LIEBE UND HASS: NEUE MUSIK - null41
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Unabhängige Monatszeitschrift für die Zentralschweiz mit Kulturkalender NO 3 März 2018 CHF 9.– www.null41.ch NEUE MUSIK LIEBE UND HASS:
E DI TOR I A L Dreimal neu An ihrer Uraufführung, am 29. Mai 1913 in Paris, sorgte Igor Stra- winskys Ballettmusik «Le Sacre du Printemps» für einen veritablen Skandal. Die Kulturschickeria verschaffte ihrem Unmut mittels Pfiffen und Buhrufen Luft. Der Komponist nahm es in der New York Times sportlich: «Zweifellos wird man eines Tages verstehen, dass ich einen Über- raschungscoup auf Paris gelandet habe, Paris aber unpässlich war.» Heute kämpft die Neue Musik vor allem mit Desinteresse. Oft werden ihre Stücke an Konzerten aus guten Gründen so program- miert, dass das Publikum nicht davonlaufen kann. Ist es Ignoranz oder überfordert die Neue Musik die meisten Hörerinnen und Hörer? In unserem März-Schwerpunkt ab Seite 10 beschäftigen wir uns mit diesen Fragen. Die kantonale Kulturförderung geht neue Wege: 2018 werden immerhin nur 150 000 Franken gekürzt, im Gegensatz zu den 500 000 Franken 2017. Dies aber nur, weil der Lotteriegeldertopf umverteilt wird und der private Verein «FFK» eine Übergangsfinanzierung ermöglicht, was langfristig keine Lösung sein kann. Vor gut zwei Jahren lief das Pilotprojekt der regionalen Förder- fonds an, im Januar zog die Regionalkonferenz Kultur (RKK) eine erste Bilanz. Wie diese ausfällt und wo noch Überarbeitungsbedarf herrscht, lesen Sie in Anna Rosenwassers Text auf Seite 28. Neue Musik, neue Förderstrukturen ... und bald ein neuer Kopf Music Stands © Suzie Maeder an dieser Stelle. Ich verabschiede mich nach zwei Jahren vom Kul- turmagazin «041» und möchte Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, herzlich danken. Für Ihr Interesse, für Ihre Treue. Das ist nicht selbstverständlich. Ivan Schnyder (nach Diktat verreist) 3
INHALT AB SEITE 10 HÖR MIT SCHMERZEN Annäherungen an und Fragezeichen zur Neuen Musik 22 ZWISCHEN JUUZEN UND METAL So klingt das Muotatal 20 AMTSANTRITT SERVICE KULTURKALENDER Ralph Aschwanden ist neuer Urner Kultur- 29 Stadtentwicklung. Zur Nachhaltigkeit 49 Kinderkulturkalender vorsteher 32 Musik. Ado, die DIY-Maschine 51 Veranstaltungen 36 Kunst. Kontrolle und Macht 67 Ausstellungen 28 KLÄRUNGSBEDARF 39 Kino. Poetische Freiluftkunst In der Luzerner Kulturförderung bleiben 43 Bühne. Offene Gespräche und gute Ideen Titelbild: viele Fragen offen Flute © Suzie Maeder 44 Wort. Bücherlese am Literaturfest 72 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen KOLUMNEN Schweiz 6 Doppelter Fokus: Priis Nüssle in Ibach 73 Ausschreibungen, Preise PROGRAMME DER KULTURHÄUSER Bild unten: C. Hirtler . Bilder oben: zvg 8 Meier/Müller bi de Lüt: Chäs 52 LSO / Luzerner Theater / Kleintheater 9 Lechts und Rinks: Ein Kränzchen winden 54 HSLU Musik / Stattkino 26 Kulturtank: Was heisst schon Stil? 56 Kulturlandschaft 31 Gefundenes Fressen: Puntarelle 58 Neubad / Südpol / Stadtkeller 47 40 Jahre IG Kultur: Guten Tag, Gender- 66 Kunstmuseum Luzern / Nidwaldner Museum Bewusstsein Haus für Kunst Uri 48 041 – Das Freundebuch: Sophia Aschwanden 68 Historisches Museum / Natur Museum / Kunsthaus Zug 74 Käptn Steffis Rätsel 69 Kunsthalle 75 Comic: Ein Hund mit Migrationshintergrund 70 Museum Bellpark 4
S C H Ö N G E S AG T «Es gibt nur authentische und beseelte Musik, Geschichten, die berühren – oder eben nicht.» RICHARD KOECHLI, SEITE 15 AU F G E L I S T E T G U T E N T AG Das nervt: GUTEN TAG, MARTIN PLAZZER GUTEN TAG, KIRSCHLORBEER Pssst. Zuerst kurz unter uns: Der Redaktionslei- Die Australier hatten die Kaninchen, die sich ∙ Der Fasnachts-Urknall, wenn man ter hat den Guten-Tag-Autorinnen und -Autoren ohne natürliche Feinde so unanständig zahlreich verboten, einzelne Menschen persönlich anzu- vermehrten, dass insgesamt drei immense Zäune, arbeiten muss sprechen. Aber wenn wir ganz leise sind, hört er sogenannte Rabbit-Proof-Fences, gebaut werden uns nicht, er befindet sich auf Seite 3. Und als mussten, um die Schadnager vom Ackerland fern- ∙ Der Fasnachts-Urknall im Allge- Geschäftsleiter der Luzerner Rundschau sind Sie zuhalten. Doch das war noch gar nichts gegen das, meinen ja eh eine öffentliche Figur. Falls er dieses «Gu- was uns hier und jetzt – wortwörtlich – blüht: Eine ten Tag» trotzdem nicht drucken will, gehen wir Interpellation der Grünen ruft zum Kampf auf ∙ Menschen, die für alles eine Sit- halt zu zentral+ und publizieren es dort, hähähä. gegen Dich, Kirschlorbeer, und andere «invasive zung einberufen So wie SP-Kanton-Luzern-Präsident David Roth, Neophyten auf städtischen Grundstücken». Geht’s der von Ihnen bei der Luzerner Rundschau zur noch? Auch Pflanzen haben Gefühle. Zumindest ∙ Menschen, die für alles einen «persona non grata» erklärt wurde und Schreib- kam eine US-Forschungsgruppe der University of Doodle aufsetzen verbot hat, weil er sich 2013 abschätzig über den Missouri in Columbia jüngst zu diesem Schluss. Tod von Margaret Thatcher äusserte. Mittels Bist Du tatsächlich ein invasiver Wüterich unter dieser «erzieherischen Massnahme» haben Sie den hiesigen Pflanzen, der alles verwächst, was ∙ Menschen, die sich im Doodle ein- seiner mittlerweile online publizierten Politko- sich nicht schnell genug bewegt, oder steckt unter tragen, aber am vereinbarten Da- lumne wohl zu mehr Aufmerksamkeit verholfen, deinem trutzigen Immergrün nicht vielmehr ein tum nicht kommen (obwohl sie sich als sich Roth das je erträumt hat. Die Luzerner zartes Geäst, das bloss geliebt werden will? Kom- an demselben eingetragen haben!) Rundschau wird nämlich nur von Pöstlerinnen men nach den militanten Heimat- und Tier- nun und Abfallentsorgern gelesen. Mitte 2018 könne die paramilitärischen Pflanzenschützer? Die das ∙ VBL-Touchscreens, die bei Regen diese «erzieherische Massnahme» rückgängig heimische Rottannli vor dir, unflätiger Kirsch- und Schneefall nicht funktionieren gemacht werden. Wieso, ist dann Ihr persönli- lorbeer, behüten wollen? ches Stichdatum für verjährende, abschätzige ∙ Baustellen, die nie aufhören Bemerkungen? Oder wird bis dann die Luzerner Mit grünem Zeigefinger, 041 – Das Kulturmagazin Rundschau vom neuen Eigentümer, der Blocher- ∙ Der letzte Bissen des Restaurant- BaZ-Holding, zu einem völlig unabschätzigen Rechtsblatt umgebaut? Neustädli-Cordon-Bleus Erzieherisch, 041 – Das Kulturmagazin ∙ Wenn Listen zu Ende sind ∙ So, jetzt aber fertig! 5
D O P P E LT E R F O K U S Priis Nüssle in Ibach, Schwyz, 27. Januar 2018 Bild oben Mischa Christen, rechte Seite Patrick Blank Die beiden Luzerner Fotografen Patrick Blank und Mischa Christen zeigen zwei Blicke auf einen Zentralschweizer Anlass, den «041 – Das Kulturmagazin» nicht besuchen würde. 6
