Ist das kunst Oder kitsch? - null41
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ist das kunst oder kitsch? Es ist Kitsch. Der Sammler dahinter ist dafür umso interessanter. ein besuch in luzerns zweitem kkl. Monatszeitschrift für Luzern und die Zentralschweiz mit Kulturkalender poesie, die rockt patti smith im interview Beethoven, roll over findet die klassische musik künftig noch publikum? NO 10 Oktober 2014 CHF 8.– www.null41.ch 10 9 771424 958000
Hier spricht ANZEIGEN der Autor! Pedro Lenz, Franz Hohler, Peter Bichsel, Guy Krneta, Michael Fehr, Matto Kämpf, Nora Gomringer, Bern ist überall, Manuel Stahlberger, Arno Camenisch, Gabriel Vetter, Stefanie Grob, Niko Stoifberg, Heike Fiedler, Die Gebirgspoeten, Jens Nielsen, Michael Stauffer u.v.a. Bücher und Hörbücher im Luzerner Verlag Der gesunde Menschenversand. Ein Film wie ein Netz aus GoldfädenEMMEN FELDHÄUSERKunstgriffe – – Märchenhafte Aktuell: Bücher von Pedro Lenz, Guy Krneta, Kein falscher Ton, kein flaches Bild. SRF KULTUR, MICHAEL SENNHAUSER Matto Kämpf und Rolf Hermann. /cure.film Ab 23. Oktober im Kino Mit “Emmen Feldhäuser” wird eine architektonisch und städtebaulich einmalige Überbauung mit einer grossen Bandbreite unter- schiedlichster Wohntypen im Eigentum realisiert. Insgesamt werden 95 Einheiten in 16 unterschiedlichen Typen angeboten. Neben räumlich spannenden Etagenwohnungen unterschiedlicher Grösse in kleinen Mehrfamilienhäusern, stechen vor allem die mehrge- schossigen Einfamilienhäuser ins Auge, bei denen sich auf je 2 – 4 Geschossen individuelle Wohnwelten entfalten. Freiräume - Als Kontrast zum öffentlichen parkartigen Freiraum zwischen den Baufeldern wird im Hof eine L Gärten entwickelt. Ein lockerer Obsthain, bestehend aus zahlreichen edlen und alten Obstsorten (Pro Specie wie atmosphärische Gerüst des Hofes. Jeweils ein Obstbaum gehört zur Grundausstattung jedes einzelnen Ga Beitrag an das Kollektiv. Die Obstbäume finden sich aber auch im gemeinschaftlichen gassenartigen Freira www.menschenversand.ch privaten Gärten aufspannt und über vier Wege mit dem öffentlichen Freiraum verbunden ist. Die durch Garte Mittels einer einfachen Transformation, dem Kippen einer Etagenwohnung, entsteht ein Einfamilienhaus mit hoher individueller geprägte Gasse oszilliert zwischen Innen- und Aussenraum und ist Ort der Begegnung und der Nachbarsch Wohnqualität. Die Bewohner kommen in den Genuss, keine Nachbarn über oder unter sich zu haben. Ausserdem erhält jeder seinen Nutzung (Früchte) haben die Obstbäume aber vor allem auch eine starke assoziative Qualität, die im dichten Ga eigenen Hauseingang, Garten, Dachterrasse und Keller. Die Gartenhäuser im Inneren des Blocks, haben ihre Adresse aber ebenfalls Obstwiesen in der nahe gelegenen Kulturlandschaft erinnern. Die Dächer aller Häuser werden ebenfalls in das an der Vorderseite der Ringbebauung. gen, bei den Einfamilienhäusern mit privater, bei den Mehrfamilienhäusern mit gemeinschaftlicher Nutzung geht nicht. Städtebau - Der Reichtum des Raumangebots findet in der Fassaden- und Freiraumgestaltung sowie in der Setzung der klein- massstäblichen Gebäudemassen