BOA BLEIBT IM GEDÄCHTNIS UND IM EXIL - null41
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Unabhängige Monatszeitschrift für die Zentralschweiz mit Kulturkalender NO 11 November 2017 CHF 8.– www.null41.ch IM GEDÄCHTNIS UND IM EXIL BOA BLEIBT
E DI TOR I A L Boah, Boa! In einem Nachruf auf die Boa zitiert Kaspar Surber in der «Woz» den Basler Musikjournalisten Xaver Zimmermann: «(Die Boa) gehört zu den Clubs mit dem besten und innovativsten Programm.» Seit zehn Jahren ist sie Geschichte. Der als Ersatz geplante Südpol wurde nie als solcher wahrgenommen, konnte sich aber als eigenständiges Kulturhaus etablieren. Dem Boa-Groove am nächsten kommt das Neubad, auch wenn der Schwerpunkt da eher auf Co-Working denn auf Revolution liegt. Hans Stutz schreibt in unserer November-Ausgabe über die politische Boa, ihre Anfänge als Abschlussprojekt von Jugendarbeitern in Ausbildung, ihren stets schweren Stand im offiziellen Luzern, die verpennte Bedrohung durch eine angrenzende Überbauung – die ihr schliesslich den Todesstoss versetzte. Der Boa-Spirit aber lebt weiter: sei es musikalisch wie im Boa-im-Exil-Kollektiv, sei es ideell wie beim langjährigen Wegbegleiter Orpheo Carcano. Für uns schreibt er, welche Art Kulturhaus heute in Luzern fehlt und warum. Das 1967 gegründete Kleintheater gibt es noch immer. In dieser Spielzeit feiert es sein 50-Jahr-Jubiläum. Gründer und Kabarettist Emil Steinberger besuchte uns auf der Redaktion und stellte sich unseren Fragen – mit Gesten statt Worten. Grund zur Freude hat der Künstler Peter Roesch, der am 19. November den Kunst- und Kulturpreis der Stadt Luzern 2017 entgegennehmen darf. Niklaus Oberholzer würdigt den eigensinnigen Künstler, der stets zwischen Freiheit und Ausgewogenheit pendelt. Einiges neu macht der November bei uns: Wir begrüssen herzlich die Autorin Anaïs Meier und die Illustratorin Sarah Elena Müller, die die Literaturkolumne «Meier/Müller bi de Lüt» bespielen. Ebenfalls frisch ist die letzte Seite: Luca Bartulović erzählt in «Ein Hund mit Migrationshintergrund» von Abenteuern in der Ferne und kulturellen Unterschieden. Boa Aussensicht. Bild: Ellen Bühler Nun träumen Sie von der Ferne – aber bleiben Sie uns erhalten und werfen Sie sich trotz des November-Blues rein ins Kultur-Getümmel. Ivan Schnyder schnyder@kulturmagazin.ch 3
INHALT AB SEITE 10 MUSIK & POLITIK Boa: das Vermächtnis 20 PINK PANORAMA Lesbischwules Filmfestival im Stattkino 22 PETER ROESCH Kunst- und Kulturpreisträger der Stadt Luzern 2017 24 GOTTHARDSTRECKE Gehört sie ins Unesco-Welterbe? KOLUMNEN 6 Doppelter Fokus: Grosse Alpabfahrt in Kerns 8 Meier/Müller bi de Lüt: Sehnsuchtsort Zentralschweiz (1) 9 Lechts und Rinks: Den Freisinn verstehen (Lektion I) 28 Gefundenes Fressen: Fertigfondue 48 041 – Das Freundebuch: Wittmer & Koenig 49 40 Jahre IG Kultur: Angepisst 78 Käptn Steffis Rätsel 79 Comic: Ein Hund mit Migrationshintergrund SERVICE 29 Bau. Archithese 30 Kunst. Krienser Heimspiel 37 Musik. Experimenteller Pop 39 Kino. Heuchlerische Filmszene 42 Bühne. Fake News im Theater 45 Wort. Junge Literatur im Neubadkeller 76 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen Schweiz 77 Ausschreibungen, Namen, Preise Bilder: Franca Pedrazzetti / Michèle Gnos, Backstage die letzten Tage in der Boa KULTURKALENDER 51 Kinderkulturkalender 53 Veranstaltungen 71 Ausstellungen Titelbild: Randy Tischler Das letzte Konzert in der Boa-Bar 2 Kulturlandschaft 52 HSLU Musik / Stattkino 54 LSO / Luzerner Theater / Romerohaus 56 Kleintheater 18 SAG JETZT NICHTS, EMIL 58 Neubad / Südpol 66 Haus für Kunst Uri Gesten zum Kleintheater-Jubiläum 68 Historisches Museum / Natur Museum 70 Kunsthalle Luzern / Museum Bellpark / Kunsthaus Zug 4
SC HÖN GESEH EN Der Gemeinderat Adligenswil hat Ende September das Wiedererwägungsgesuch der Kulturkommission zum Wie- dereintritt in die Regionalkonferenz Kultur RKK abgelehnt. Bei einem Jahresüberschuss ist der Verzicht von Fr. 30 000.– (knapp über Fr. 5.– pro Einwohnerin und Einwohner) eine Geringschätzung gegenüber den Kulturschaffenden vor Ort und gegenüber des Solidaritätsfonds. Bild und Transparent: Stephan Wittmer G U T E N T AG GUTEN TAG, GUTEN TAG, MALL OF SWITZERLAND PRÄMIENVERBILLIGUNG Am 8. November geht bei dir der Laden auf und Der Kanton gibt’s, der Kanton nimmt’s. Nun müs- bei uns der Laden runter. Dein Hauptinvestor sen im Kanton Luzern also rund 8000 Personen heisst Scheich Chalifa bin Zayid Al Nahyan und provisorisch ausbezahlte Prämienverbilligungen ist Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate. zurücküberweisen – Geld, das sie nicht haben, In seinem Land wird laut Amnesty International sonst hätten sie ja keine Prämienverbilligungen regelmässig die Meinungsfreiheit verletzt und es gekriegt. Diese scheinen dem Kanton, der sich wohl herrsche ein Klima der Angst. Er ist ausserdem am liebsten von Staatsaufgaben befreien würde, AU F G E L I S T E T Verwaltungsratspräsident des VAE-Staatsfonds Abu ein besonders ungeliebtes Stiefkind zu sein. Wur- Dhabi Investment Authority, der 450 Millionen den die Verbilligungen in der Vergangenheit doch Franken in dich hineinbuttert. Unser Regierungs- jährlich gekürzt – heuer nachträglich massiv. Die rat, der mit seiner rein männlichen Besetzung Einkommensgrenze, die zum Anspruch berech- Die Probleme des kleinen Man- auch etwas an abudhabische Zustände gemahnt, tigt, schob man Jahr für Jahr nach unten. Dank nes und wer schuld ist: beantragte am 5. September beim Kantonsrat dir, liebe Prämienverbilligung, hat’s der Kanton einen (bereits genehmigten) Sonderkredit von Luzern gar in «Die Zeit» geschafft. Das Zeugnis, Problem: Flüchtlinge 14,5 Millionen Franken für eine Verlängerung das der Regierung im Artikel ausgestellt wird, ist Schuld: Das linksgrünversiffte Saupack! der 1er-Buslinie bis just vor deine Betonfüsse. Der verheerend. Auch vor Ort geschehen Zeichen und letzte Baustein in einer Reihe von Politika, die Wunder: Die Krankenkasse Concordia übernimmt Problem: Das linksgrünversiffte Saupack bis ins vorige Jahrzehnt zurückreichen. Die Zuger die Kosten der bei ihr versicherten Betroffenen Schuld: Die Verweichlichung der Jugend! Beratungsfirma Creafactory war damals für das freiwillig, die CVP, die im Parlament zusammen Lobbying verantwortlich: «Die Herausforderung mit den anderen bürgerlichen Parteien sämtliche Problem: Die Verweichlichung der Jugend bestand darin, ein lokales kostspieliges Projekt so Abbaumassnahmen durchwinkte, forderte in ei- Schuld: Das Schulsystem! zu ‹verkaufen›, dass der Nutzen für den ganzen nem dringlichen Postulat, dass es künftig keine Kanton sichtbar wurde – und dies insbesondere Rückzahlungen in der Prämienverbilligung mehr Problem: Das Schulsystem in einer Zeit, in der ein Sparpaket dem andern geben darf. Immerhin ein handfester Lichtblick: Schuld: Bundesbern! folgt.» Zwischen 2004 und 2008 hast du drei Die SP lanciert eine Initiative gegen deine Zusam- kommunale Abstimmungen gewonnen. Die SP- menstreichung. Damit an dir nicht mehr nach Lust Problem: Bundesbern lerin Silvana Beeler erinnert sich gegenüber der und Laune herumgeschnippselt werden darf. In Schuld: Illuminati, Bilderberger und die «Woz»: «Ich wurde von einem Werbeprofi zu diesem Sinne: Operation tot, Patient gelungen. 77 Hottentotten! einem Gespräch eingeladen. Er sprach von einer drohenden Dreckkampagne gegen mich, in der Bisher unversehrt, 041 – Die Krankenkassenrevue Problem: Illuminati, Bilderberger und die Privates ausgeschlachtet werden sollte. Es war 77 Hottentotten ein Einschüchterungsversuch.» Wir freuen uns Schuld: Das eigene Weltbild! sehr, Mall of Switzerland, dass Scheich Chalifa bin Zayid Al Nahyan hier seine Ölmillionen und Problem: Das eigene Weltbild Meinungsfreiheitsverletzungen deponieren darf. Schuld: Flüchtlinge und das linksgrünver- siffte Saupack! Machtlos, 041 – Majalat Althaqafa 5
