehabt!                                   ten 60 Minuten bedeuten sollte … Dumm gelaufen!
gen und ließ ihn nicht mehr los.
     In den Tagen danach blieb die Familie beisammen. Wir            TEXT: FELIX EVERS
schauten uns Erinnerungsbilder und Videos an, saßen in Judiths
                                                                                                                                           Foto: privat // photocase.de: Tinvo

leerem Kinderzimmer und blätterten in ihren Schulheften. Das
tat uns gut. Nach meiner Rückkehr nach Neubrandenburg zog                                                                                                                                                                                                                      Verena Breitmeyer unterrichtet
ich mich eine Woche zu Exerzitien zurück. Judiths Tod hatte                                                                                                                                                          Kathrin Schlick ist Lehrerin für                          Deutsch und katholische Religion
mich in meinem Gottvertrauen verwundet.                                                                                                                                                                              Deutsch und katholische Religion                          an der Theodor-Heuss-Realschule
                                                                                                                                                                                 Fotos: privat

    Mein Verständnis von Seelsorge hat sich seitdem gewandelt.                           Felix Evers ist                                                                                                             an der Grundschule Oldau                                  in Hameln
Ich bin empathischer geworden. Vielleicht stimmt es, dass man                            Pastor in Hamburg

16 //   zoé                                                                                                                                                                                                                                                                                                zoé    // 17
Liebe braucht geschenkte Zeit - LIEBEN Nr. 4 - Zoé Magazin
RUBRIKTITEL                                                                              NACHGEDACHT

                                                                  Ein Kampf
                                                                  durch Geröll
                                                                  Paulus tritt die agape,
                                                                  die Liebe, in den Weg

              WENN ICH                                            Und hätte die Liebe nicht. – Agape, Anklang
                                                                  eines Wortes, das angesichts der Verlorenheit

              IN DEN SPRACHEN                                     in zirkulierenden Massen aus der Einsamkeit
                                                                  wohl erlösen könnte, aber es hat sich noch

              DER MENSCHEN                                        kein Sinn verfestigt. Apape: baumkahler Hügel
                                                                  der Erkenntnis, aber das Erkennbare ist noch

              UND ENGEL REDETE,                                   nicht geworden.
                                                                  Kraterland. – Es gibt in den Briefen des Paulus

              HÄTTE ABER                                          keine Bäume. Keine Palmenwedel rauschen in
                                                                  papierner Schärfe. Keine Pinien knarren. Keine

              DIE LIEBE NICHT,                                    Zitronen blühen. Keine Zedern, keine Eichen
                                                                  stehen am Wegrand. Nicht einmal ein Hibiskus-

              WÄRE ICH                                            strauch, in dessen Blüten die blauschwarzen
                                                                  Kolibris ihre gebogenen Schnäbel tauchen,
              DRÖHNENDES ERZ                                      kommt vor. Hat er sie nicht gesehen? Lief
                                                                  er in Kleinasien nie bewusst über Hänge voll
              ODER EINE                                           Lavendel? Atmete er nie den Thymianduft
                                                                  in den Bergen? Dieses Defizit bildet einen
              LÄRMENDE PAUKE.                                     bemerkenswerten Unterschied zu den
                                                                  Evangelienerzählungen in ihrer lebenssatten
                                                                  Sinnlichkeit. Paulus lebte wohl in einem Krater.
              1 Kor 13,1                                          Er nahm wenig wahr. Er kämpfte sich noch
                                                                  dort durch Geröll, wo andere selbstsicher und

                                  Illustration: Patrick Schoden
                                                                  komfortabel lebten. Die Städte nahmen ihn
                                                                  nicht auf, und das Land war nichts als eine
                                                                  Strecke, die es schnell zu durchmessen galt.
                                                                  Aber nun tritt ihm die agape, die Liebe,
                                                                  in den Weg.

