LIEBE UND HASS: NEUE MUSIK - null41

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LIEBE UND HASS: NEUE MUSIK - null41
Unabhängige Monatszeitschrift für die Zentralschweiz mit Kulturkalender
NO 3 März 2018 CHF 9.– www.null41.ch

                                                                          NEUE MUSIK
                                                                          LIEBE UND HASS:
LIEBE UND HASS: NEUE MUSIK - null41
Bruce
Nauman
DISAPPEARING ACTS
 17. MÄrz – 26. August 2018
LIEBE UND HASS: NEUE MUSIK - null41
E DI TOR I A L

                                        Dreimal neu
                                        An ihrer Uraufführung, am 29. Mai 1913 in Paris, sorgte Igor Stra-
                                        winskys Ballettmusik «Le Sacre du Printemps» für einen veritablen
                                        Skandal. Die Kulturschickeria verschaffte ihrem Unmut mittels
                                        Pfiffen und Buhrufen Luft.
                                            Der Komponist nahm es in der New York Times sportlich:
                                        «Zweifellos wird man eines Tages verstehen, dass ich einen Über-
                                        raschungscoup auf Paris gelandet habe, Paris aber unpässlich war.»
                                            Heute kämpft die Neue Musik vor allem mit Desinteresse. Oft
                                        werden ihre Stücke an Konzerten aus guten Gründen so program-
                                        miert, dass das Publikum nicht davonlaufen kann.
                                            Ist es Ignoranz oder überfordert die Neue Musik die meisten
                                        Hörerinnen und Hörer? In unserem März-Schwerpunkt ab Seite
                                        10 beschäftigen wir uns mit diesen Fragen.
                                            Die kantonale Kulturförderung geht neue Wege: 2018 werden
                                        immerhin nur 150 000 Franken gekürzt, im Gegensatz zu den 500 000
                                        Franken 2017. Dies aber nur, weil der Lotteriegeldertopf umverteilt
                                        wird und der private Verein «FFK» eine Übergangsfinanzierung
                                        ermöglicht, was langfristig keine Lösung sein kann.
                                            Vor gut zwei Jahren lief das Pilotprojekt der regionalen Förder-
                                        fonds an, im Januar zog die Regionalkonferenz Kultur (RKK) eine
                                        erste Bilanz. Wie diese ausfällt und wo noch Überarbeitungsbedarf
                                        herrscht, lesen Sie in Anna Rosenwassers Text auf Seite 28.
                                            Neue Musik, neue Förderstrukturen ... und bald ein neuer Kopf
Music Stands © Suzie Maeder

                                        an dieser Stelle. Ich verabschiede mich nach zwei Jahren vom Kul-
                                        turmagazin «041» und möchte Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser,
                                        herzlich danken. Für Ihr Interesse, für Ihre Treue. Das ist nicht
                                        selbstverständlich.

                                        Ivan Schnyder (nach Diktat verreist)

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LIEBE UND HASS: NEUE MUSIK - null41
INHALT

AB SEITE 10
HÖR MIT SCHMERZEN
Annäherungen an und Fragezeichen zur Neuen Musik

22 ZWISCHEN JUUZEN UND METAL
So klingt das Muotatal

20 AMTSANTRITT                                      SERVICE                                     KULTURKALENDER
   Ralph Aschwanden ist neuer Urner Kultur-    29 Stadtentwicklung. Zur Nachhaltigkeit     49 Kinderkulturkalender
   vorsteher                                   32 Musik. Ado, die DIY-Maschine             51 Veranstaltungen
                                               36 Kunst. Kontrolle und Macht               67 Ausstellungen
28 KLÄRUNGSBEDARF                              39 Kino. Poetische Freiluftkunst
   In der Luzerner Kulturförderung bleiben     43 Bühne. Offene Gespräche und gute Ideen   Titelbild:
   viele Fragen offen                                                                      Flute © Suzie Maeder
                                               44 Wort. Bücherlese am Literaturfest
                                               72 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen
     KOLUMNEN                                     Schweiz
6  Doppelter Fokus: Priis Nüssle in Ibach      73 Ausschreibungen, Preise                  PROGRAMME DER KULTURHÄUSER
                                                                                                                                                   Bild unten: C. Hirtler . Bilder oben: zvg

8  Meier/Müller bi de Lüt: Chäs
                                                                                           52 LSO / Luzerner Theater / Kleintheater
9  Lechts und Rinks: Ein Kränzchen winden
                                                                                           54 HSLU Musik / Stattkino
26 Kulturtank: Was heisst schon Stil?                                                      56 Kulturlandschaft
31 Gefundenes Fressen: Puntarelle                                                          58 Neubad / Südpol / Stadtkeller
47 40 Jahre IG Kultur: Guten Tag, Gender-                                                  66 Kunstmuseum Luzern / Nidwaldner Museum
   Bewusstsein                                                                                Haus für Kunst Uri
48 041 –  Das Freundebuch: Sophia Aschwanden                                               68 Historisches Museum / Natur Museum / Kunsthaus Zug
74 Käptn Steffis Rätsel                                                                    69 Kunsthalle
75 Comic: Ein Hund mit Migrationshintergrund                                               70 Museum Bellpark

                                                                    4
LIEBE UND HASS: NEUE MUSIK - null41
S C H Ö N G E S AG T

                  «Es gibt nur authentische und
                          beseelte Musik, Geschichten,
                   die berühren – oder eben nicht.»
                                                                                           RICHARD KOECHLI, SEITE 15

            AU F G E L I S T E T                                                G U T E N T AG

Das nervt:                            GUTEN TAG, MARTIN PLAZZER                            GUTEN TAG, KIRSCHLORBEER
                                      Pssst. Zuerst kurz unter uns: Der Redaktionslei-     Die Australier hatten die Kaninchen, die sich
∙ Der Fasnachts-Urknall, wenn man     ter hat den Guten-Tag-Autorinnen und -Autoren        ohne natürliche Feinde so unanständig zahlreich
                                      verboten, einzelne Menschen persönlich anzu-         vermehrten, dass insgesamt drei immense Zäune,
arbeiten muss
                                      sprechen. Aber wenn wir ganz leise sind, hört er     sogenannte Rabbit-Proof-Fences, gebaut werden
                                      uns nicht, er befindet sich auf Seite 3. Und als     mussten, um die Schadnager vom Ackerland fern-
∙ Der Fasnachts-Urknall im Allge-     Geschäftsleiter der Luzerner Rundschau sind Sie      zuhalten. Doch das war noch gar nichts gegen das,
meinen                                ja eh eine öffentliche Figur. Falls er dieses «Gu-   was uns hier und jetzt – wortwörtlich – blüht: Eine
                                      ten Tag» trotzdem nicht drucken will, gehen wir      Interpellation der Grünen ruft zum Kampf auf
∙ Menschen, die für alles eine Sit-   halt zu zentral+ und publizieren es dort, hähähä.    gegen Dich, Kirschlorbeer, und andere «invasive
zung einberufen                       So wie SP-Kanton-Luzern-Präsident David Roth,        Neophyten auf städtischen Grundstücken». Geht’s
                                      der von Ihnen bei der Luzerner Rundschau zur         noch? Auch Pflanzen haben Gefühle. Zumindest
∙ Menschen, die für alles einen       «persona non grata» erklärt wurde und Schreib-       kam eine US-Forschungsgruppe der University of
Doodle aufsetzen                      verbot hat, weil er sich 2013 abschätzig über den    Missouri in Columbia jüngst zu diesem Schluss.
                                      Tod von Margaret Thatcher äusserte. Mittels          Bist Du tatsächlich ein invasiver Wüterich unter
                                      dieser «erzieherischen Massnahme» haben Sie          den hiesigen Pflanzen, der alles verwächst, was
∙ Menschen, die sich im Doodle ein-
                                      seiner mittlerweile online publizierten Politko-     sich nicht schnell genug bewegt, oder steckt unter
tragen, aber am vereinbarten Da-
                                      lumne wohl zu mehr Aufmerksamkeit verholfen,         deinem trutzigen Immergrün nicht vielmehr ein
tum nicht kommen (obwohl sie sich     als sich Roth das je erträumt hat. Die Luzerner      zartes Geäst, das bloss geliebt werden will? Kom-
an demselben eingetragen haben!)      Rundschau wird nämlich nur von Pöstlerinnen          men nach den militanten Heimat- und Tier- nun
                                      und Abfallentsorgern gelesen. Mitte 2018 könne       die paramilitärischen Pflanzenschützer? Die das
∙ VBL-Touchscreens, die bei Regen     diese «erzieherische Massnahme» rückgängig           heimische Rottannli vor dir, unflätiger Kirsch-
und Schneefall nicht funktionieren    gemacht werden. Wieso, ist dann Ihr persönli-        lorbeer, behüten wollen?
                                      ches Stichdatum für verjährende, abschätzige
∙ Baustellen, die nie aufhören        Bemerkungen? Oder wird bis dann die Luzerner         Mit grünem Zeigefinger, 041 – Das Kulturmagazin
                                      Rundschau vom neuen Eigentümer, der Blocher-
∙ Der letzte Bissen des Restaurant-   BaZ-Holding, zu einem völlig unabschätzigen
                                      Rechtsblatt umgebaut?
Neustädli-Cordon-Bleus
                                      Erzieherisch, 041 – Das Kulturmagazin
∙ Wenn Listen zu Ende sind

∙ So, jetzt aber fertig!

