BOA BLEIBT IM GEDÄCHTNIS UND IM EXIL - null41

Die Seite wird erstellt Levi Braun
 
WEITER LESEN
BOA BLEIBT IM GEDÄCHTNIS UND IM EXIL - null41
Unabhängige Monatszeitschrift für die Zentralschweiz mit Kulturkalender
NO 11 November 2017 CHF 8.– www.null41.ch

                                                                          IM GEDÄCHTNIS UND IM EXIL
                                                                                                      BOA BLEIBT
BOA BLEIBT IM GEDÄCHTNIS UND IM EXIL - null41
Info-Tage 2017 24./25.11.   hslu.ch/infotage-design-kunst
E DI TOR I A L

                                                Boah, Boa!
                                                In einem Nachruf auf die Boa zitiert Kaspar Surber in der «Woz» den
                                                Basler Musikjournalisten Xaver Zimmermann: «(Die Boa) gehört
                                                zu den Clubs mit dem besten und innovativsten Programm.» Seit
                                                zehn Jahren ist sie Geschichte. Der als Ersatz geplante Südpol wurde
                                                nie als solcher wahrgenommen, konnte sich aber als eigenständiges
                                                Kulturhaus etablieren. Dem Boa-Groove am nächsten kommt das
                                                Neubad, auch wenn der Schwerpunkt da eher auf Co-Working
                                                denn auf Revolution liegt.
                                                Hans Stutz schreibt in unserer November-Ausgabe über die politische
                                                Boa, ihre Anfänge als Abschlussprojekt von Jugendarbeitern in
                                                Ausbildung, ihren stets schweren Stand im offiziellen Luzern, die
                                                verpennte Bedrohung durch eine angrenzende Überbauung – die ihr
                                                schliesslich den Todesstoss versetzte. Der Boa-Spirit aber lebt weiter:
                                                sei es musikalisch wie im Boa-im-Exil-Kollektiv, sei es ideell wie
                                                beim langjährigen Wegbegleiter Orpheo Carcano. Für uns schreibt
                                                er, welche Art Kulturhaus heute in Luzern fehlt und warum.
                                                Das 1967 gegründete Kleintheater gibt es noch immer. In dieser
                                                Spielzeit feiert es sein 50-Jahr-Jubiläum. Gründer und Kabarettist
                                                Emil Steinberger besuchte uns auf der Redaktion und stellte sich
                                                unseren Fragen – mit Gesten statt Worten.
                                                Grund zur Freude hat der Künstler Peter Roesch, der am 19. November
                                                den Kunst- und Kulturpreis der Stadt Luzern 2017 entgegennehmen
                                                darf. Niklaus Oberholzer würdigt den eigensinnigen Künstler, der
                                                stets zwischen Freiheit und Ausgewogenheit pendelt.
                                                Einiges neu macht der November bei uns: Wir begrüssen herzlich
                                                die Autorin Anaïs Meier und die Illustratorin Sarah Elena Müller,
                                                die die Literaturkolumne «Meier/Müller bi de Lüt» bespielen.
                                                Ebenfalls frisch ist die letzte Seite: Luca Bartulović erzählt in «Ein
                                                Hund mit Migrationshintergrund» von Abenteuern in der Ferne
                                                und kulturellen Unterschieden.
Boa Aussensicht. Bild: Ellen Bühler

                                                Nun träumen Sie von der Ferne – aber bleiben Sie uns erhalten und
                                                werfen Sie sich trotz des November-Blues rein ins Kultur-Getümmel.

                                                Ivan Schnyder
                                                schnyder@kulturmagazin.ch

                                            3
INHALT

            AB SEITE 10 MUSIK & POLITIK
            Boa: das Vermächtnis

                                          20 PINK PANORAMA
                                             Lesbischwules Filmfestival im Stattkino

                                          22 PETER ROESCH
                                             Kunst- und Kulturpreisträger der
                                             Stadt Luzern 2017

                                          24 GOTTHARDSTRECKE
                                             Gehört sie ins Unesco-Welterbe?

                                               KOLUMNEN
                                          6    Doppelter Fokus: Grosse Alpabfahrt in Kerns
                                          8    Meier/Müller bi de Lüt: Sehnsuchtsort
                                               Zentralschweiz (1)
                                          9    Lechts und Rinks: Den Freisinn verstehen
                                               (Lektion I)
                                          28   Gefundenes Fressen: Fertigfondue
                                          48   041 –  Das Freundebuch: Wittmer & Koenig
                                          49   40 Jahre IG Kultur: Angepisst
                                          78   Käptn Steffis Rätsel
                                          79   Comic: Ein Hund mit Migrationshintergrund

                                               SERVICE
                                          29 Bau. Archithese
                                          30 Kunst. Krienser Heimspiel
                                          37 Musik. Experimenteller Pop
                                          39 Kino. Heuchlerische Filmszene
                                          42 Bühne. Fake News im Theater
                                          45 Wort. Junge Literatur im Neubadkeller
                                          76 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen
                                             Schweiz
                                          77 Ausschreibungen, Namen, Preise

                                                                                                   Bilder: Franca Pedrazzetti / Michèle Gnos, Backstage die letzten Tage in der Boa
                                               KULTURKALENDER
                                          51 Kinderkulturkalender
                                          53 Veranstaltungen
                                          71 Ausstellungen

                                          Titelbild:
                                          Randy Tischler
                                          Das letzte Konzert in der Boa-Bar

                                          2 Kulturlandschaft
                                          52 HSLU Musik / Stattkino
                                          54 LSO / Luzerner Theater / Romerohaus
                                          56	 Kleintheater

18 SAG JETZT NICHTS, EMIL                 58 Neubad / Südpol
                                          66 Haus für Kunst Uri

Gesten zum Kleintheater-Jubiläum          68 Historisches Museum / Natur Museum
                                          70 Kunsthalle Luzern / Museum Bellpark / Kunsthaus Zug

                                   4
SC HÖN GESEH EN

                                            Der Gemeinderat Adligenswil hat Ende September das
                                            Wiedererwägungsgesuch der Kulturkommission zum Wie-
                                            dereintritt in die Regionalkonferenz Kultur RKK abgelehnt.
                                            Bei einem Jahresüberschuss ist der Verzicht von Fr. 30 000.–
                                            (knapp über Fr. 5.– pro Einwohnerin und Einwohner) eine
                                            Geringschätzung gegenüber den Kulturschaffenden vor Ort
                                            und gegenüber des Solidaritätsfonds.

                                            Bild und Transparent: Stephan Wittmer

                                                                                       G U T E N T AG

                                            GUTEN TAG,                                            GUTEN TAG,
                                            MALL OF SWITZERLAND                                   PRÄMIENVERBILLIGUNG
                                            Am 8. November geht bei dir der Laden auf und         Der Kanton gibt’s, der Kanton nimmt’s. Nun müs-
                                            bei uns der Laden runter. Dein Hauptinvestor          sen im Kanton Luzern also rund 8000 Personen
                                            heisst Scheich Chalifa bin Zayid Al Nahyan und        provisorisch ausbezahlte Prämienverbilligungen
                                            ist Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate.     zurücküberweisen – Geld, das sie nicht haben,
                                            In seinem Land wird laut Amnesty International        sonst hätten sie ja keine Prämienverbilligungen
                                            regelmässig die Meinungsfreiheit verletzt und es      gekriegt. Diese scheinen dem Kanton, der sich wohl
                                            herrsche ein Klima der Angst. Er ist ausserdem        am liebsten von Staatsaufgaben befreien würde,
           AU F G E L I S T E T             Verwaltungsratspräsident des VAE-Staatsfonds Abu      ein besonders ungeliebtes Stiefkind zu sein. Wur-
                                            Dhabi Investment Authority, der 450 Millionen         den die Verbilligungen in der Vergangenheit doch
                                            Franken in dich hineinbuttert. Unser Regierungs-      jährlich gekürzt – heuer nachträglich massiv. Die
                                            rat, der mit seiner rein männlichen Besetzung         Einkommensgrenze, die zum Anspruch berech-
Die Probleme des kleinen Man-               auch etwas an abudhabische Zustände gemahnt,          tigt, schob man Jahr für Jahr nach unten. Dank
nes und wer schuld ist:                     beantragte am 5. September beim Kantonsrat            dir, liebe Prämienverbilligung, hat’s der Kanton
                                            einen (bereits genehmigten) Sonderkredit von          Luzern gar in «Die Zeit» geschafft. Das Zeugnis,
Problem: Flüchtlinge                        14,5 Millionen Franken für eine Verlängerung          das der Regierung im Artikel ausgestellt wird, ist
Schuld: Das linksgrünversiffte Saupack!     der 1er-Buslinie bis just vor deine Betonfüsse. Der   verheerend. Auch vor Ort geschehen Zeichen und
                                            letzte Baustein in einer Reihe von Politika, die      Wunder: Die Krankenkasse Concordia übernimmt
Problem: Das linksgrünversiffte Saupack     bis ins vorige Jahrzehnt zurückreichen. Die Zuger     die Kosten der bei ihr versicherten Betroffenen
Schuld: Die Verweichlichung der Jugend!     Beratungsfirma Creafactory war damals für das         freiwillig, die CVP, die im Parlament zusammen
                                            Lobbying verantwortlich: «Die Herausforderung         mit den anderen bürgerlichen Parteien sämtliche
Problem: Die Verweichlichung der Jugend     bestand darin, ein lokales kostspieliges Projekt so   Abbaumassnahmen durchwinkte, forderte in ei-
Schuld: Das Schulsystem!                    zu ‹verkaufen›, dass der Nutzen für den ganzen        nem dringlichen Postulat, dass es künftig keine
                                            Kanton sichtbar wurde – und dies insbesondere         Rückzahlungen in der Prämienverbilligung mehr
Problem: Das Schulsystem                    in einer Zeit, in der ein Sparpaket dem andern        geben darf. Immerhin ein handfester Lichtblick:
Schuld: Bundesbern!                         folgt.» Zwischen 2004 und 2008 hast du drei           Die SP lanciert eine Initiative gegen deine Zusam-
                                            kommunale Abstimmungen gewonnen. Die SP-              menstreichung. Damit an dir nicht mehr nach Lust
Problem: Bundesbern                         lerin Silvana Beeler erinnert sich gegenüber der      und Laune herumgeschnippselt werden darf. In
Schuld: Illuminati, Bilderberger und die    «Woz»: «Ich wurde von einem Werbeprofi zu             diesem Sinne: Operation tot, Patient gelungen.
77 Hottentotten!                            einem Gespräch eingeladen. Er sprach von einer
                                            drohenden Dreckkampagne gegen mich, in der            Bisher unversehrt, 041 – Die Krankenkassenrevue
Problem: Illuminati, Bilderberger und die   Privates ausgeschlachtet werden sollte. Es war
77 Hottentotten                             ein Einschüchterungsversuch.» Wir freuen uns
Schuld: Das eigene Weltbild!                sehr, Mall of Switzerland, dass Scheich Chalifa
                                            bin Zayid Al Nahyan hier seine Ölmillionen und
Problem: Das eigene Weltbild                Meinungsfreiheitsverletzungen deponieren darf.
Schuld: Flüchtlinge und das linksgrünver-
siffte Saupack!                             Machtlos, 041 – Majalat Althaqafa