                                                                                                      zoé    // 19
NACHGEDACHT                                                                                                                                                                                                                                       NACHGEDACHT

                                                                                                                                                                                  »Liebe ist der Tonfall
                                                                                                                                                                                      seiner Sprache.
                                                  Paulus an die Gemeinde                                                              Ahab oder agapan: Seit der Zeit, als der       Das Dasein eines                          Bild; dann aber von Angesicht zu Ange-
                                                                                                                                   Jerusalemer Tempel nach 586 v. Chr. zer-                                                    sicht.“ Dieses unvorstellbare Gesicht im
                                                                                                                                                                                    jeden Geschöpfes
                                                  in Korinth                                                                       stört durch die Babylonier lag und Teile
                                                                                                                                   des israelitischen Volkes ein traumati-
                                                                                                                                                                                  ist Liebe, durch Liebe
                                                                                                                                                                                                                               Gesicht, des Gottes in dem des Menschen
                                                                                                                                                                                                                               und umgekehrt, könnte man vielleicht
                                                                                                                                   sches Exil im Zweistromland erlebten,                                                       verstehen wie ein „Gegenüber zweier
                                                  1 Kor 13,1-3                                                                     wurde aus einem seelischen Ausdruck ein           hervorgerufen.«                           Spiegel, die ihr Nichtvorhandensein, die
                                                  Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die           spiritueller Weg. Es war die Liebe, die in                                                  ein und dasselbe Bild der Nichtigkeit
                                                  Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.                   der Fremde den Menschen in einen nun                                                        reflektieren“ (E. M. Cioran), denn es ist
                                                  Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und            nicht mehr lokalisierbaren „heiligen Be-                                                    nichts, was sich zwischen ihnen ereignet,
                                                  alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit        zirk“ führen konnte, sie wurde gefordert                                                    sie ereignen sich eins im anderen. Und die
                                                  versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.
                                                  Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib
                                                                                                                                   von dem unbehausten Gott, während
                                                                                                                                   die kultischen Ordnungen nur noch auf
                                                                                                                                                                                  »Die Liebe gibt ihnen                        Liebe gibt ihnen ihre Wirklichkeit als je-
                                                                                                                                                                                                                               nen unendlichen Raum ihrer wechselsei-
                                                  opferte, um mich zu rühmen, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.    Trümmer wiesen. „Höre, Israel, der Herr
                                                                                                                                   ist unser Gott, der Herr allein. Und du
                                                                                                                                                                                    ihre Wirklichkeit                          tigen Spieglung: „ ... dann aber werde ich
                                                                                                                                                                                                                               erkennen, wie ich erkannt bin.“
                                                                                                                                   sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben       als jenen unendlichen                            „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott,
                                                                                                                                   von ganzem Herzen, von ganzer Seele                                                         der Herr allein. Und du sollst den Herrn,
                                                                                                                                   und mit all deiner Kraft.“ (Deuteronomi-       Raum ihrer wechsel-                          deinen Gott, liebhaben von ganzem Her-
                                                                                                                                   um 6,4-5) Sinnlich wurde diese Liebe in                                                     zen, von ganzer Seele und mit all deiner
                                                                                                                                   der Sammlung und im Studium der nun             seitigen Spieglung.«                        Kraft.“ Der Befehl der Liebe (was für
                                                                                                                                   mehr und mehr zur Schrift gerinnenden                                                       eine Zumutung!) birgt die ganze Ambi-
                                                                                                                                   Überlieferung und im fraglosen Befolgen                                                     valenz der Tora, die im Wesen eben kein