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D O P P E LT E R F O K U S

Priis Nüssle in Ibach, Schwyz, 27. Januar 2018
Bild oben Mischa Christen, rechte Seite Patrick Blank

 Die beiden Luzerner Fotografen Patrick Blank und Mischa Christen zeigen zwei Blicke auf einen
 Zentralschweizer Anlass, den «041 – Das Kulturmagazin» nicht besuchen würde.

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MEIER/MÜLLER BI DE LÜT

Chäs

Es ist der Käse, an dem man einen Schweizer packen
kann. Zieht man lange genug an einem Ende eines
hiesigen Käses, hängt am anderen Ende ein Schwei-
zer dran. Das liegt in unserem Selbstverständnis, wir
hängen am Käse.
     Der Schweizer frisst ungemein viel davon. Am meis-
ten im Winter. Ein Winter ohne Käse wäre für den
Schweizer wie Auswandern, wie «SRF bi de Lüt», wie
Auf und Davon; man kann es sich noch so vornehmen,
es wird sowieso schiefgehen.
     Der Schweizer frisst den Käse gleich zu Beginn des
Winters, weil er diese Saison noch kein Fondue hatte.
Dann frisst er ihn, weil er diese Saison noch kein Raclette
hatte. Dann frisst er ihn, weil Weihnachten ist. Dann frisst
er ihn, weil Weihnachtsessen bei den Schwiegereltern
ist. Dann frisst er ihn, weil Silvester ist. Dann frisst er
ihn, weil er im neuen Jahr noch keinen Käse gefressen
hat. Dann frisst er ihn, weil er grad 50% im Coop ist.
Dann frisst er ihn, weil es im März noch kalt ist und
es könnte in dieser Saison die letzte Gelegenheit für
Fondue sein. Dann frisst er ihn, weil es im April noch
mal schneit und das ist sicher die letzte Chance für
Raclette diese Saison. Mit Saison meint der Schweizer
den Skitourismus und den Käse.
     Im Sommer frisst der Schweizer geschwellte Härdöpfel
mit Käse. Aufgeschlossene Multikulti-Schweizer fressen
im Sommer griechischen Salat mit viel Feta. Dann
sagen sie «Uh, ich habe sooo gern Feta» und ziehen
den Mund in die Länge, bis es schmerzt, weil sie das E
im Wort Feta extrem in die Länge ziehen müssen und
zum Beweis ihrer kulinarischen Offenheit bröckelt ein
bisschen Feta vom Zahn und fällt aus dem Mund und
ein kleiner Rest bleibt an der Unterlippe hängen. Ein          den Nachbarn auf dem Campingplatz zu zeigen, wo dem
bisschen Käse hängt dem Schweizer immer vom Mund.              Schweizer das Kreuz im Käse hängt. Um zu zeigen, dass
     Bodenständige Stüblischweizer fressen im Som-             wir die Käsenation sind, die Schweiz und niemand anderes.
mer Cervelat-Chässalat zur Grillade. Am 1. August              Wann frisst der Franzose schon Käse als Hauptmahlzeit?
zünden sie ein paar Raketen und machen Fondue, um              Wann der Italiener?
                                                                   In der Schweiz hat jeder Vorfahren, die noch selber
                                                               gekäst haben. Früher käste der Schweizer auf der Alp, er
                                                               käste auf dem Maiensäss und er käste im Mittelland und
                                                               im Unterland käste er auch und mancherorts machte er ne-
                                                               bendran noch schnell ein paar Uhren. Wenn der Schweizer
                                                               älter wird, wird die Rinde härter, aber in seinem Herzen
                                                               brodelt der Käse noch immer heiss und flüssig.

                                                                Text: Anaïs Meier, Illustration: Sarah Elena Müller

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LEC HTS U N D R I N KS

Ein Kränzchen winden
In Luzern steht nicht alles zum Besten. Aber eigentlich steht alles zum Besten. Zum Beispiel die
Partizipation der Bevölkerung an der Raumplanung.

Mitten in der Stadt gibt es eine neue Zwischen-                                                    Und die Bevölkerung auch nicht. «Privati-
nutzung: Die «Kooperation Industriestrasse»                                                        sierung» heisst das serbische Zauberwort,
stellt eine 1 000 Quadratmeter grosse Brache                                                       erlaubt scheint alles zu sein: Dem Bauvor-
für Ideen und Experimente zur Verfügung,                                                           haben standen viele (bewohnte) Gebäude im
bis auf dem insgesamt 9 000 m2 grossen Ge-        Wohnungen nicht erfüllt, noch gibt es keine      Weg. Was tun? Sie wurden in einer Nacht-
lände 2021 eine gemeinnützige Überbauung          Handhabe gegen Hausbesitzer, die ihre leer       und-Nebel-Aktion kurzerhand platt gewalzt.
entsteht. Platz haben kann bei der Zwischen-      stehenden Liegenschaften verlottern lassen,      Maskierte Schläger sperrten den betroffenen
nutzung gemäss der Kooperation fast alles:        noch ist günstiger und auch experimenteller      Stadtteil ab, Bagger fuhren auf und ebneten
vom Hühnerstall bis zum Gemeinschafts-            Wohnraum Mangelware und der Kanton hat           sozusagen den Weg nach Saudi-Arabien. Die
garten, von Wildbienen bis zum temporären         die «Wohnbaukommission» letzten Dezem-           von den Bewohnerinnen und Bewohnern zu
Campingwagen. Das ist super. Überhaupt            ber kurzerhand abgeschafft. Trotzdem: Die        Hilfe gerufene Polizei stellte sich taub, eine
sind die Leute rund um die Industriestrasse       Luzernerinnen und Luzerner reden bei der         Ermittlung gegen das illegale Vorgehen ist bis
Zugpferde, wenn es um Raumplanung und             Raumplanung und beim Umgang mit Zwi-             heute nicht in Sicht – dafür stehen bereits die
Zwischennutzungen geht. Bereits 2012 hatte        schennutzungen ein gewichtiges Wort mit.         ersten riesigen Hoteltürme, die dem Stadtbild
ihre Initiative «Ja zu einer lebendigen Indus-    Das ist gut so, alles in allem steht in Luzern   einen ganz neuen Stempel aufdrücken. Ein
triestrasse» Wind in die Politik gebracht. Und    alles zum Besten. Aufgefallen ist mir das,       solches Vorgehen ist in Luzern zum Glück
auch sonst hat sich einiges getan bezüglich       als ich bei einem Aufenthalt in Belgrad das      undenkbar. Aber es ruft in Erinnerung, wie
Raumplanung. Vieles hat sich verbessert:          Gegenteil vor Augen hatte: Die Regierung hat     partizipativ und sorgfältig hierzulande mit
Die Annahme der «Wohnrauminitiative»              in einer komplett undurchsichtigen Aktion        der städtischen Raumplanung umgegangen
(ebenfalls 2012) verpflichtet die Stadt, den      einen ganzen Stadtteil an arabische Inves-       wird. Und dafür kann man Luzern und damit
Anteil gemeinnütziger Wohnungen auf 16            toren verkauft, die dort das Viertel «Belgrad    auch seiner Bevölkerung wirklich mal ein
Prozent zu erhöhen, seit dem wuchtigen Ja         Waterfront» aus dem Boden stampfen: Auf          Kränzchen winden.
letzten Herbst zum «Gegenvorschlag Boden-         einer Fläche von 1,8 Millionen Quadratmetern
initiative» darf städtisches Eigentum nur noch    entstehen 5 700 Wohneinheiten und 2 200          PS: Widersprechen Sie mir und sehen Sie das viel
im Baurecht abgegeben werden. Zudem ist           Hotelräume der Luxusklasse, das Herz der         pessimistischer? In ein paar Monaten werde ich
die kantonale Initiative «Zahlbares Wohnen        glänzenden Finsternis wird ein 200 Meter         Belgrad vergessen haben und auch wieder mit
für alle» in der Pipeline (4. März). Natürlich    hoher Glasturm sein. «Eine urbane Katast-        Ihnen einverstanden sein.
gibt es auch ärgerliche Sachen: Noch ist die      rophe!», sagen die Gegner dieses gigantischen
Forderung von 16 Prozent gemeinnütziger           Hirnrisses. Doch zu sagen haben sie nichts.      Text: Christine Weber, Illustration: Stefanie Sager

                                                                        9
LIEBE UND HASS: NEUE MUSIK - null41
Martina Berther ist E-Bassistin (u. a. Ester Poly, Aul, Weird Beard) sowie                                                                                                                     Jasmin Schmid ist Sängerin, Musicaldarstellerin und Gesangslehrerin.
     Musikpädagogin und absolvierte die Hochschule Luzern – Musik (Abteilung                                                                                                                        www.jasminschmid.ch
     Jazz).