seinen Ausdruck. Mit dem Freiraumkonzept “Cadrage” der Landschaftsarchitekten Rita Illien Die Farbgestaltung zieht sich dabei auch durch die Gestaltung des öffentlichen Raumes. Bespielungen der W und Klaus Müller wird die Vorstellung eines Strassenraums als weiträumig angelegte “Parklandschaft” uminterpretiert, welche schiedlichste Interaktionen zwischen öffentlichem und privatem Raum. So lassen sich zum Beispiel Fensterö Baufelder und Blöcke umgibt. Somit gibt es die laute Strassen- und ruhige Hofseite, typischer Blockrandbebauungen nicht mehr. zum Tischtennis spielen nutzen. Auch Bänke und Tische als Teil der Wände bereichern den öffentlichen Raum. Ein ungewöhnlicher Ansatz, welcher Potenziale für eine frische Deutung von öffentlichem und privatem Aussenraum und deren Beziehung zum Wohnen eröffnet. Wohnungen und Bewohner - Da eine grosse Bandbreite unterschiedlicher Bewohner angesprochen werden Mit den Feldhäusern wird dieser Ansatz aufgegriffen und weiterentwickelt. Statt einer Blockrandbebauung mit seriell wiederholten einer Hauptnutzfläche von 30 – 130 m2 in verschiedenen Segmenten und Ausbaustandards angeboten. Mehr Vreudeder Hauseingängen und übereinandergestapelten Wohnungen, der augenscheinlichsten Lösung, wird der Typus des “durchlässigen wohnungen, sind vorzugsweise in den begehrten Baufeldecken angeordnet, wodurch sehr helle, zweiseitig be und bespielten Blocks” eingeführt. Dieser kommt einer durchmischten Siedlung gleich, welche gleichzeitig die Vorgabe der abge- hen. Ähnlich den Einfamilienhäusern, werden auch Gartenhäuser angeboten, welche in die Gartenlandschaft g schlossenen Baufelder respektiert und sich in den Kontext einbindet. Es entsteht eine städtebaulich klarer Blockabschluss, des- ausgerichtet sind. Die pflegeleichten Wohnungen sind barrierefrei und werden gemäss SIA 500 behindertenge sen Fassaden die Lebendigkeit der Innenwelt nach aussen abbilden. Die Farben der unterschiedlichen Häuser unterstreichen die Die Einfamilienhäuser sind als autarke Einheiten konzipiert. Hierbei werden die Vorzüge, welche allgemein entw individuelle Vielseitigkeit der Siedlung. tum oder mit Einfamilienhäusern assoziiert werden, hybridartig kombiniert: Zentrumsnähe, günstiger Kaufpreis Der vorgestellte Hybrid, welcher sich sowohl an ländlichen, als auch städtischen Typologien bedient, nimmt direkten Bezug auf die Privatsphäre, Wohnen auf mehreren Geschossen, ein eigener Garten und Nachbarschaft statt Anonymität. historischen Siedlungsstrukturen des Kantons Luzern. Gemeinden / Städte wie Beromünster, Willisau oder Sursee zeigen, dass Die Häuser verfügen über zwei private Hauseingänge – im EG und in der Einstellhalle–, einen Keller und e eine hohe Bebauungsdichte mit Mehr- und selbst mit Einfamilienhausstrukturen auch im weniger urbanen Kontext hohe räumliche man in die 2 – 4 Geschosse und auf die Dachterrasse gelangt. Auch diese Einheiten sind SIA 500 konform, mi Qualitäten, spannende Querbezüge und nachbarschaftliche Nähe erzeugt. – Passende Vorbilder für Emmen und ein sympathischer Wohngeschoss sowie umrüstbaren Treppen, je nach Bedarf. Die 12 Typen unterscheiden