A
                                                                                                                                   der Gebote aus der Wüstenzeit.                                                              Gesetz, sondern einen Berührung ist,
                                                                                                                                      Kann man Gott lieben? Die Frage ist                                                      wie eine scheinbar ganz unbeabsichtigte
          gapē. Wer ist die agapē? Das                                               ferung, Treue und Eifersucht. Nichts, was     alt wie das Liebesgebot selbst, und die Bi-                                                 Zärtlichkeit, ein erstes Erkennen: Du?
          Wort zieht aus dem vorbib-                                                 die griechische agapē auszeichnete, aber      bel ist sehr vorsichtig: Lieben kann man                                                    Es gibt dich? Dann erst und viel später,
lischen Griechisch herauf wie ein Ne-                                                das ist ja nun auch ein Verwandlungsspiel.    Gott wohl nur im Sinne der Resonanz                                                         findet das Gesetz, Ritual der Liebe, zur
bel, ein vager, langsam herabsinkender                                                  Ahab ist in seiner Bedeutung weit wie      einer Schwingung, die von Gott ausgeht,          Kann man Gott lieben? In der dürren        Erfüllung, wiederholt wie der Liebesakt
Dunst. Agapē war ein seltenes Wort. Das       »Die Zärtlichkeiten                    der deutsche Ausdruck „lieben“. In der        die seiner Stimme eigen ist und jedem         Sprache der Theorie gefragt, nüchterner:      und unergründlich. Hosea hat als einer
ihm zugehörige Verb agapan schwankte
in der Bedeutung, meinte etwas zwischen
                                             des liebenden Gottes                    hebräischen Bibel hat das Verb vor al-
                                                                                     lem dann einen verstörend tiefen Klang,
                                                                                                                                   Wortlaut beigegeben. Liebe – sie ist wie
                                                                                                                                   der Klang, in dem Gott die Dinge hervor-
                                                                                                                                                                                 Kann Gott das Objekt eines transitiven
                                                                                                                                                                                 Verbs sein? Auch die althebräische Spra-
                                                                                                                                                                                                                               der frühesten namentlich bekannten
                                                                                                                                                                                                                               Propheten diesen tiefen Grund der israe-
„sich zufriedengeben“, „etwas gerne mö-        sind nicht immer                      wenn es auf Gott als Subjekt trifft. Dann     spricht, sie schaffend benennt, sagen wir     che, die viel assoziativer als das Deutsche   litischen „Gesetzesreligion“ in visionärer
gen“ und „bevorzugen“. Verglichen mit                                                bildet ahab einen warmen Grundton,            besser: besingt. Liebe ist der Tonfall sei-   ist und keine vergleichbar klaren Sub-        Schau gesehen: „Darum siehe, ich will sie
dem rauschhaften eros, der von den Grie-       menschengemäß.                        über dem sich die meist rechtlich-theo-       ner Sprache. Das Dasein eines jeden Ge-       jekt-Objekt-Beziehungen kennt, lässt          locken und will sie in die Wüste führen
chen verehrten sinnlichen Liebe, war die                                             logischen Metaphern des israelitischen        schöpfes ist Liebe, durch Liebe hervorge-     diese Frage zu: Kann ich mit Gott etwas       und freundlich mit ihr reden ... “ (Hosea,
agapē kühl und diffus wie der Tau.             Die Herkunft des                      Gottesverständnisses wie eine Oberton-        rufen, und in einer biblischen Spitze kann    machen, sei es: IHN lieben?                   2,16) Gemeint ist Israel, und die gan-
   Erst als Übersetzung wird das Wort
dichter, empfängt Substanz aus einem
                                             Gottes der Israeliten                   reihe aufbauen. Liebe – das ist eine Bewe-
                                                                                     gung weit unterhalb der Regelungen des
                                                                                                                                   es heißen: Gott selber sei die Liebe (1 Joh
                                                                                                                                   4,16). Liebe – das ist das Grundgeräusch
                                                                                                                                                                                    Die Frage perlt an dem Wort agapē ab.
                                                                                                                                                                                 Die Agapē führt in die Auflösung solcher
                                                                                                                                                                                                                               ze Geschichte des Auszugs aus Ägypten
                                                                                                                                                                                                                               wird zu einer Liebesgeschichte. „Ich“ –
anderen Kulturraum, es saugt sich voll:
Die Septuaginta setzt das Wort fast durch-
                                                 ist vulkanisch:                     Bundesschlusses, unterhalb der Tora, der
                                                                                     kultischen Bestimmungen zu Opfer und
                                                                                                                                   der Dinge, Polyphonie des Staunens über
                                                                                                                                   ihr Erscheinen. (...)
                                                                                                                                                                                 festen grammatischen Zuordnungen,
                                                                                                                                                                                 weil das liebende Subjekt sich verliert
                                                                                                                                                                                                                               das ist dabei der Gott, und der Weg führt
                                                                                                                                                                                                                               stracks in die Weite des unwirtlichen Si-
gehend für das hebräische Verb ahab. Im      Er ist unberechenbar,                   Reinheit, eine Schwingung in seltsamer           Angst ist jedenfalls der Liebe zu Gott     in der Liebe, nicht mehr Herr und nicht       naigebirges.
Grunde wird eine hebräische Vokabel                                                  Ambivalenz, rohes Grollen oder Gesang.        zu eigen, denn ihr Verlangen bewegt sich      mehr haltbares Gefäß seiner selbst ist.
griechisch eingekleidet. Und der dunkle             glühend.«                        Die Zärtlichkeiten des liebenden Gottes       hinein in einen Bereich, der nicht mehr       Das verschwimmende Wesen der Lieben-
semitische Körper gibt dem Schleier seine                                            sind nicht immer menschengemäß. Die           menschlich ist. Dem hellenistischen Ju-       den blitzt am Rand der Worte des Apos-        Auszug aus Christian Lehnert: Korinthische
Form: In das Gewand fügen sich Sinnlich-                                             Herkunft des Gottes der Israeliten ist vul-   dentum galt das Martyrium als letzter         tels auf im Bild des Spiegels: „Wir sehen     Brocken. Ein Essay über Paulus. Suhrkamp
keit und Verlangen, Fürsorge und Aufop-                                              kanisch: Er ist unberechenbar, glühend.       Ausdruck der agapē.                           jetzt durch einen Spiegel ein dunkles         Verlag. 4. Auflage 2018. 24,95 Euro