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                                                                                                                                                                                                                                                                             N EU E MUSI K

                                                                                                               und ihre Eindrücke dazu niederschreiben.
                                                                                                                                                                                       Probehören
                                                                                   musikerin, eine Klassikerin, eine Jazzerin und einen Hip-Hopper drei stilprägende Stücke hören
                                                                                  polarisiert so sehr wie diese radikale Erweiterung der musikalischen Mittel. Wir liessen eine Pop-
                                                                                  Den einen Ohren- und intellektueller Schmaus, den andern ein Graus: Neue Musik. Kaum ein Stil

     Lukas Schaller alias Luk LeChuck ist DJ (u. a. von Rapper Mimiks) und                                                                                                                          Silke Strahl ist Saxofonistin und bewegt sich musikalisch zwischen den
     betreibt das Label Sonder Void.                                                                                                                                                                Genres zeitgenössische Musik, freie Improvisation und Klassik.
                                                                                                                                                                                                    www.silkestrahl.com
N EU E MUSI K

Igor Strawinsky: «Le Sacre du Printemps» (1913)
  Hören Sie «Le Sacre du Printemps» unter www.null41.ch/neuemusik.

  Jasmin Schmid: Zuerst denke ich: Wow, das klingt so richtig live, klingt nach Konzertsaal und Theater ... Und das Stück be-
  ginnt sehr harmonisch, was mich weiter beruhigt, befürchtete ich doch, dass mich mit Neuer Musik drei schräge experimentelle
  Klangerlebnisse erwarten. Weiter höre ich schönen Orchesterklang und bin richtig positiv überrascht. Ich mag die Streicher,
  die Querflöte, die Dynamik, die Dramatik, die Emotionalität und die Expressivität. Und ich denke: Das würde ich jetzt echt
  gern live anschauen und anhören! Als Sängerin liebe ich es, dass es ganz instrumental ist, so kann ich richtig abtauchen. Keine
  menschliche Stimme, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

  Silke Strahl: «Sacre» ist ein sehr kraftvolles Stück und eines meiner Lieblingswerke. Jedes Mal, wenn ich es höre/sehe, möchte
  ich mich am liebsten dazu bewegen, wie damals während meines Studiums, als wir zu einem Ausschnitt eine Tanzimprovisation
  aufgeführt haben. Es löst in mir aber nicht nur das Verlangen nach Bewegung aus, sondern wirkt auch ein Stück weit beklem-
  mend. Diese neue Inszenierung unterstützt dies. Sie hebt das Wilde, Verrückte, Beängstigende, Hässliche und Traurige des Stücks
  hervor. Aber obwohl «Sacre» ein «brutales» Stück ist, finde ich es auf eine eigene Art auch wunderschön. Ein solcher Skandal
  wie bei seiner Uraufführung vor über 100 Jahren wäre heutzutage nicht mehr denkbar. Es ist als Künstler oder Künstlerin
  nahezu unmöglich, zu schockieren. Auch die neue Inszenierung schafft dies trotz entblösster Tänzerin am Ende nicht wirklich.

  Martina Berther: Soweit ich mich erinnern kann, ist es meine erste Begegnung mit Strawinsky. Vom ersten Moment an wirkt
  das Werk absolut faszinierend auf mich. Fesselnde Klangkonstrukte, wunderschöne Dissonanzen. Moderne rhythmische Gebilde,
  welche zur Zeit der Uraufführung wohl aussergewöhnlich waren. Hin und wieder holen mich Melodien als schöner Kontrast ab.
  Verschiedene Stimmungen werden transportiert. Wuchtig, dramatisch, zerbrechlich, kräftig. Ich möchte mehr davon!

  Luk LeChuck: Klassische Musik, wie sie mir geläufig ist, die ich jedoch nicht höre. Klingt für mich musikalisch anspruchsvoll
  und wühlt mich innerlich auf. Hektische Gefühle und grosse Stimmungsschwankungen entstehen, wenn ich dieses Stück höre.
  In meinem Kopfkino spielt andauernd ein Film vom Kampf zwischen Gut und Böse. Mehrmals trifft der kleine, niedliche Held
  im Crescendo auf das grosse, böse Monster und liefert ihm einen Kampf auf Leben und Tod, der meist zum Vorteil des Helden
  (Piano) endet. Ich mag einige Teile dieses Stücks sehr, doch das dauerhafte emotionale Auf und Ab ist mir nach einer Weile zu
  anstrengend. Nach über 30 Minuten scheint das Monster dann besiegt zu sein, aber ehrlich gesagt gefiel mir die Endschlacht
  von Lord of the Rings etwas besser.

                                                                     11
N EU E MUSI K

John Cage: «4’33”» (1952)
  Hören Sie «4'33''» unter www.null41.ch/neuemusik.

  Schmid: Stille, Stille, Stille … Der Pianist spielt keinen Ton. Das ist also schon eher das, was ich unter Neuer Musik erwartet habe.
  Nur das eine oder andere Geräusch aus dem Publikum ist zu hören. Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Spannung, die sich
  durch diese Stille aufbaut, und zwischen einem Schmunzeln, weil es einer gewissen Komik nicht entbehrt, dass ein Pianist vor
  Publikum am Flügel sitzt und nicht spielt. Ich frage mich, wie würde ich reagieren, wenn ich dort live dabei im Publikum sitzen
  würde? Was wohl das Publikum denkt? Haben die gewusst, was sie erwartet?

  Strahl: «4’33’’» ist ein geniales Werk. Es gibt noch immer Diskussionen darüber, ob es wirklich als Musik angesehen werden kann.
  Dabei ist die Idee dahinter so gut. Cage macht die Stille hörbar. Bei dieser Aufnahme fand ich sehr spannend, wie das Publikum
  reagiert hat. Zu hören sind Gemurmel, Husten, Lachen, Stühlerücken, Nasehochziehen, Seufzen, etc. All das wird durch «4’33“» zu
  Musik. Je nach Raum und Umgebung «klingt» das Stück ganz anders. Ich habe es einmal in einer Kirche gehört, wo von draussen
  das Vogelzwitschern und vom Raum das Knarren des Holzes zu hören waren.

  Berther: Ich kenne die Musik von John Cage und bin nicht besonders überrascht. Das Stück provoziert mich nicht, ich kann mir
  aber vorstellen, dass dies früher anders war. Für mich ist es eher ein Theaterstück. Ich muss etwas schmunzeln, wenn ich William
  Marx dabei zusehe, wie er sich ganz seriös bewegt, den Deckel des Pianos auf und zu macht, die Uhr stellt und die Uhr betrachtet
  etc also das Stück aufführt. Jedoch spüre ich keine Spannung. Die Stille ist für mich nicht gespielt, interessante Geräusche nehme
  ich kaum wahr. Ich zweifle daran, ob das für mich Musik ist. Beim Hören fehlt mir zu sehr eine Energie, eine Kraft, eine Emotion.
  Als Ganzes betrachtet empfinde ich es aber trotzdem als Kunst. Dieser Gedanke wiederum irritiert mich. Es ist wohl das Radikale,
  das mich fasziniert. Ist es nun Kunst, aber keine Musik? Geht das? Ist es nun doch Musik? Ich bin immer noch irritiert.

  LeChuck: John Cage – kenn ich! Auch hier bin ich hin- und hergerissen. Einerseits feiere ich John Cages Aktion und diese
  Interpretation von Musik, anderseits kommen bei mir kritische Fragen auf. Zum Beispiel: Wenn dieses Stück hauptsächlich von
  der Ruhe lebt, dann gehören dazu doch auch die Geräusche und die Ruhe der Zuhörenden/Umgebung? Somit klingt dieses Stück
  jedes Mal anders und der grösste Teil wird hauptsächlich gar nicht von einem Interpreten, sondern von seiner Umgebung gespielt?
  Oder ist genau das der Punkt des Werks? Und wie sieht´s in diesem Fall mit dem Copyright aus? Darf man das Stück samplen für
  einen neuen Technohit? Könnte aber auch gut sein, dass John Cage der Trollgott von 1952 war!