sich in Grösse, Dimens an Eingang ins Feldbreitequartier. Fassade, Ausrichtung und Ausstattung deutlich. Sie sind zudem über den gesamten Block verstreut und so glei Ring aus Mehrfamilienhäusern Ring aus Einfamilienhäusern mit Verdichtung. doppelseitiger Orientierung Aufbrechen des Blocks zur Adressbildung Auffüllen des Innenraums mit individuellen für Wohnraum im grünen Innenhof kleinen Einfamilienhäusern Vo r t r a g v o n W i n y M a a s , M V R D V Winy Maas – das M im international am bekannten Holländischen Architekturlabel 13. Oktober MVRDV – spricht über Urbanismus, Leben 2014 zwischen Dichte und Erholung und sein im KKL Projekt FELDHÄUSERMVRDV in Emmen. Auditorium Am Montag, 13. Oktober 2014, 18.00h Im Auditorium des KKL Luzern Mit anschliessendem Umtrunk Keine Anmeldung erforderlich. Wir freuen uns auf Ihr zahlreiches Erscheinen! Hochschule Luzern Technik & Architektur | MVRDV | GKS Architekten Senn Development | Nederlandse Ambassade 0 1 5 10 N 0 5 10 20 Situationsplan M 1:500
editorial Kuriose dinge Immer wieder mal steht man vor der Entscheidung: Das kulturelle Leben in Stadt und Land ist derweil Behalte ich das oder werfe ich es weg? Die schöne in vollem Gange. Und in Luzern findet diesen Monat Kuchendose aus New York, die Brosche vom Urgrosi, eine Premiere statt: Hier steigt das erste Schweizer die spezielle handgeschnitzte Flöte aus diesem finni- Spoken-Word-Festival. Luzern war für diese Szene schen Dorf, wie hiess es noch mal? Wenn man all schon früh eine wichtige Stadt. Und auch die legen- den Krimskrams behalten würde, der sich in einem däre Poetin Patti Smith freut sich, hierherzukommen, Leben ansammelt, wäre der Keller jeweils schnell ge- wie wir im Interview erfahren. (Seite 18) füllt. Ganz bewusst hat Walter Zimmermann genau das gemacht: Er hat lange Zeit kuriose Dinge aller Eine Dernière haben wir in eigener Sache an- Art gesammelt und sich so ein kleines Museum, eine zukünden: Mit dieser Ausgabe verlassen Christoph Art begehbare Biografie geschaffen. Und er nennt es Fellmann, Urs Emmenegger und Reto Bruseghini liebevoll: KKL. (Seite 8) die ehrenamtliche externe 041-Redaktion. Während Gesammelt wird im Herbst auch unter freiem zehn und mehr Jahren haben sie viel Energie ins Himmel: Die Pilzsaison ist heuer besonders ergiebig, Kulturmagazin gesteckt und es massgebend geprägt. und Pilzkontrolleure haben allerhand zu tun. Einige Nun wollen sie Platz für neue Kräfte machen, als Au- wenige Pilzsammler sind allerdings auf ein Exemp- toren werden die drei aber weiterhin aktiv sein. Wir lar aus, von dem jede Kontrollstelle abraten würde. danken ihnen ganz herzlich für ihre enorm wertvolle Wir gingen mit auf Tour. (Seite 12) und grossartige Arbeit! Martina Kammermann kammermann@kulturmagazin.ch 3