D O P P E LT E R F O K U S Grosse Alpabfahrt in Kerns, 30. September 2017 Bild oben Mischa Christen, rechte Seite Patrick Blank Die beiden Luzerner Fotografen Patrick Blank und Mischa Christen zeigen zwei Blicke auf einen Zentralschweizer Anlass, den «041 – Das Kulturmagazin» nicht besuchen würde. 6
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MEIER/MÜLLER BI DE LÜT Sehnsuchtsort Zentralschweiz (1) In der Schweiz aufzuwachsen ist schrecklich. Wenn man sich darüber beklagt, wird man jedoch sofort zu- rechtgewiesen. Man solle froh sein, denn die Schweiz sei ein reiches und schönes Land. Aber alles Geld der Schweiz kann die Langeweile, die ein Teenager hier aushalten muss, nicht gutmachen. Am schlimmsten ist es, wenn man im Berner Mittel- land aufwächst. Das Berner Mittelland ist der brutalste Ort für Jugendliche, jedenfalls für solche mit Niveau und einem Gespür für Ästhetik. Es ist der dümmste und hässlichste Flecken Erde, den die Schweiz zu bieten hat. Der hässlichste, weil alles grau ist. Grau, weil dies die Farbe des Nebels ist, der über allem schwebt, und dumm, weil sich die Erde widerstandslos und ohne aufzubegehren von den Mittelländer Bauern in gähnend langweilige Formen pressen lässt. Zum Glück hatte ich eine Brieffreundin im Thüringer Wald, der ich einmal wöchentlich über mindestens vier A4-Seiten mein Leid klagen konnte. Sie hatte im Kinder- und Jugendmagazin «TREFF» eine Annonce die Illusion von meinem Aufwachsen in einer Schweizer geschaltet: Eine gelangweilte Elfjährige mit den Inte- Märchenwelt zu nehmen. Es war also klar, dass ich diejenige ressen Schlafen, Fressen und Rumliegen suche ähnlich war, die den ersten Besuch tätigen würde. gelangweilte Jugendliche zwischen elf und sechzehn. Die Reise in den Thüringer Wald gestaltete sich aben- Das war 1995, als Freundschaften frustrierter Teenager teuerlich, damals waren das grosse Distanzen. Mit der tatsächlich noch über Chiffre-Nummern geschlossen Postkutsche dauerte die Reise eine ganze Woche. Zum wurden. Ich war gerade elf Jahre alt geworden und Glück gab es 1997 bereits Züge. Da ich von meinem bis zu hoffte, endlich jemanden gefunden zu haben, die meine C. H.s Wohnort sieben Stunden unterwegs war und fünf geistige Reife und das damit einhergehende Leid teilte. Mal umsteigen musste, mieteten meine Eltern ein mobiles Ihr Name war C. H.1 Sie wohnte in einem kleinen Kaff Telefon. Kaum war ich in den Zug eingestiegen, stieg das eine halbe Stunde von Rudolstadt entfernt. Rudolstadt Telefon aus. liegt zwischen Erfurt und Weimar. In C. H.s Briefen, auch sie schrieb einmal wöchentlich, wurde offensichtlich, Im zweiten Teil von Sehnsuchtsort Zentralschweiz: zwei Reisen, dass der Thüringer Wald genauso weltvergessen sein die das Weltbild einer Jugendlichen nachhaltig zerstörten – der musste wie das Berner Mittelland. Als wir mit dreizehn Thüringer Wald und die Zentralschweiz. Ausserdem: der Grund, noch immer beste Brieffreundinnen waren,2 beschlossen warum der Name von C.H. nicht genannt werden darf!3 wir, einander zu besuchen. Als C. H. schrieb, sie freue sich, endlich die Schweizer Aber zuerst eine Illustration von Sarah Elena Müller Berge zu sehen, das sei sicher voll abgefahren, wenn mit dem Titel «Jugend in der Ostschweiz». man hinter dem Haus skifahren könne, geschah etwas in mir. Aus irgendeinem Grund schaffte ich es nicht, ihr Text: Anaïs Meier, Illustration: Sarah Elena Müller 1 Weiter unten im Text wird ersichtlich werden, warum ich ihren Namen unmöglich ausschreiben darf. (Und nein, die Initialen sind kein Witz.) 2 Ich hatte noch mindestens zehn andere, viele tendenziell unsympathisch, die aber in exotischen Orten wie Trinidad und Tobago oder Vancouver wohnten (nur die Briefmarken zu sammeln wäre einfacher gewesen). 3 Sie ist heute berühmt! 8
LECHTS UND RINKS Den Freisinn verstehen (Lektion I) Hat die Luzerner Tiefsteuerstrategie tatsächlich 8000 Arbeitsplätze geschaffen, wie es Kantonsräte der FDP insinuieren? Die Antwort zeigt, wie frei Freisinnige mit Fakten umgehen. Am 8. September fand in Luzern der Akti- 4,4 Prozent gewachsen – und das ganz ohne Statistik weist auf einen anderen Faktor hin, onstag gegen das kantonale Abbauprogramm Tiefsteuerstrategie und obwohl die Wirtschaft der deutlich wichtiger ist: Das Wachstum bei Bildung, Sicherheit, Sozialem, Integration damals noch mit den Folgen der Finanzkrise der Beschäftigung konzentrierte sich auf und Kultur statt. Am gleichen Tag erschienen kämpfte. Das gleiche Bild in der statistischen die Zentren und die Hauptverkehrsachsen in der «Luzerner Zeitung» vier assortierte Periode zuvor: 2008 gab es sogar 6,3 Prozent von Luzern in Richtung Zug/Zürich und Leserbriefe von Kantonsräten der FDP. Die mehr Jobs als 2005. Bern/Basel. Eine zentrale Lage und eine gute vier freisinnigen Herren betonten alle, wie Als der «Tages-Anzeiger» vor zwei Jah- Erschliessung durch Strasse und Schiene gut die Tiefsteuerstrategie des parteilosen ren das Luzerner Wirtschaftsdepartement sind offenbar das wirksamere Mittel, um Finanzdirektors Marcel Schwerzmann doch fragte, welche grossen Arbeitgeber mit wie Arbeitsplätze zu schaffen, als es rekordtiefe funktioniere. Am 12. September stimmte vielen Arbeitsplätzen seit 2011 in den Kanton Unternehmenssteuern sind. auch die FDP dem Abbaubudget für 2017 zu, gezogen seien, erhielt er die Antwort: Es Blättert man im statistischen Jahrbuch genauso wie die CVP und die SVP. waren 15 Firmen mit 790 Arbeitsplätzen. zudem nach, in welchen Branchen die Zahl Ein Argument, das in der Leserbriefakti- Dafür waren allein 2013, im ersten Jahr der der Arbeitsplätze besonders stark gewach- on mehrmals angeführt wurde, war dieses: Tiefsteuerstrategie, nicht weniger als 724 sen sind, stösst man auf zwei Bereiche: Der «Viele Unternehmen kamen nach Luzern und Briefkastenfirmen nach Luzern gekommen – eine ist der Immobiliensektor, wo sich im brachten Arbeitsplätze», so Kantonsrat Franz also Unternehmen, die keine Arbeitsplätze Baugewerbe und im Grundstückshandel Räber, Emmenbrücke. Und Georg Dubach, schaffen, die die Steuerabgaben (und die ihrer ein grosser Jobzuwachs