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N EU E MUSI K

                       Carola Bauckholt: «Hellhörig» (2008)
                          Hören Sie «Hellhörig» unter www.null41.ch/neuemusik.

                          Schmid: Das Stück beginnt mit experimentellen Geräuschen – so habe ich das befürchtet. Weitere Geräusche. Ich drehe
                          den Lautstärkeregler etwas zurück. Ich schaue auf die Dauer des Stückes: ah, zum Glück nur 3’33’’. Grundsätzlich können
                          Geräusche ja interessant sein. Vielleicht ist so etwas live spannend zum Zuschauen? Für mich selber stelle ich fest: Für
                          mich muss Musik nicht besonders experimentell und ausgefallen sein. Ich mag Melodien, Harmonie, Emotionen. Wer mag
                          solche Musik? Was sind das für Menschen und weshalb mögen sie das?

                          Strahl: Die spannenden Klänge, die Carola Bauckholt mit den verschiedenen Objekten kreiert, haben mich sehr fasziniert.
                          «Hellhörig» ist ein kraftvolles, imposantes Werk mit einer kleinen Menge Witz. Ich glaube, es muss ein faszinierendes
                          Erlebnis sein, dieses wuchtige Stück live zu erleben und seine Energie physisch wahrnehmen zu können. Die Komponistin
                          Carola Bauckholt war mir vorher nicht bekannt. Ihr Werk «Hellhörig» hat mich neugierig gemacht, mich mit weiteren
                          ihrer Kompositionen zu befassen. Sie ist meiner Meinung nach eine äusserst spannende Komponistin.

                          Berther: Spannende Klänge, vielschichtig, energetisch. Schaue ich noch das Video dazu, bekommt es theatralische As-
                          pekte. Klang und Bild gleichzeitig ist mir allerdings zu viel. Ich schliesse lieber wieder die Augen und lausche den Klängen
                          und den vielen Wechseln. Ich versuche die Musik als ein Ganzes zu hören. Nicht einfach, es läuft vieles. Auch, weil das
                          Video aus Ausschnitten des Musikstücks besteht. Es wäre spannend, das ganze Werk an einem Stück zu hören. Durch die
                          Ausschnitte fehlt mir das grosse Ganze, die Dramaturgie und Poesie gehen verloren.

                          LeChuck: Irgendwie nice. Für mich persönlich sicherlich auch keine Sonntagabend-Musik zum Relaxen, aber wenn ich
                          sehe, wie diese Töne und Geräusche entstehen, macht mir das schon Spass. Ein paar Minuten lang jedenfalls. Spannend
                          und überraschend finde ich auch, dass ich bei diesem der drei gewählten Beispiele am meisten Gemeinsamkeiten mit der
                          Musik höre, mit der ich mich normalerweise befasse.
Illustrationen: Mart

                                                                                   Eine Einführung von Urban Maeder (Präsident Forum Neue Musik Luzern) sowie die
                                                                                   Links zu den einzelnen Werken finden Sie auf www.null41.ch/neuemusik.

                                                                                       13
P RO

Liebe Neue Musik, oder
liebe zeitgenössische Musik
Ich weiss noch nicht mal, wie ich dich nennen soll. Es dünkt mich,
beide Bezeichnungen umschreiben dich fahrlässig. Das Lexikon
definiert dich als «Musik ab etwa 1910 bis zur Gegenwart, mit
Schwerpunkt in der Mitte des 20. Jahrhunderts». Zeitgenössisch
ist also weit verfehlt und über den Begriff «neu» lässt sich streiten.
Auch du brauchst die alten Bausteine, um sie allerdings horizontal
und vertikal anders zu kombinieren. Womit du mich in den Bann
ziehst, ist dein Bruch mit Konventionen und dass du mit den har-
monischen, klanglichen, rhythmischen und melodischen Gesetzen
deiner Vorgängerinnen gebrochen hast.
    Ich darf bei dir meine Neugier befriedigen, mich immer wieder
überraschen lassen. Dein Wesen nimmt stets wechselnde Rollen
ein – ein Fundament unserer gesunden Beziehung. Das ist Nahrung
für mein Bedürfnis nach Offenheit und stärkt die Bereitschaft, mich
immer wieder auf Ungewohntes einzulassen.
    Du forderst mich heraus, mein Instrument und instrumentales
Können bis an die Grenzen auszuloten sowie aussergewöhnliche
Spieltechniken zu entwickeln, um dich zum Klingen zu bringen. In
der Vorbereitung der Konzerte forderst du sehr viel Aufmerksamkeit
von mir ein.
    Deine Interpretinnen und Interpreten müssen schon viel Humor
haben, das meist spärliche finanzielle Entgelt für die aufwendige
Übe- und Probezeit als Lohn zu bezeichnen. Ihre Bereitschaft drückt
schlicht die bedingungslose Zuneigung zu dir aus. Dies teilen sie mit
dem grossen Interesse der wenigen Zuhörerinnen und Zuhörer im
Publikum.
    Ich mag deine Bescheidenheit. Ohne enorme Beachtung produzierst
du weiter – in stiller Genugtuung darüber, dass dir die Populärkultur
viele deiner Errungenschaften in massentauglicher Dosis klaut.
    Nicht alles, was du von dir gibst, gefällt mir. Allerdings hat noch
kein zeitgeschichtliches Kulturverhalten entschieden, was von dir
überliefert werden soll. Ich bade also im Luxus deiner ganzen Fülle,
die zugegebenermassen manchmal anstrengend sein kann. Doch
du bist es mir wert.
    Ist es nicht die Vielfalt, die Systeme stabilisiert? Im gegenwär-
tigen Musikschaffen ist dies dein Verdienst und du leistest einen
unverzichtbaren Beitrag an die Kulturlandschaft. Du reflektierst,
konfrontierst und bewegst die Menschen, die sich ohne Vorurteile
auf dich einlassen. Mit einer beeindruckenden Lockerheit erträgst
du Verachtung und lässt dich nicht einschüchtern. Du bist mutig
und dafür danke ich dir.
    Bleibe so vielfältig, kreativ und farbig. Nimm dir auch ungefragt
alle möglichen Freiheiten, um gesund zu bleiben.

Herzlich, deine Claudia Kienzler

Claudia Kienzler ist Interpretin (Violine, Viola), Komponistin und Veranstalterin zeitge-
nössischer Musik (Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) Zentralschweiz,
Ensemble Montaigne).

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KO N T R A

                 Ernste Musik ... ?!?

                  Als Musiker über fremde Musik richten? Weshalb tu ich mir das an?
                  Also, mutig zur Sache: Ich mag Neue Musik nicht besonders und bin
                  kaum bemüht, den Zugang zu ihr freizuschaufeln. So, das war sie
                  nun, die Blamage. Und jetzt lassen Sie mich um Argumente ringen …
                  Wir finden uns auf der Landkarte der kulturellen Identitäten ohne
                  Schubladen kaum zurecht. «Neue Musik» ist der Sammelbegriff für

Illu: Mart
                  eine Fülle unterschiedlicher Strömungen der komponierten, mit-
                  teleuropäisch geprägten Musik von 1910 bis zur Gegenwart. Völlig
                  normal, so ein Schild verrichtet seinen Job als Wegweiser. Doch ich
                  empfinde den Begriff als beispiellos destruktiv. Jede andere Musik
                  hat bei der Namenswahl entweder an einen bestimmten Mood oder
                  an eine geografische Herkunft gedacht, vielleicht auch an einen
                  Fantasiebegriff. Nur eine einzige Musik dieser Welt leistet sich diesen
                  Fehlgriff! Von «Neuer Musik» zu reden, bedeutet, sich vom Rest der
                  Musikwelt zu distanzieren. Es ist eine endgültige Wertung, eine Ab-
                  wertung eben dieses Rests. Dass der Begriff chronologischer Humbug
                  ist, kommt hinzu – wenn man eine vor über 100 Jahren einsetzende
                  Epoche als neu bezeichnet. Da ist sogar Blues jünger. Musik kann
                  philosophisch betrachtet nur neu sein; sie stirbt im Augenblick des
                  Erklingens – und wird im nächsten wieder geboren. Jede Musik! Es
                  könnte also ein neuer Song gemeint sein, ein neuer Konzertabend.
                  Nein. Um diesem Missverständnis vorzubeugen, wird Neue Musik
                  meist gross geschrieben und nicht selten noch ergänzt mit Neue
                  «ernste» Musik. Hoppla. Ernsthaftigkeit auf einen Musikstil und
                  nicht auf die Qualität der ausübenden Hingabe zu beziehen, spricht
                  Bände. Sprache ist unbarmherzig, bei Mensch und Gerät gilt heute:
                  Neu gleich gut, alt gleich wertlos. Per Definition drängt diese Musik
                  unwiderruflich jede andere in die Ecke des Kitschs, der schöngeistigen
                  Weichspülerei, der langweiligen Wiederholung und hinterwäldlerischen
                  Einfältigkeit – und die Neue Musik in eine geistige Isolation. Natür-
                  lich ist der Drang nach Grenzerweiterung menschlich, doch woher
                  kommt die Annahme, die Möglichkeiten der restlichen Musik und
                  ihrer individuellen Verfeinerung seien bereits ausgereizt? Es gibt nur
                  authentische und beseelte Musik, Geschichten, die berühren – oder
                  eben nicht. Und wenn die Magie spielt, kommt sie ohnehin nicht
                  von dieser Welt. Also, hier mein Versprechen: Sobald das offizielle
                  Communiqué kommt («Wir ändern den Namen»), besorg ich mir
                  subito die erste Konzertkarte. Bis es so weit ist, bleib ich Stänkerer –
                  und geniesse diese Musik nur in Filmen. Immerhin.