20 //   zoé                                                                                                                                                                                                                                                   zoé    // 21
INTERVIEW

               »Liebe ist ein Feuer,
                                                                         22 Fragen
              von dem man nie weiß,                           an Martina Kreidler-Kos
                 wie es ausgeht.«
                                                               Sie selbst mag ein katholisches Ideal leben. Der Einsatz von
                                                               Martina Kreidler-Kos gilt aber mindestens ebenso jenen, die
                                                              diesem vermeintlichen Ideal nicht entsprechen. Ein Gespräch
                                                                           mit einer Expertin in Sachen Liebe

                                       1 Was heißt für Sie Liebe?                   3 Sie sind verheiratet, haben vier Kin-        grandios! Es gibt kein Ideal von Familie
                                       Das ist eine steile Frage zum Einstieg!      der, sind kirchlich hochengagiert. Sie         – und auch wir sind alles andere als ideal.
                                       Aber: Ich habe das Glück, seit 26 Jahren     sind das katholische Ideal.                    Wir müssen uns den gleichen Herausfor-
                                       mit ein und demselben Mann verheiratet       (lacht) Ja, absolut. Wir sind eine katholi-    derungen stellen, wie alle anderen Fami-
                                       zu sein und das sehr gerne! Wenn ich an      sche Bilderbuchfamilie, das weiß ich!          lien. Da ist es völlig egal, ob das Etikett
                                       ihn denke, fällt mir eine schöne Definiti-                                                  katholisch drüberhängt oder nicht.
                                       on ein: „Liebe ist ein Feuer, von dem man    4 Und wie gehen Sie mit diesem Ideal um?
                                       nie weiß, wie es ausgeht!“ Natürlich gibt    Das Schöne ist, dass ich so tatsächlich hei-   6 Aber die Ehe bleibt ja die katholische
                                       es unterschiedliche Phasen und Facetten      ße Eisen in der Kirche leichter anpacken       Hochform von Partnerschaft.
                                       auch in unserer Liebe, aber mein Mann        kann. Mit dieser Biografie kann ich mich       Ja. Wenn wir Beziehungen anschauen, ist
                                       und ich, wir hüten dieses Feuer. Wir müs-    stärker zum Beispiel für Partnerschafts-       die sakramentale Ehe der Goldstandard.
                                       sen nicht solche Sätze sagen, wie „An Be-    segnungen einsetzen als andere. Und da         Aber nicht, weil sie dieses Etikett hat, son-
                                       ziehungen muss man arbeiten“ oder „Be-       bin ich durchaus zu strategischem Tun          dern, weil dahinter das steht, wonach die
                                       ziehungen kommen in die Jahre“.              bereit.                                        meisten Menschen sich sehnen: Ausschließ-
                                                                                                                                   lichkeit, Treue, Verlässlichkeit, Kinder.
                                       2 Aber solche Sätze hört und liest           Die Frage von Segnungen für gleich-
                                       man doch sehr oft.                           geschlechtliche Paare liegt Martina            7 Da würden Ihnen nichtgläubige
                                       Ja, das kriegt man immer wieder zu hö-       Kreidler-Kos am Herzen. Sie versucht           Paare aber auch zustimmen.
                                       ren! Ich finde, das klingt nach ganz viel    die Arbeitsebene in den Diözesen zu            Ja, aber wir Christen und Christinnen glau-
                                       Nüchternheit und, ehrlich gesagt, oft ge-    vernetzen und möchte gemeinsam                 ben, dass diese Werte durch die sakramen-
                                       nug freudlos. Die Vorstellung, man kön-      schauen, was in diesem Punkt möglich           tale Ehe geschützt sind, dass Gott das, was
                                       ne Liebe zusammenzimmern, halte ich          ist – und was nicht.                           bei den Menschen schon da ist, schützt
                                       für falsch. Liebe kann man nicht bauen.                                                     und unterstützt. Daran glaube ich und ich
                                       Das ist zumindest meine Erfahrung. Man       5 Sehen Sie sich denn auch als Ideal?          schätze und hoffe und liebe es, dass Gottes
                                       muss schon immer mal wieder zusam-           Nein! In Amoris Laetitia schreibt Papst        Segen über unserer Familie liegt.
                                       menarbeiten, aber ich würde meinen           Franziskus: „Familie ist eine herausfor-
                                       Mann und mich nach all den Jahren als        dernde Collage aus vielen unterschied-         8 Fühlen sich Ihre Kinder denn als Teil
                                       ein Liebespaar bezeichnen – nicht als ein    lichen Wirklichkeiten aus Freuden,             einer Idealfamilie?
                                       gut eingespieltes Team.                      Dramen und Träumen.“ Das finde ich             Ich glaube nicht. Sie haben schon mitbe-