zeigte. Der andere Triengen, ergänzte: «Die Aussage, die Steuer- Kunden) offshore optimieren, die dafür der ist der öffentliche Sektor, wo im Bildungs-, strategie funktioniere nicht, überrascht mich Luzerner Staatsanwaltschaft einen «massiv Gesundheits- und Sozialbereich fast 3000 immer wieder. (...) Es entstanden 8000 neue höheren Aufwand» wegen Wirtschaftsde- neue Stellen entstanden sind. Auf tieferem Vollzeitstellen.» Und siehe da, die Zahl war likten bescherten, wie der Oberstaatsanwalt Niveau erzielte der Kultur- und Eventbereich sogar abgerundet: Zwischen 2011, dem Jahr, damals erklärte. übrigens ein noch höheres Wachstum: Hier als die Tiefsteuerstrategie beschlossen wurde, Selbst angenommen, alle 15 zugezoge- nahm die Zahl der Vollzeitjobs zwischen 2011 und 2014 nahm die Zahl der Vollzeitstellen nen Firmen seien ausschliesslich wegen der und 2014 um 305 oder um 14 Prozent zu. im Kanton Luzern um 4,6 Prozent oder 8081 tiefen Steuern nach Luzern gekommen: Die Den FDP-Kantonsräten ist in ihren Leser- Stellen zu. Quelle: Lustat Statistik Luzern. Arbeitsplätze, die sie mitbrachten, trugen briefen also ein ganz besonderes Kunststück Ist die Tiefsteuerstrategie also tatsächlich nur zu knapp einem Zehntel zum Beschäfti- gelungen: Sie haben für die Steuerstrategie eine Erfolgsgeschichte, zumindest, was die gungswachstum in Luzern bei. Neun Zehntel mit Arbeitsplätzen geworben, die sie im Schaffung von Arbeitsplätzen betrifft? Ein der neuen Arbeitsplätze wurden von ansäs- Grunde genommen eigentlich lieber abbauen tieferer Blick in die Statistik zeigt, dass dem sigen Firmen geschaffen, wozu die tiefen möchten. nicht so ist: Schon zwischen 2008 und 2011 Unternehmenssteuern als einer von vielen war die Zahl der Vollzeitstellen in Luzern um Faktoren beigetragen haben dürften. Die Text: Christoph Fellmann, Illustration: Raphael Muntwyler 9
B OA B E W E G T Und das ist diese Unruhe, dieser hellblaue Elch! Vor zehn Jahren musste die Boa schliessen. Was vor über dreissig Jahren begann, bewegt noch heute. Ein Abriss über die bewegte Geschichte des Kulturzentrums – und was davon geblieben ist. Von Hans Stutz 10
B OA B E W E G T I n dieser schwarzgrauen Nacht, genau am 5. November 2007 frühmorgens, hing der Elchkopf noch über dem Eingang zur Boa-Bar. Belegt ist auch: Als der montägliche Arbeitstag den Stadtlärm anschwellen liess, war Davix' einst blauer Kleister-Elch weg. Gelegentlich sollte er später wieder kurzzeitig auftauchen. Doch das Konzertzentrum Boa blieb geschlossen, für immer. Monate später gestand eine «Elchentführerin, anonym»: Sie seien lange nach dem letzten Konzert «hilflos überdreht und ziemlich betrunken» herum- gestanden. «Diese Situation verlangte nach einem letzten subversiven Akt.» Subversiv? Widerspenstig gegen wen? Und wann war das denn? Bei welcher Grosswetterlage der städtischen Politik? Immerhin gehört es zur Oral History, dass die Boa «erkämpft worden», ja sogar einmal «besetzt gewesen» sei, am ersten Juniwochenende 1988 nämlich. Nur: Diese kleine – gemäss Einschätzung der Organisie- renden «illegale, aber legitime» – Aneignung eines leeren Fabrikgebäudes dauerte, samt anschliessender Reinigung, nicht einmal 24 Stunden. Sie aktivierte gegen eintausend Interessierte, die schon kurz nach Mitter- nacht alles Bier, alle Weine und Schnäpse weggeputzt hatten, sodass die Organisieren- den «keine einzige Alkoholleiche» beklagen konnten. Borstiger Charme der Unruhe Doch die Boa war immer ein Zwitterding ge- wesen, einerseits eben kultureller Freiraum, angestossen von ein paar Jugendarbeitern in Ausbildung, die ein Abschlussprojekt um- setzten, erkämpft von vielen Kulturbewegten (auch) auf der Strasse und nächtelang rausch- haft verteidigt in der Boa-Bar, geführt von der konsequent demokratischen Bargruppe. Andererseits ein politisches Zugeständnis der städtischen Bürgerlichen, verwaltet von der AG Boa, später IKU Boa, gegründet hinter- rücks – wider die ersten Boa-Aktivisten – von der IG Kultur, mit unverzüglicher Ori- entierung des Stadtrates, damit dieser nicht böse werde. Dieser Verein wurde der Träger des Boa-Betriebs bis zum traurigen Ende. Der borstige Charme der Unruhe lebte weiter im Selbstverständnis der Bargruppe. Sie veranstaltete ab Herbst 1988 – lange vor Fest im alten Foyer. Bild: Georg Anderhub, ©Stiftung Fotodok der offiziellen Eröffnung – in der illegalen, aber geduldeten «Strafbar» Konzerte, Video- aufführungen und anderes. Sie sah sich als 11
B OA B E W E G T die einzig wahre Vertreterin des Boa-Geistes, «Veto-power»: Die Kraft, durch Referenden war weiter geschwunden, ein Baukredit ab- sie wollte Autonomie, «Freiraum für Expe- grosse Pläne scheitern zu lassen, wie es 1985 gelehnt in einer Referendums-Abstimmung rimente und spontane Aktionen». Sie warf bzw. 1987 die Promoter einer riesigen und («Partybunker»), gesammelt von der rechts- den IKU-Boa-Leuten vor, diese machten aus dezentralen Landesausstellung 1991 in allen nationalistischen Chance 21 , unterstützt von der Boa «ein bürokratisch verwaltetes Thea- Zentralschweizer Kantonen hatten erleben mindestens einem Boa-Gewerbetreibenden, terzentrum». Ein Vorwurf, den die Südpol- dürfen. ebenfalls Musiker. Betreibenden knapp zwanzig Jahre später Oder anders ausgedrückt: Für den teuren November 2007, das Kulturzentrum im ähnlich auch hören mussten. Neubau eines neuen Kunst- und Kongress- Umbau zum Briefverteilungszentrum: Doch Und doch war es ein Aufbruch, der die hauses mussten die «Nicht-Etablierten» damit enden «weder das Bedürfnis nach Stadt – sowohl politisch wie kulturell – von einbezogen werden. Für die neuen experi- Freiräumen noch die damit verbundenen intellektueller Enge wie der freisinnig do- mentellen Kulturformen (Alternativkultur) Konflikte», so die Herausgeber des Erinne- minierten Klientelwirtschaft befreite. Le- sollte, so die Empfehlung eines Expertenbe- rungsbuches «ein BOA Teil». Am sichtbarsten benslustig vorgelebt von Franz Kurzmeyer, richts, «die Boa-Liegenschaft erschlossen in der «Aktion Freiraum» und der gegen sie offiziell Stadtpräsident FDP. Er politisierte werden». Dies neben der Schüür und dem gerichteten unzimperlichen Polizeirepression (ebenfalls 2007), um den schönen Schein ei- Von rechten Stadtparlamentariern nes Fussballmafia-Events im KKL internatio- nal zu wahren. Der Geist der Boa-Bargruppe – argwöhnisch beäugt, da sie links und wie auch von Boanova – lebt weiter in «Boa im Exil» (siehe Artikel Seite 14) oder blühte Anlass jeden nächtlichen Furzes im kurzzeitig im besetzten Haus Gundula. Und Quartier sei. auch – wenn auch sozialverträglich domesti- ziert – im Neubad. Und wenn nicht domes- tiziert, dann prügelt der «LZ»-Chefredaktor lange Zeit gegen die Anfeindungen seines Kulturpanorama. Und so geschah es. Erst persönlich einen Pfui-Kommentar in den Herkunftmilieus und seiner Parteifreunde. viele Jahre später nannte man dieses Ergeb- Computer. Und wenn auch, die Unruhe Auch wenn die Bürgerlichen noch nicht nis «Kulturkompromiss». Eines