                  Herzlich, dein Richard Koechli

                  Richard Koechli arbeitet seit 27 Jahren als professioneller Gitarrist, Singer-Song-
                  writer und Buchautor. Vor einem Jahr erschien «Der vergessene König des Blues»,
                  Koechlis Biografie über den Chicagoer Bluespionier Tampa Red.

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Piano Hammers © Suzie Maeder

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N EU E MUSI K

                                             Der New Yorker Komponist David Lang ist Pulitzer-Preisträger und
                                             war für einen Oscar nominiert. Jetzt komponiert er ein Stück zum
                                             Jubiläum der Kantonsschule Alpenquai, das in Zusammenarbeit mit
                                             dem Luzerner Sinfonieorchester im KKL uraufgeführt wird.
                                             Von Katharina Thalmann, Bilder: Suzie Maeder

               Harmony and
              understanding:
                fünfzig Jahre
             Kanti Alpenquai
                                             Luzerner Sinfonieorchester im KKL am
                                             14. und 15. März.
                                                 Es macht Sinn, für das Jubiläum das
                                             Orchester mit ins Boot zu holen. Nicosanti
                                             erläutert: «Die KSA und das Luzerner Sin-
                                             fonieorchester sind zwei traditionsreiche
                                             Apparate: Das älteste Berufsorchester der
                                             Schweiz und ein Gymnasium, dessen
5. September 2017, Kanti Alpenquai: David    Ursprünge im Jahr 1574 liegen, passen
Lang erzählt den Schülerinnen und Schü-      zusammen.» Der Fünfzigste wird heuer
lern von seinem Leben und seiner Musik.      gefeiert, weil die Schule seit 1967 am
Sie hören gebannt zu. Er hat Humor. Und      jetzigen Standort beheimatet ist. Für
ihm haftet diese Ostküsten-Coolness an,      Numa Bischof-Ullmann, Intendant des
die offenbar selbst bei der Jugend von       Luzerner Sinfonieorchesters, sind solche
heute noch in ist. «Die Konzerte im März     Kooperationen eine Herzensangelegen-         2005 gibt es beim Orchester die Musik-
werden eine kleine Utopie sein, wo die       heit: «Wir veranstalten Nachhaltigkeits-     vermittlungsstelle. Eine Pioniertat, war es
Welt für eine kurze Weile perfekt sein       projekte wie diese einmal pro Jahr. Aber     doch schweizweit die erste ihrer Art. «Im
wird», sagt er. Aber auch: «Ich bin als      von mir aus dürften es zehn sein!» Der       Schuljahr 2013/2014 hatten wir mit dem
Komponist dafür verantwortlich, es dem       diesjährige Kompositionsauftrag an Da-       Vermittlungsprojekt ‹Der Zauberlehrling›
Publikum so leicht wie möglich zu ma-        vid Lang kommt übrigens offiziell vom        die erste gross angelegte Kooperation mit
chen, die Komposition zu verstehen.» So      Sinfonieorchester.                           dem LSO», so Graber.
was kommt an.                                    Bischof-Ullmann fungierte als Match-
    «Die Schülerinnen und Schüler sollen     maker zwischen Alpenquai und Lang:           Proben mit dem Komponisten
über eine längere Zeit und auf verschiede-   «David und mich verbindet seit über zwan-    David Lang schrieb die Filmmusik zu Paolo
nen Ebenen an das Jubiläum herangeführt      zig Jahren eine künstlerische Freund-        Sorrentinos «Youth», was ihm 2016 eine
werden», erklärt Stefan Graber, Prorektor    schaft. Ich freue mich sehr, dass ein Star   Oscar-Nominierung einbrachte. Doch
am Alpenquai. Gemeinsam mit Stefano          wie er für das KSA-Jubiläum komponiert.»     als Lang, Julia Wolfe und Michael Gor-
Nicosanti, ebenfalls Prorektor und stu-      Der ganze Prozess habe knapp anderthalb      don 1987 in New York das inzwischen
dierter Musikwissenschaftler, koordiniert    Jahre gedauert. Die Kooperation zwischen     global arbeitende Musikkollektiv «Bang
er die Jubiläumsveranstaltungen. Höhe-       Sinfonieorchester und Kantonsschule          on a Can» gründeten, tobten Graben-
punkt sind die beiden Konzerte mit dem       reicht aber schon weiter zurück. Seit        kämpfe zwischen Up- und Downtown.

                                                                     17
N EU E MUSI K

                                               zu bekommen», meint er weiter. Jedoch
                                               dürfte es zum Lernprozess im Alpenquai
                                               dazugehören, da eine Kooperation mit
                                               einem Komponisten von Weltrang auch
                                               terminliche Flexibilität erfordert. Beim
                                               Luzerner Sinfonieorchester nimmt man
                                               die Verspätung gelassen. In der Woche
                                               vor den Konzerten wird David Lang in
                                               Luzern sein und sein Stück proben. Alle
                                               1530 Kantischülerinnen und -schüler
                                               werden mit ihm in Kontakt kommen –
                                               eine einzigartige Erfahrung.
                                                   Lang kennt sich mit Unterrichten aus:
                                               Seit 2008 ist er Kompositionsprofessor an
                                               der Yale School of Music. Doch ist das nicht
                                               ein Widerspruch? Er, der seit Jahrzehnten
Uptown-Musik, das hiess: Amerikaner            gegen den Hochglanz-Mainstream und
imitieren ihre europäischen Vorbilder          für mehr Nahbarkeit in der klassischen
Stockhausen, Boulez, Schönberg und             Musikwelt ankämpft, aber nun selber Teil
Webern. «In diesem Streit ging es um           der kritisierten «academia» ist? In einem
Ideologie, nicht um Qualität», so David        Interview von 2016 hat er eine kluge
Lang im Dokumentarfilm «In the Oce-            Antwort parat: Trotz seines «rebellischen
an». Denn Downtown-Musik, das war              Backgrounds» habe er nun mal einen
Minimal-Music. Eine experimentelle,            Doktortitel. Und die Komponisten, die
inklusive Szene, die mit Traditionen bricht.   es nach Yale schafften, seien derart hoch
Der untere Teil Manhattans beherbergte         qualifiziert, dass er es als seine Aufgabe
zu dieser Zeit Clubs wie das CBGB, wo          sehe, «sie im letzten Moment, bevor sie
The Police und die Talking Heads sich          ihre Ausbildung abschliessen, daran zu
ihre Hörner abstossen konnten, wo alle         erinnern, dass ihr Job nicht ist, einen
im Umkreis von wenigen Blocks lebten,          bequemen Sitzplatz zu finden. Sondern
wohnten und arbeiteten. John Cage, Steve       immer schwierigere Fragen zu stellen:
Reich, Frank Zappa, Brian Eno – David          Wohin kann sich die Musik entwickeln?»
Lang: Diese «jungen Wilden» kompo-             Diese Haltung macht die Begegnung der
nierten innovative Musik, die fernab von       Luzerner Gymnasiasten mit David Lang
virtuosen Stelldicheins neue Klangwelten       noch einzigartiger.
erforscht, die das Verhältnis von Publikum
und Spieler hinterfragt, die an Details        1968: Alpenquai und Hair
heranzoomt. Über Langs Stück «Cheating,        Im KKL wird «Harmony and understan-
Lying, Stealing» sagte Steve Reich, er         ding ...» mit Antonín Dvoř áks achter
wünschte, dass er es komponiert hätte.         Sinfonie kombiniert. «Wir wollen damit
    Auch in Luzern ist man begeistert. Für     unterstreichen, dass wir sowohl der Zu-
Bischof-Ullmann schreibt Lang «sinnliche       kunft als auch der Tradition verpflichtet
Musik zum Verlieben.» «Harmony and             sind», erläutert Nicosanti. Dennoch wirkt
understanding for orchestra and audi-          die Wahl der Sinfonie, gemessen an der
ence» lautet der Titel des neuen Stücks.       konzeptuellen Dichte der Uraufführung,
Es ist konzeptuell und partizipativ an-        fast etwas beliebig. Die Organisatoren
gelegt. Wie das genau aussieht, ist noch       räumen ein, dass bei der Auswahl auch
nicht ganz klar. Bis Ende Januar war die       «praktische Gründe» mitgespielt hätten;
Partitur laut Stefan Grabers noch «beim        Dvoř áks Musik gehört seit einer CD-
Kopisten». «Für uns wäre es optimal            Produktion 2014 zum Kernrepertoire
gewesen, die Partitur vor Weihnachten          des Luzerner Sinfonieorchesters.