22 //   zoé                                                                                                                                                         zoé    // 23
INTERVIEW                                                                                                                                                                                                                                                      INTERVIEW

kommen, dass es etwas Besonderes ist,                                                                                                    15 Was meinen Sie mit dieser                  irre! Wenn man verliebte Menschen fra-         Lehre der Kirche in den Mittelpunkt,
in einer Großfamilie aufzuwachsen. Das                                                                                                   produktiven Kraft genau?                      gen würde, würden sie sagen, die Schöp-        sondern das Leben der Menschen. Das ist
gibt es ja nur noch selten. Aber ich habe                                                                                                Bei Paaren, die sagen „Wir zwei sind uns      fung ist ganz großartig, weil sie diesen ei-   völlig neu.
auch noch sehr gut in Erinnerung, dass                                                                                                   genug“, werde ich immer skeptisch. Ich        nen Menschen hervorgebracht hat. Man
unser Ältester kurz vor seinem Abitur                                                                                                    würde sagen: Damit geht es doch los!          ist Gott nie dankbarer für seine gelunge-      21 Auf was beziehen Sie sich bei Ihrer
gesagt hat, er hätte bislang eine Überdo-                                                                                                Wenn man das Gefühl hat: Genau der            ne Schöpfung, wenn man in den Armen            Arbeit stärker? Den Katechismus und
sis Familie gehabt und bräuchte jetzt ein                                                                                                oder die muss es sein! Und er oder sie ist    eines geliebten Menschen liegt. Wenn           die Kirchenlehre oder Amoris Laetitia?
bisschen Abstand.                                                                                                                        nicht nur genug, sondern die Fülle über-      wir verliebt sind, dann spüren wir, dass       Immer auf Amoris Laetitia.
                                                                                                                                         haupt für mich, dann hat das eine Kraft,      wir nichts dafür tun können und dass wir
9 Und wie war das für Sie?                                                                                                               die sich entfalten muss.                      die Liebe überhaupt nicht im Griff haben.      22 Sie sind ein echter Fan des
Das war schrecklich! Ich bin eine Glucke!                                                                                                                                              Da spüren wir ein Stück Unverfügbarkeit        Papstschreibens!
Ich hätte sie am liebsten alle vier ganz                                                                                                 16 Wann spüren Sie diese Kraft?               und – ja auch den Überschwang Gottes.          Ja! Papst Franziskus zeigt darin, dass er
nahe bei mir. Ich muss viel lernen, um sie                                                                                               Wenn ich im Lot bin, wenn wir als Paar                                                       keine Angst vor der Liebe hat. Das faszi-
loszulassen und sie gehen zu lassen. Zu-                                                                                                 und Familie im Lot sind, wenn ich das         19 Ein Grund, warum das Gelände so             niert mich sehr. Am Anfang, als ich Amo-
gleich bin ich auf alle wahnsinnig stolz,                                                                                                Gefühl habe, da gibt es ein festes Fun-       vermint ist, ist die kirchliche Sexualmoral.   ris Laetitia lesen sollte, dachte ich mir:
dass sie ihre eigenen Wege gehen. Wenn                                                                                                   dament, das nicht wackelt, dann schaffe       Im Moment kann man die Kirche wirk-            Jetzt will mir also ein Papst die Liebe er-
ich mir vorstelle, sie würden noch alle zu                                                                                               ich total viel. Dann kann ich mich auch       lich als so eine Art Moralagentur wahr-        klären. Dann bin ich mal neugierig, wie er
Hause wohnen, wäre das auch schlimm.                                                                                                     gerade hier im Büro mit unglaublich vie-      nehmen. Das müssten wir stoppen. Es            das macht. Und er macht es so schön! Er
Eigentlich haben mein Mann und ich al-                                                                                                   len und komplizierten Dingen befassen.        muss um etwas anderes gehen, nicht um          findet ganz berührende Worte und wird
les richtig gemacht, wenn sie abenteuer-                                                                                                 Wenn zu Hause alles in Ordnung ist, dann      Verbote, sondern um Orientierungshilfe.        nicht peinlich, vielleicht ein bisschen