aber blieb: bleibt! So gesittet, ja brav, wie in den ver- wissen konnten, dass dreissig Jahre später KKL und Lucerne Festival wurden finanziell gangenen dreissig Jahren agieren (jugend- ihre Dominanz in der städtischen Politik gehätschelt, der Boa-Betriebskredit reichte liche) Subkulturen nicht auf Dauer, selbst futsch war. gerade, um den Betrieb nicht gleich einstellen in Gesellschaften, die sozialen Ausgleich zu müssen. anstreben und kulturelle Vielfalt fördern. Geburt des Kulturkompromisses Und wer weiss, wann sich Jusos und Junge Die Bewegten und Bewegenden von 1968 Grösste Bedrohung verpennt Grüne wieder mit linker und radikaler Kritik und 1980 (Zürcher Bewegung/Wir sind die Die Boa war eine kulturpolitische Notwendig- auseinandersetzen müssen? Kulturleichen der Stadt) hatten Mitte der keit, aber sie blieb unbeliebt, schon bevor das 1980er-Jahre kaum Auftrittsorte – ausser noble KKL fertig erstellt war. Von Anwohnern Mehr Bilder: www.fotodok.swiss/wiki/Kulturzentrum_Boa ab Frühling 1981 das Musikzentrum Sedel bekämpft mit Anzeigen und Beschwerden, («... sonst sehen wir uns in der Altstadt die mit juristischen Eingaben gepiesackt von Schaufenster genauer an»). Beat Bieri, da- einer rechtsfreisinnigen Anwaltskanzlei. mals Redaktor und Bandmusiker, heute (Nein, nicht Kurt Bieder!). Von rechten Stadt- Filmemacher, schrieb 1985 zutreffend, es parlamentariern argwöhnisch beäugt, da sie gebe wohl keine andere Schweizer Stadt, links und Anlass jeden nächtlichen Furzes «in der es solche Schwierigkeiten bereitet, im Quartier sei. Doch das Heraufziehen der zu vernünftigen Bedingungen einen Saal grössten Bedrohung verpennten sowohl für Rock- und auch Jazzkonzerte zu finden die Stadtregierung wie das Parlament (alle wie in Luzern.» Fraktionen!) wie alle Boa-Engagierten: die Aus eigener Kraft hätten die unzufrie- Umzonung einer angrenzenden Baupar- denen Musiker, Kulturschaffenden und zelle von der Gewerbe- in eine Wohn- und -konsumenten den Mangel nicht ändern Geschäftszone (mit tatkräftigem Support können. Doch «tout Luzern» (Bürgerliche des Anwaltes Kurt Bieder / ab Herbst 2000 Politiker, Hoteliers, Kunstgesellschaft und Baudirektor FDP). Das Resultat: Ab 2002 Musikfestwöchler) wollte ab Mitte 1980er- standen drei Wohnblöcke, finanziert von Jahre ein grosses neues Haus für die Musik- Grossgrundbesitzer Jost Schumacher, mit festwochen / IMF (heute Lucerne Festival). über 100 Eigentumswohnungen. Später Und alle kulturellen Strömungen hatten, so schützte das Bundesgericht eine Lärmklage die gängige und zutreffende Einschätzung, von Anwohnenden. Die Akzeptanz der Boa Demo Boa-Abstimmung, August 1988. Bild: Georg Anderhub, ©Stiftung Fotodok 12
B OA B E W E G T Demo «Boa bleibt», 2003. Bilder: Jeanine Überschlag Boa-Demo, August 1988. Bild: Georg Anderhub, ©Stiftung Fotodok Interpretenfestival, Jahr und Fotograf unbekannt. Altes Foyer, 1989–94. Bild: Stephan Wicki 13 Automaten. Bild: Susanne Plattner
The Keatons in der Boa-Bar, zwischen 1994–1996. Bild: Joe Stefano N ach der letzten Veranstaltung in der Boa liegen sich frühmorgens die verbliebenen Besucher in den Armen. Teils weinend nehmen sie Abschied Die Boa ist zwar Geschichte, doch ihr Geist lebt weiter. von einem Ort, der für sie mehr war als nur ein Kulturzen- trum. Hier haben sie lange Jahre gefeiert, diskutiert und Es sind schätzungsweise 100 Konzerte, die das Boa-im- auch für dieses Haus gekämpft – bis zuletzt. Spätestens Exil-Kollektiv in den letzten zehn Jahren organisiert als an diesem Morgen Baumaschinen vor dem Gebäude hat: im Uferlos, Sedel, Neubad, in der Jazzkantine oder auffahren, ist das letzte Kapitel der Boa besiegelt. Doch an Orten, die es nicht mehr gibt, wie dem La Fourmi es gibt einen Epilog: Mitglieder der IKU Boa und der oder dem Frigorex-Areal. ehemaligen Betriebsgruppe gründen mit «Boa im Exil» Von Stefan Zihlmann ein Kollektiv, das mit unzähligen Konzerten den Geist des alternativen Kulturhauses auch zehn Jahre nach dessen Ende weiterträgt. Eugen Scheuch, ehemaliger Programmator der Boa, musste an diesem 5. November vor zehn Jahren mit wenig Schlaf auskommen. Am Abend stand in der Bar 59 das erste Konzert unter dem Label Boa im Exil auf dem Durch Programm. Mit der amerikanischen Blues-Folk-Combo Califone gastierte eine Band, die alle Attribute vereinte, die das Musikprogramm der Boa musikalisch ausmachte: reife, experimentelle, ernsthafte Rockmusik abseits Raum ausgetretener Pfade. Dieser Abend war der Startschuss für eine Konzertreihe, die sich das programmatische Erbe der Boa weiter auf die Fahne schrieb: Qualität und Innovation. Foyer in den letzten Tagen. Bild: Stefanie Simonet Doch Boa im Exil war kein Selbstläufer: «Kurz vor und Zeit dem Ende der Boa war bei uns die Luft draussen. Und doch hatten wir das Gefühl, es konnte nicht sein, dass alles an einen Ort gebunden ist. Es musste weiterge- hen», erklärt Scheuch, der Boa im Exil zusammen mit 14
B OA G E H T W E I T E R ehemaligen Boa-Aktivisten gründete. Die weiteren und dies zu einer Gage, die weit unter dem damaligen Mitglieder sind der ehemalige IKU-Boa-Co-Präsident Wert lag. Tom Burri, Andreas Gschwend, Christoph Kopp und Befragt man die Boa-im-Exil-Leute nach ihren die beiden Techniker Daniel Jutzi und Manuel Holliger. schönsten Erinnerungen der letzten zehn Jahre, werden Nebst Idealismus gibt es auch einen durch und durch ein Ort und eine Band unisono genannt: das Konzert pragmatischen Grund, dass Boa im Exil ins Leben gerufen von O’Death im Frigorex 2011. Hier kam zusammen, wurde: Die IKU Boa hatte immer noch Budget von der was Boa im Exil ausmacht: Aussergewöhnliche Bands Boa übrig. Und technisches Equipment. Daraus machte spielen an aussergewöhnlichen Orten. Kurz darauf Jutzi einen Material-Pool. Dies ermöglichte Konzerte an wurde das Areal abgerissen. Orten durchzuführen, die keine eigene Soundanlage besassen, Konzerte in Zwischennutzungen wie dem Weite stilistische Bandbreite Frigorex-Areal oder in der kleinen Bar im Romp an der Danach wurde es still um das Boa-im-Exil-Kollektiv. Steinenstrasse. Scheuch war nach Prag gezogen und eröffnete dort den Pilot Klub, wo er weiterhin Konzerte organisierte. Im Grosse Kiste dank offener Rechnung Sommer 2015 schloss der Klub und Scheuch kam aus Viele Konzerte fanden an Orten statt, die es heute nicht seinem selbst gewählten tschechischen Exil zurück. Ein mehr gibt, wie zum Beispiel das La Fourmi. Dessen Jahr später reaktivierte er das Label Boa im Exil wieder. Betreiber Dàire O’ Dùnlaing wusste nur zu gut, wie Und dies mit ganzem Körpereinsatz, davon erzählt eine es ist, wenn die Anwohner wegen grosse Narbe an seinem Arm, die er sich Nachtruhestörung die Polizei rufen. vor einem Jahr zuzog. Es geschah am So insistierte er an diesem Abend, Abend, als die Cumbia-Band Xixa aus dem 15. November 2008, mehrmals «Es ist ein Arizona in der Jazzkantine gastierte. Nach Alte Boa-Bar. Bild: Nique Nager bei Scheuch, dass um 22 Uhr Schluss sein müsse. Auf dem Programm stand Label, bei