MEIER/MÜLLER BI DE LÜT Chäs Es ist der Käse, an dem man einen Schweizer packen kann. Zieht man lange genug an einem Ende eines hiesigen Käses, hängt am anderen Ende ein Schwei- zer dran. Das liegt in unserem Selbstverständnis, wir hängen am Käse. Der Schweizer frisst ungemein viel davon. Am meis- ten im Winter. Ein Winter ohne Käse wäre für den Schweizer wie Auswandern, wie «SRF bi de Lüt», wie Auf und Davon; man kann es sich noch so vornehmen, es wird sowieso schiefgehen. Der Schweizer frisst den Käse gleich zu Beginn des Winters, weil er diese Saison noch kein Fondue hatte. Dann frisst er ihn, weil er diese Saison noch kein Raclette hatte. Dann frisst er ihn, weil Weihnachten ist. Dann frisst er ihn, weil Weihnachtsessen bei den Schwiegereltern ist. Dann frisst er ihn, weil Silvester ist. Dann frisst er ihn, weil er im neuen Jahr noch keinen Käse gefressen hat. Dann frisst er ihn, weil er grad 50% im Coop ist. Dann frisst er ihn, weil es im März noch kalt ist und es könnte in dieser Saison die letzte Gelegenheit für Fondue sein. Dann frisst er ihn, weil es im April noch mal schneit und das ist sicher die letzte Chance für Raclette diese Saison. Mit Saison meint der Schweizer den Skitourismus und den Käse. Im Sommer frisst der Schweizer geschwellte Härdöpfel mit Käse. Aufgeschlossene Multikulti-Schweizer fressen im Sommer griechischen Salat mit viel Feta. Dann sagen sie «Uh, ich habe sooo gern Feta» und ziehen den Mund in die Länge, bis es schmerzt, weil sie das E im Wort Feta extrem in die Länge ziehen müssen und zum Beweis ihrer kulinarischen Offenheit bröckelt ein bisschen Feta vom Zahn und fällt aus dem Mund und ein kleiner Rest bleibt an der Unterlippe hängen. Ein den Nachbarn auf dem Campingplatz zu zeigen, wo dem bisschen Käse hängt dem Schweizer immer vom Mund. Schweizer das Kreuz im Käse hängt. Um zu zeigen, dass Bodenständige Stüblischweizer fressen im Som- wir die Käsenation sind, die Schweiz und niemand anderes. mer Cervelat-Chässalat zur Grillade. Am 1. August Wann frisst der Franzose schon Käse als Hauptmahlzeit? zünden sie ein paar Raketen und machen Fondue, um Wann der Italiener? In der Schweiz hat jeder Vorfahren, die noch selber gekäst haben. Früher käste der Schweizer auf der Alp, er käste auf dem Maiensäss und er käste im Mittelland und im Unterland käste er auch und mancherorts machte er ne- bendran noch schnell ein paar Uhren. Wenn der Schweizer älter wird, wird die Rinde härter, aber in seinem Herzen brodelt der Käse noch immer heiss und flüssig. Text: Anaïs Meier, Illustration: Sarah Elena Müller 8
LEC HTS U N D R I N KS Ein Kränzchen winden In Luzern steht nicht alles zum Besten. Aber eigentlich steht alles zum Besten. Zum Beispiel die Partizipation der Bevölkerung an der Raumplanung. Mitten in der Stadt gibt es eine neue Zwischen- Und die Bevölkerung auch nicht. «Privati- nutzung: Die «Kooperation Industriestrasse» sierung» heisst das serbische Zauberwort, stellt eine 1 000 Quadratmeter grosse Brache erlaubt scheint alles zu sein: Dem Bauvor- für Ideen und Experimente zur Verfügung, haben standen viele (bewohnte) Gebäude im bis auf dem insgesamt 9 000 m2 grossen Ge- Wohnungen nicht erfüllt, noch gibt es keine Weg. Was tun? Sie wurden in einer Nacht- lände 2021 eine gemeinnützige Überbauung Handhabe gegen Hausbesitzer, die ihre leer und-Nebel-Aktion kurzerhand platt gewalzt. entsteht. Platz haben kann bei der Zwischen- stehenden Liegenschaften verlottern lassen, Maskierte Schläger sperrten den betroffenen nutzung gemäss der Kooperation fast alles: noch ist günstiger und auch experimenteller Stadtteil ab, Bagger fuhren auf und ebneten vom Hühnerstall bis zum Gemeinschafts- Wohnraum Mangelware und der Kanton hat sozusagen den Weg nach Saudi-Arabien. Die garten, von Wildbienen bis zum temporären die «Wohnbaukommission» letzten Dezem- von den Bewohnerinnen und Bewohnern zu Campingwagen. Das ist super. Überhaupt ber kurzerhand abgeschafft. Trotzdem: Die Hilfe gerufene Polizei stellte sich taub, eine sind die Leute rund um die Industriestrasse Luzernerinnen und Luzerner reden bei der Ermittlung gegen das illegale Vorgehen ist bis Zugpferde, wenn es um Raumplanung und Raumplanung und beim Umgang mit Zwi- heute nicht in Sicht – dafür stehen bereits die Zwischennutzungen geht. Bereits 2012 hatte schennutzungen ein gewichtiges Wort mit. ersten riesigen Hoteltürme, die dem Stadtbild ihre Initiative «Ja zu einer lebendigen Indus- Das ist gut so, alles in allem steht in Luzern einen ganz neuen Stempel aufdrücken. Ein triestrasse» Wind in die Politik gebracht. Und alles zum Besten. Aufgefallen ist mir das, solches Vorgehen ist in Luzern zum Glück auch sonst hat sich einiges getan bezüglich als ich bei einem Aufenthalt in Belgrad das undenkbar. Aber es ruft in Erinnerung, wie Raumplanung. Vieles hat sich verbessert: Gegenteil vor Augen hatte: Die Regierung hat partizipativ und sorgfältig hierzulande mit Die Annahme der «Wohnrauminitiative» in einer komplett undurchsichtigen Aktion der städtischen Raumplanung umgegangen (ebenfalls 2012) verpflichtet die Stadt, den einen ganzen Stadtteil an arabische Inves- wird. Und dafür kann man Luzern und damit Anteil gemeinnütziger Wohnungen auf 16 toren verkauft, die dort das Viertel «Belgrad auch seiner Bevölkerung wirklich mal ein Prozent zu erhöhen, seit dem wuchtigen Ja Waterfront» aus dem Boden stampfen: Auf Kränzchen winden. letzten Herbst zum «Gegenvorschlag Boden- einer Fläche von 1,8 Millionen Quadratmetern initiative» darf städtisches Eigentum nur noch entstehen 5 700 Wohneinheiten und 2 200 PS: Widersprechen Sie mir und sehen Sie das viel im Baurecht abgegeben werden. Zudem ist Hotelräume der Luxusklasse, das Herz der pessimistischer? In ein paar Monaten werde ich die kantonale Initiative «Zahlbares Wohnen glänzenden Finsternis wird ein 200 Meter Belgrad vergessen haben und auch wieder mit für alle» in der Pipeline (4. März). Natürlich hoher Glasturm sein. «Eine urbane Katast- Ihnen einverstanden sein. gibt es auch ärgerliche Sachen: Noch ist die rophe!», sagen die Gegner dieses gigantischen Forderung von 16 Prozent gemeinnütziger Hirnrisses. Doch zu sagen haben sie nichts. Text: Christine Weber, Illustration: Stefanie Sager 9