lustig sind und voller Energie und Pläne                                                                                                 denke ich oft, ich kann hier wirklich alles   Unsere Gesellschaft bietet ja wenig, wo-       großväterlich, aber das ist okay. Er ist
ihr Leben anpacken.                                                                                                                      stemmen. Ich wüsste nicht, was passiert,      ran sich die Menschen inhaltlich orien-        über 80 Jahre alt. Er hat keinerlei Berüh-
                                              11 In ihrem Beruf erleben Sie immer          nicht oft sieht, dann lebt man sich ausein-   wenn mein Fundament wankt.                    tieren können. Als Kirche hätten wir da        rungsängste und das finde ich wohltuend.
10 Worauf haben Sie in ihrer                  wieder, dass Beziehungen scheitern.          ander. Papst Franziskus sagt ganz richtig:                                                  was zu bieten: Treue, Ausschließlichkeit,      Wenn wir daraus eine Kultur entwickeln
Erziehung denn Wert gelegt? Was               Sie sehen und wissen, was in einer           „Liebe braucht geschenkte Zeit!“              17 Welche Rolle spielt Gott für Sie           Verlässlichkeit.                               könnten und schätzen könnten, was die
wollten Sie Ihren Kindern mitgeben?           Partnerschaft alles schiefgehen kann.                                                      in der Liebe?                                                                                Liebenden der Welt geben und was sie
Sie sollten sowohl den Menschen, denen        Wie sehen Sie mit diesem Wissen Ihre         13 Was noch?                                  Das ist ein Punkt, über den die Kirche        20 Und doch sind das Kirchenrecht              auch der Kirche geben, fände ich das
sie begegnen, als auch der Welt an sich zu-   eigene Familie?                              Genießt zu zweit! Findet Dinge, die euch      viel offener sprechen müsste. Was hat ein     und der Katechismus sehr eindeutig.            großartig.
gewandt sein. Das ist eine tiefe Hoffnung     Es ist ein großes Glück und als gläubige     guttun. Man muss viel Zeit damit verbrin-     liebender Gott mit Erfahrungen von Lie-       Papst Franziskus setzt mit seinem Fa-
von mir, dass sie einfach gerne leben und     Frau würde ich auch sagen: Das ist Gnade,    gen, das Leben zu managen. Aber es ist        be zu tun? Das betrifft auch den Bereich      milienpapier Amoris Laetitia ganz neue         INTERVIEW: KERSTIN OSTENDORF
glücklich werden. Das wünscht sich na-        für die wir gar nichts können. Das ist mir   wichtig, so ein paar Dinge zu finden, die     der Sexualität. Die berührendsten Er-         Impulse. Das Schreiben rückt nicht die         FOTO: ANDREAS KÜHLKEN
türlich jede Mutter, aber ich sehe da auch    wichtig: Es ist weder verdient, noch ein-    man als Paar gerne macht. Wir tanzen zum      fahrungen machen Menschen dort. Aber
ein Stück Spiritualität: Die Welt, das Le-    gefädelt, noch erarbeitet. Am Ende ist es    Beispiel. Das ist total schön und wichtig.    wir denken eher: Der liebe Gott hat etwas
ben und die Zeit, die meine Söhne haben,      ein Geschenk, über das mein Mann und         Das ist Paarzeit für uns, ganz unverzweckt.   damit zu tun, wie ich mich sozial verhal-
sind ihnen geschenkt.                         ich nur staunen können. Letztendlich ist                                                   te, wie ich die Welt sehe, wie ich mich zur
                                              die Liebe ein Geheimnis.                     14 Und haben Sie noch                         Umwelt verhalte, und beten – das geht
Martina Kreidler-Kos und ihr Mann                                                          einen Ratschlag?                              für andere, für Kranke. Aber Liebes- und                 Theologin, Autorin und Dozentin
haben ihre Kinder ermutigt, ihre              12 Welche Ratschläge würden Sie              Habt Kinder zusammen! (lacht) Das klingt      Glaubenserfahrungen zusammenzubrin-
Talente zu nutzen. Der älteste will            jungen Paaren mit auf den Weg geben?        jetzt wieder superkatholisch, aber so bin     gen – da haben wir ganz wenig Fantasie in                Martina Kreidler-Kos (*1967) ist in Bad Waldsee in Oberschwaben aufgewach-
nach einem Philosophie- und Literatur-        Investiert Zeit! Egal, ob die Kinder klein   ich es gerne! Ich denke oft, dass die Liebe   der Kirche.                                              sen und studierte Katholische Theologie in Tübingen. Sie ist Diözesanrefe-
studium nun promovieren, der zweite           sind oder beide in tollen Jobs stecken,      immer über sich hinauswächst. Liebe hat                                                                rentin für Ehe und Familie im Bistum Osnabrück und leitet den Fachbereich
arbeitet am Theater und will Regie            die Gefahr ist riesig, dass man für alles    eine produktive Kraft. Das können gemein-     18 Warum?                                                Übergemeindliche Pastoral. Außerdem arbeitet sie als Autorin und Dozentin.
studieren. Ihre jüngeren Söhne                Zeit findet, außer füreinander. Und das      same Kinder sein, Adoptiv- oder Pflege-       Wir halten uns da bedeckt, weil das                      Sie ist mit dem Moraltheologen Elmar Kos verheiratet, hat vier Kinder und lebt
gönnen sich nach dem Abitur eine              ist schwierig. Das kennt ja jeder auch       kinder oder auch ein gemeinsames gesell-      schnell schwierig wird, weil das Gelände                 im Osnabrücker Land.
Work-and-Travel-Auszeit.                      von Freundschaften: Wenn man Freunde         schaftliches oder kulturelles Engagement.     so vermint ist. Dabei ist das eigentlich