dem Konzert floss der Tequila in Strömen und es dröhnte «Killing In The Name» von die amerikanische Folk-Pop Band She- dem die Leute Rage Against The Machine aus den Boxen. arwater. Als das Konzert begann, war Scheuch rutschte auf einer Bierlache aus. das La Fourmi nahezu ausverkauft, die wissen, was Er brach sich dabei den Arm und musste Stimmung ausgelassen. O’ Dùnlaing ins Spital. Die Band tanzte weiter. Tags liess sich davon anstecken und sein sie erwartet.» darauf schrieb der Tourmanager auf Face- irisches Temperament flammte auf. Eugen Scheuch book: «After the show last night we were Als Shearwater um Punkt 22 Uhr rocking out to Nirvana and our promoter die Bühne verliessen, stürmte er in broke his arm.» Eugen schrieb zurück: «It den Backstage und rief der Band zu: was rage against the machine ...» Treffend «Hey Motherfuckers, go back on Stage!» Etwas perplex war auch die Analyse eines Bandmitgliedes kurz nach ging dann die Band nochmals auf die Bühne und spielte dem Unfall, das lapidar meinte: «That happens when eine Zugabe. europeans wanna dance.» Am selben Abend spielte im Südpol Bohren & der Seit April dieses Jahres ist Scheuch in einem 20-Pro- Club of Gore. Der Südpol hatte gerade seine Pforten zent-Pensum als Booker im Sedel angestellt. So finden geöffnet und Animositäten seitens der Alternativkultur nun dort vermehrt Konzerte unter dem Label Boa im Exil gegenüber dem Südpol gehörten noch zum herrschenden statt. «Es ist ein Label, bei dem die Leute wissen, was sie Ton. Ironie der Geschichte: Eben diese Bohren & der erwartet. Zwar hat es nicht mehr die ganz grossen Namen Club of Gore spielen diesen November im Rahmen des wie in der Boa, aber es sind immer noch Konzerte, die Boa-im-Exil-Jubiläums in der Zwischenbühne Horw. eine breite stilistische Bandbreite bieten: von Folk bis Auch wenn nicht mehr dieselben finanziellen Mittel Punkrock», fasst Scheuch zusammen. zur Verfügung standen wie zu Boa-Zeiten, für eine grosse Burri, Gschwend und Kopp hingegen haben sich Kiste reichte es dennoch. Nämlich im März 2009, als etwas zurückgenommen, helfen aber zeitweise immer nahezu 500 Besucher das Konzert von Animal Collective noch bei Anlässen mit, und dies wie früher als Ehren- in der Schüür besuchten. Eine offene Rechnung aus Boa- amt. Die beiden Techniker Holliger und Jutzi arbeiten Tagen machte es möglich, dass diese Band, die dazumal seit Jahren im Sedel, hocken aber noch immer hinter gerade den Zenit ihrer Karriere erreichte, nach Luzern dem Mischpult, wenn die Veranstaltungskarawane kam. Zwei Jahre zuvor hatte das Tour-Management weiter von Ort zu Ort zieht. Und das hoffentlich noch das schon bestätigte Konzert in der Boa abgesagt, aber viele Jahre lang. versprochen, bei der nächsten Tournee nach Luzern zu Boa im Exil: Boren & der Club of Gore, kommen. Und dieses Versprechen wurde auch eingelöst FR 3. November, 20 Uhr, Zwischenbühne, Horw 15
F E H LT D I E B OA? Kultur ist politisch Die Boa wird noch immer vermisst. Zumindest hört man das oft sagen – etwa an Konzertabenden, wo die Stimmung mal wieder am Brodeln ist. Auf einen breit gestreuten Aufruf, etwas zu zehn Jahre Schliessung zu planen, meldet sich hinge- gen fast niemand. Fehlt wirklich etwas in der Luzerner Kulturszene? Oder ist das Vermissen pure Nostalgie, Wehmütigkeit, die jede Erinnerung an Vergangenes um- schwebt? Von Orpheo Carcano D ie Boa wurde geschlossen und hinterliess of- gut funktionieren, sondern diese grundlegend verändern fensichtlich eine grosse Lücke. Nun hatten und einen Gegenentwurf entwickeln. Kulturtäterinnen und Kulturtäter zehn Jahre Zeit, diese Lücke zu schliessen. Und man kann kaum Mehr Ungehorsam und Unvernunft! behaupten dass dies nicht gelungen sei – wenn es um Auch in der heutigen Zeit wäre das Politische eine Inhalte geht. Luzern hat für seine bescheidene Grösse wichtige Aufgabe der Kultur. Wenn also etwas fehlt in ein erstaunlich reichhaltiges und breites Kulturangebot. Luzern, so ist es ein politisches Haus, das kollektiv ver- Neue Häuser wie Neubad und Südpol, die ganz anders waltet wird – ein autonomes Kulturzentrum. Gegenüber ticken als die Vermisste, bieten ein spannendes Kultur- solchen Strukturen sind viele Vorurteile vorhanden. Mag programm. Ältere Häuser wie Sedel, Kleintheater oder sein, dass eine Geschäftsleitung bisweilen effizienter ist. Schüür haben sich nicht grundlegend verändert, halten Aber das ist ja gar nicht die Frage! Man sollte aufhören, ihre einst gefundenen Werte hoch, wie ein Fels in der kulturelle Arbeit an wirtschaftlichen Massstäben zu Brandung der sich allgemein viel zu schnell ändernden orientieren. Klar ist es auch für ein Kulturhaus von Welt. Alle diese und viele andere Häuser leisten eine Vorteil, sein Budget im Griff zu haben, doch dies soll das fantastische Arbeit. Man kann sich fragen, ob Luzern Tun und Lassen nicht zu sehr beeinflussen und nicht nicht fast ein Überangebot an Kultur hat. Was fehlt nun das Mass aller Dinge werden. Finanzieller Erfolg ist also wirklich? Ein Mangel ist wohl schon eher in der überschätzt. Und viel Macht in wenigen Händen ist nicht Gestaltung von Hüllen zu suchen. Zu wenig Punkrock, erstrebenswert. Die Welt der Kultur soll eine Alternative zu wenig selber basteln und improvisieren. So dass die zur Welt da draussen aufzeigen. Daher ist es wohl ein Luft zum Atmen in einer überstilisierten und durchor- Missverständnis, ein Kulturhaus mit hierarchischen ganisierten Atmosphäre oft fehlt und Gäste zu reinen Strukturen zu betreiben. Konsumentinnen und Konsumenten werden – und Die Erkenntnis dieses wahren Mangels mündet in schon ist man bei strukturellen und politischen Fragen. einen Aufruf zu mehr Ungehorsam und Unvernunft, Die Boa entstand zu einer Zeit, wo unter dem Eindruck zum Überdenken bestehender Strukturen, zum Igno- der 1980er-Unruhen und dieser speziellen Anything- rieren marktwirtschaftlichen Denkens in der Kultur. Goes-Stimmung nach dem Ende des Kalten Kriegs Gerade in Zeiten, wo Sparen zur weit verbreiteten Mode eine besonders wohlwollende Situation anzutreffen und rechtes Gedankengut wieder salonfähig wird, ist war, kulturelle Projekte umzusetzen. Systemkritik am es wichtig, eigene Werte zu kreieren und zu etablieren Spannungsfeld von Kapitalismus und Demokratie hüben und sich nicht zu sehr auf die von Wirtschaft und Staat und eine Auseinandersetzung mit dem soeben begrabe- geprägte Ebene von Rentabilität und klarer Führungs- nen Realsozialismus drüben war für Kulturschaffende struktur einzulassen. unabdingbar. Die Bereitschaft, ein Haus zu besetzen, falls Verhandlungen nicht fruchten – also den Staat auf ein BOA Teil. die eigene Kommunikationsebene der Tat hinüberzu- Maniac Press, Luzern 2008. bewegen –, war selbstverständlicher. Dies wiederum 256 Seiten. Fr. 20.–. Bestellen via: info@maniacpress.ch hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Strukturen einiger Häuser. Weil Kulturarbeit politisch gedacht Orpheo Carcano war acht Jahre in der Boa aktiv als Konzert- wurde, entstand eine grosse Bereitschaft, im Kollektiv veranstalter, Barkeeper und vieles mehr, war im Redaktionsteam mit basisdemokratischen Strukturen zu arbeiten. Man des Buches «ein BOA Teil» und betreute das Archiv, das im wollte nicht einfach in der bestehenden Welt möglichst Frühling 2017 ans Stadtarchiv Luzern überging. 16