                                                                    5
D O P P E LT E R F O K U S

Grosse Alpabfahrt in Kerns, 30. September 2017
Bild oben Mischa Christen, rechte Seite Patrick Blank

 Die beiden Luzerner Fotografen Patrick Blank und Mischa Christen zeigen zwei Blicke auf einen
 Zentralschweizer Anlass, den «041 – Das Kulturmagazin» nicht besuchen würde.

                                                                                 6
7
MEIER/MÜLLER BI DE LÜT

Sehnsuchtsort Zentralschweiz (1)

In der Schweiz aufzuwachsen ist schrecklich. Wenn
man sich darüber beklagt, wird man jedoch sofort zu-
rechtgewiesen. Man solle froh sein, denn die Schweiz
sei ein reiches und schönes Land.
     Aber alles Geld der Schweiz kann die Langeweile,
die ein Teenager hier aushalten muss, nicht gutmachen.
     Am schlimmsten ist es, wenn man im Berner Mittel-
land aufwächst. Das Berner Mittelland ist der brutalste
Ort für Jugendliche, jedenfalls für solche mit Niveau
und einem Gespür für Ästhetik.
     Es ist der dümmste und hässlichste Flecken Erde, den
die Schweiz zu bieten hat. Der hässlichste, weil alles grau
ist. Grau, weil dies die Farbe des Nebels ist, der über allem
schwebt, und dumm, weil sich die Erde widerstandslos
und ohne aufzubegehren von den Mittelländer Bauern
in gähnend langweilige Formen pressen lässt.
     Zum Glück hatte ich eine Brieffreundin im Thüringer
Wald, der ich einmal wöchentlich über mindestens
vier A4-Seiten mein Leid klagen konnte. Sie hatte im
Kinder- und Jugendmagazin «TREFF» eine Annonce                  die Illusion von meinem Aufwachsen in einer Schweizer
geschaltet: Eine gelangweilte Elfjährige mit den Inte-          Märchenwelt zu nehmen. Es war also klar, dass ich diejenige
ressen Schlafen, Fressen und Rumliegen suche ähnlich            war, die den ersten Besuch tätigen würde.
gelangweilte Jugendliche zwischen elf und sechzehn.                 Die Reise in den Thüringer Wald gestaltete sich aben-
Das war 1995, als Freundschaften frustrierter Teenager          teuerlich, damals waren das grosse Distanzen. Mit der
tatsächlich noch über Chiffre-Nummern geschlossen               Postkutsche dauerte die Reise eine ganze Woche. Zum
wurden. Ich war gerade elf Jahre alt geworden und               Glück gab es 1997 bereits Züge. Da ich von meinem bis zu
hoffte, endlich jemanden gefunden zu haben, die meine           C. H.s Wohnort sieben Stunden unterwegs war und fünf
geistige Reife und das damit einhergehende Leid teilte.         Mal umsteigen musste, mieteten meine Eltern ein mobiles
     Ihr Name war C. H.1 Sie wohnte in einem kleinen Kaff       Telefon. Kaum war ich in den Zug eingestiegen, stieg das
eine halbe Stunde von Rudolstadt entfernt. Rudolstadt           Telefon aus.
liegt zwischen Erfurt und Weimar. In C. H.s Briefen, auch
sie schrieb einmal wöchentlich, wurde offensichtlich,           Im zweiten Teil von Sehnsuchtsort Zentralschweiz: zwei Reisen,
dass der Thüringer Wald genauso weltvergessen sein              die das Weltbild einer Jugendlichen nachhaltig zerstörten – der
musste wie das Berner Mittelland. Als wir mit dreizehn          Thüringer Wald und die Zentralschweiz. Ausserdem: der Grund,
noch immer beste Brieffreundinnen waren,2 beschlossen           warum der Name von C.H. nicht genannt werden darf!3
wir, einander zu besuchen.
     Als C. H. schrieb, sie freue sich, endlich die Schweizer      Aber zuerst eine Illustration von Sarah Elena Müller
Berge zu sehen, das sei sicher voll abgefahren, wenn            mit dem Titel «Jugend in der Ostschweiz».
man hinter dem Haus skifahren könne, geschah etwas
in mir. Aus irgendeinem Grund schaffte ich es nicht, ihr         Text: Anaïs Meier, Illustration: Sarah Elena Müller

                                                                1 Weiter unten im Text wird ersichtlich werden, warum ich ihren Namen
                                                                unmöglich ausschreiben darf. (Und nein, die Initialen sind kein Witz.)
                                                                2 Ich hatte noch mindestens zehn andere, viele tendenziell unsympathisch,
                                                                die aber in exotischen Orten wie Trinidad und Tobago oder Vancouver
                                                                wohnten (nur die Briefmarken zu sammeln wäre einfacher gewesen).
                                                                3 Sie ist heute berühmt!

                                                                           8
LECHTS UND RINKS

Den Freisinn verstehen (Lektion I)
Hat die Luzerner Tiefsteuerstrategie tatsächlich 8000 Arbeitsplätze geschaffen, wie es Kantonsräte der
FDP insinuieren? Die Antwort zeigt, wie frei Freisinnige mit Fakten umgehen.