Martina Berther ist E-Bassistin (u. a. Ester Poly, Aul, Weird Beard) sowie Jasmin Schmid ist Sängerin, Musicaldarstellerin und Gesangslehrerin. Musikpädagogin und absolvierte die Hochschule Luzern – Musik (Abteilung www.jasminschmid.ch Jazz). 10 N EU E MUSI K und ihre Eindrücke dazu niederschreiben. Probehören musikerin, eine Klassikerin, eine Jazzerin und einen Hip-Hopper drei stilprägende Stücke hören polarisiert so sehr wie diese radikale Erweiterung der musikalischen Mittel. Wir liessen eine Pop- Den einen Ohren- und intellektueller Schmaus, den andern ein Graus: Neue Musik. Kaum ein Stil Lukas Schaller alias Luk LeChuck ist DJ (u. a. von Rapper Mimiks) und Silke Strahl ist Saxofonistin und bewegt sich musikalisch zwischen den betreibt das Label Sonder Void. Genres zeitgenössische Musik, freie Improvisation und Klassik. www.silkestrahl.com
N EU E MUSI K Igor Strawinsky: «Le Sacre du Printemps» (1913) Hören Sie «Le Sacre du Printemps» unter www.null41.ch/neuemusik. Jasmin Schmid: Zuerst denke ich: Wow, das klingt so richtig live, klingt nach Konzertsaal und Theater ... Und das Stück be- ginnt sehr harmonisch, was mich weiter beruhigt, befürchtete ich doch, dass mich mit Neuer Musik drei schräge experimentelle Klangerlebnisse erwarten. Weiter höre ich schönen Orchesterklang und bin richtig positiv überrascht. Ich mag die Streicher, die Querflöte, die Dynamik, die Dramatik, die Emotionalität und die Expressivität. Und ich denke: Das würde ich jetzt echt gern live anschauen und anhören! Als Sängerin liebe ich es, dass es ganz instrumental ist, so kann ich richtig abtauchen. Keine menschliche Stimme, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Silke Strahl: «Sacre» ist ein sehr kraftvolles Stück und eines meiner Lieblingswerke. Jedes Mal, wenn ich es höre/sehe, möchte ich mich am liebsten dazu bewegen, wie damals während meines Studiums, als wir zu einem Ausschnitt eine Tanzimprovisation aufgeführt haben. Es löst in mir aber nicht nur das Verlangen nach Bewegung aus, sondern wirkt auch ein Stück weit beklem- mend. Diese neue Inszenierung unterstützt dies. Sie hebt das Wilde, Verrückte, Beängstigende, Hässliche und Traurige des Stücks hervor. Aber obwohl «Sacre» ein «brutales» Stück ist, finde ich es auf eine eigene Art auch wunderschön. Ein solcher Skandal wie bei seiner Uraufführung vor über 100 Jahren wäre heutzutage nicht mehr denkbar. Es ist als Künstler oder Künstlerin nahezu unmöglich, zu schockieren. Auch die neue Inszenierung schafft dies trotz entblösster Tänzerin am Ende nicht wirklich. Martina Berther: Soweit ich mich erinnern kann, ist es meine erste Begegnung mit Strawinsky. Vom ersten Moment an wirkt das Werk absolut faszinierend auf mich. Fesselnde Klangkonstrukte, wunderschöne Dissonanzen. Moderne rhythmische Gebilde, welche zur Zeit der Uraufführung wohl aussergewöhnlich waren. Hin und wieder holen mich Melodien als schöner Kontrast ab. Verschiedene Stimmungen werden transportiert. Wuchtig, dramatisch, zerbrechlich, kräftig. Ich möchte mehr davon! Luk LeChuck: Klassische Musik, wie sie mir geläufig ist, die ich jedoch nicht höre. Klingt für mich musikalisch anspruchsvoll und wühlt mich innerlich auf. Hektische Gefühle und grosse Stimmungsschwankungen entstehen, wenn ich dieses Stück höre. In meinem Kopfkino spielt andauernd ein Film vom Kampf zwischen Gut und Böse. Mehrmals trifft der kleine, niedliche Held im Crescendo auf das grosse, böse Monster und liefert ihm einen Kampf auf Leben und Tod, der meist zum Vorteil des Helden (Piano) endet. Ich mag einige Teile dieses Stücks sehr, doch das dauerhafte emotionale Auf und Ab ist mir nach einer Weile zu anstrengend. Nach über 30 Minuten scheint das Monster dann besiegt zu sein, aber ehrlich gesagt gefiel mir die Endschlacht von Lord of the Rings etwas besser. 11
N EU E MUSI K John Cage: «4’33”» (1952) Hören Sie «4'33''» unter www.null41.ch/neuemusik. Schmid: Stille, Stille, Stille … Der Pianist spielt keinen Ton. Das ist also schon eher das, was ich unter Neuer Musik erwartet habe. Nur das eine oder andere Geräusch aus dem Publikum ist zu hören. Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Spannung, die sich durch diese Stille aufbaut, und zwischen einem Schmunzeln, weil es einer gewissen Komik nicht entbehrt, dass ein Pianist vor Publikum am Flügel sitzt und nicht spielt. Ich frage mich, wie würde ich reagieren, wenn ich dort live dabei im Publikum sitzen würde? Was wohl das Publikum denkt? Haben die gewusst, was sie erwartet? Strahl: «4’33’’» ist ein geniales Werk. Es gibt noch immer Diskussionen darüber, ob es wirklich als Musik angesehen werden kann. Dabei ist die Idee dahinter so gut. Cage macht die Stille hörbar. Bei dieser Aufnahme fand ich sehr spannend, wie das Publikum reagiert hat. Zu hören sind Gemurmel, Husten, Lachen, Stühlerücken, Nasehochziehen, Seufzen, etc. All das wird durch «4’33“» zu Musik. Je nach Raum und Umgebung «klingt» das Stück ganz anders. Ich habe es einmal in einer Kirche gehört, wo von draussen das Vogelzwitschern und vom Raum das Knarren des Holzes zu hören waren. Berther: Ich kenne die Musik von John Cage und bin nicht besonders überrascht. Das Stück provoziert mich nicht, ich kann mir aber vorstellen, dass dies früher anders war. Für mich ist es eher ein Theaterstück. Ich muss etwas schmunzeln, wenn ich William Marx dabei zusehe, wie er sich ganz seriös bewegt, den Deckel des Pianos auf und zu macht, die Uhr stellt und die Uhr betrachtet etc also das Stück aufführt. Jedoch spüre ich keine Spannung. Die Stille ist für mich nicht gespielt, interessante Geräusche nehme ich kaum wahr. Ich zweifle daran, ob das für mich Musik ist. Beim Hören fehlt mir zu sehr eine Energie, eine Kraft, eine Emotion. Als Ganzes betrachtet empfinde ich es aber trotzdem als Kunst. Dieser Gedanke wiederum irritiert mich. Es ist wohl das Radikale, das mich fasziniert. Ist es nun Kunst, aber keine Musik? Geht das? Ist es nun doch Musik? Ich bin immer noch irritiert. LeChuck: John Cage – kenn ich! Auch hier bin ich hin- und hergerissen. Einerseits feiere ich John Cages Aktion und diese Interpretation von Musik, anderseits kommen bei mir kritische Fragen auf. Zum Beispiel: Wenn dieses Stück hauptsächlich von der Ruhe lebt, dann gehören dazu doch auch die Geräusche und die Ruhe der Zuhörenden/Umgebung? Somit klingt dieses Stück jedes Mal anders und der grösste Teil wird hauptsächlich gar nicht von einem Interpreten, sondern von seiner Umgebung gespielt? Oder ist genau das der Punkt des Werks? Und wie sieht´s in diesem Fall mit dem Copyright aus? Darf man das Stück samplen für einen neuen Technohit? Könnte aber auch gut sein, dass John Cage der Trollgott von 1952 war! 12