F E H LT D I E B OA? Demo «Boa bleibt», 2003. Bilder: Jeanine Überschlag Boa-Halle in den letzten Tagen. Bild: Tatjana Erpen 17 Alte Boa-Halle, 1989–1994. Bild: Stephan Wicki
E M I L U N D DA S K L E I N T H E A T E R Wie kommt man auf die Idee, ein Kleintheater zu gründen? Stumme Antworten von ... Emil Das Kleintheater wird in dieser Spielzeit 50 Jahre alt. Wir schauen mit Gründer Emil Steinberger zurück. Wortlos: fünf Fragen, fünf Gesten. Fragen: Ivan Schnyder, Bilder: Franca Pedrazzetti 18
War das eine gute Idee? Wie unterscheidet sich der Humor der Deutschen von jenem der Schweizer? Wann wird aus Kleinkunst grosse Kunst? Was wäre ein Tag ohne Lachen? Alle Fragen und Antwort-Bilder von Emil auf www.null41.ch Emil – No einisch!, SO 5. November, 19 Uhr, Luzerner Theater 19
P I N K PA N O R A M A Das lesbischwule Filmfestival Pink Panorama findet zum 16. Mal statt, die dazugehörige Pink Bar fei- ert ihr 10-Jahr-Jubiläum. Zeit, nachzufragen: Wie war das früher in der LGBT-Szene? Und wie steht’s um die nächste Generation? Samyra Mahler von Pink Panorama und Christian Sprenger von Queer Office geben Antwort. Gespräch: Anna Rosenwasser, Bilder: Mischa Christen «Die Mischung zwischen Unterhaltendem und Politischem macht’s aus» Das diesjährige Pink Panorama steht unter dem Motto «Next Generation». Vor wie vielen Generationen habt ihr selbst ange- fangen, euch aktiv im Bereich LGBT zu engagieren? Samyra Mahler: Ich bin schon fast zwanzig Jahre dabei: Damals gab es die Jugendgruppe «Why not», in die ich gekommen bin und wo ich bald mal selbst mitgewirkt habe. Christian Sprenger: Aktiv bin ich erst seit drei Jahren, und zwar bei Queer Office, einem Kollektiv, das sich für LGBT einsetzt. Dort verwalte ich unter anderem die Social Media und bin für die Home- page zuständig. Passiv dabei bin ich aber eigentlich – nun, mein ganzes Leben schon. Wenn ich so überlege, bin ich ja «Es gehört zum guten Ton, eine schwule Figur in einer Serie zu haben.» Samyra Mahler und auch dann Teil eines Aktivismus, wenn Christian Sprenger im Gespräch. ich in eine queere Bar gehe. So zeige ich, dass ich offen dazu stehe und das unter- stütze. Wie war es für euch damals, die erste Begegnung mit der LGBT-Szene? Mahler: Ich ging als Erstes zu LesBiSchwul Zug und war ziemlich nervös. Nach und nach baute ich mir im dortigen Treff eine zweite Familie auf, das war sehr wertvoll. Und es war ein schö- nes Gefühl, zu wissen, dass ich nicht die Einzige bin. Das zeigte sich beispielsweise auch an den Eurogames (lesbischwules Sportereignis, Anm. d. Red.), die 2000 in Zürich stattfanden. Wenn du im Tram sassest, waren um dich rum eigentlich nur Lesben und Schwule … 20
P I N K PA N O R A M A Sprenger: Mein erster Berührungspunkt Sprenger: Einerseits, klar, soll es unter- bewusst einen schmalen Grat, wie schon war, da war ich so um die zwanzig Jahre halten. Dafür sind Filme gemacht. Wenn früher David Bowie. alt, ein Wochenende für schwule Jugend- man aber einige Jahre zurückdenkt, gab Sprenger: Wenn ich beispielsweise an liche in Köln. Ich komme aus einem klei- es auch Nachrichten und Informationen Star Trek denke: Vor 40 Jahren wäre die nen deutschen Dörfchen, und dieser erste im Kino, und das bringen wir gewisser- Thematisierung von Homosexualität noch Ausflug war natürlich speziell: Einerseits massen auch wieder: LGBT-Kino ist mit undenkbar gewesen, und im Film letz- kommst du in einen Raum hinein, wo eine Art der Information, weil die Filme tes Jahr haben sie ein Homo-Statement du noch niemanden kennst, andererseits ja einen spezifischen Inhalt haben; es sind gesetzt – ich hoffe, ich spoiler damit jetzt konnte man sich prima öffnen, hatte nicht einfach irgendwelche Actionfilme. nicht zu sehr. gemeinsame Gesprächsthemen und Work- Mahler: Bei Pink Panorama ist es uns shops wie auch Filme. Dieses Wochenende sehr wichtig, dass die Menschenrechte Welches sind eure Lieblingsfilme im LGBT- war dann auch gleich das erste Erlebnis, angesprochen werden, um zu zeigen, dass Bereich? wo ich gemerkt habe, dass ich gar nicht so nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist. Sprenger: Mein Lieblingsfilm, mit dem verkehrt bin. Die Mischung zwischen Unterhaltendem ich mich selbst auch das erste Mal identifi- und Politischem macht’s aus. zieren konnte, war «Beautiful Thing». Da Von Köln nach Luzern – Christian begegnen und verlieben sich zwei Nach- Sprenger, wie war der Vergleich der LGBT- barsjungs und müssen mit den ganzen Szene für dich? Schwierigkeiten zurechtkommen. Es ist Sprenger: In Köln habe ich sieben Jahre «Es ist ausserdem mein Lieblingsfilm, weil ich eine Bezie- gewohnt. Sie zählte damals als Schwulen- wichtig, in möglichst hung dazu habe; es war mein Coming- hauptstadt Deutschlands, da waren natür- out, für mich persönlich. lich Organisationen und Lokalitäten ohne vielen Städten zu Mahler: Lustig, meiner war auch «Beauti- Ende vorhanden, da ist Luzern schon etwas anderes. Vom Verhältnis her wird zeigen, dass wir keine ful Thing»! Momentan ist es effektiv auch «Moonlight», der ist genial gespielt – und hier aber einiges angeboten; was letztlich Randgruppe sind, um Sex selbst steht da nicht so im Vorder- noch fehlt ist eine Art von Gaybar, die es grund wie etwa bei «Brokeback Moun- in Städten wie Zürich gibt. Berührungsängste tain». Oh, und natürlich «Carol»! abzubauen.» Mit Pink Panorama hat Luzern ein Worauf freut ihr euch neben den Filmen queeres Filmfestival. Städte wie Zürich, Samyra Mahler noch? Frauenfeld, Basel und Bern haben das. Ist Sprenger: Am 11. November veranstalten das zu viel – oder noch immer zu wenig? wir vom Queer Office für und mit Pink Mahler: Für mich steht die Qualität im Nicht nur die Filme sind Teil des Pink Panorama die Filmfestival Party – eine Vordergrund. Bei den zahlreichen Open- Panorama. Die Pink Bar feiert ja auch ihr Kostümparty mit dem Thema Film; man Air-Kinos und Festivals spricht ja auch 10-Jahr-Jubiläum. Was hat es damit auf kann sich also gerne so verkleiden wie niemand davon, dass es zu viele sind. sich? der Charakter, den man schon immer mal Es ist ausserdem wichtig, in möglichst Mahler: Wir wollen einen Treffpunkt vor sein wollte. vielen Städten zu zeigen, dass wir keine und nach den Filmen bieten – mittler- Mahler: Am nächsten Abend später feiert Randgruppe sind, um Berührungsängste weile ist es sogar ein Treffpunkt während die Pink Bar Jubiläum, worauf ich mich abzubauen. Deshalb haben wir auch so der Filme, manche kommen was trinken besonders freue. Nicht zuletzt freue ich ein Glück mit dem Bourbaki: Kinobesu- und gehen dann wieder nach Hause, ohne mich auch darüber, dass die Stadt Luzern cherinnen und -besucher