Am 8. September fand in Luzern der Akti-           4,4 Prozent gewachsen – und das ganz ohne        Statistik weist auf einen anderen Faktor hin,
onstag gegen das kantonale Abbauprogramm           Tiefsteuerstrategie und obwohl die Wirtschaft    der deutlich wichtiger ist: Das Wachstum
bei Bildung, Sicherheit, Sozialem, Integration     damals noch mit den Folgen der Finanzkrise       der Beschäftigung konzentrierte sich auf
und Kultur statt. Am gleichen Tag erschienen       kämpfte. Das gleiche Bild in der statistischen   die Zentren und die Hauptverkehrsachsen
in der «Luzerner Zeitung» vier assortierte         Periode zuvor: 2008 gab es sogar 6,3 Prozent     von Luzern in Richtung Zug/Zürich und
Leserbriefe von Kantonsräten der FDP. Die          mehr Jobs als 2005.                              Bern/Basel. Eine zentrale Lage und eine gute
vier freisinnigen Herren betonten alle, wie            Als der «Tages-Anzeiger» vor zwei Jah-       Erschliessung durch Strasse und Schiene
gut die Tiefsteuerstrategie des parteilosen        ren das Luzerner Wirtschaftsdepartement          sind offenbar das wirksamere Mittel, um
Finanzdirektors Marcel Schwerzmann doch            fragte, welche grossen Arbeitgeber mit wie       Arbeitsplätze zu schaffen, als es rekordtiefe
funktioniere. Am 12. September stimmte             vielen Arbeitsplätzen seit 2011 in den Kanton    Unternehmenssteuern sind.
auch die FDP dem Abbaubudget für 2017 zu,          gezogen seien, erhielt er die Antwort: Es            Blättert man im statistischen Jahrbuch
genauso wie die CVP und die SVP.                   waren 15 Firmen mit 790 Arbeitsplätzen.          zudem nach, in welchen Branchen die Zahl
    Ein Argument, das in der Leserbriefakti-       Dafür waren allein 2013, im ersten Jahr der      der Arbeitsplätze besonders stark gewach-
on mehrmals angeführt wurde, war dieses:           Tiefsteuerstrategie, nicht weniger als 724       sen sind, stösst man auf zwei Bereiche: Der
«Viele Unternehmen kamen nach Luzern und           Briefkastenfirmen nach Luzern gekommen –         eine ist der Immobiliensektor, wo sich im
brachten Arbeitsplätze», so Kantonsrat Franz       also Unternehmen, die keine Arbeitsplätze        Baugewerbe und im Grundstückshandel
Räber, Emmenbrücke. Und Georg Dubach,              schaffen, die die Steuerabgaben (und die ihrer   ein grosser Jobzuwachs zeigte. Der andere
Triengen, ergänzte: «Die Aussage, die Steuer-      Kunden) offshore optimieren, die dafür der       ist der öffentliche Sektor, wo im Bildungs-,
strategie funktioniere nicht, überrascht mich      Luzerner Staatsanwaltschaft einen «massiv        Gesundheits- und Sozialbereich fast 3000
immer wieder. (...) Es entstanden 8000 neue        höheren Aufwand» wegen Wirtschaftsde-            neue Stellen entstanden sind. Auf tieferem
Vollzeitstellen.» Und siehe da, die Zahl war       likten bescherten, wie der Oberstaatsanwalt      Niveau erzielte der Kultur- und Eventbereich
sogar abgerundet: Zwischen 2011, dem Jahr,         damals erklärte.                                 übrigens ein noch höheres Wachstum: Hier
als die Tiefsteuerstrategie beschlossen wurde,         Selbst angenommen, alle 15 zugezoge-         nahm die Zahl der Vollzeitjobs zwischen 2011
und 2014 nahm die Zahl der Vollzeitstellen         nen Firmen seien ausschliesslich wegen der       und 2014 um 305 oder um 14 Prozent zu.
im Kanton Luzern um 4,6 Prozent oder 8081          tiefen Steuern nach Luzern gekommen: Die             Den FDP-Kantonsräten ist in ihren Leser-
Stellen zu. Quelle: Lustat Statistik Luzern.       Arbeitsplätze, die sie mitbrachten, trugen       briefen also ein ganz besonderes Kunststück
    Ist die Tiefsteuerstrategie also tatsächlich   nur zu knapp einem Zehntel zum Beschäfti-        gelungen: Sie haben für die Steuerstrategie
eine Erfolgsgeschichte, zumindest, was die         gungswachstum in Luzern bei. Neun Zehntel        mit Arbeitsplätzen geworben, die sie im
Schaffung von Arbeitsplätzen betrifft? Ein         der neuen Arbeitsplätze wurden von ansäs-        Grunde genommen eigentlich lieber abbauen
tieferer Blick in die Statistik zeigt, dass dem    sigen Firmen geschaffen, wozu die tiefen         möchten.
nicht so ist: Schon zwischen 2008 und 2011         Unternehmenssteuern als einer von vielen
war die Zahl der Vollzeitstellen in Luzern um      Faktoren beigetragen haben dürften. Die          Text: Christoph Fellmann, Illustration: Raphael Muntwyler

                                                                         9
B OA B E W E G T

Und das ist diese Unruhe,
dieser hellblaue Elch!
Vor zehn Jahren musste die Boa schliessen. Was vor über dreissig Jahren
begann, bewegt noch heute. Ein Abriss über die bewegte Geschichte des
Kulturzentrums – und was davon geblieben ist.
Von Hans Stutz

                                 10
B OA B E W E G T

                                                                                  I
                                                                                       n dieser schwarzgrauen Nacht, genau am
                                                                                       5. November 2007 frühmorgens, hing
                                                                                       der Elchkopf noch über dem Eingang zur
                                                                                  Boa-Bar. Belegt ist auch: Als der montägliche
                                                                                  Arbeitstag den Stadtlärm anschwellen liess,
                                                                                  war Davix' einst blauer Kleister-Elch weg.
                                                                                  Gelegentlich sollte er später wieder kurzzeitig
                                                                                  auftauchen. Doch das Konzertzentrum Boa
                                                                                  blieb geschlossen, für immer. Monate später
                                                                                  gestand eine «Elchentführerin, anonym»: Sie
                                                                                  seien lange nach dem letzten Konzert «hilflos
                                                                                  überdreht und ziemlich betrunken» herum-
                                                                                  gestanden. «Diese Situation verlangte nach
                                                                                  einem letzten subversiven Akt.» Subversiv?
                                                                                  Widerspenstig gegen wen? Und wann war
                                                                                  das denn? Bei welcher Grosswetterlage der
                                                                                  städtischen Politik?
                                                                                      Immerhin gehört es zur Oral History,
                                                                                  dass die Boa «erkämpft worden», ja sogar
                                                                                  einmal «besetzt gewesen» sei, am ersten
                                                                                  Juniwochenende 1988 nämlich. Nur: Diese
                                                                                  kleine – gemäss Einschätzung der Organisie-
                                                                                  renden «illegale, aber legitime» – Aneignung
                                                                                  eines leeren Fabrikgebäudes dauerte, samt
                                                                                  anschliessender Reinigung, nicht einmal
                                                                                  24 Stunden. Sie aktivierte gegen eintausend
                                                                                  Interessierte, die schon kurz nach Mitter-
                                                                                  nacht alles Bier, alle Weine und Schnäpse
                                                                                  weggeputzt hatten, sodass die Organisieren-
                                                                                  den «keine einzige Alkoholleiche» beklagen
                                                                                  konnten.

                                                                                  Borstiger Charme der Unruhe
                                                                                  Doch die Boa war immer ein Zwitterding ge-
                                                                                  wesen, einerseits eben kultureller Freiraum,
                                                                                  angestossen von ein paar Jugendarbeitern in
                                                                                  Ausbildung, die ein Abschlussprojekt um-
                                                                                  setzten, erkämpft von vielen Kulturbewegten
                                                                                  (auch) auf der Strasse und nächtelang rausch-
                                                                                  haft verteidigt in der Boa-Bar, geführt von
                                                                                  der konsequent demokratischen Bargruppe.
                                                                                  Andererseits ein politisches Zugeständnis der
                                                                                  städtischen Bürgerlichen, verwaltet von der
                                                                                  AG Boa, später IKU Boa, gegründet hinter-
                                                                                  rücks – wider die ersten Boa-Aktivisten –
                                                                                  von der IG Kultur, mit unverzüglicher Ori-
                                                                                  entierung des Stadtrates, damit dieser nicht
                                                                                  böse werde. Dieser Verein wurde der Träger
                                                                                  des Boa-Betriebs bis zum traurigen Ende.
                                                                                      Der borstige Charme der Unruhe lebte
                                                                                  weiter im Selbstverständnis der Bargruppe.
                                                                                  Sie veranstaltete ab Herbst 1988 – lange vor
Fest im alten Foyer. Bild: Georg Anderhub, ©Stiftung Fotodok
                                                                                  der offiziellen Eröffnung – in der illegalen,
                                                                                  aber geduldeten «Strafbar» Konzerte, Video-
                                                                                  aufführungen und anderes. Sie sah sich als

                                                                     11
B OA B E W E G T

die einzig wahre Vertreterin des Boa-Geistes,   «Veto-power»: Die Kraft, durch Referenden         war weiter geschwunden, ein Baukredit ab-
sie wollte Autonomie, «Freiraum für Expe-       grosse Pläne scheitern zu lassen, wie es 1985     gelehnt in einer Referendums-Abstimmung
rimente und spontane Aktionen». Sie warf        bzw. 1987 die Promoter einer riesigen und         («Partybunker»), gesammelt von der rechts-
den IKU-Boa-Leuten vor, diese machten aus       dezentralen Landesausstellung 1991 in allen       nationalistischen Chance 21 , unterstützt von
der Boa «ein bürokratisch verwaltetes Thea-     Zentralschweizer Kantonen hatten erleben          mindestens einem Boa-Gewerbetreibenden,
terzentrum». Ein Vorwurf, den die Südpol-       dürfen.                                           ebenfalls Musiker.
Betreibenden knapp zwanzig Jahre später             Oder anders ausgedrückt: Für den teuren           November 2007, das Kulturzentrum im
ähnlich auch hören mussten.                     Neubau eines neuen Kunst- und Kongress-           Umbau zum Briefverteilungszentrum: Doch
    Und doch war es ein Aufbruch, der die       hauses mussten die «Nicht-Etablierten»            damit enden «weder das Bedürfnis nach
Stadt – sowohl politisch wie kulturell – von    einbezogen werden. Für die neuen experi-          Freiräumen noch die damit verbundenen
intellektueller Enge wie der freisinnig do-     mentellen Kulturformen (Alternativkultur)         Konflikte», so die Herausgeber des Erinne-
minierten Klientelwirtschaft befreite. Le-      sollte, so die Empfehlung eines Expertenbe-       rungsbuches «ein BOA Teil». Am sichtbarsten
benslustig vorgelebt von Franz Kurzmeyer,       richts, «die Boa-Liegenschaft erschlossen         in der «Aktion Freiraum» und der gegen sie
offiziell Stadtpräsident FDP. Er politisierte   werden». Dies neben der Schüür und dem            gerichteten unzimperlichen Polizeirepression
                                                                                                  (ebenfalls 2007), um den schönen Schein ei-