                                                                        18
N EU E MUSI K

                                                Dirigiert werden die Konzerte von
                                            André de Ridder. Der Deutsche gehört zu
                                            einem neuen Dirigententypus, der auch
                                            vor Kollaborationen mit der britischen
                                            Art-Pop-Gruppe Gorillaz nicht zurück-
                                            schreckt. Alles, was dem Projekt fehlt,
                                            um wirklich zukunftsweisend zu sein, ist
                                            weibliche Beteiligung. «Es gibt momentan
                                            einfach nicht sehr viele Prorektorinnen»,
                                            erklärt Nicosanti diesen Umstand.
                                                «Harmony and understandig ...»: Der
                                            Titel ist ein Zitat aus dem Musical «Hair».
                                            Dieses feierte 1968 Premiere. 1968 war
                                            auch das Jahr der politischen Protestbewe-
                                            gungen. Ob Lang diesen Spirit mit seiner
                                            neuen Komposition heraufbeschwört? Ein
                                            halbes Jahrhundert später sind Harmonie
                                            und Verständnis einmal mehr gefordert.
                                            Das gilt für David Langs Amerika wie für
                                            unseren Kanton. Es ist also ein sehr zu
                                            begrüssendes Signal, dass in kulturellen
                                            Krisenzeiten Allianzen gesucht wer-
                                            den – «Harmony and understanding ...»
                                            muss sowohl innerhalb einer Szene als
                                            auch über die Fachgrenzen hinweg gelebt
                                            werden. Es ist ein Zeichen von kultu-
                                            rellem Selbstbewusstsein, dass sich die
                                            Kantonsschule Alpenquai Luzern und
                                            das Luzerner Sinfonieorchester auf ein
                                            solches Abenteuer einlassen.

                                            Jubiläumskonzerte 50 Jahre Kantonsschule
                                            Alpenquai Luzern, MI 14. März, 19.30 Uhr
                                            und DO 15. März, 19.30 Uhr, KKL Luzern

                                            Als Einstimmung auf die beiden Jubiläumskon-
                                            zerte gibt es im März noch mehr David Lang zu
Violin Bow © Suzie Maeder

                                            hören: Das Ensemble Corund führt am 3. März
                                            um 20 Uhr in der Pfarrkirche Stans und 4. März
                                            um 17 Uhr in der Matthäuskirche Luzern Langs
                                            «The Little Match Girl Passion» von 2007 auf.
                                            Für dieses Stück erhielt Lang den Pulitzer-
                                            Preis. (kat)

                                 19
«Kultur kann man
  nicht managen»

      20
U R N E R K U LT U RVO R S T E H E R

                          In Uri kennt nicht jeder jeden. Aber fast. Josef    Manager werden? «Kultur kann man nicht
                          Schuler hingegen, den kennt jeder. Der freund-      managen», sagt Ralph Aschwanden und breitet
                          liche Förderer und Vermittler hat während           aus, wie er sein neues Amt versteht. Er will
                          über zwanzig Jahren das Urner Kulturleben           fördern, vermitteln, ermöglichen, damit die
                          massgeblich geprägt. Er dürfte der amtsälteste      wirklich Kreativen ihre Projekte realisieren
                          kantonale Kulturbeauftragte sein. Jetzt geht        können. Es gehe bei Kulturförderung nicht
                          er in Pension. «Wenn ich gleich erfolgreich         nur um Geld, sondern darum, Spannendes zu
                          bin wie Josef Schuler, dann werde ich auch          entdecken, Leute zu ermuntern, Möglichkeiten
                          einmal glücklich pensioniert werden», sagt          aufzuzeigen, Wege zu ebnen. So hat auch Josef
                          Ralph Aschwanden. Er ist vierzig, verheiratet       Schuler in den vergangenen Jahren gewirkt,
                          und Vater von zwei Kindern.                         ganz ohne Allüren.
                               Aschwanden, Schuler. Ralphs Heimatort
                          ist Isenthal, Josef wohnt dort. Aber die beiden     Kultur gehört dazu
                          kennen einander nicht deswegen. Als Ralph           Uri hat ein vielfältiges und reiches Kulturleben,
                          Aschwanden das Tonart-Festival in Altdorf           wie das in den Innerschweizer Kantonen üblich
                          mitorganisierte oder den Musikabend mit dem         ist. Es gehört irgendwie zum Selbstverständnis
                          neuen Lied «Dr Stiär» mitinitiierte, da war sein    der Region. Die meisten konsumieren nicht nur,
                          Ansprechpartner Josef Schuler, der Mann mit         sondern sind auch aktiv, sei es in der Dorfmusik,
                          dem offenen Ohr und dem offenen Herzen für          in der Theatergruppe, im Kunstverein. Und
                          alle kulturellen Anliegen. Am 1. März über-         irgendwie scheint politisch das Verständnis
                          nimmt Ralph Aschwanden dessen Stelle.               noch vorhanden zu sein, dass eine Gesellschaft
                                                                              Kultur braucht und letztere auch etwas kosten
                          Engagement wird belohnt                             darf, selbst wenn der Kanton knapp bei Kasse ist.
                          Seit zwei Jahren leitet Ralph Aschwanden die        Nun soll Uri erstmals ein Kulturförderungsgesetz
                          Administration der Baudirektion Uri. Die Frage,     erhalten, das hoffentlich nicht zum Sparhebel
                          ob ihm der Bau oder die Kultur näher liege,         verkommt. Die Debatte steht noch aus. Ralph
                          bräuchte man nicht zu stellen. Er antwortet so-     Aschwanden wird sich – wie sein Vorgänger –
                          fort: die Kultur. Punkt. Seit Kindsbeinen macht     bei den Landrätinnen und Landräten für die
                          er Musik, hat Schlagzeugunterricht besucht und      Anliegen der Kultur einsetzen müssen. Auch
                          in Luzern im Jugendblasorchester mitgespielt,       das gehöre zu seinem neuen Job, sagt Ralph
Ralph Aschwanden          Konzerte in Kirchen begleitet und immer wieder      Aschwanden.
                          kulturelle Anlässe organisiert. Mit zwanzig              Von sich selber sagt er, dass er nicht beson-
folgt auf Josef Schuler   wollte er gemeinsam mit anderen in Uri ein          ders kreativ sei, da seien andere viel besser.
als Chef des Urner Amts   Jugendblasorchesterprojekt starten. Der dama-       Aber er bewundert Kreativität, das bisweilen
für Kultur und Sport.     lige Bildungs- und Kulturdirektor Hansruedi         Schräge, das besondere Erlebnis. «Kultur macht
Der Nachfolger ist sei-   Stadler begeisterte sich sofort. «Wenn man in       etwas mit den Menschen – oder eben nicht.
nem Vorgänger schon       Uri eine gute Idee hat, dann findet man in der      Das fasziniert mich.» Ralph Aschwanden packt
                          Regel bei Behörden, Sponsoren und Freunden          seine Begeisterung in präzise, wohlstrukturierte
viel früher begegnet.     Unterstützung», sagt Ralph Aschwanden. Das          und austarierte Sätze. Das wird ihm in seinem
Von Thomas Bolli,         sei charakteristisch für Uri und das gefällt ihm.   neuen Amt zugutekommen, wenn er für die
Bild: Angel Sanchez           Ralph Aschwanden ist in Altdorf aufge-          Kultur weibeln, Verständnis wecken und Türen
                          wachsen und hat in Freiburg Geschichte und          öffnen muss.
                          Englische Literatur studiert. Vor seiner Zeit in         Es haben sich rund zwei Dutzend Personen
                          der Baudirektion arbeitete er als Kurator am        für die Stelle beworben. Ralph Aschwanden
                          Forum Schweizer Geschichte in Schwyz. Unter         kennt einige Mitbewerber persönlich. Mit ei-
                          anderem gestaltete er die Ausstellung «Tell,        nem hat er sich direkt ausgesprochen, ihre
                          bitte melden!» mit. Er war auch Journalist beim     Freundschaft soll nicht leiden, auch wenn sie
                          «Urner Wochenblatt» und schrieb sich dabei          gegeneinander antreten. So macht man das in
                          durch die ganze Palette der lokalen Kultur.         einem kleinen Kanton. Noch hängt in Ralph
                              Seit vergangenem Sommer besucht er einen        Aschwandens Baudirektionsbüro eine Leucht-
                          Masterstudiengang in Kulturmanagement an            weste am Kleiderhaken. Die wird er in seinem
                          der Hochschule Luzern; er hatte bereits früher      neuen Amt nicht mehr brauchen. Da fällt er
                          in Basel einen solchen Kurs belegt. Will er         genug auf.