N EU E MUSI K Carola Bauckholt: «Hellhörig» (2008) Hören Sie «Hellhörig» unter www.null41.ch/neuemusik. Schmid: Das Stück beginnt mit experimentellen Geräuschen – so habe ich das befürchtet. Weitere Geräusche. Ich drehe den Lautstärkeregler etwas zurück. Ich schaue auf die Dauer des Stückes: ah, zum Glück nur 3’33’’. Grundsätzlich können Geräusche ja interessant sein. Vielleicht ist so etwas live spannend zum Zuschauen? Für mich selber stelle ich fest: Für mich muss Musik nicht besonders experimentell und ausgefallen sein. Ich mag Melodien, Harmonie, Emotionen. Wer mag solche Musik? Was sind das für Menschen und weshalb mögen sie das? Strahl: Die spannenden Klänge, die Carola Bauckholt mit den verschiedenen Objekten kreiert, haben mich sehr fasziniert. «Hellhörig» ist ein kraftvolles, imposantes Werk mit einer kleinen Menge Witz. Ich glaube, es muss ein faszinierendes Erlebnis sein, dieses wuchtige Stück live zu erleben und seine Energie physisch wahrnehmen zu können. Die Komponistin Carola Bauckholt war mir vorher nicht bekannt. Ihr Werk «Hellhörig» hat mich neugierig gemacht, mich mit weiteren ihrer Kompositionen zu befassen. Sie ist meiner Meinung nach eine äusserst spannende Komponistin. Berther: Spannende Klänge, vielschichtig, energetisch. Schaue ich noch das Video dazu, bekommt es theatralische As- pekte. Klang und Bild gleichzeitig ist mir allerdings zu viel. Ich schliesse lieber wieder die Augen und lausche den Klängen und den vielen Wechseln. Ich versuche die Musik als ein Ganzes zu hören. Nicht einfach, es läuft vieles. Auch, weil das Video aus Ausschnitten des Musikstücks besteht. Es wäre spannend, das ganze Werk an einem Stück zu hören. Durch die Ausschnitte fehlt mir das grosse Ganze, die Dramaturgie und Poesie gehen verloren. LeChuck: Irgendwie nice. Für mich persönlich sicherlich auch keine Sonntagabend-Musik zum Relaxen, aber wenn ich sehe, wie diese Töne und Geräusche entstehen, macht mir das schon Spass. Ein paar Minuten lang jedenfalls. Spannend und überraschend finde ich auch, dass ich bei diesem der drei gewählten Beispiele am meisten Gemeinsamkeiten mit der Musik höre, mit der ich mich normalerweise befasse. Illustrationen: Mart Eine Einführung von Urban Maeder (Präsident Forum Neue Musik Luzern) sowie die Links zu den einzelnen Werken finden Sie auf www.null41.ch/neuemusik. 13
P RO Liebe Neue Musik, oder liebe zeitgenössische Musik Ich weiss noch nicht mal, wie ich dich nennen soll. Es dünkt mich, beide Bezeichnungen umschreiben dich fahrlässig. Das Lexikon definiert dich als «Musik ab etwa 1910 bis zur Gegenwart, mit Schwerpunkt in der Mitte des 20. Jahrhunderts». Zeitgenössisch ist also weit verfehlt und über den Begriff «neu» lässt sich streiten. Auch du brauchst die alten Bausteine, um sie allerdings horizontal und vertikal anders zu kombinieren. Womit du mich in den Bann ziehst, ist dein Bruch mit Konventionen und dass du mit den har- monischen, klanglichen, rhythmischen und melodischen Gesetzen deiner Vorgängerinnen gebrochen hast. Ich darf bei dir meine Neugier befriedigen, mich immer wieder überraschen lassen. Dein Wesen nimmt stets wechselnde Rollen ein – ein Fundament unserer gesunden Beziehung. Das ist Nahrung für mein Bedürfnis nach Offenheit und stärkt die Bereitschaft, mich immer wieder auf Ungewohntes einzulassen. Du forderst mich heraus, mein Instrument und instrumentales Können bis an die Grenzen auszuloten sowie aussergewöhnliche Spieltechniken zu entwickeln, um dich zum Klingen zu bringen. In der Vorbereitung der Konzerte forderst du sehr viel Aufmerksamkeit von mir ein. Deine Interpretinnen und Interpreten müssen schon viel Humor haben, das meist spärliche finanzielle Entgelt für die aufwendige Übe- und Probezeit als Lohn zu bezeichnen. Ihre Bereitschaft drückt schlicht die bedingungslose Zuneigung zu dir aus. Dies teilen sie mit dem grossen Interesse der wenigen Zuhörerinnen und Zuhörer im Publikum. Ich mag deine Bescheidenheit. Ohne enorme Beachtung produzierst du weiter – in stiller Genugtuung darüber, dass dir die Populärkultur viele deiner Errungenschaften in massentauglicher Dosis klaut. Nicht alles, was du von dir gibst, gefällt mir. Allerdings hat noch kein zeitgeschichtliches Kulturverhalten entschieden, was von dir überliefert werden soll. Ich bade also im Luxus deiner ganzen Fülle, die zugegebenermassen manchmal anstrengend sein kann. Doch du bist es mir wert. Ist es nicht die Vielfalt, die Systeme stabilisiert? Im gegenwär- tigen Musikschaffen ist dies dein Verdienst und du leistest einen unverzichtbaren Beitrag an die Kulturlandschaft. Du reflektierst, konfrontierst und bewegst die Menschen, die sich ohne Vorurteile auf dich einlassen. Mit einer beeindruckenden Lockerheit erträgst du Verachtung und lässt dich nicht einschüchtern. Du bist mutig und dafür danke ich dir. Bleibe so vielfältig, kreativ und farbig. Nimm dir auch ungefragt alle möglichen Freiheiten, um gesund zu bleiben. Herzlich, deine Claudia Kienzler Claudia Kienzler ist Interpretin (Violine, Viola), Komponistin und Veranstalterin zeitge- nössischer Musik (Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) Zentralschweiz, Ensemble Montaigne). 14
KO N T R A Ernste Musik ... ?!? Als Musiker über fremde Musik richten? Weshalb tu ich mir das an? Also, mutig zur Sache: Ich mag Neue Musik nicht besonders und bin kaum bemüht, den Zugang zu ihr freizuschaufeln. So, das war sie nun, die Blamage. Und jetzt lassen Sie mich um Argumente ringen … Wir finden uns auf der Landkarte der kulturellen Identitäten ohne Schubladen kaum zurecht. «Neue Musik» ist der Sammelbegriff für Illu: Mart eine Fülle unterschiedlicher Strömungen der komponierten, mit- teleuropäisch geprägten Musik von 1910 bis zur Gegenwart. Völlig normal, so ein Schild verrichtet seinen Job als Wegweiser. Doch ich empfinde den Begriff als beispiellos destruktiv. Jede andere Musik hat bei der Namenswahl entweder an einen bestimmten Mood oder an eine geografische Herkunft gedacht, vielleicht auch an einen Fantasiebegriff. Nur eine einzige Musik dieser Welt leistet sich diesen Fehlgriff! Von «Neuer Musik» zu reden, bedeutet, sich vom Rest der Musikwelt zu distanzieren. Es ist eine endgültige Wertung, eine Ab- wertung eben dieses Rests. Dass der Begriff chronologischer Humbug ist, kommt hinzu – wenn man eine vor über 100 Jahren einsetzende Epoche als neu bezeichnet. Da ist sogar Blues jünger. Musik kann philosophisch betrachtet nur neu sein; sie stirbt im Augenblick des Erklingens – und wird im nächsten wieder geboren. Jede Musik! Es könnte also ein neuer Song gemeint sein, ein neuer Konzertabend. Nein. Um diesem Missverständnis vorzubeugen, wird Neue Musik meist gross geschrieben und nicht selten noch ergänzt mit Neue «ernste» Musik. Hoppla. Ernsthaftigkeit auf einen Musikstil und nicht auf die Qualität der ausübenden Hingabe zu beziehen, spricht Bände. Sprache ist unbarmherzig, bei Mensch und Gerät gilt heute: Neu gleich gut, alt gleich wertlos. Per Definition drängt diese Musik unwiderruflich jede andere in die Ecke des Kitschs, der schöngeistigen Weichspülerei, der langweiligen Wiederholung und hinterwäldlerischen Einfältigkeit – und die Neue Musik in eine geistige Isolation. Natür- lich ist der Drang nach Grenzerweiterung menschlich, doch woher kommt die Annahme, die Möglichkeiten der restlichen Musik und ihrer individuellen Verfeinerung seien bereits ausgereizt? Es gibt nur authentische und beseelte Musik, Geschichten, die berühren – oder eben nicht. Und wenn die Magie spielt, kommt sie ohnehin nicht von dieser Welt. Also, hier mein Versprechen: Sobald das offizielle Communiqué kommt («Wir ändern den Namen»), besorg ich mir subito die erste Konzertkarte. Bis es so weit ist, bleib ich Stänkerer – und geniesse diese Musik nur in Filmen. Immerhin. Herzlich, dein Richard Koechli Richard Koechli arbeitet seit 27 Jahren als professioneller Gitarrist, Singer-Song- writer und Buchautor. Vor einem Jahr erschien «Der vergessene König des Blues», Koechlis Biografie über den Chicagoer Bluespionier Tampa Red. 15