kommen auch Kino. Ausserdem ist die Pink Bar im Foyer uns 2016 den Werkbeitrag zugesprochen dann in Kontakt mit dem Pink Panorama, des Bourbaki, ein eher offener Raum, wo hat. Anhand solcher öffentlicher Aner- wenn sie sich einen anderen Film ansehen man auch einfach mal neugierig rein- kennung sieht man auch, wie wertvoll der oder an unserer Bar Getränke bestellen. schnuppern kann. Die Pink Bar ist ausser- Austausch zwischen der LGBT- und der Das macht es so spannend! dem eine Plattform für die verschiedenen Heterowelt ist – gerade in Zeiten der AfD, Sprenger: Es mag so aussehen, als wäre LGBT-Vereine aus der Zentralschweiz. von Trump und diskriminierenden Initi- es viel, aber übers Jahr zusammengefasst ativen hierzulande. Deshalb ist es auch sind es nicht mehr so viele – auch, wenn Sind populäre Filme und Serien denn auch wichtig, dass wir verschiedene Filmfesti- man die Anzahl Leute bedenkt, die in queerer geworden? vals haben, die klarmachen: Wir sind da, Luzern wohnen. Mahler: Es gehört zum guten Ton, eine wir haben ein Recht auf eine Stimme und schwule Figur in einer Serie zu haben, ein Recht auf Liebe. Hat das Pink Panorama neben dem Unter- etwa bei «How I Met Your Mother» oder Pink Panorama, DO 9. bis MI 15. November, haltungswert auch einen politischen «Big Bang Theory». Aber auch Künstlerin- Stattkino, Luzern Aspekt? nen wie Lady Gaga und Madonna gehen www.pinkpanorama.ch 21
Freiheit und Gleichgewicht Am 19. November erhält Peter Roesch den Luzerner Kunstpreis 2017. Das Werk des 1950 Geborenen zeugt von einer subversi- ven Skepsis jenseits vertrauter Muster. Im Dezember ist Roesch im dritten Teil der Ausstellung «Fortsetzung folgt – 140 Jahre Bild: Clemens Klopfenstein HSLU D&K» vertreten. Von Niklaus Oberholzer 22
K U N S T- U N D K U LT U R P R E I S 2 017 «p.s. Ich suche ein grosses Atelier ich habe viel vor», so Doch lässt die Freiheit alles offen? Überall sind in schrieb mir Peter Roesch 1981 auf der Rückseite einer der Sache begründete, aber auch freiwillig sich selbst Karte mit der mit heftigen Bleistiftstrichen überzeich- auferlegte Begrenzungen, zum Beispiel durch das einmal neten Abbildung eines grossen Wal-Gemäldes, das er gewählte Format oder durch die Technik: Öl will etwas damals in Luzern zeigte. Ich konnte ihm kein grosses anderes als Eitempera. Es sind Begrenzungen durch Atelier vermitteln. Es fand sich allerdings bald. Und viel die erste Farbwahl, die einer zweiten Wahl ruft, durch vor hatte er stets, bis heute. Karten liess er mir weiterhin die erste Pinselsetzung auf die Leere der Leinwand, die zukommen. 1991: Übers Kleinformat ziehen sich in jede weitere Setzung lenkt und die Freiheit der Leere spontaner Bewegung viele schwarze und einige goldgelbe durchkreuzt. Linien; hier werden sie beinahe von schwarzen Wolken Es sind zudem, wichtiger noch, Begrenzungen durch überdeckt, dort liesse sich ihr Gefüge, so man will, als jene andere Konstante, die ich in Peter Roeschs Arbeiten menschliches Gesicht lesen. 1996: Eine schwarze Figur sehe – durch das Suchen nach dem Gleichgewicht, das zeichnet eine Linie übers kleine Papier – vielleicht ein die Arbeiten stets in Balance hält, und das Willkürliche, Selbstporträt des Künstlers als Zeichner. das mit Freiheitsdrang verbunden ist, in einen übergrei- Was ist das Kennzeichen von Peter Roeschs Malerei? fenden Zusammenhang fügt. Roeschs Malereien und Ich verfolge seine Arbeit, wenn auch nicht immer gleich Zeichnungen sind bei allem Aufbrechen nicht ungestüm, intensiv, seit vielen Jahren. Es gibt da verschiedene und, bei allem spontanen Greifen nach Neuem, nicht Brüche und Neuanfänge und Rückgriffe. Er arbeite- wild. Peter Roesch entwickelt in stetem Pendeln zwischen te figurativ, aufgrund von im «Spiegel» publizierten Freiheit und Ausgewogenheit seine unverwechselbare Pressefotos zum Beispiel. Er bezog Antikes oder Kunst Handschrift jenseits vertrauter Muster. Selbstbewusst der Renaissance in seine Arbeit ein, beschäftigte sich macht er damit Verletzlichkeit und Dünnhäutigkeit seines mit dem Motiv der Drei Grazien oder mit Piero della Tuns deutlich – und, so denke ich, auch ein ständig sich Francescas «Madonna del Parto» und schrieb sich so in veränderndes Fliessen prekärer menschlicher Existenz. die Entwicklungslinie der Kunst ein. Ich kenne Infor- Vielleicht ist das jenes Kennzeichen seiner Kunst, melles, das jede Ahnung von Les- und Benennbarem nach dem ich suche. Ich sehe es als Kennzeichen, das ausschliesst und uns als Betrachter auf eine Reise der mit subversiver Skepsis über den Bereich der Kunst hi- Fantasie schickt. Peter Roesch zeichnet und malt seit nausführt in ein gesellschaftliches Bewusstsein. Schön, Jahrzehnten, doch stets sind seine Zeichnungen male- dass die Stadt Luzern gerade diese künstlerische Haltung risch und seine Malereien Zeichnung. Und seit vielen mit dem Kunstpreis würdigt. Jahren lässt er in Zusammenarbeit mit Architekten deren Räume zu Farbräumen werden. Doch ich sehe Konstanten – nicht im Sinn einer stilistischen Entwicklung, nicht im Sinn eines einer inneren Logik folgenden Fortschreitens von einem zum anderen. Und, obwohl er sich über längere Zeit mit einer bestimmten Farbe, mit Orange zum Beispiel, beschäftigte, auch nicht in bestimmten koloristischen Vorlieben und nicht einmal in dieser oder jener Technik. Peter Roesch (*1950) lebt in Luzern. Er besuchte die Bildhauerklasse der Schule für Gestaltung in Luzern, war 1975–77 Mitglied des Istituto Svizzero in Rom und lebte 1984–1995 in Paris. Ab 1999 Dozent für Malerei und Zeichnung Jenseits vertrauter Muster an der Ecole supérieure des beaux-arts in Genf, 2005–2015 mit Caroline Bach- Als eine prägende Konstante sehe ich die Sehnsucht nach mann Leiter des Ateliers Malerei und Zeichnung an der HEAD (Haute école d’art einer Freiheit, die dem Künstler alles offen lässt. Es ist das et de design) in Genf. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland, Künstlerbü- Bekenntnis zum steten Fluss ohne einen vorhersehbaren cher (zum Beispiel «Bevagna» in den Edizioni Periferia Luzern, 2004). Ausgang, zum Gang ins Ungewisse, das Scheitern inbe- griffen. Da ist meist kein Gegenstand, den Peter Roesch sich zu malen zum Ziel gesetzt hat. Vielmehr kann ein In der Kunstplattform Akku ist Peter Roesch mit neuen Werken im drit- Beginnen allenfalls zu einem erkennbaren Gegenstand ten Teil der Ausstellung «Fortsetzung folgt – 140 Jahre HSLU D&K» ver- führen – zum Ansatz eines Gesichts zum Beispiel auf treten. der erwähnten kleinen Karte. Vielleicht auch nicht. SA 9. Dezember bis SO 7. Januar, Kunstplattform Akku, Emmenbrücke Benennbares zu identifizieren bleibt ohnehin unsere Vernissage: FR 8. Dezember, 18 Uhr Sache: Ich kann den Strich – auf der zweiten erwähnten Karte – weiterdenken, wie ich will. 23