Inhalt 18 gedichte, die rocken Die Rock’n’Roll-Poetin Patti Smith im Inter- view. 20 das klingende wort Anlässlich des ersten Luzerner Spoken-Word- Festivals: ein Blick in die Geschichte der Beziehung von Klang und Sprache. 22frisch vereint Wie machen sich das Historische und das Natur-Museum Luzern zusammen? Ein Ge- spräch mit Gesamtleiter Christoph Lichtin. 8 das andere museum Zu Besuch im herrlichen Kitsch-Kabinett Lindeneck. KOLUMNEN 6 Gabor Feketes Hingeschaut 7 Lechts und Rinks: Eine Aufsicht für Roh- stoffriesen? Endlich! 24 Gefundenes Fressen: Die vielen Seiten der Kartoffel 40 11 Fragen an: Martin Jann 69 Kämpf / Steinemann 70 Käptn Steffis Rätsel 71 Das Leben, wie es ist SERVICE 25 Kunst. Glaube, Aberglaube, Wahn: Im Haus 12 die andere Pilzsaison für Kunst Uri. 28 Musik. Endlich: Die neue Pink-Spider-Platte. Ein Trip ins Napfgebiet. 32 Bühne. Baron Münchhausen im Brockenhaus. 35 Wort. Ein neuer Roman aus Emmenbrücke. 38 Kino. Andrea Štakas Zweitling bleibt im Vagen. 66 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen Schweiz 67 Ausschreibungen / Namen&Notizen / Preise KULTURKALENDER 41 Kinderkulturkalender 43 Veranstaltungen 61 Ausstellungen Titelbild: Matthias Jurt 14 generationenkluft Wie wirkt der Klassikbetrieb der Überalterung seines Publikums entgegen? PROGRAMME DER KULTURHÄUSER 42 ACT / Kleintheater 44 LSO / Luzerner Theater 46 HSLU Musik / Stattkino 48 Stadtmühle Willisau / Romerohaus 50 Südpol / Zwischenbühne 54 Neubad / Chäslager 56 ACT / Kulturlandschaft Bild: M. Jurt 60 Kunstmuseum Luzern / Kunsthalle 62 Museum Bellpark / Nidwaldner Museum 64 Historisches Museum / Natur-Museum 4
schön gesagt «Von der Musik leben zu können, ist ziemlich unwahrschein- lich. Aber ohne Musik zu leben, ist noch unwahrscheinlicher.» Pink Spider, Singer-songwriterin (Seite 28) guten tag Aufgelistet Guten Tag, NZZ am Sonntag Guten Tag, Namensrevolutio- Dinge, die man sammeln kann: Als Sonntagsausgabe der NZZ kommst du ein näre wenig lockerer und bildreicher daher als dein Blegistrasse 7? Hm, das klingt ziemlich veraltet. renommiertes Mutterblatt, und dein Gesell- Dann können wir die eigentlich ohne Probleme in - 120 Staubsauger: Jack Copp aus schafts-Bund greift dabei gerne auch mal etwas «Porscheplatz» umbenennen!, dachte sich wohl England «weichere» Themen auf – schliesslich wollen der Gemeinderat Rotkreuz auf ein Begehren von auch anspruchsvolle Leser zwischendurch mal Porsche Schweiz hin. Im September dann (wer - 922 Nachttöpfe: Ida Lobsiger aus Bern ein bisschen Gossip. Aber kürzlich kamen wir hätte das gedacht?) revidierte die Gemeinde ihren dann doch ins Stutzen: ein Interview mit der Entscheid wegen Einsprüchen aus der Bevölke- - 824 Stoff-Schafe: Michelle Sullivan aus RTL-Bachelorette, in dem sie ihre Dating-Tipps rung. Weil der «Nachweis des öffentlichen Inter- England verrät? Gut, wir sehen schon, das Ganze hat auch esses kaum zu erbringen sei». Aha. Aber halt, da eine «gesellschaftliche» Ebene, und vielleicht war war doch noch was mit Namensänderungen? Ah, - 6016 Kotztüten verschiedener Airlines: unsere Skepsis verstärkt, weil die Scripted-Reali- genau: Eric Weber, Rechtspopulist und Mitglied Nick Vermeulen aus Holland ty-Junggesellin direkt auf einen Bericht über ver- im Grossrat Basel, reichte im Juni kurzerhand ei- folgte Homosexuelle in Uganda folgte. Jedenfalls - 4500 Miniaturbücher: Jozsef Tari aus nen Vorstoss ein, ob man nicht Basel-Stadt in fragten wir uns: Was bringt die Qualitätszeitung Ungarn «Eric-Weber-Stadt» umbenennen könne (worauf als Nächstes? Exotische Kochtipps aus dem der Regierungsrat antwortete: «Wir raten davon - ca. 22,1 Gramm Fusseln aus seinem Dschungelcamp? Oder «Alleine leben leicht ge- ab.»). Ok, der spielt in einer anderen Liga als die Bauchnabel: Graham Barker aus macht – zehn Grundregeln» von einem Bauer, Gemeinde Rotkreuz. Zum Glück sind wir noch Australien ledig und suchend? nicht so weit, dass unsere Nachkommen in McLit- tau oder Ebikon-Nokia aufwachsen. Nein! Sie ma- - 3049 Interpretationen des Songs Allzeit flirtbereit, 041 – Das Kulturmagazin chen höchstens bei der lokalen Ausscheidung des «Amazing Grace»: Allan Chasanoff & UBS Kids Cup mit. Am Schluss gibt’s massig UBS- Raymon Elozua aus den USA Shirts, -Getränkeflaschen und -Chäppis für alle! - 11111 «Bitte nicht stören»-Schilder: I’m lovin’ it, 041 – Das Kulturmagazin Jean-François Vernetti aus dem Wallis HAUS FÜR KUNST URI DANIOTH PAVILLON save the Aus der Tiefe rufe ich zu Dir: date. Gotteserfahrung & Teufelsküche Eine Gruppenausstellung kuratiert von Esther Maria Jungo Samstag Bis 23. November 2014 8.11.14 ww w. w Sonntag irfi Herrengasse 2, 6460 Altdorf nd ANZEIGEN en Do/Fr 14 – 18 Uhr, Sa/So 11 – 17 Uhr 9.11.14 sta Telefon: 041 870 29 29 dt .ch www.hausfuerkunsturi.ch 5
Hingeschaut Tim und sein Metzger Letztes Jahr wurde ich zu meinem noch nicht runden 59. Ge- ses riesige Steak, so etwas hatte ich noch nie gesehen oder geges- burtstag nach Hamburg eingeladen. In einer kleinen, aber feinen sen – und es stellte sich heraus, dass ich beim Vertrauensmetzger Galerie sollte ich meine besten Fotos zeigen, und als Dankeschön von Tim Mälzer gelandet war! Statt einer kleinen Vorspeise gab es durfte ich einen Ort aussuchen, wo wir alle essen und feiern ge- dann dieses fantastische Steak, es reichte für uns alle … hen würden. Wir waren acht Leute, und ich dachte an Tim Mäl- PS: Ich bitte alle Vegetarier, dass sie mir diesen Fotobericht verzei- zers Restaurant Bullerei (er ist ein bekannter TV-Koch). hen. Da ich mittags noch eine kleine Vorspeise machen wollte, suchte ich eine gute Metzgerei. In einem Schaufenster entdeckte ich die- Bild und Text: Gabor Fekete 6
lechts und rinks Ein Blick in die Grube Die Rohstoffbranche in der Schweiz soll durch eine Aufsichtsbehörde kontrolliert werden. Aber sicher doch. Anfang September regte die Erklärung von prekären Staaten. Gleichzeitig organisieren Es spricht nichts gegen ein bisschen Bern (EvB) die Gründung einer Aufsicht sich die Händler in komplizierten, schwer Kontrolle über eine Branche, die für die über den Schweizer Rohstoffmarkt an überschaubaren Holdingstrukturen und Schweiz nach dem Bankgeheimnis ein (Rohma), analog der der Finanzmarktauf- kümmern sich in aller Regel einen Deut neues, grosses Reputationsrisiko bedeutet. sicht (Finma). Eine solche Behörde soll die um die Öffentlichkeit. «Wir informieren, Die häufigsten Gegenargumente, die die Steuerpolitik der Rohstofffirmen beobach- wenn uns dies nützlich scheint, und nicht, Vertreter der Branche und ihre politischen ten, aber auch Hinweisen nachgehen über wenn die Medien dies für nützlich