Piano Hammers © Suzie Maeder 16
N EU E MUSI K Der New Yorker Komponist David Lang ist Pulitzer-Preisträger und war für einen Oscar nominiert. Jetzt komponiert er ein Stück zum Jubiläum der Kantonsschule Alpenquai, das in Zusammenarbeit mit dem Luzerner Sinfonieorchester im KKL uraufgeführt wird. Von Katharina Thalmann, Bilder: Suzie Maeder Harmony and understanding: fünfzig Jahre Kanti Alpenquai Luzerner Sinfonieorchester im KKL am 14. und 15. März. Es macht Sinn, für das Jubiläum das Orchester mit ins Boot zu holen. Nicosanti erläutert: «Die KSA und das Luzerner Sin- fonieorchester sind zwei traditionsreiche Apparate: Das älteste Berufsorchester der Schweiz und ein Gymnasium, dessen 5. September 2017, Kanti Alpenquai: David Ursprünge im Jahr 1574 liegen, passen Lang erzählt den Schülerinnen und Schü- zusammen.» Der Fünfzigste wird heuer lern von seinem Leben und seiner Musik. gefeiert, weil die Schule seit 1967 am Sie hören gebannt zu. Er hat Humor. Und jetzigen Standort beheimatet ist. Für ihm haftet diese Ostküsten-Coolness an, Numa Bischof-Ullmann, Intendant des die offenbar selbst bei der Jugend von Luzerner Sinfonieorchesters, sind solche heute noch in ist. «Die Konzerte im März Kooperationen eine Herzensangelegen- 2005 gibt es beim Orchester die Musik- werden eine kleine Utopie sein, wo die heit: «Wir veranstalten Nachhaltigkeits- vermittlungsstelle. Eine Pioniertat, war es Welt für eine kurze Weile perfekt sein projekte wie diese einmal pro Jahr. Aber doch schweizweit die erste ihrer Art. «Im wird», sagt er. Aber auch: «Ich bin als von mir aus dürften es zehn sein!» Der Schuljahr 2013/2014 hatten wir mit dem Komponist dafür verantwortlich, es dem diesjährige Kompositionsauftrag an Da- Vermittlungsprojekt ‹Der Zauberlehrling› Publikum so leicht wie möglich zu ma- vid Lang kommt übrigens offiziell vom die erste gross angelegte Kooperation mit chen, die Komposition zu verstehen.» So Sinfonieorchester. dem LSO», so Graber. was kommt an. Bischof-Ullmann fungierte als Match- «Die Schülerinnen und Schüler sollen maker zwischen Alpenquai und Lang: Proben mit dem Komponisten über eine längere Zeit und auf verschiede- «David und mich verbindet seit über zwan- David Lang schrieb die Filmmusik zu Paolo nen Ebenen an das Jubiläum herangeführt zig Jahren eine künstlerische Freund- Sorrentinos «Youth», was ihm 2016 eine werden», erklärt Stefan Graber, Prorektor schaft. Ich freue mich sehr, dass ein Star Oscar-Nominierung einbrachte. Doch am Alpenquai. Gemeinsam mit Stefano wie er für das KSA-Jubiläum komponiert.» als Lang, Julia Wolfe und Michael Gor- Nicosanti, ebenfalls Prorektor und stu- Der ganze Prozess habe knapp anderthalb don 1987 in New York das inzwischen dierter Musikwissenschaftler, koordiniert Jahre gedauert. Die Kooperation zwischen global arbeitende Musikkollektiv «Bang er die Jubiläumsveranstaltungen. Höhe- Sinfonieorchester und Kantonsschule on a Can» gründeten, tobten Graben- punkt sind die beiden Konzerte mit dem reicht aber schon weiter zurück. Seit kämpfe zwischen Up- und Downtown. 17
N EU E MUSI K zu bekommen», meint er weiter. Jedoch dürfte es zum Lernprozess im Alpenquai dazugehören, da eine Kooperation mit einem Komponisten von Weltrang auch terminliche Flexibilität erfordert. Beim Luzerner Sinfonieorchester nimmt man die Verspätung gelassen. In der Woche vor den Konzerten wird David Lang in Luzern sein und sein Stück proben. Alle 1530 Kantischülerinnen und -schüler werden mit ihm in Kontakt kommen – eine einzigartige Erfahrung. Lang kennt sich mit Unterrichten aus: Seit 2008 ist er Kompositionsprofessor an der Yale School of Music. Doch ist das nicht ein Widerspruch? Er, der seit Jahrzehnten Uptown-Musik, das hiess: Amerikaner gegen den Hochglanz-Mainstream und imitieren ihre europäischen Vorbilder für mehr Nahbarkeit in der klassischen Stockhausen, Boulez, Schönberg und Musikwelt ankämpft, aber nun selber Teil Webern. «In diesem Streit ging es um der kritisierten «academia» ist? In einem Ideologie, nicht um Qualität», so David Interview von 2016 hat er eine kluge Lang im Dokumentarfilm «In the Oce- Antwort parat: Trotz seines «rebellischen an». Denn Downtown-Musik, das war Backgrounds» habe er nun mal einen Minimal-Music. Eine experimentelle, Doktortitel. Und die Komponisten, die inklusive Szene, die mit Traditionen bricht. es nach Yale schafften, seien derart hoch Der untere Teil Manhattans beherbergte qualifiziert, dass er es als seine Aufgabe zu dieser Zeit Clubs wie das CBGB, wo sehe, «sie im letzten Moment, bevor sie The Police und die Talking Heads sich ihre Ausbildung abschliessen, daran zu ihre Hörner abstossen konnten, wo alle erinnern, dass ihr Job nicht ist, einen im Umkreis von wenigen Blocks lebten, bequemen Sitzplatz zu finden. Sondern wohnten und arbeiteten. John Cage, Steve immer schwierigere Fragen zu stellen: Reich, Frank Zappa, Brian Eno – David Wohin kann sich die Musik entwickeln?» Lang: Diese «jungen Wilden» kompo- Diese Haltung macht die Begegnung der nierten innovative Musik, die fernab von Luzerner Gymnasiasten mit David Lang virtuosen Stelldicheins neue Klangwelten noch einzigartiger. erforscht, die das Verhältnis von Publikum und Spieler hinterfragt, die an Details 1968: Alpenquai und Hair heranzoomt. Über Langs Stück «Cheating, Im KKL wird «Harmony and understan- Lying, Stealing» sagte Steve Reich, er ding ...» mit Antonín Dvoř áks achter wünschte, dass er es komponiert hätte. Sinfonie kombiniert. «Wir wollen damit Auch in Luzern ist man begeistert. Für unterstreichen, dass wir sowohl der Zu- Bischof-Ullmann schreibt Lang «sinnliche kunft als auch der Tradition verpflichtet Musik zum Verlieben.» «Harmony and sind», erläutert Nicosanti. Dennoch wirkt understanding for orchestra and audi- die Wahl der Sinfonie, gemessen an der ence» lautet der Titel des neuen Stücks. konzeptuellen Dichte der Uraufführung, Es ist konzeptuell und partizipativ an- fast etwas beliebig. Die Organisatoren gelegt. Wie das genau aussieht, ist noch räumen ein, dass bei der Auswahl auch nicht ganz klar. Bis Ende Januar war die «praktische Gründe» mitgespielt hätten; Partitur laut Stefan Grabers noch «beim Dvoř áks Musik gehört seit einer CD- Kopisten». «Für uns wäre es optimal Produktion 2014 zum Kernrepertoire gewesen, die Partitur vor Weihnachten des Luzerner Sinfonieorchesters. 18