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Musizieren und Geselligkeit wird im Muotatal hoch geschätzt. Die Volksmusikformation Natur pur im Restaurant Alpenblick in der Gemeinde
Muotathal. Foto: Christof Hirtler

Keep the Valley
Loud
Ein Jodelklub, vier Chöre, zehn Volksmusikformationen, zwei Country-, sieben Rock- und
zwei Metal-Bands: Es wird viel Musik gemacht im Muotatal*. Erstaunlich, denn hier leben
nur 4300 Menschen auf einer Fläche, die fast so gross wie der Kanton Zug ist.
Von Christof Hirtler

Medien und Werbung zementieren das Image des Muotatals                    Stücke der Schwyzerörgeler Rees Gwerder, Anton Betsch-
als abgeschiedenes, wildromantisches Bergtal, bewohnt von                 art, Georg-Anton Langenegger, des Akkordeonisten Franz
starrköpfigen und eigenbrötlerischen Hinterwäldlern. Wer                  Schmidig sen. oder des Geigers Josef Imhof (Übername:
aber die Klangwelten des Schwyzer Tals erkundet, findet                   z Predigers Joseb) sind von einem unwiderstehlichen
zu den Wurzeln der Schweizer Volksmusik und begegnet                      Groove und inspirieren. Die Musik des Geigers Josef Imhof
vielen weltoffenen und innovativen Musikerinnen und                       war ausschlaggebend für die Gründung von «Ambäck»,
Musikern verschiedenster Stilrichtungen.                                  das Trio um die Schwyzerörgeli-Ikone Markus Flückiger.
    Die sperrig-urchige Tanzmusik und die archaischen                     Ambäck heisst übrigens im Muotataler Dialekt Spaltklotz.
Jüüzli des Muotatals sind schweizweit einzigartig. Das                        Um das musikalische Erbe des Muotatals kümmert sich
Muotatal ist eine riesige musikalische Schatztruhe: Die                   seit 2009 der Verein Giigäbank. Mit seinen Sammlungen

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Infinitas: CD-Taufe im Gaswerk, Seewen, 2017. Gitarrist Selv Martone, Sängerin Andrea Böll. Foto: Friedemann Kopp

von Noten und Tonträgern spielt der Verein zusammen mit                        spieler im abgeschiedenen Muotatal. Das Spielen haben
der Musikschule Muotathal-Illgau eine wichtige Rolle bei                       sie sich selber beigebracht.
der Erhaltung und Förderung des volkstümlichen Kultur-                             Die gesungenen oder mit dem Büchel vorgetragenen
guts. Jährlich organisiert Giigäbank am letzten Sonntag                        alten Melodien und Jüüzli wurden auf das neue Instrument
des Jahres den Muotathaler Ländlersunntig.                                     adaptiert. Die Musik klang roh, mit Ecken und Kanten und
    31. Dezember, 2017: Im Restaurant Alpenblick in der                        abrupten Taktwechseln. Gespielt wurde aus dem Stegreif,
Gemeinde Muotathal, das Vereinslokal der örtlichen Feuer-                      nach Gehör und ohne Noten.
wehr, gibt es wie angekündigt grünen Salat, Schweinssteak                          Mit dem Schwyzerörgeli konnte ein einziger Musiker
an Kräuterbutter, Pommes und Coupe Dänemark. Dann                              zum Tanz aufspielen, zudem war es klein und einfach zu
sind die Teller abgeräumt, es spielt das Handorgelduo Remo                     abgelegenen Bauernhäusern zu transportieren. Dort fanden
Gwerder-Franz Schmidig, das Publikum geniesst die Musik                        die «Schloffätänz» statt. Heimlich wurde die ganze Nacht
bei einem Glas Roten oder einem Kaffee Schnaps.                                gespielt, getanzt und gefeiert, zum Missfallen der Kirche
    An einem der langen Tische sitzt Koni Schelbert, Feld-                     und der Behörden, die in ihrem Kampf gegen Unsittlich-
waldwiesenblogger und Musiker: «Die Toleranz unter                             keit und Alkoholismus die Tanzanlässe nur während der
den einzelnen Stilrichtungen ist recht gross, die Musiker                      Fasnacht, der Chilbi und an den Viehmärkten zuliessen.
respektieren sich gegenseitig. Es gibt neben den vielen                        Wer sich nicht daran hielt, machte sich vor dem Gesetz
Ländlermusikformationen auch eine lebendige Metal-Szene.                       strafbar und musste bis in die 1950er-Jahre während der
Auch Thrash-Metaller besuchen ab und zu eine Ländler-                          Sonntagsmesse im Mittelgang «uusächnüüä» (hinknien).
Stubete. Andere, wie Bernhard Betschart von Natur pur,
switchen zwischen Volksmusik, Country und Rock.»                               Dr Eigäler
    1886 begann Alois Eichhorn in Schwyz mit dem Bau                           Rees Gwerder (Eigäler), 1911 im Heimet «Schweizi» zuhin-
der ersten Schwyzerörgeli. Alois Suter (Lisäbethler), Bauer                    terst im Muotatal geboren und aufgewachsen, besass ein
auf der Unteren Meienen und Kirchensakristan, Melchior                         unglaubliches Musikgehör. Als Fünfjähriger nahm er das
Anton Langenegger (Egg-Basch), Bauer, und Franz Betschart                      Schwyzerörgeli seines Vaters und übte heimlich die ersten
(Liänäler), Fuhrhalter, waren die ersten Schwyzerörgeli-                       Stücke. «Äs hed äim scho käinä niä öppis zäigt», sagte Rees