24 //   zoé                                                                                                                                                                                                                                                          zoé    // 25
MEINE QUELLE                                                                                                                                                                                                                                  MEINE QUELLE

                 »Unsere Tankstelle
                     zu Gott«                                                                                                  H            i, ich bin Kenny, wir können
                                                                                                                                            uns duzen.“ Kendrick Maca-
                                                                                                                               sero, 29 Jahre, führt uns in die Cumpaney,
                                                                                                                               einen rotgeklinkerten Altbau neben der
                                                                                                                                                                                »Wir haben uns
                                                                                                                                                                                gefragt, wie ein
                                                                                                                                                                                                                          ziellen Fragen und schreiben manche Tex-
                                                                                                                                                                                                                          te um.“ Seit 2014 gibt es die Exodus-Band.
                                                                                                                                                                                                                          Anfangs besuchten sie Treffen einer evan-
                                                                                                                                                                                                                          gelikalen Gruppe in Hannover. In solchen
                                                                                                                               St.-Benno-Kirche in Hannover-Linden.          Gottesdienst aussehen                        Gruppen gehört das Halleluja-Rufen und
                 Eingängige Musik als Vehikel für ein Glaubensgefühl und Spiritualität.                                        Ein Viertel, das sich mit seinem Alterna-                                                  Hände-in-die-Höhe-Halten oft dazu. „So
                    Worship-Musik spricht derzeit gerade jüngere Erwachsene an.                                                tiv-Hipster-Studenten-Umfeld als das            muss, zu dem wir                           ein Zugang ist aber nichts für mich.“
                          So auch in der Jungen Kirche Exodus in Hannover                                                      Kreuzberg Hannovers bezeichnet. Drin-
                                                                                                                               nen begrüßen uns Sebastian Hemme, 31
                                                                                                                                                                               hingehen wollen.«                             Mittlerweile feiern sie einmal im Mo-
                                                                                                                                                                                                                          nat mit bis zu 50 Leuten und wechseln-
                                                                                                                               Jahre, und Sarah Zwittian, 23 Jahre.                                                       den Priestern eine Messe. Das kann in
                                                                                                                                  In der Wohnung – hohe Decken, knar-                                                     einer Kirche oder in der angesagten Disco
                                                                                                                               zende Türen – stehen auf dem Boden            zialpädagoge von Rhythmus und Text           sein. Auch die Band mit bis zu neun Mu-
                                                                                                                               Farbeimer, ein Kreuz und abgebaute Kü-        spricht, von ihrer Form des Glaubens – all   sikern setzt sich immer neu zusammen.
                                                                                                                               chenmöbel. So wenig die Wohnung fer-          das lässt erahnen, warum für diese drei      Dass alle an einem Termin Zeit finden, ist
                                                                                                                               tig ist, so sehr passt sie zu Exodus – eine   „Großer Gott, wir loben dich“ spirituelles   eher selten.
                                                                                                                               christliche Gemeinschaft von und für          Graubrot ist.                                   Das mag unverbindlich klingen, scheint
                                                                                                                               junge Erwachsene und eine Band, die ei-          Worship-Musik, also Lobpreismusik,        es aber nicht zu sein. Die Grundform der