N EU E MUSI K Dirigiert werden die Konzerte von André de Ridder. Der Deutsche gehört zu einem neuen Dirigententypus, der auch vor Kollaborationen mit der britischen Art-Pop-Gruppe Gorillaz nicht zurück- schreckt. Alles, was dem Projekt fehlt, um wirklich zukunftsweisend zu sein, ist weibliche Beteiligung. «Es gibt momentan einfach nicht sehr viele Prorektorinnen», erklärt Nicosanti diesen Umstand. «Harmony and understandig ...»: Der Titel ist ein Zitat aus dem Musical «Hair». Dieses feierte 1968 Premiere. 1968 war auch das Jahr der politischen Protestbewe- gungen. Ob Lang diesen Spirit mit seiner neuen Komposition heraufbeschwört? Ein halbes Jahrhundert später sind Harmonie und Verständnis einmal mehr gefordert. Das gilt für David Langs Amerika wie für unseren Kanton. Es ist also ein sehr zu begrüssendes Signal, dass in kulturellen Krisenzeiten Allianzen gesucht wer- den – «Harmony and understanding ...» muss sowohl innerhalb einer Szene als auch über die Fachgrenzen hinweg gelebt werden. Es ist ein Zeichen von kultu- rellem Selbstbewusstsein, dass sich die Kantonsschule Alpenquai Luzern und das Luzerner Sinfonieorchester auf ein solches Abenteuer einlassen. Jubiläumskonzerte 50 Jahre Kantonsschule Alpenquai Luzern, MI 14. März, 19.30 Uhr und DO 15. März, 19.30 Uhr, KKL Luzern Als Einstimmung auf die beiden Jubiläumskon- zerte gibt es im März noch mehr David Lang zu Violin Bow © Suzie Maeder hören: Das Ensemble Corund führt am 3. März um 20 Uhr in der Pfarrkirche Stans und 4. März um 17 Uhr in der Matthäuskirche Luzern Langs «The Little Match Girl Passion» von 2007 auf. Für dieses Stück erhielt Lang den Pulitzer- Preis. (kat) 19
«Kultur kann man nicht managen» 20
U R N E R K U LT U RVO R S T E H E R In Uri kennt nicht jeder jeden. Aber fast. Josef Manager werden? «Kultur kann man nicht Schuler hingegen, den kennt jeder. Der freund- managen», sagt Ralph Aschwanden und breitet liche Förderer und Vermittler hat während aus, wie er sein neues Amt versteht. Er will über zwanzig Jahren das Urner Kulturleben fördern, vermitteln, ermöglichen, damit die massgeblich geprägt. Er dürfte der amtsälteste wirklich Kreativen ihre Projekte realisieren kantonale Kulturbeauftragte sein. Jetzt geht können. Es gehe bei Kulturförderung nicht er in Pension. «Wenn ich gleich erfolgreich nur um Geld, sondern darum, Spannendes zu bin wie Josef Schuler, dann werde ich auch entdecken, Leute zu ermuntern, Möglichkeiten einmal glücklich pensioniert werden», sagt aufzuzeigen, Wege zu ebnen. So hat auch Josef Ralph Aschwanden. Er ist vierzig, verheiratet Schuler in den vergangenen Jahren gewirkt, und Vater von zwei Kindern. ganz ohne Allüren. Aschwanden, Schuler. Ralphs Heimatort ist Isenthal, Josef wohnt dort. Aber die beiden Kultur gehört dazu kennen einander nicht deswegen. Als Ralph Uri hat ein vielfältiges und reiches Kulturleben, Aschwanden das Tonart-Festival in Altdorf wie das in den Innerschweizer Kantonen üblich mitorganisierte oder den Musikabend mit dem ist. Es gehört irgendwie zum Selbstverständnis neuen Lied «Dr Stiär» mitinitiierte, da war sein der Region. Die meisten konsumieren nicht nur, Ansprechpartner Josef Schuler, der Mann mit sondern sind auch aktiv, sei es in der Dorfmusik, dem offenen Ohr und dem offenen Herzen für in der Theatergruppe, im Kunstverein. Und alle kulturellen Anliegen. Am 1. März über- irgendwie scheint politisch das Verständnis nimmt Ralph Aschwanden dessen Stelle. noch vorhanden zu sein, dass eine Gesellschaft Kultur braucht und letztere auch etwas kosten Engagement wird belohnt darf, selbst wenn der Kanton knapp bei Kasse ist. Seit zwei Jahren leitet Ralph Aschwanden die Nun soll Uri erstmals ein Kulturförderungsgesetz Administration der Baudirektion Uri. Die Frage, erhalten, das hoffentlich nicht zum Sparhebel ob ihm der Bau oder die Kultur näher liege, verkommt. Die Debatte steht noch aus. Ralph bräuchte man nicht zu stellen. Er antwortet so- Aschwanden wird sich – wie sein Vorgänger – fort: die Kultur. Punkt. Seit Kindsbeinen macht bei den Landrätinnen und Landräten für die er Musik, hat Schlagzeugunterricht besucht und Anliegen der Kultur einsetzen müssen. Auch in Luzern im Jugendblasorchester mitgespielt, das gehöre zu seinem neuen Job, sagt Ralph Ralph Aschwanden Konzerte in Kirchen begleitet und immer wieder Aschwanden. kulturelle Anlässe organisiert. Mit zwanzig Von sich selber sagt er, dass er nicht beson- folgt auf Josef Schuler wollte er gemeinsam mit anderen in Uri ein ders kreativ sei, da seien andere viel besser. als Chef des Urner Amts Jugendblasorchesterprojekt starten. Der dama- Aber er bewundert Kreativität, das bisweilen für Kultur und Sport. lige Bildungs- und Kulturdirektor Hansruedi Schräge, das besondere Erlebnis. «Kultur macht Der Nachfolger ist sei- Stadler begeisterte sich sofort. «Wenn man in etwas mit den Menschen – oder eben nicht. nem Vorgänger schon Uri eine gute Idee hat, dann findet man in der Das fasziniert mich.» Ralph Aschwanden packt Regel bei Behörden, Sponsoren und Freunden seine Begeisterung in präzise, wohlstrukturierte viel früher begegnet. Unterstützung», sagt Ralph Aschwanden. Das und austarierte Sätze. Das wird ihm in seinem Von Thomas Bolli, sei charakteristisch für Uri und das gefällt ihm. neuen Amt zugutekommen, wenn er für die Bild: Angel Sanchez Ralph Aschwanden ist in Altdorf aufge- Kultur weibeln, Verständnis wecken und Türen wachsen und hat in Freiburg Geschichte und öffnen muss. Englische Literatur studiert. Vor seiner Zeit in Es haben sich rund zwei Dutzend Personen der Baudirektion arbeitete er als Kurator am für die Stelle beworben. Ralph Aschwanden Forum Schweizer Geschichte in Schwyz. Unter kennt einige Mitbewerber persönlich. Mit ei- anderem gestaltete er die Ausstellung «Tell, nem hat er sich direkt ausgesprochen, ihre bitte melden!» mit. Er war auch Journalist beim Freundschaft soll nicht leiden, auch wenn sie «Urner Wochenblatt» und schrieb sich dabei gegeneinander antreten. So macht man das in durch die ganze Palette der lokalen Kultur. einem kleinen Kanton. Noch hängt in Ralph Seit vergangenem Sommer besucht er einen Aschwandens Baudirektionsbüro eine Leucht- Masterstudiengang in Kulturmanagement an weste am Kleiderhaken. Die wird er in seinem der Hochschule Luzern; er hatte bereits früher neuen Amt nicht mehr brauchen. Da fällt er in Basel einen solchen Kurs belegt. Will er genug auf. 21