halten», Adlaten anführten, sind denn auch wider- Menschenrechtsverletzungen in den Ab- hiess es so kürzlich bei Louis-Dreyfus, ei- sprüchlich: Erstens habe der Rohstoffhan- baugebieten, über Korruption und organi- nem Genfer Konzern für Agrarrohstoffe, delsplatz gar nichts zu verbergen, was eine sierte Kriminalität, über ökologische Kata- als das «NZZ Folio» anklopfte. solche Aufsichtsbehörde interessieren strophen – alles Probleme, auf die der Bun- könnte; und zweitens drohe der Wegzug desrat letztes Jahr in seinem ersten Bericht Eine Aufsicht über den Rohstoffmarkt zahlreicher Rohstofffirmen, hiess es. Nun, über die Rohstoffbranche hingewiesen hat. könnte also zum Mindesten für ein wenig es scheint doch schwer vorstellbar, dass so Ziel der EvB ist es, mit der neuen Aufsichts- Transparenz sorgen in einer notorisch öf- ein unbefleckter Konzern aus der Schweiz behörde den «Rohstofffluch» zu bekämp- fentlichkeitsscheuen Branche. Zum Bei- wegziehen würde, nur aus Prinzip. Denn fen, also die Tatsache, dass viele der roh- spiel könnte eine solche Behörde verlan- unser Land ist nicht umsonst innert 30 stoffreichsten Staaten der Erde auch die gen, dass die Rohstoffhändler die vollstän- Jahren zum internationalen Handelszen- ärmsten sind, dass sie nichts haben von ih- dige Handels- und Produktionskette ihrer trum für Rohstoffe aufgestiegen – gerade ren Bodenschätzen. Ware ausweisen müssen. Man wüsste wurde die Schweiz in einem Rating des dann, wo und unter welchen Bedingungen World Economic Forums (WEF) wieder Es ist ein sinnvoller Vorschlag. Denn das Palmöl, das Coltan oder der Bauxit ab- zum «kompetitivsten Land» der Welt ge- die Branche ist in der Schweiz sehr schnell gebaut werden, und man wüsste, wo die wählt, zum sechsten Mal in Folge. sehr gross geworden. Rund 500 Handels- Handelsgewinne (nicht) versteuert wer- und Logistikhäuser vor allem in Genf und den. Diese Transparenz auf institutioneller Die Schweiz ist voller Standortvorteile. Zug wickeln schätzungsweise einen Viertel Ebene herzustellen, ist auch darum ange- Eine funktionierende Aufsicht über die des weltweiten Rohstoffmarktes ab, das zeigt, weil es im Rohstoffhandel kaum eine Rohstoffbranche könnte ein weiterer sein sind Umsätze von jährlich zwischen 600 konsumierende Öffentlichkeit gibt, die auf – für alle Händler, die ihr Geld sauber und und 750 Milliarden Franken. Das ist gleich punktuelle Kampagnen reagiert. Nah- verantwortungsvoll verdienen und ver- viel oder mehr als das Schweizer Bruttoin- rungsmittel lassen sich boykottieren, wenn steuern möchten. landprodukt. Die Branche ist also riesig, ihre Hersteller nicht sagen können, woher aber sie ist auch jung und schnell, kurz, sie der Kakao oder die Erdnüsse in ihren Pro- arbeitet mit der Mentalität von Tradern dukten stammen. Bei Öl und Erz ist das und scheut kein Engagement in noch so etwas schwierig. Christoph Fellmann, Illustration: Mart Meyer 7
Das etwas andere KKL Der Luzerner Walter Zimmermann hat in seinem Leben allerhand kuriose Dinge in die Hände bekommen und daraus einen Ort geschaffen, der jedes Fotoalbum in den Schatten stellt: das Kitsch-Kabinett Lindeneck. Von Michael Sutter, Bilder: Matthias Jurt 8