       Von rechten Stadtparlamentariern                                                           nes Fussballmafia-Events im KKL internatio-
                                                                                                  nal zu wahren. Der Geist der Boa-Bargruppe –
       argwöhnisch beäugt, da sie links und                                                       wie auch von Boanova – lebt weiter in «Boa
                                                                                                  im Exil» (siehe Artikel Seite 14) oder blühte
       Anlass jeden nächtlichen Furzes im                                                         kurzzeitig im besetzten Haus Gundula. Und

       Quartier sei.                                                                              auch – wenn auch sozialverträglich domesti-
                                                                                                  ziert – im Neubad. Und wenn nicht domes-
                                                                                                  tiziert, dann prügelt der «LZ»-Chefredaktor
lange Zeit gegen die Anfeindungen seines        Kulturpanorama. Und so geschah es. Erst           persönlich einen Pfui-Kommentar in den
Herkunftmilieus und seiner Parteifreunde.       viele Jahre später nannte man dieses Ergeb-       Computer. Und wenn auch, die Unruhe
Auch wenn die Bürgerlichen noch nicht           nis «Kulturkompromiss». Eines aber blieb:         bleibt! So gesittet, ja brav, wie in den ver-
wissen konnten, dass dreissig Jahre später      KKL und Lucerne Festival wurden finanziell        gangenen dreissig Jahren agieren (jugend-
ihre Dominanz in der städtischen Politik        gehätschelt, der Boa-Betriebskredit reichte       liche) Subkulturen nicht auf Dauer, selbst
futsch war.                                     gerade, um den Betrieb nicht gleich einstellen    in Gesellschaften, die sozialen Ausgleich
                                                zu müssen.                                        anstreben und kulturelle Vielfalt fördern.
Geburt des Kulturkompromisses                                                                     Und wer weiss, wann sich Jusos und Junge
Die Bewegten und Bewegenden von 1968            Grösste Bedrohung verpennt                        Grüne wieder mit linker und radikaler Kritik
und 1980 (Zürcher Bewegung/Wir sind die         Die Boa war eine kulturpolitische Notwendig-      auseinandersetzen müssen?
Kulturleichen der Stadt) hatten Mitte der       keit, aber sie blieb unbeliebt, schon bevor das
1980er-Jahre kaum Auftrittsorte – ausser        noble KKL fertig erstellt war. Von Anwohnern      Mehr Bilder: www.fotodok.swiss/wiki/Kulturzentrum_Boa
ab Frühling 1981 das Musikzentrum Sedel         bekämpft mit Anzeigen und Beschwerden,
(«... sonst sehen wir uns in der Altstadt die   mit juristischen Eingaben gepiesackt von
Schaufenster genauer an»). Beat Bieri, da-      einer rechtsfreisinnigen Anwaltskanzlei.
mals Redaktor und Bandmusiker, heute            (Nein, nicht Kurt Bieder!). Von rechten Stadt-
Filmemacher, schrieb 1985 zutreffend, es        parlamentariern argwöhnisch beäugt, da sie
gebe wohl keine andere Schweizer Stadt,         links und Anlass jeden nächtlichen Furzes
«in der es solche Schwierigkeiten bereitet,     im Quartier sei. Doch das Heraufziehen der
zu vernünftigen Bedingungen einen Saal          grössten Bedrohung verpennten sowohl
für Rock- und auch Jazzkonzerte zu finden       die Stadtregierung wie das Parlament (alle
wie in Luzern.»                                 Fraktionen!) wie alle Boa-Engagierten: die
     Aus eigener Kraft hätten die unzufrie-     Umzonung einer angrenzenden Baupar-
denen Musiker, Kulturschaffenden und            zelle von der Gewerbe- in eine Wohn- und
-konsumenten den Mangel nicht ändern            Geschäftszone (mit tatkräftigem Support
können. Doch «tout Luzern» (Bürgerliche         des Anwaltes Kurt Bieder / ab Herbst 2000
Politiker, Hoteliers, Kunstgesellschaft und     Baudirektor FDP). Das Resultat: Ab 2002
Musikfestwöchler) wollte ab Mitte 1980er-       standen drei Wohnblöcke, finanziert von
Jahre ein grosses neues Haus für die Musik-     Grossgrundbesitzer Jost Schumacher, mit
festwochen / IMF (heute Lucerne Festival).      über 100 Eigentumswohnungen. Später
Und alle kulturellen Strömungen hatten, so      schützte das Bundesgericht eine Lärmklage
die gängige und zutreffende Einschätzung,       von Anwohnenden. Die Akzeptanz der Boa

                                                                                                  Demo Boa-Abstimmung, August 1988. Bild: Georg Anderhub, ©Stiftung Fotodok
                                                                      12
B OA B E W E G T

                                                                                        Demo «Boa bleibt», 2003. Bilder: Jeanine Überschlag
Boa-Demo, August 1988. Bild: Georg Anderhub, ©Stiftung Fotodok

                               Interpretenfestival, Jahr und Fotograf unbekannt.

                                            Altes Foyer, 1989–94. Bild: Stephan Wicki

                                                   13
                                                                                          Automaten. Bild: Susanne Plattner
The Keatons in der Boa-Bar, zwischen 1994–1996. Bild: Joe Stefano

N
         ach der letzten Veranstaltung in der Boa liegen
         sich frühmorgens die verbliebenen Besucher in
         den Armen. Teils weinend nehmen sie Abschied
                                                             Die Boa ist zwar Geschichte, doch ihr Geist lebt weiter.
von einem Ort, der für sie mehr war als nur ein Kulturzen-
trum. Hier haben sie lange Jahre gefeiert, diskutiert und
                                                             Es sind schätzungsweise 100 Konzerte, die das Boa-im-
auch für dieses Haus gekämpft – bis zuletzt. Spätestens
                                                             Exil-Kollektiv in den letzten zehn Jahren organisiert
als an diesem Morgen Baumaschinen vor dem Gebäude            hat: im Uferlos, Sedel, Neubad, in der Jazzkantine oder
auffahren, ist das letzte Kapitel der Boa besiegelt. Doch    an Orten, die es nicht mehr gibt, wie dem La Fourmi
es gibt einen Epilog: Mitglieder der IKU Boa und der         oder dem Frigorex-Areal.
ehemaligen Betriebsgruppe gründen mit «Boa im Exil»
                                                             Von Stefan Zihlmann
ein Kollektiv, das mit unzähligen Konzerten den Geist
des alternativen Kulturhauses auch zehn Jahre nach
dessen Ende weiterträgt.
    Eugen Scheuch, ehemaliger Programmator der Boa,
musste an diesem 5. November vor zehn Jahren mit
wenig Schlaf auskommen. Am Abend stand in der Bar 59
das erste Konzert unter dem Label Boa im Exil auf dem

                                                             Durch
Programm. Mit der amerikanischen Blues-Folk-Combo
Califone gastierte eine Band, die alle Attribute vereinte,
die das Musikprogramm der Boa musikalisch ausmachte:
reife, experimentelle, ernsthafte Rockmusik abseits

                                                             Raum
ausgetretener Pfade. Dieser Abend war der Startschuss
für eine Konzertreihe, die sich das programmatische
Erbe der Boa weiter auf die Fahne schrieb: Qualität
und Innovation.                                                                                                                Foyer in den letzten Tagen. Bild: Stefanie Simonet

    Doch Boa im Exil war kein Selbstläufer: «Kurz vor

                                                             und Zeit
dem Ende der Boa war bei uns die Luft draussen. Und
doch hatten wir das Gefühl, es konnte nicht sein, dass
alles an einen Ort gebunden ist. Es musste weiterge-
hen», erklärt Scheuch, der Boa im Exil zusammen mit

                                                                    14
B OA G E H T W E I T E R

                                  ehemaligen Boa-Aktivisten gründete. Die weiteren               und dies zu einer Gage, die weit unter dem damaligen
                                  Mitglieder sind der ehemalige IKU-Boa-Co-Präsident             Wert lag.
                                  Tom Burri, Andreas Gschwend, Christoph Kopp und                   Befragt man die Boa-im-Exil-Leute nach ihren
                                  die beiden Techniker Daniel Jutzi und Manuel Holliger.         schönsten Erinnerungen der letzten zehn Jahre, werden
                                  Nebst Idealismus gibt es auch einen durch und durch            ein Ort und eine Band unisono genannt: das Konzert
                                  pragmatischen Grund, dass Boa im Exil ins Leben gerufen        von O’Death im Frigorex 2011. Hier kam zusammen,
                                  wurde: Die IKU Boa hatte immer noch Budget von der             was Boa im Exil ausmacht: Aussergewöhnliche Bands
                                  Boa übrig. Und technisches Equipment. Daraus machte            spielen an aussergewöhnlichen Orten. Kurz darauf
                                  Jutzi einen Material-Pool. Dies ermöglichte Konzerte an        wurde das Areal abgerissen.
                                  Orten durchzuführen, die keine eigene Soundanlage
                                  besassen, Konzerte in Zwischennutzungen wie dem              Weite stilistische Bandbreite
                                  Frigorex-Areal oder in der kleinen Bar im Romp an der        Danach wurde es still um das Boa-im-Exil-Kollektiv.
                                  Steinenstrasse.                                              Scheuch war nach Prag gezogen und eröffnete dort den
                                                                                               Pilot Klub, wo er weiterhin Konzerte organisierte. Im
                                  Grosse Kiste dank offener Rechnung                           Sommer 2015 schloss der Klub und Scheuch kam aus
                                  Viele Konzerte fanden an Orten statt, die es heute nicht     seinem selbst gewählten tschechischen Exil zurück. Ein
                                  mehr gibt, wie zum Beispiel das La Fourmi. Dessen            Jahr später reaktivierte er das Label Boa im Exil wieder.
                                  Betreiber Dàire O’ Dùnlaing wusste nur zu gut, wie           Und dies mit ganzem Körpereinsatz, davon erzählt eine
                                  es ist, wenn die Anwohner wegen                                               grosse Narbe an seinem Arm, die er sich
                                  Nachtruhestörung die Polizei rufen.                                           vor einem Jahr zuzog. Es geschah am
                                  So insistierte er an diesem Abend,                                            Abend, als die Cumbia-Band Xixa aus
                                  dem 15. November 2008, mehrmals             «Es ist ein                       Arizona in der Jazzkantine gastierte. Nach