M UOTATA L ER SOU N D Musizieren und Geselligkeit wird im Muotatal hoch geschätzt. Die Volksmusikformation Natur pur im Restaurant Alpenblick in der Gemeinde Muotathal. Foto: Christof Hirtler Keep the Valley Loud Ein Jodelklub, vier Chöre, zehn Volksmusikformationen, zwei Country-, sieben Rock- und zwei Metal-Bands: Es wird viel Musik gemacht im Muotatal*. Erstaunlich, denn hier leben nur 4300 Menschen auf einer Fläche, die fast so gross wie der Kanton Zug ist. Von Christof Hirtler Medien und Werbung zementieren das Image des Muotatals Stücke der Schwyzerörgeler Rees Gwerder, Anton Betsch- als abgeschiedenes, wildromantisches Bergtal, bewohnt von art, Georg-Anton Langenegger, des Akkordeonisten Franz starrköpfigen und eigenbrötlerischen Hinterwäldlern. Wer Schmidig sen. oder des Geigers Josef Imhof (Übername: aber die Klangwelten des Schwyzer Tals erkundet, findet z Predigers Joseb) sind von einem unwiderstehlichen zu den Wurzeln der Schweizer Volksmusik und begegnet Groove und inspirieren. Die Musik des Geigers Josef Imhof vielen weltoffenen und innovativen Musikerinnen und war ausschlaggebend für die Gründung von «Ambäck», Musikern verschiedenster Stilrichtungen. das Trio um die Schwyzerörgeli-Ikone Markus Flückiger. Die sperrig-urchige Tanzmusik und die archaischen Ambäck heisst übrigens im Muotataler Dialekt Spaltklotz. Jüüzli des Muotatals sind schweizweit einzigartig. Das Um das musikalische Erbe des Muotatals kümmert sich Muotatal ist eine riesige musikalische Schatztruhe: Die seit 2009 der Verein Giigäbank. Mit seinen Sammlungen 22
M UOTATA L ER SOU N D Infinitas: CD-Taufe im Gaswerk, Seewen, 2017. Gitarrist Selv Martone, Sängerin Andrea Böll. Foto: Friedemann Kopp von Noten und Tonträgern spielt der Verein zusammen mit spieler im abgeschiedenen Muotatal. Das Spielen haben der Musikschule Muotathal-Illgau eine wichtige Rolle bei sie sich selber beigebracht. der Erhaltung und Förderung des volkstümlichen Kultur- Die gesungenen oder mit dem Büchel vorgetragenen guts. Jährlich organisiert Giigäbank am letzten Sonntag alten Melodien und Jüüzli wurden auf das neue Instrument des Jahres den Muotathaler Ländlersunntig. adaptiert. Die Musik klang roh, mit Ecken und Kanten und 31. Dezember, 2017: Im Restaurant Alpenblick in der abrupten Taktwechseln. Gespielt wurde aus dem Stegreif, Gemeinde Muotathal, das Vereinslokal der örtlichen Feuer- nach Gehör und ohne Noten. wehr, gibt es wie angekündigt grünen Salat, Schweinssteak Mit dem Schwyzerörgeli konnte ein einziger Musiker an Kräuterbutter, Pommes und Coupe Dänemark. Dann zum Tanz aufspielen, zudem war es klein und einfach zu sind die Teller abgeräumt, es spielt das Handorgelduo Remo abgelegenen Bauernhäusern zu transportieren. Dort fanden Gwerder-Franz Schmidig, das Publikum geniesst die Musik die «Schloffätänz» statt. Heimlich wurde die ganze Nacht bei einem Glas Roten oder einem Kaffee Schnaps. gespielt, getanzt und gefeiert, zum Missfallen der Kirche An einem der langen Tische sitzt Koni Schelbert, Feld- und der Behörden, die in ihrem Kampf gegen Unsittlich- waldwiesenblogger und Musiker: «Die Toleranz unter keit und Alkoholismus die Tanzanlässe nur während der den einzelnen Stilrichtungen ist recht gross, die Musiker Fasnacht, der Chilbi und an den Viehmärkten zuliessen. respektieren sich gegenseitig. Es gibt neben den vielen Wer sich nicht daran hielt, machte sich vor dem Gesetz Ländlermusikformationen auch eine lebendige Metal-Szene. strafbar und musste bis in die 1950er-Jahre während der Auch Thrash-Metaller besuchen ab und zu eine Ländler- Sonntagsmesse im Mittelgang «uusächnüüä» (hinknien). Stubete. Andere, wie Bernhard Betschart von Natur pur, switchen zwischen Volksmusik, Country und Rock.» Dr Eigäler 1886 begann Alois Eichhorn in Schwyz mit dem Bau Rees Gwerder (Eigäler), 1911 im Heimet «Schweizi» zuhin- der ersten Schwyzerörgeli. Alois Suter (Lisäbethler), Bauer terst im Muotatal geboren und aufgewachsen, besass ein auf der Unteren Meienen und Kirchensakristan, Melchior unglaubliches Musikgehör. Als Fünfjähriger nahm er das Anton Langenegger (Egg-Basch), Bauer, und Franz Betschart Schwyzerörgeli seines Vaters und übte heimlich die ersten (Liänäler), Fuhrhalter, waren die ersten Schwyzerörgeli- Stücke. «Äs hed äim scho käinä niä öppis zäigt», sagte Rees 23
M UOTATA L ER SOU N D Gwerder in einem Fernsehinterview von 10vor10 zu seinem Schalk, Eigensinn und die Lust, «anders zu tönen», prägt achtzigsten Geburtstag. Bereits als 15-Jähriger verfügte der die Musik der Schattenhälbler. Die alten Tänze kommen Bauernsohn über ein Repertoire von hundert Melodien, auch bei den Jungen gut an. Im Bastards Place, ehemals hauptsächlich kurze, zweiteilige Tänze, sogenannte «Stüm- Restaurant Sonne (Muotathal), spielen neben Country-Rock- päli». Sein Leben lang spielte Rees Gwerder auf seinem und Rock’n’Roll-Bands auch Ländlerformationen. «Ganz Eichhornörgeli ausschliesslich alte Tänze, die er zum Teil sicher gibt’s bei uns keinen Hip-Hop, Techno und solches neu kombinierte oder wie er sagte «zwägg gchlüngelet het». Zeugs», versichert Nik Betschart, der Betreiber des Lokals. Über 200 Stücke konnte Rees Gwerder aus dem Stegreif «Schrägers und Gräders», so heisst die gemeinsame ohne Noten spielen. Dies soll ausgereicht haben, um an der CD des Handörgeli-Duos Echo vom Schattenhalb und Riemenstalder-Chilbi stundenlang der Juuzer-Gruppe Natur pur. «Das zum Tanz aufzuspielen. Juuzen ist eng mit dem Bärgbuurä- Rees Gwerder nahm zahlrei- Läbä verbunden», erklärt der Sän- «In den Lüften treiben che Tonträger auf. Tänzli, wie er ger, Gitarrist und Bassist Bernhard sie von seinen Vorfahren gehört Geister ihr Unwesen, die Betschart, aufgewachsen mit sechs hatte. Dieses Inventar zählt heute mit Peitschenknallen, Geschwistern auf dem stotzigen Hei- zum kulturellen Erbe der Schwei- met Zinglen im Muotatal. Nach der zer Volksmusik. «Nüümodischs» Kettenrasseln und ähnli- Schule half er den Eltern auf dem lehnte Rees Gwerder jedoch stets chem Getöse vertrieben Betrieb, mit 25 Jahren absolvierte er ab, der wortkarge Musiker mit eine Lehre als Strassenbauer. der «Chrummä» im Mund blieb wurden.» Heute lebt Beny Betschart von der konsequent beim Alten. Durch Musik. Er spielt mit Black Creek Folk, den Film «Ur-Musig» (1993) des Rock und Country, pflegt den Natur- Luzerner Musikethnologen Cyrill Schläpfer gelangte Gwer- juuz mit der Gruppe Natur pur und gibt Jodel-Workshops. der zu internationalem Ruhm. 2011 