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Gwerder in einem Fernsehinterview von 10vor10 zu seinem Schalk, Eigensinn und die Lust, «anders zu tönen», prägt
achtzigsten Geburtstag. Bereits als 15-Jähriger verfügte der die Musik der Schattenhälbler. Die alten Tänze kommen
Bauernsohn über ein Repertoire von hundert Melodien, auch bei den Jungen gut an. Im Bastards Place, ehemals
hauptsächlich kurze, zweiteilige Tänze, sogenannte «Stüm- Restaurant Sonne (Muotathal), spielen neben Country-Rock-
päli». Sein Leben lang spielte Rees Gwerder auf seinem und Rock’n’Roll-Bands auch Ländlerformationen. «Ganz
Eichhornörgeli ausschliesslich alte Tänze, die er zum Teil sicher gibt’s bei uns keinen Hip-Hop, Techno und solches
neu kombinierte oder wie er sagte «zwägg gchlüngelet het». Zeugs», versichert Nik Betschart, der Betreiber des Lokals.
Über 200 Stücke konnte Rees Gwerder aus dem Stegreif               «Schrägers und Gräders», so heisst die gemeinsame
ohne Noten spielen. Dies soll ausgereicht haben, um an der CD des Handörgeli-Duos Echo vom Schattenhalb und
Riemenstalder-Chilbi stundenlang                                                       der Juuzer-Gruppe Natur pur. «Das
zum Tanz aufzuspielen.                                                                 Juuzen ist eng mit dem Bärgbuurä-
    Rees Gwerder nahm zahlrei-                                                         Läbä verbunden», erklärt der Sän-
                                         «In den Lüften treiben
che Tonträger auf. Tänzli, wie er                                                      ger, Gitarrist und Bassist Bernhard
sie von seinen Vorfahren gehört          Geister ihr Unwesen, die                      Betschart, aufgewachsen mit sechs
hatte. Dieses Inventar zählt heute       mit Peitschenknallen,                         Geschwistern auf dem stotzigen Hei-
zum kulturellen Erbe der Schwei-                                                       met Zinglen im Muotatal. Nach der
zer Volksmusik. «Nüümodischs»            Kettenrasseln und ähnli-                      Schule half er den Eltern auf dem
lehnte Rees Gwerder jedoch stets         chem Getöse vertrieben                        Betrieb, mit 25 Jahren absolvierte er
ab, der wortkarge Musiker mit                                                          eine Lehre als Strassenbauer.
der «Chrummä» im Mund blieb
                                         wurden.»                                          Heute lebt Beny Betschart von der
konsequent beim Alten. Durch                                                           Musik. Er spielt mit Black Creek Folk,
den Film «Ur-Musig» (1993) des                                                         Rock und Country, pflegt den Natur-
Luzerner Musikethnologen Cyrill Schläpfer gelangte Gwer- juuz mit der Gruppe Natur pur und gibt Jodel-Workshops.
der zu internationalem Ruhm. 2011 schrieb der Luzerner Er ist, wie viele Muotataler, ein Macher. «Das Juuzen tut
Musikjournalist Pirmin Bossart in der «Luzerner Zeitung»: uns Muotatalern gut. Beim Zusammentreiben der Rinder
«Rees Gwerder hatte dieses ungeschminkt Authentische auf der Alp oder beim Locken des Viehs, da juuze ich gerne.
und Knorrige, das man in den Wysel-Gyr-Jahren der medial Das ist unsere Form, Gefühle auszudrücken – ohne Wor-
aufbereiteten Ländlermusik so nie zu Gehör bekommen te – das kommt von ganz tief.» Die Jüüzli klingen darum
hatte». Schläpfers Klangreise zu «den querstehenden und nicht nur freudig, sondern oft auch melancholisch und
musikalischen Grinden aus dem Muotatal» gab der damals «es gibt auch einige wilde, verdrehte». Gejuuzt wird nach
oft belächelten Schweizer Volksmusik ihren Stellenwert überlieferten, traditionellen Melodien. «Auffallend für
zurück. Die Gruppe Pareglish (bareglisch ist ein Muota- Laien sind die ‹schräg› klingenden Töne der Naturtonreihe.
taler Dialektwort für brünstig, geil) um Dani Häusler und Dies ergibt beim mehrstimmigen Singen ungewohnte, für
Markus Flückiger, die zuvor in Finnland oder im Balkan unsere Ohren dissonant klingende Intervalle.»
Inspiration suchten, entdeckten die Wurzeln der Schweizer          Der archaische Naturjodel des Muotatals ist in der
Volksmusik vor ihrer Haustüre, lüfteten kräftig durch und Schweiz einzigartig. «Man weiss, dass die Natur den Juuz
brachten sie aus der «nichthinterfragenden Traditionspflege» prägt, so tönt der Naturjodel im hügeligen Appenzell viel
in die Gegenwart.                                              weicher als im gebirgigen Toggenburg oder bei uns. Wir
                                                               leben in einem engen Tal, mitten im Gebirge. So rau wie die
Schrägers und Gräders                                          Landschaft, so rau ist der Juuz, so rau ist auch die Intonati-
Auch Cornel Schelbert (Übername: ds Schmieds Cornel), on.» Dies erforschte und belegte der Musiktethnologe Hugo
Örgeler beim Echo vom Schattenhalb spielt mit Daniel Zemp mit seinen Feldforschungen, fünf Dokumentarfilmen
Schmidig (ds Hebamms Dänl) seit 22 Jahren in der Tra- und der Platte «Jüüzli – Jodel du Muotatal» (1979). Die
dition ihrer Vorfahren Rees Gwerder oder Georg Anton LP ist in der renommierten Serie «Le Chant Du Monde»
Langenegger (Egg Basch). Das Schwyzerörgelispiel lernten erschienen, die Musik aus aller Welt präsentiert.
die beiden ab Tonbandkassettli, oft Eigenaufnahmen be-
kannter Muotataler Musiker.                                    Melodic-Thrash-Metal – Infinitas
    Die schroffe Landschaft des Muotatals und die Arbeit Ein Stück Käse liegt am Boden einer Lawinengalerie. Beim
als Bauern, prägen das Lebensgefühl und den Ton von Tunnelausgang steht ein Mann, ein braunes Badetuch
Echo vom Schattenhalb. «Unsere Musik tönt manchmal über den Kopf geworfen. Ein zweiter Mann mit einem
fröhlich, aber oft traurig, wie das Leben», sagt Cornel blauen Badetuch über dem Kopf nähert sich. Der mit dem
Schelbert. Schelbert und Schmidig spielen die Stücke auf braunen Tuch schreit ihn an: «Hesch du dr Chääs is Tunäll
Stöpselbass- und Halbwienerörgeli möglichst originalgetreu inätaa?» «Näi, han i nüd», antwortet der andere, mit Armen
und mit ungewohnten Taktwechseln. «Will miär beed und Beinen um sich fuchtelnd. «Moll dä hesch.» «Näi,
midänand gliich falsch spillid, tönts dä äbä gliich nüd lätz.» han i nüd», und so könnten sie sich unendlich um einen

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Die Melodic-Thrash-Metal-Band Infinitas und Natur pur, Volksmusiktruppe. Bilder: zvg

    Chäs respektive um nichts streiten. Das absurd-schräge                           Für viele Muotataler Männer ist der Klang der Glocken
    Youtube-Filmchen mit einer tüchtigen Prise Muotataler                        die schönste Musik. Jeweils am Abend des Dreikönigs-
    Humor geistert seit 2015 als Low-Budget-Trailer für das                      tags treffen sich die Triichler vor dem Sternen. Das neue
    Muotataler Metal-Festival Harvest im Netz.                                   Jahr wird eingeläutet und die Triichler machen mächtig
         Initiant und Organisator des Festivals war Pirmin (Piri)                Dampf: Zwei Stunden lang bewegt sich der Zug von mehr
    Betschart, Bandleader und Schlagzeuger der Muotataler                        als zweihundert Männern im wiissä Hirthämmli durchs
    Melodic-Thrash-Metal-Band Infinitas. In einem Stall hat                      Dorf, im Takt ihre grossen Fahr- und Weid-Treicheln
    er mit dem Gitarristen Selv Martone einen professionellen                    schwingend. Angeführt von fünf Geisslächlepfern mit
    Proberaum samt Studio eingerichtet. «Einstiegsdroge zum                      Lorbeerkranz, dem Präsidenten mit einer Grotze und dem
    Heavy Metal war AC/DC, wie im Muotatal allgemein                             Vize mit einer hohen Holzbrennte, im Muotataler Dialekt
    üblich», sagt Selv Martone verschmitzt. «Wir lieben das                      heisst diese Tausä. Der Traditionsanlass ist nicht nur bei
    Erdige, das Echte, und feilen so lange an unseren Stücken,                   Bauern, Handwerkern und Angestellten beliebt, auch die
    bis sie live so gut tönen, wie wir sie auf CD aufgenommen                    Rocker sind dabei.
    haben. Qualität ist uns wichtig – einfach flätt (völlig)                         «Der Dreikönigstag ist die gefährlichste der zwölf Rauh-
    ehrlich, ohne Tricks und Schummeleien.» «Dazu braucht                        nächte», vermerkt das Handbuch des Deutschen Aberglau-
    es eine typische Portion Muotataler Sturheit», erklärt die                   bens. «In den Lüften treiben Geister ihr Unwesen, die mit
    Aargauer Sängerin Andrea Böll lachend. Sie muss es wissen,                   Peitschenknallen, Kettenrasseln und ähnlichem Getöse
    ist sie doch vor zwei Jahren wegen Infinitas in den Kanton                   vertrieben wurden.» Nachdem die Treichler vom Weiler Ried
    Schwyz gezogen.                                                              und jene vom Dorf Muotathal sich regelmässig prügelten,
         Das Intro auf der neuesten CD «Civitas Interitus» ist                   treicheln die Riedter am Neujahrstag, die Muotathaler
    im Muotataler Dialekt gesprochen, die Songtexte sind auf                     am Dreikönigstag. «Aber die Riedter kommen trotzdem
    Englisch. Pirmin Betschart: «Wir wollten damit etwas von                     jedes Jahr als Zuschauer ins Dorf», bemerkt ein Muotat-
    der Heimat einarbeiten, dä Wurzlä trüü bliibä, auch wenn                     haler Treichler. Im Dorf ist Freinacht und das Echo vom
    es nicht alle verstehen.» Jedes Jahr spielen Infinitas rund                  Schattenhalb spielt bis am frühen Morgen im Sternen-Saal.
    zehn Konzerte in Zürich, Basel oder Bern, wo die Metal-
                                                                                 *Die Gemeinde Muotathal schreibt sich mit «th», das ganze Tal heisst
    Szene sehr aktiv ist.                                                        «Muotatal».
         Metal wird im Tal weniger gehört als auch schon. Neben
    Rock und Country ist die Ländlermusik der Vorfahren bei                       «Keep the valley loud» ist der Titel des CD-Samplers
    den Jungen besonders beliebt. «Viil Musiker, wo urchägi                       mit Muotataler Hardrock-, Countryrock- und Metal-Bands,
    Musig machid, hend üs gsäid, das, was miär miächid,                           erschienen 2017.
    miächid miär huärä guät, aber äs gfiäl inä nüd. Das isch                      www.naturjuuz.ch
    äs schöns Feedback», freut sich Pirmin Betschart.                             www.infinitasband.ch

                                                                            25
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