Alte Boa-Bar. Bild: Nique Nager
                                  bei Scheuch, dass um 22 Uhr Schluss
                                  sein müsse. Auf dem Programm stand
                                                                              Label, bei                        dem Konzert floss der Tequila in Strömen
                                                                                                                und es dröhnte «Killing In The Name» von
                                  die amerikanische Folk-Pop Band She-        dem die Leute                     Rage Against The Machine aus den Boxen.
                                  arwater. Als das Konzert begann, war                                          Scheuch rutschte auf einer Bierlache aus.
                                  das La Fourmi nahezu ausverkauft, die       wissen, was                       Er brach sich dabei den Arm und musste
                                  Stimmung ausgelassen. O’ Dùnlaing                                             ins Spital. Die Band tanzte weiter. Tags
                                  liess sich davon anstecken und sein         sie erwartet.»                    darauf schrieb der Tourmanager auf Face-
                                  irisches Temperament flammte auf.                        Eugen Scheuch        book: «After the show last night we were
                                  Als Shearwater um Punkt 22 Uhr                                                rocking out to Nirvana and our promoter
                                  die Bühne verliessen, stürmte er in                                           broke his arm.» Eugen schrieb zurück: «It
                                  den Backstage und rief der Band zu:                                           was rage against the machine ...» Treffend
                                  «Hey Motherfuckers, go back on Stage!» Etwas perplex         war auch die Analyse eines Bandmitgliedes kurz nach
                                  ging dann die Band nochmals auf die Bühne und spielte        dem Unfall, das lapidar meinte: «That happens when
                                  eine Zugabe.                                                 europeans wanna dance.»
                                      Am selben Abend spielte im Südpol Bohren & der               Seit April dieses Jahres ist Scheuch in einem 20-Pro-
                                  Club of Gore. Der Südpol hatte gerade seine Pforten          zent-Pensum als Booker im Sedel angestellt. So finden
                                  geöffnet und Animositäten seitens der Alternativkultur       nun dort vermehrt Konzerte unter dem Label Boa im Exil
                                  gegenüber dem Südpol gehörten noch zum herrschenden          statt. «Es ist ein Label, bei dem die Leute wissen, was sie
                                  Ton. Ironie der Geschichte: Eben diese Bohren & der          erwartet. Zwar hat es nicht mehr die ganz grossen Namen
                                  Club of Gore spielen diesen November im Rahmen des           wie in der Boa, aber es sind immer noch Konzerte, die
                                  Boa-im-Exil-Jubiläums in der Zwischenbühne Horw.             eine breite stilistische Bandbreite bieten: von Folk bis
                                      Auch wenn nicht mehr dieselben finanziellen Mittel       Punkrock», fasst Scheuch zusammen.
                                  zur Verfügung standen wie zu Boa-Zeiten, für eine grosse         Burri, Gschwend und Kopp hingegen haben sich
                                  Kiste reichte es dennoch. Nämlich im März 2009, als          etwas zurückgenommen, helfen aber zeitweise immer
                                  nahezu 500 Besucher das Konzert von Animal Collective        noch bei Anlässen mit, und dies wie früher als Ehren-
                                  in der Schüür besuchten. Eine offene Rechnung aus Boa-       amt. Die beiden Techniker Holliger und Jutzi arbeiten
                                  Tagen machte es möglich, dass diese Band, die dazumal        seit Jahren im Sedel, hocken aber noch immer hinter
                                  gerade den Zenit ihrer Karriere erreichte, nach Luzern       dem Mischpult, wenn die Veranstaltungskarawane
                                  kam. Zwei Jahre zuvor hatte das Tour-Management              weiter von Ort zu Ort zieht. Und das hoffentlich noch
                                  das schon bestätigte Konzert in der Boa abgesagt, aber       viele Jahre lang.
                                  versprochen, bei der nächsten Tournee nach Luzern zu           Boa im Exil: Boren & der Club of Gore,
                                  kommen. Und dieses Versprechen wurde auch eingelöst            FR 3. November, 20 Uhr, Zwischenbühne, Horw

                                                                                  15
F E H LT D I E B OA?

Kultur ist politisch
Die Boa wird noch immer vermisst. Zumindest hört man das oft sagen – etwa an
Konzertabenden, wo die Stimmung mal wieder am Brodeln ist. Auf einen breit
gestreuten Aufruf, etwas zu zehn Jahre Schliessung zu planen, meldet sich hinge-
gen fast niemand. Fehlt wirklich etwas in der Luzerner Kulturszene? Oder ist das
Vermissen pure Nostalgie, Wehmütigkeit, die jede Erinnerung an Vergangenes um-
schwebt?
Von Orpheo Carcano

D
         ie Boa wurde geschlossen und hinterliess of-          gut funktionieren, sondern diese grundlegend verändern
         fensichtlich eine grosse Lücke. Nun hatten            und einen Gegenentwurf entwickeln.
         Kulturtäterinnen und Kulturtäter zehn Jahre
Zeit, diese Lücke zu schliessen. Und man kann kaum             Mehr Ungehorsam und Unvernunft!
behaupten dass dies nicht gelungen sei – wenn es um            Auch in der heutigen Zeit wäre das Politische eine
Inhalte geht. Luzern hat für seine bescheidene Grösse          wichtige Aufgabe der Kultur. Wenn also etwas fehlt in
ein erstaunlich reichhaltiges und breites Kulturangebot.       Luzern, so ist es ein politisches Haus, das kollektiv ver-
Neue Häuser wie Neubad und Südpol, die ganz anders             waltet wird – ein autonomes Kulturzentrum. Gegenüber
ticken als die Vermisste, bieten ein spannendes Kultur-        solchen Strukturen sind viele Vorurteile vorhanden. Mag
programm. Ältere Häuser wie Sedel, Kleintheater oder           sein, dass eine Geschäftsleitung bisweilen effizienter ist.
Schüür haben sich nicht grundlegend verändert, halten          Aber das ist ja gar nicht die Frage! Man sollte aufhören,
ihre einst gefundenen Werte hoch, wie ein Fels in der          kulturelle Arbeit an wirtschaftlichen Massstäben zu
Brandung der sich allgemein viel zu schnell ändernden          orientieren. Klar ist es auch für ein Kulturhaus von
Welt. Alle diese und viele andere Häuser leisten eine          Vorteil, sein Budget im Griff zu haben, doch dies soll das
fantastische Arbeit. Man kann sich fragen, ob Luzern           Tun und Lassen nicht zu sehr beeinflussen und nicht
nicht fast ein Überangebot an Kultur hat. Was fehlt nun        das Mass aller Dinge werden. Finanzieller Erfolg ist
also wirklich? Ein Mangel ist wohl schon eher in der           überschätzt. Und viel Macht in wenigen Händen ist nicht
Gestaltung von Hüllen zu suchen. Zu wenig Punkrock,            erstrebenswert. Die Welt der Kultur soll eine Alternative
zu wenig selber basteln und improvisieren. So dass die         zur Welt da draussen aufzeigen. Daher ist es wohl ein
Luft zum Atmen in einer überstilisierten und durchor-          Missverständnis, ein Kulturhaus mit hierarchischen
ganisierten Atmosphäre oft fehlt und Gäste zu reinen           Strukturen zu betreiben.
Konsumentinnen und Konsumenten werden – und                        Die Erkenntnis dieses wahren Mangels mündet in
schon ist man bei strukturellen und politischen Fragen.        einen Aufruf zu mehr Ungehorsam und Unvernunft,
    Die Boa entstand zu einer Zeit, wo unter dem Eindruck      zum Überdenken bestehender Strukturen, zum Igno-
der 1980er-Unruhen und dieser speziellen Anything-             rieren marktwirtschaftlichen Denkens in der Kultur.
Goes-Stimmung nach dem Ende des Kalten Kriegs                  Gerade in Zeiten, wo Sparen zur weit verbreiteten Mode
eine besonders wohlwollende Situation anzutreffen              und rechtes Gedankengut wieder salonfähig wird, ist
war, kulturelle Projekte umzusetzen. Systemkritik am           es wichtig, eigene Werte zu kreieren und zu etablieren
Spannungsfeld von Kapitalismus und Demokratie hüben            und sich nicht zu sehr auf die von Wirtschaft und Staat
und eine Auseinandersetzung mit dem soeben begrabe-            geprägte Ebene von Rentabilität und klarer Führungs-
nen Realsozialismus drüben war für Kulturschaffende            struktur einzulassen.
unabdingbar. Die Bereitschaft, ein Haus zu besetzen,
falls Verhandlungen nicht fruchten – also den Staat auf
                                                               ein BOA Teil.
die eigene Kommunikationsebene der Tat hinüberzu-              Maniac Press, Luzern 2008.
bewegen –, war selbstverständlicher. Dies wiederum             256 Seiten. Fr. 20.–. Bestellen via: info@maniacpress.ch
hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Strukturen
einiger Häuser. Weil Kulturarbeit politisch gedacht
                                                               Orpheo Carcano war acht Jahre in der Boa aktiv als Konzert-
wurde, entstand eine grosse Bereitschaft, im Kollektiv         veranstalter, Barkeeper und vieles mehr, war im Redaktionsteam
mit basisdemokratischen Strukturen zu arbeiten. Man            des Buches «ein BOA Teil» und betreute das Archiv, das im
wollte nicht einfach in der bestehenden Welt möglichst         Frühling 2017 ans Stadtarchiv Luzern überging.