GÖSCH EN EN Das historisch wertvolle Bahnhofbuffet in Göschenen wird nur spora- In der Biaschina lassen sich, wie bei einer archäologischen Grabung, die disch genutzt, wie am Symposium «Eine Zukunft für die Verkehrsland- wichtigsten Entwicklungsschritte der Linie ablesen: die ursprüngliche schaft Gotthard» im September 2013. Bild: Milan Rohrer Linienführung, Ausbau auf Doppelspur, Elektrifizierung, Neubau der Brücken. Bild: ZHB Luzern Die Gotthardlinie als Denkmal Mit dem neuen NEAT-Tunnel ist man gut dreissig Minuten schneller im Tessin. Wird die alte Gotthard-Strecke dabei obsolet? Es gibt Bestrebungen, sie fürs Unesco-Welterbe vorzuschlagen. Doch der Bund zaudert. Von Kilian T. Elsasser Mythen wie die Sage der Teufelsbrücke oder des Schmieds mit der Erschliessung von Göschenen/Andermatt und der von Göschenen verklären den Gotthard zum immerwäh- Leventina oder als Denkmal rechtfertigen. renden schweizerischen Schicksalspass. Dabei wären diese Die Gotthardbahn ist ein Bauwerk von «Outstandig Geschichten ohne Eisenbahn kaum noch bekannt. Die Universal Value». Neben der herausragenden technischen Gotthardlinie machte aus dem regional bedeutenden Pass Leistung ist das Bauwerk wegen der grossen Bedeutung für die wichtigste Alpentransversale Europas. Gemäss Guy die nationale Identität der Schweiz weltweit einzigartig. Marchal (Schweizer Gebrauchsgeschichte, 2007) wurde der Als Denkmal ist die Gotthard-Bergstrecke in wesentlichen Pass deswegen zum Inbegriff des schweizerischen Staates, Teilen erhalten. Die Linienführung entspricht dem Zustand die Schweiz zum «Gotthard-Staat». Die Gotthardbahn- der Eröffnung von 1882. Zudem sind die Kehrtunnels und Gesellschaft machte die Linie zur wichtigsten Tourisms- der Scheiteltunnel von Göschenen nach Airolo herausra- attraktion der Schweiz. Sie führte die Touristen an der gende Bauwerke. Mit der Elektrifizierung entstanden die Wiege der Schweiz vorbei über das technische Wunderwerk Kraftwerke in Amsteg und Ambri-Piotta im Heimatstil sicher durch die wilden Alpen in den Süden. Im Zweiten der 1920er-Jahre. Die SBB ersetzten die Stahlfachwerk- Weltkrieg war die Linie neben dem Bankenwesen einer der brücken mit Betonbogenbrücken, die sie zur Integration beiden Hauptgründe, dass die Schweiz nicht besetzt wurde. in die Landschaft im Norden mit Granit und im Süden Mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels 2016 wird der mit Gneis verkleideten. Weil diese Schichten wie bei einer Mythos einerseits weitergeführt, andererseits die Grundlage archäologischen Schichtung noch heute ablesbar sind, des Mythos, die Gotthardlinie von 1882, infrage gestellt. das heisst auch die Authentizität des Bauwerks gegeben Die grossen Kosten für den Unterhalt der Eisenbahninfra- ist, kam der Bund 2014 in Zusammenarbeit mit den SBB struktur von rund 35 Millionen Franken lassen sich kaum und den Kantonen Uri und Tessin zum Schluss, dass die 24
A I RO L O Gotthard-Bergstrecke die Qualität hat, als Unesco-Welterbe den Vermarktungsbereich von Andermatt-Tourismus. In eingeschrieben zu werden. Der Bundesrat stellte aber auch der Leventina ist die Wanderung von Dazio Grande durch fest: «Mit der Kandidatur der Gotthard-Bergstrecke für die Monte-Piottino-Schlucht nach Faido zu empfehlen. Sie das Welterbe würde sich die Schweiz verpflichten, deren ist das wenig bekannte Pendant der Schöllenenschlucht. Bestand und Betrieb langfristig zu sichern.» Darum will In Biasca ist im ehemaligen Depot ein Swiss Railpark St. der Bund nicht vor 2025 einen Antrag stellen. Er will Gotthard geplant. Bis anfangs Januar 2018 läuft im Castello abwarten, wie die Kantone und die SBB die touristische Sasso Corbaro in Bellinzona die Ausstellung «Staunen statt Vermarktung der Linie vorantreiben. In der Zwischenzeit stauen – die Gotthardbahn». Wie diese ersten Projekte dürfen die SBB keine Massnahmen ergreifen, die eine beim Publikum ankommen, wird aufzeigen, wie sich die Bewerbung als Unesco-Welterbe gefährdet. Gotthard-Bergstrecke zur Panoramastrecke entwickelt und wieder ein touristisches Schwergewicht werden kann. Lichtblicke und Schatten 2017 konnte ein erster Versuch, die Strecke mit ei- Die Linie verdient es, als Denkmal erhalten, möglichst oft nem wenig benutzerfreundlichen Angebot der SBB einen betrieben und als Unesco-Welterbe vermarktet zu werden. langsamen Tod sterben zu lassen, abgewendet werden. Die Die Gotthard-Bergstrecke verbindet auf ideale Art und Weise Südostbahn führt voraussichtlich ab 2020 wieder direkte die Ursprünglichkeit der vorindustriellen Kuhschweiz der Züge von Basel und Zürich in das Tessin. Offen ist, ob der wilden Alpen mit der Industrieschweiz der Innovation, Kanton Uri es in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für des Wagemuts und der Verbindung nach Europa. Das Strassen Astra schafft, mit den für die zweite Strassenröhre Baudenkmal ist seit der Eröffnung des Basistunnels nicht in Göschenen geplanten Arbeiterunterkünften zur nach- mehr Lastesel der Nation, sondern muss sich langsam haltigen Entwicklung der Gemeinde beizutragen. Ein erster zum Roller Coaster entwickeln, der einzigartige Erlebnisse Vorschlag sieht vor, bis zum Baubeginn 2020 ein Arbeiterdorf und Einblicke in die Alpenwelt bietet sowie Andermatt und eine Betriebskantine zu bauen. Neu-Göschenen soll mit der Lombardei und dem Mittelland verbindet. Seit am Ausgang des Dorfes gegen die Göscheneralp gebaut 2017 fahren die SBB im Sommerhalbjahr mit dem Pano- werden. Dabei stehen in Göschenen mehrere Häuser leer. ramaexpress über den Gotthard. Von Flüelen fahren sie Es wurde bis jetzt nicht geprüft, ob die Kantine im leer direkt in das Tessin. Eine App und eine mässig gelungene stehenden geschichtsträchtigen Bahnhofbuffet eingerichtet Lichtschau im Tunnel setzen die Linie in Szene. Uri Tou- werden kann oder wie beim Bau des Brenner-Basistunnels rismus entwickelte in Zusammenarbeit mit Erstfeld, den bestehende Hotels als Unterkünfte genutzt werden kön- SBB und SBB Historic erste Angebote für Eisenbahnfans nen. Die Nutzung bestehender Bauten würde es möglich und für ein breites Publikum. Auf der Homepage www. machen, in diese zu investieren und sie nach Abschluss tunnel-erlebnis.ch werden diese vermarktet. In typisch weiter zu nutzen. Es wäre eine wirtschaftlich interessante schweizerischer Folklore erscheinen darauf leider keine Gelegenheit, das Ortsbild von nationaler Bedeutung in Angebote von Wassen (Steinbruch Antonini) und Gö- Göschenen nicht zur Ruine verkommen zu lassen, dass schenen (Rundgang Gotthardtunneldorf). Sie gehören in der Mythos nicht wahr wird – dass Göschenen nur ein Synonym für Stau ist. … ein Leben lang Bilder schreiben. Die Monografie Bilderwelten – Künstlerische Reflektionen von Konrad Abegg ist erschienen. Das Buch umfasst 336 Seiten mit 553 Abbildungen und ermöglicht einen umfassenden Einblick in das Kunstschaffen des Künstlers. Herzliche Einladung zur Ausstellung und Buchpremiere: Sonntag | 12. November 2017 | 11 Uhr Kunsthalle Luzern | Bourbaki Panorama | Löwenplatz 11 | Luzern Infos: www.konrad-abegg.ch ANZEIGE Bestellungen: info@edition-abegg.ch | ISBN 978-3-033-06275-7 25
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