schrieb der Luzerner Er ist, wie viele Muotataler, ein Macher. «Das Juuzen tut Musikjournalist Pirmin Bossart in der «Luzerner Zeitung»: uns Muotatalern gut. Beim Zusammentreiben der Rinder «Rees Gwerder hatte dieses ungeschminkt Authentische auf der Alp oder beim Locken des Viehs, da juuze ich gerne. und Knorrige, das man in den Wysel-Gyr-Jahren der medial Das ist unsere Form, Gefühle auszudrücken – ohne Wor- aufbereiteten Ländlermusik so nie zu Gehör bekommen te – das kommt von ganz tief.» Die Jüüzli klingen darum hatte». Schläpfers Klangreise zu «den querstehenden und nicht nur freudig, sondern oft auch melancholisch und musikalischen Grinden aus dem Muotatal» gab der damals «es gibt auch einige wilde, verdrehte». Gejuuzt wird nach oft belächelten Schweizer Volksmusik ihren Stellenwert überlieferten, traditionellen Melodien. «Auffallend für zurück. Die Gruppe Pareglish (bareglisch ist ein Muota- Laien sind die ‹schräg› klingenden Töne der Naturtonreihe. taler Dialektwort für brünstig, geil) um Dani Häusler und Dies ergibt beim mehrstimmigen Singen ungewohnte, für Markus Flückiger, die zuvor in Finnland oder im Balkan unsere Ohren dissonant klingende Intervalle.» Inspiration suchten, entdeckten die Wurzeln der Schweizer Der archaische Naturjodel des Muotatals ist in der Volksmusik vor ihrer Haustüre, lüfteten kräftig durch und Schweiz einzigartig. «Man weiss, dass die Natur den Juuz brachten sie aus der «nichthinterfragenden Traditionspflege» prägt, so tönt der Naturjodel im hügeligen Appenzell viel in die Gegenwart. weicher als im gebirgigen Toggenburg oder bei uns. Wir leben in einem engen Tal, mitten im Gebirge. So rau wie die Schrägers und Gräders Landschaft, so rau ist der Juuz, so rau ist auch die Intonati- Auch Cornel Schelbert (Übername: ds Schmieds Cornel), on.» Dies erforschte und belegte der Musiktethnologe Hugo Örgeler beim Echo vom Schattenhalb spielt mit Daniel Zemp mit seinen Feldforschungen, fünf Dokumentarfilmen Schmidig (ds Hebamms Dänl) seit 22 Jahren in der Tra- und der Platte «Jüüzli – Jodel du Muotatal» (1979). Die dition ihrer Vorfahren Rees Gwerder oder Georg Anton LP ist in der renommierten Serie «Le Chant Du Monde» Langenegger (Egg Basch). Das Schwyzerörgelispiel lernten erschienen, die Musik aus aller Welt präsentiert. die beiden ab Tonbandkassettli, oft Eigenaufnahmen be- kannter Muotataler Musiker. Melodic-Thrash-Metal – Infinitas Die schroffe Landschaft des Muotatals und die Arbeit Ein Stück Käse liegt am Boden einer Lawinengalerie. Beim als Bauern, prägen das Lebensgefühl und den Ton von Tunnelausgang steht ein Mann, ein braunes Badetuch Echo vom Schattenhalb. «Unsere Musik tönt manchmal über den Kopf geworfen. Ein zweiter Mann mit einem fröhlich, aber oft traurig, wie das Leben», sagt Cornel blauen Badetuch über dem Kopf nähert sich. Der mit dem Schelbert. Schelbert und Schmidig spielen die Stücke auf braunen Tuch schreit ihn an: «Hesch du dr Chääs is Tunäll Stöpselbass- und Halbwienerörgeli möglichst originalgetreu inätaa?» «Näi, han i nüd», antwortet der andere, mit Armen und mit ungewohnten Taktwechseln. «Will miär beed und Beinen um sich fuchtelnd. «Moll dä hesch.» «Näi, midänand gliich falsch spillid, tönts dä äbä gliich nüd lätz.» han i nüd», und so könnten sie sich unendlich um einen 24
M UOTATA L ER SOU N D Die Melodic-Thrash-Metal-Band Infinitas und Natur pur, Volksmusiktruppe. Bilder: zvg Chäs respektive um nichts streiten. Das absurd-schräge Für viele Muotataler Männer ist der Klang der Glocken Youtube-Filmchen mit einer tüchtigen Prise Muotataler die schönste Musik. Jeweils am Abend des Dreikönigs- Humor geistert seit 2015 als Low-Budget-Trailer für das tags treffen sich die Triichler vor dem Sternen. Das neue Muotataler Metal-Festival Harvest im Netz. Jahr wird eingeläutet und die Triichler machen mächtig Initiant und Organisator des Festivals war Pirmin (Piri) Dampf: Zwei Stunden lang bewegt sich der Zug von mehr Betschart, Bandleader und Schlagzeuger der Muotataler als zweihundert Männern im wiissä Hirthämmli durchs Melodic-Thrash-Metal-Band Infinitas. In einem Stall hat Dorf, im Takt ihre grossen Fahr- und Weid-Treicheln er mit dem Gitarristen Selv Martone einen professionellen schwingend. Angeführt von fünf Geisslächlepfern mit Proberaum samt Studio eingerichtet. «Einstiegsdroge zum Lorbeerkranz, dem Präsidenten mit einer Grotze und dem Heavy Metal war AC/DC, wie im Muotatal allgemein Vize mit einer hohen Holzbrennte, im Muotataler Dialekt üblich», sagt Selv Martone verschmitzt. «Wir lieben das heisst diese Tausä. Der Traditionsanlass ist nicht nur bei Erdige, das Echte, und feilen so lange an unseren Stücken, Bauern, Handwerkern und Angestellten beliebt, auch die bis sie live so gut tönen, wie wir sie auf CD aufgenommen Rocker sind dabei. haben. Qualität ist uns wichtig – einfach flätt (völlig) «Der Dreikönigstag ist die gefährlichste der zwölf Rauh- ehrlich, ohne Tricks und Schummeleien.» «Dazu braucht nächte», vermerkt das Handbuch des Deutschen Aberglau- es eine typische Portion Muotataler Sturheit», erklärt die bens. «In den Lüften treiben Geister ihr Unwesen, die mit Aargauer Sängerin Andrea Böll lachend. Sie muss es wissen, Peitschenknallen, Kettenrasseln und ähnlichem Getöse ist sie doch vor zwei Jahren wegen Infinitas in den Kanton vertrieben wurden.» Nachdem die Treichler vom Weiler Ried Schwyz gezogen. und jene vom Dorf Muotathal sich regelmässig prügelten, Das Intro auf der neuesten CD «Civitas Interitus» ist treicheln die Riedter am Neujahrstag, die Muotathaler im Muotataler Dialekt gesprochen, die Songtexte sind auf am Dreikönigstag. «Aber die Riedter kommen trotzdem Englisch. Pirmin Betschart: «Wir wollten damit etwas von jedes Jahr als Zuschauer ins Dorf», bemerkt ein Muotat- der Heimat einarbeiten, dä Wurzlä trüü bliibä, auch wenn haler Treichler. Im Dorf ist Freinacht und das Echo vom es nicht alle verstehen.» Jedes Jahr spielen Infinitas rund Schattenhalb spielt bis am frühen Morgen im Sternen-Saal. zehn Konzerte in Zürich, Basel oder Bern, wo die Metal- *Die Gemeinde Muotathal schreibt sich mit «th», das ganze Tal heisst Szene sehr aktiv ist. «Muotatal». Metal wird im Tal weniger gehört als auch schon. Neben Rock und Country ist die Ländlermusik der Vorfahren bei «Keep the valley loud» ist der Titel des CD-Samplers den Jungen besonders beliebt. «Viil Musiker, wo urchägi mit Muotataler Hardrock-, Countryrock- und Metal-Bands, Musig machid, hend üs gsäid, das, was miär miächid, erschienen 2017. miächid miär huärä guät, aber äs gfiäl inä nüd. Das isch www.naturjuuz.ch äs schöns Feedback», freut sich Pirmin Betschart. www.infinitasband.ch 25
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