                                                                      16
F E H LT D I E B OA?
                                                               Demo «Boa bleibt», 2003. Bilder: Jeanine Überschlag

Boa-Halle in den letzten Tagen. Bild: Tatjana Erpen

                                            17
                                                      Alte Boa-Halle, 1989–1994. Bild: Stephan Wicki
E M I L U N D DA S K L E I N T H E A T E R

      Wie kommt man auf die Idee, ein Kleintheater zu gründen?

    Stumme Antworten von ... Emil
Das Kleintheater wird in dieser Spielzeit 50 Jahre alt. Wir schauen mit Gründer
         Emil Steinberger zurück. Wortlos: fünf Fragen, fünf Gesten.
                        Fragen: Ivan Schnyder, Bilder: Franca Pedrazzetti

                                               18
War das eine gute Idee?                       Wie unterscheidet sich der Humor der Deutschen von
                                              jenem der Schweizer?

Wann wird aus Kleinkunst grosse Kunst?        Was wäre ein Tag ohne Lachen?

                                              Alle Fragen und Antwort-Bilder von Emil auf www.null41.ch

                                               Emil – No einisch!, SO 5. November, 19 Uhr, Luzerner Theater

                                         19
P I N K PA N O R A M A

Das lesbischwule Filmfestival Pink Panorama findet zum 16. Mal statt, die dazugehörige Pink Bar fei-
ert ihr 10-Jahr-Jubiläum. Zeit, nachzufragen: Wie war das früher in der LGBT-Szene? Und wie steht’s
um die nächste Generation? Samyra Mahler von Pink Panorama und Christian Sprenger von Queer
Office geben Antwort.
Gespräch: Anna Rosenwasser, Bilder: Mischa Christen

«Die Mischung zwischen Unterhaltendem
und Politischem macht’s aus»

Das diesjährige Pink Panorama steht unter
dem Motto «Next Generation». Vor wie
vielen Generationen habt ihr selbst ange-
fangen, euch aktiv im Bereich LGBT zu
engagieren?
Samyra Mahler: Ich bin schon fast
zwanzig Jahre dabei: Damals gab es die
Jugendgruppe «Why not», in die ich
gekommen bin und wo ich bald mal selbst
mitgewirkt habe.
Christian Sprenger: Aktiv bin ich erst
seit drei Jahren, und zwar bei Queer
Office, einem Kollektiv, das sich für LGBT
einsetzt. Dort verwalte ich unter anderem
die Social Media und bin für die Home-
page zuständig. Passiv dabei bin ich aber
eigentlich – nun, mein ganzes Leben
schon. Wenn ich so überlege, bin ich ja       «Es gehört zum guten Ton, eine schwule Figur in einer Serie zu haben.» Samyra Mahler und
auch dann Teil eines Aktivismus, wenn         Christian Sprenger im Gespräch.
ich in eine queere Bar gehe. So zeige ich,
dass ich offen dazu stehe und das unter-
stütze.

Wie war es für euch damals, die erste
Begegnung mit der LGBT-Szene?
Mahler: Ich ging als Erstes zu
LesBiSchwul Zug und war ziemlich
nervös. Nach und nach baute ich mir im
dortigen Treff eine zweite Familie auf, das
war sehr wertvoll. Und es war ein schö-
nes Gefühl, zu wissen, dass ich nicht die
Einzige bin. Das zeigte sich beispielsweise
auch an den Eurogames (lesbischwules
Sportereignis, Anm. d. Red.), die 2000
in Zürich stattfanden. Wenn du im Tram
sassest, waren um dich rum eigentlich nur
Lesben und Schwule …

                                                                      20
P I N K PA N O R A M A

Sprenger: Mein erster Berührungspunkt        Sprenger: Einerseits, klar, soll es unter-    bewusst einen schmalen Grat, wie schon
war, da war ich so um die zwanzig Jahre      halten. Dafür sind Filme gemacht. Wenn        früher David Bowie.
alt, ein Wochenende für schwule Jugend-      man aber einige Jahre zurückdenkt, gab        Sprenger: Wenn ich beispielsweise an
liche in Köln. Ich komme aus einem klei-     es auch Nachrichten und Informationen         Star Trek denke: Vor 40 Jahren wäre die
nen deutschen Dörfchen, und dieser erste     im Kino, und das bringen wir gewisser-        Thematisierung von Homosexualität noch
Ausflug war natürlich speziell: Einerseits   massen auch wieder: LGBT-Kino ist mit         undenkbar gewesen, und im Film letz-
kommst du in einen Raum hinein, wo           eine Art der Information, weil die Filme      tes Jahr haben sie ein Homo-Statement
du noch niemanden kennst, andererseits       ja einen spezifischen Inhalt haben; es sind   gesetzt – ich hoffe, ich spoiler damit jetzt
konnte man sich prima öffnen, hatte          nicht einfach irgendwelche Actionfilme.       nicht zu sehr.
gemeinsame Gesprächsthemen und Work-         Mahler: Bei Pink Panorama ist es uns
shops wie auch Filme. Dieses Wochenende      sehr wichtig, dass die Menschenrechte         Welches sind eure Lieblingsfilme im LGBT-
war dann auch gleich das erste Erlebnis,     angesprochen werden, um zu zeigen, dass       Bereich?
wo ich gemerkt habe, dass ich gar nicht so   nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist.   Sprenger: Mein Lieblingsfilm, mit dem
verkehrt bin.                                Die Mischung zwischen Unterhaltendem          ich mich selbst auch das erste Mal identifi-
                                             und Politischem macht’s aus.                  zieren konnte, war «Beautiful Thing». Da
Von Köln nach Luzern – Christian                                                           begegnen und verlieben sich zwei Nach-
Sprenger, wie war der Vergleich der LGBT-                                                  barsjungs und müssen mit den ganzen
Szene für dich?                                                                            Schwierigkeiten zurechtkommen. Es ist
Sprenger: In Köln habe ich sieben Jahre
                                              «Es ist ausserdem                            mein Lieblingsfilm, weil ich eine Bezie-
gewohnt. Sie zählte damals als Schwulen-      wichtig, in möglichst                        hung dazu habe; es war mein Coming-
hauptstadt Deutschlands, da waren natür-                                                   out, für mich persönlich.
lich Organisationen und Lokalitäten ohne      vielen Städten zu                            Mahler: Lustig, meiner war auch «Beauti-
Ende vorhanden, da ist Luzern schon
etwas anderes. Vom Verhältnis her wird
                                              zeigen, dass wir keine                       ful Thing»! Momentan ist es effektiv auch
                                                                                           «Moonlight», der ist genial gespielt – und
hier aber einiges angeboten; was letztlich    Randgruppe sind, um                          Sex selbst steht da nicht so im Vorder-
noch fehlt ist eine Art von Gaybar, die es                                                 grund wie etwa bei «Brokeback Moun-
in Städten wie Zürich gibt.
                                              Berührungsängste                             tain». Oh, und natürlich «Carol»!
                                              abzubauen.»
Mit Pink Panorama hat Luzern ein                                                           Worauf freut ihr euch neben den Filmen
queeres Filmfestival. Städte wie Zürich,                             Samyra Mahler        noch?
Frauenfeld, Basel und Bern haben das. Ist                                                  Sprenger: Am 11. November veranstalten
das zu viel – oder noch immer zu wenig?                                                    wir vom Queer Office für und mit Pink
Mahler: Für mich steht die Qualität im       Nicht nur die Filme sind Teil des Pink        Panorama die Filmfestival Party – eine
Vordergrund. Bei den zahlreichen Open-       Panorama. Die Pink Bar feiert ja auch ihr     Kostümparty mit dem Thema Film; man
Air-Kinos und Festivals spricht ja auch      10-Jahr-Jubiläum. Was hat es damit auf        kann sich also gerne so verkleiden wie
niemand davon, dass es zu viele sind.        sich?                                         der Charakter, den man schon immer mal
Es ist ausserdem wichtig, in möglichst       Mahler: Wir wollen einen Treffpunkt vor       sein wollte.
vielen Städten zu zeigen, dass wir keine     und nach den Filmen bieten – mittler-         Mahler: Am nächsten Abend später feiert
Randgruppe sind, um Berührungsängste         weile ist es sogar ein Treffpunkt während     die Pink Bar Jubiläum, worauf ich mich
abzubauen. Deshalb haben wir auch so         der Filme, manche kommen was trinken          besonders freue. Nicht zuletzt freue ich
ein Glück mit dem Bourbaki: Kinobesu-        und gehen dann wieder nach Hause, ohne        mich auch darüber, dass die Stadt Luzern
cherinnen und -besucher kommen auch          Kino. Ausserdem ist die Pink Bar im Foyer     uns 2016 den Werkbeitrag zugesprochen
dann in Kontakt mit dem Pink Panorama,       des Bourbaki, ein eher offener Raum, wo       hat. Anhand solcher öffentlicher Aner-
wenn sie sich einen anderen Film ansehen     man auch einfach mal neugierig rein-          kennung sieht man auch, wie wertvoll der
oder an unserer Bar Getränke bestellen.      schnuppern kann. Die Pink Bar ist ausser-     Austausch zwischen der LGBT- und der
Das macht es so spannend!                    dem eine Plattform für die verschiedenen      Heterowelt ist – gerade in Zeiten der AfD,
Sprenger: Es mag so aussehen, als wäre       LGBT-Vereine aus der Zentralschweiz.          von Trump und diskriminierenden Initi-
es viel, aber übers Jahr zusammengefasst                                                   ativen hierzulande. Deshalb ist es auch
sind es nicht mehr so viele – auch, wenn     Sind populäre Filme und Serien denn auch      wichtig, dass wir verschiedene Filmfesti-
man die Anzahl Leute bedenkt, die in         queerer geworden?                             vals haben, die klarmachen: Wir sind da,
Luzern wohnen.                               Mahler: Es gehört zum guten Ton, eine         wir haben ein Recht auf eine Stimme und
                                             schwule Figur in einer Serie zu haben,        ein Recht auf Liebe.
Hat das Pink Panorama neben dem Unter-       etwa bei «How I Met Your Mother» oder
                                                                                            Pink Panorama, DO 9. bis MI 15. November,
haltungswert auch einen politischen          «Big Bang Theory». Aber auch Künstlerin-       Stattkino, Luzern
Aspekt?                                      nen wie Lady Gaga und Madonna gehen            www.pinkpanorama.ch