                                                                                                                               nes nicht ist: fertig, abgeschlossen, mit     setzt oft auf charttaugliche Melodien und    Liturgie ist unverändert und das Anliegen
                                                                                                                               klarer Struktur.                              Instrumentierungen, viele Wiederholun-       eines gemeinsamen Gottesdienstes eben-
                                                                                                                                  Vielmehr wirkt sie wie eine Suchbe-        gen und eingängige Texte. Kritiker bemän-    so. Eher ist es eine Form von Spiritualität,
                                                                                                                               wegung. „Wir haben uns gefragt, wie ein       geln fehlende textliche Tiefe, die Begren-   die in klassischen Gottesdienstformaten
                                                                                                                               Gottesdienst sein muss, zu dem wir hinge-     zung auf das Lob Gottes, eine Nabelschau     nicht vorkommt. Die sich darin eingeengt
                                                                                                                               hen wollen“, erzählt Sebastian, ein Grund-    auf das „Ich-mit-Gott“ und eine Gleichset-   fühlt. Die ausdrucksstark ist, wie es in
                                                                                                                               schullehrer. „Der unsere Tankstelle zu        zung von Popkonzert und Anbetung.            Deutschland bisher eher untypisch ist –
                                                                                                                               Gott sein kann.“ Musikalisch ansprechend         Bei Exodus in Hannover geht es aber       vielleicht aber typischer wird.
                                                                                                                               sollte er sein, die Gebete emotional. Die     nicht um Gefühlsduselei. „Wir drei sind
                                                                                                                               Menschen sollten eine „echte Gemein-          klassisch kirchlich sozialisiert. Ich war    TEXT: RAINER MIDDELBERG
                                                                                                                               schaft“ bilden. Dazu passte für sie tradi-    Messdienerin“, erzählt Sarah. „Aber das      FOTO: ANDREAS KÜHLKEN
                                                                                                                               tionelle Kirchenmusik nicht, Gospel und       hier spricht mich viel unmittelbarer an.
                                                                                                                               neues geistliches Lied auch nicht. Bei der    Wir suchen uns auch Lieder zu existen-       Mehr Infos: www.exodusgemeinschaft.de
                                                                                                                               Worship-Musik von Hillsong und anderen
                                                                                                                               häufig evangelikalen Gruppen aus den USA
                                                                                                                               und Australien sprang der Funke über.
                                                                                                                                  „Komm, wir machen einen Lobpreis“,
                                                                                                                               sagt Kendrick. Ja, einen Lobpreis ma-           KOMM, KOMM – FÜLLE UNSERE HERZEN. //
                                                                                                                               chen. Nicht, ein Lied singen zum Lobe
                                                                                                                               Gottes. Sebastian und Kendrick grei-            KOMM, KOMM – SCHENK UNS DEINEN GEIST. //
                                                                                                                               fen zu den Gitarren. Sarah stimmt mit           KOMM, KOMM – NUR DU KENNST KEINE GRENZEN. //
                                                                                                                               ein, gemeinsam singen Sie voller Nach-
                                                                                                                               druck: „Komm, komm – fülle unsere Her-          KOMM MIT DEINER HERRLICHKEIT IN UNSERE ZEIT. //
                                                                                                                               zen. Komm, komm – schenk uns deinen
                                                                                                                               Geist ...“ Religiöser Folk-Pop mit innerer      Exodus Quarterly Projekt – In deine Hand
                                                                                                                               Überzeugung. „Musik darf auch Gebet
Lobpreis mit abgebauten Küchenmöbeln: Sebastian, Sarah und Kendrick (v.l.). Das Kreuz auf dem Boden? Stand tatsächlich so da   sein“, sagt Kendrick. Die Art, wie der So-

26 //   zoé                                                                                                                                                                                                                                               zoé    // 27
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