                                                                 21
Freiheit und
			Gleichgewicht

Am 19. November erhält Peter Roesch den Luzerner Kunstpreis
2017. Das Werk des 1950 Geborenen zeugt von einer subversi-
ven Skepsis jenseits vertrauter Muster. Im Dezember ist Roesch
im dritten Teil der Ausstellung «Fortsetzung folgt – 140 Jahre
                                                                 Bild: Clemens Klopfenstein

HSLU D&K» vertreten.
Von Niklaus Oberholzer

                               22
K U N S T- U N D K U LT U R P R E I S 2 017

«p.s. Ich suche ein grosses Atelier ich habe viel vor», so           Doch lässt die Freiheit alles offen? Überall sind in
schrieb mir Peter Roesch 1981 auf der Rückseite einer            der Sache begründete, aber auch freiwillig sich selbst
Karte mit der mit heftigen Bleistiftstrichen überzeich-          auferlegte Begrenzungen, zum Beispiel durch das einmal
neten Abbildung eines grossen Wal-Gemäldes, das er               gewählte Format oder durch die Technik: Öl will etwas
damals in Luzern zeigte. Ich konnte ihm kein grosses             anderes als Eitempera. Es sind Begrenzungen durch
Atelier vermitteln. Es fand sich allerdings bald. Und viel       die erste Farbwahl, die einer zweiten Wahl ruft, durch
vor hatte er stets, bis heute. Karten liess er mir weiterhin     die erste Pinselsetzung auf die Leere der Leinwand, die
zukommen. 1991: Übers Kleinformat ziehen sich in                 jede weitere Setzung lenkt und die Freiheit der Leere
spontaner Bewegung viele schwarze und einige goldgelbe           durchkreuzt.
Linien; hier werden sie beinahe von schwarzen Wolken                 Es sind zudem, wichtiger noch, Begrenzungen durch
überdeckt, dort liesse sich ihr Gefüge, so man will, als         jene andere Konstante, die ich in Peter Roeschs Arbeiten
menschliches Gesicht lesen. 1996: Eine schwarze Figur            sehe – durch das Suchen nach dem Gleichgewicht, das
zeichnet eine Linie übers kleine Papier – vielleicht ein         die Arbeiten stets in Balance hält, und das Willkürliche,
Selbstporträt des Künstlers als Zeichner.                        das mit Freiheitsdrang verbunden ist, in einen übergrei-
    Was ist das Kennzeichen von Peter Roeschs Malerei?           fenden Zusammenhang fügt. Roeschs Malereien und
Ich verfolge seine Arbeit, wenn auch nicht immer gleich          Zeichnungen sind bei allem Aufbrechen nicht ungestüm,
intensiv, seit vielen Jahren. Es gibt da verschiedene            und, bei allem spontanen Greifen nach Neuem, nicht
Brüche und Neuanfänge und Rückgriffe. Er arbeite-                wild. Peter Roesch entwickelt in stetem Pendeln zwischen
te figurativ, aufgrund von im «Spiegel» publizierten             Freiheit und Ausgewogenheit seine unverwechselbare
Pressefotos zum Beispiel. Er bezog Antikes oder Kunst            Handschrift jenseits vertrauter Muster. Selbstbewusst
der Renaissance in seine Arbeit ein, beschäftigte sich           macht er damit Verletzlichkeit und Dünnhäutigkeit seines
mit dem Motiv der Drei Grazien oder mit Piero della              Tuns deutlich – und, so denke ich, auch ein ständig sich
Francescas «Madonna del Parto» und schrieb sich so in            veränderndes Fliessen prekärer menschlicher Existenz.
die Entwicklungslinie der Kunst ein. Ich kenne Infor-                Vielleicht ist das jenes Kennzeichen seiner Kunst,
melles, das jede Ahnung von Les- und Benennbarem                 nach dem ich suche. Ich sehe es als Kennzeichen, das
ausschliesst und uns als Betrachter auf eine Reise der           mit subversiver Skepsis über den Bereich der Kunst hi-
Fantasie schickt. Peter Roesch zeichnet und malt seit            nausführt in ein gesellschaftliches Bewusstsein. Schön,
Jahrzehnten, doch stets sind seine Zeichnungen male-             dass die Stadt Luzern gerade diese künstlerische Haltung
risch und seine Malereien Zeichnung. Und seit vielen             mit dem Kunstpreis würdigt.
Jahren lässt er in Zusammenarbeit mit Architekten
deren Räume zu Farbräumen werden.
    Doch ich sehe Konstanten – nicht im Sinn einer
stilistischen Entwicklung, nicht im Sinn eines einer
inneren Logik folgenden Fortschreitens von einem
zum anderen. Und, obwohl er sich über längere Zeit
mit einer bestimmten Farbe, mit Orange zum Beispiel,
beschäftigte, auch nicht in bestimmten koloristischen
Vorlieben und nicht einmal in dieser oder jener Technik.         Peter Roesch (*1950) lebt in Luzern. Er besuchte die Bildhauerklasse der
                                                                 Schule für Gestaltung in Luzern, war 1975–77 Mitglied des Istituto Svizzero in
                                                                 Rom und lebte 1984–1995 in Paris. Ab 1999 Dozent für Malerei und Zeichnung
Jenseits vertrauter Muster
                                                                 an der Ecole supérieure des beaux-arts in Genf, 2005–2015 mit Caroline Bach-
Als eine prägende Konstante sehe ich die Sehnsucht nach          mann Leiter des Ateliers Malerei und Zeichnung an der HEAD (Haute école d’art
einer Freiheit, die dem Künstler alles offen lässt. Es ist das   et de design) in Genf. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland, Künstlerbü-
Bekenntnis zum steten Fluss ohne einen vorhersehbaren            cher (zum Beispiel «Bevagna» in den Edizioni Periferia Luzern, 2004).
Ausgang, zum Gang ins Ungewisse, das Scheitern inbe-
griffen. Da ist meist kein Gegenstand, den Peter Roesch
sich zu malen zum Ziel gesetzt hat. Vielmehr kann ein             In der Kunstplattform Akku ist Peter Roesch mit neuen Werken im drit-
Beginnen allenfalls zu einem erkennbaren Gegenstand               ten Teil der Ausstellung «Fortsetzung folgt – 140 Jahre HSLU D&K» ver-
führen – zum Ansatz eines Gesichts zum Beispiel auf               treten.
der erwähnten kleinen Karte. Vielleicht auch nicht.               SA 9. Dezember bis SO 7. Januar, Kunstplattform Akku, Emmenbrücke
Benennbares zu identifizieren bleibt ohnehin unsere               Vernissage: FR 8. Dezember, 18 Uhr
Sache: Ich kann den Strich – auf der zweiten erwähnten
Karte – weiterdenken, wie ich will.

                                                                 23
GÖSCH EN EN

Das historisch wertvolle Bahnhofbuffet in Göschenen wird nur spora-         In der Biaschina lassen sich, wie bei einer archäologischen Grabung, die
disch genutzt, wie am Symposium «Eine Zukunft für die Verkehrsland-         wichtigsten Entwicklungsschritte der Linie ablesen: die ursprüngliche
schaft Gotthard» im September 2013. Bild: Milan Rohrer                      Linienführung, Ausbau auf Doppelspur, Elektrifizierung, Neubau der
                                                                            Brücken. Bild: ZHB Luzern

 Die Gotthardlinie als Denkmal
Mit dem neuen NEAT-Tunnel ist man gut dreissig Minuten schneller im Tessin. Wird
die alte Gotthard-Strecke dabei obsolet? Es gibt Bestrebungen, sie fürs Unesco-Welterbe
vorzuschlagen. Doch der Bund zaudert.
Von Kilian T. Elsasser

Mythen wie die Sage der Teufelsbrücke oder des Schmieds                mit der Erschliessung von Göschenen/Andermatt und der
von Göschenen verklären den Gotthard zum immerwäh-                     Leventina oder als Denkmal rechtfertigen.
renden schweizerischen Schicksalspass. Dabei wären diese                    Die Gotthardbahn ist ein Bauwerk von «Outstandig
Geschichten ohne Eisenbahn kaum noch bekannt. Die                      Universal Value». Neben der herausragenden technischen
Gotthardlinie machte aus dem regional bedeutenden Pass                 Leistung ist das Bauwerk wegen der grossen Bedeutung für
die wichtigste Alpentransversale Europas. Gemäss Guy                   die nationale Identität der Schweiz weltweit einzigartig.
Marchal (Schweizer Gebrauchsgeschichte, 2007) wurde der                Als Denkmal ist die Gotthard-Bergstrecke in wesentlichen
Pass deswegen zum Inbegriff des schweizerischen Staates,               Teilen erhalten. Die Linienführung entspricht dem Zustand
die Schweiz zum «Gotthard-Staat». Die Gotthardbahn-                    der Eröffnung von 1882. Zudem sind die Kehrtunnels und
Gesellschaft machte die Linie zur wichtigsten Tourisms-                der Scheiteltunnel von Göschenen nach Airolo herausra-
attraktion der Schweiz. Sie führte die Touristen an der                gende Bauwerke. Mit der Elektrifizierung entstanden die
Wiege der Schweiz vorbei über das technische Wunderwerk                Kraftwerke in Amsteg und Ambri-Piotta im Heimatstil
sicher durch die wilden Alpen in den Süden. Im Zweiten                 der 1920er-Jahre. Die SBB ersetzten die Stahlfachwerk-
Weltkrieg war die Linie neben dem Bankenwesen einer der                brücken mit Betonbogenbrücken, die sie zur Integration
beiden Hauptgründe, dass die Schweiz nicht besetzt wurde.              in die Landschaft im Norden mit Granit und im Süden
Mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels 2016 wird der              mit Gneis verkleideten. Weil diese Schichten wie bei einer
Mythos einerseits weitergeführt, andererseits die Grundlage            archäologischen Schichtung noch heute ablesbar sind,
des Mythos, die Gotthardlinie von 1882, infrage gestellt.              das heisst auch die Authentizität des Bauwerks gegeben
Die grossen Kosten für den Unterhalt der Eisenbahninfra-               ist, kam der Bund 2014 in Zusammenarbeit mit den SBB
struktur von rund 35 Millionen Franken lassen sich kaum                und den Kantonen Uri und Tessin zum Schluss, dass die

                                                                            24
A I RO L O

          Gotthard-Bergstrecke die Qualität hat, als Unesco-Welterbe      den Vermarktungsbereich von Andermatt-Tourismus. In
          eingeschrieben zu werden. Der Bundesrat stellte aber auch       der Leventina ist die Wanderung von Dazio Grande durch
          fest: «Mit der Kandidatur der Gotthard-Bergstrecke für          die Monte-Piottino-Schlucht nach Faido zu empfehlen. Sie
          das Welterbe würde sich die Schweiz verpflichten, deren         ist das wenig bekannte Pendant der Schöllenenschlucht.
          Bestand und Betrieb langfristig zu sichern.» Darum will         In Biasca ist im ehemaligen Depot ein Swiss Railpark St.
          der Bund nicht vor 2025 einen Antrag stellen. Er will           Gotthard geplant. Bis anfangs Januar 2018 läuft im Castello
          abwarten, wie die Kantone und die SBB die touristische          Sasso Corbaro in Bellinzona die Ausstellung «Staunen statt
          Vermarktung der Linie vorantreiben. In der Zwischenzeit         stauen – die Gotthardbahn». Wie diese ersten Projekte
          dürfen die SBB keine Massnahmen ergreifen, die eine             beim Publikum ankommen, wird aufzeigen, wie sich die
          Bewerbung als Unesco-Welterbe gefährdet.                        Gotthard-Bergstrecke zur Panoramastrecke entwickelt
                                                                          und wieder ein touristisches Schwergewicht werden kann.
          Lichtblicke und Schatten                                            2017 konnte ein erster Versuch, die Strecke mit ei-
          Die Linie verdient es, als Denkmal erhalten, möglichst oft      nem wenig benutzerfreundlichen Angebot der SBB einen
          betrieben und als Unesco-Welterbe vermarktet zu werden.         langsamen Tod sterben zu lassen, abgewendet werden. Die
          Die Gotthard-Bergstrecke verbindet auf ideale Art und Weise     Südostbahn führt voraussichtlich ab 2020 wieder direkte
          die Ursprünglichkeit der vorindustriellen Kuhschweiz der        Züge von Basel und Zürich in das Tessin. Offen ist, ob der
          wilden Alpen mit der Industrieschweiz der Innovation,           Kanton Uri es in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für
          des Wagemuts und der Verbindung nach Europa. Das                Strassen Astra schafft, mit den für die zweite Strassenröhre
          Baudenkmal ist seit der Eröffnung des Basistunnels nicht        in Göschenen geplanten Arbeiterunterkünften zur nach-
          mehr Lastesel der Nation, sondern muss sich langsam             haltigen Entwicklung der Gemeinde beizutragen. Ein erster
          zum Roller Coaster entwickeln, der einzigartige Erlebnisse      Vorschlag sieht vor, bis zum Baubeginn 2020 ein Arbeiterdorf
          und Einblicke in die Alpenwelt bietet sowie Andermatt           und eine Betriebskantine zu bauen. Neu-Göschenen soll
          mit der Lombardei und dem Mittelland verbindet. Seit            am Ausgang des Dorfes gegen die Göscheneralp gebaut
          2017 fahren die SBB im Sommerhalbjahr mit dem Pano-             werden. Dabei stehen in Göschenen mehrere Häuser leer.
          ramaexpress über den Gotthard. Von Flüelen fahren sie           Es wurde bis jetzt nicht geprüft, ob die Kantine im leer
          direkt in das Tessin. Eine App und eine mässig gelungene        stehenden geschichtsträchtigen Bahnhofbuffet eingerichtet
          Lichtschau im Tunnel setzen die Linie in Szene. Uri Tou-        werden kann oder wie beim Bau des Brenner-Basistunnels
          rismus entwickelte in Zusammenarbeit mit Erstfeld, den          bestehende Hotels als Unterkünfte genutzt werden kön-
          SBB und SBB Historic erste Angebote für Eisenbahnfans           nen. Die Nutzung bestehender Bauten würde es möglich
          und für ein breites Publikum. Auf der Homepage www.             machen, in diese zu investieren und sie nach Abschluss
          tunnel-erlebnis.ch werden diese vermarktet. In typisch          weiter zu nutzen. Es wäre eine wirtschaftlich interessante
          schweizerischer Folklore erscheinen darauf leider keine         Gelegenheit, das Ortsbild von nationaler Bedeutung in
          Angebote von Wassen (Steinbruch Antonini) und Gö-               Göschenen nicht zur Ruine verkommen zu lassen, dass
          schenen (Rundgang Gotthardtunneldorf). Sie gehören in           der Mythos nicht wahr wird – dass Göschenen nur ein
                                                                          Synonym für Stau ist.

                                              … ein Leben lang Bilder schreiben.
                                                                  Die Monografie Bilderwelten – Künstlerische Reflektionen von
                                                                  Konrad Abegg ist erschienen.

                                                                  Das Buch umfasst 336 Seiten mit 553 Abbildungen und ermöglicht
                                                                  einen umfassenden Einblick in das Kunstschaffen des Künstlers.

                                              Herzliche Einladung zur Ausstellung und Buchpremiere:
                                              Sonntag | 12. November 2017 | 11 Uhr
                                              Kunsthalle Luzern | Bourbaki Panorama | Löwenplatz 11 | Luzern

                                                                  Infos: www.konrad-abegg.ch
ANZEIGE

                                                                  Bestellungen: info@edition-abegg.ch | ISBN 978-3-033-06275-7

                                                             25
Sie können auch lesen