Gesammelt hat der Mensch schon immer. Begonnen hatte es wohl mit Beeren und Früchten gegen den steinzeitlichen Hunger. Mit der Zeit entwickelte sich das Sammeln zu einer ideellen Beschäftigung, die im Zeitalter der europäischen Expansion auf die Spitze getrieben wurde. Im Zuge der Entdeckung fremder Kulturen gelangten massenweise unbekannte Güter nach Europa, die in Kuriositätenkabinetten und Wun- derkammern zur Schau gestellt wurden. Vermögende Grossbürger und Adelige präsentierten wahllos exoti- sche Tierpräparate, Muscheln und aufwendige Elfen- beinschnitzereien neben chirurgischen Instrumenten, Astrolabien und Spielautomaten. Die Schauen etab- lierten sich als gesellschaftliche Tätigkeit und dienten der Wissenschaft gleichermassen wie dem reinen Ver- gnügen. Walter Zimmermann mag nicht ans 19. Jahrhun- dert gedacht haben, als er begann, allerlei Gegenstän- de und Schätze zusammenzutragen und aufzubewah- ren. Doch kriegt man eine ähnlich vergnügliche Schau zu sehen, wenn man ihn an seinem Wohnort im idyl- lischen Dreilindenquartier in Luzern besucht. Der 82-Jährige ist alleiniger Feldherr über das KKL, sein liebevoll selbst ernanntes Kitsch-Kabinett Lindeneck. Bereits an der Garderobe beim Treppenabgang zu den Kellerräumlichkeiten fallen einige Hellebarden und eine Armbrust mit aufgespiesstem Apfel auf. Militä- risch anmutende Dinge, die an längst vergangene Kriege erinnern. Sie lagern zusammen mit hölzernen Steckenpferden für Kinder. Diese seltsame Kombinati- on irritiert, und die Verwunderung steigert sich nach dem Öffnen der roten Türe zum Luftschutzraum: Hier stapeln sich unzählige Kopfbedeckungen, von der rus- sischen Panzerhaube über den Tropenhut aus dem Bi- afra-Krieg, vom UN-Blauhelm bis zur Rastamütze, farbige Wappenscheiben aus Glas, Bücher, Fotografi- en, Wimpel, jamaikanische Zigarettenschachteln der Marke Matterhorn, Kunstdrucke, gerahmte Urkun- den, Matrjoschka-Figuren, Wehrmachtsdolche, afri- kanische Holzmasken, Gradabzeichen, Heiligenfigu- ren, Zinnsoldaten und – als Herzstück der Wunder- kammer, – eine exklusive Sammlung an Spazierstöcken. Was sind das für Dinge? Woher kommt der ganze Krimskrams? Bevor diese Fragen beantwortet wer- 9
«Ich bin nie ein Militärkopf gewesen.» Alt Divisionär Walter Zimmermann inmitten seines Sammelsuriums 10
kkl den, öffnet Walter Zimmermann mit stoischer Ruhe gen. Private Empfänge und Kontaktpflege gehörten eine gute Flasche Weisswein und beginnt mit spürba- genauso zum Aufgabenbereich wie Truppenbesuche rem Schalk zahlreiche Anekdoten zu den noch zahl- und Konferenzteilnahmen. Als Zeichen der Höflich- reicheren Dingen zu erzählen. keit werden an solchen Anlässen gerne Geschenke ausgetauscht, was Walter Zimmermann stets mit ei- Ein halbes Leben im Dienst des Vaterlandes nem Victorinox-Sackmesser als Gegengabe erwiderte. In der Zwischenkriegszeit im Jahr 1932 in Luzern «So habe ich angefangen, all diesen Schnickschnack geboren, ging Walter Zimmermann zwar nicht allzu zusammenzutragen», schmunzelt er. Viele Gäste gerne zur Schule, absolvierte aber dennoch eine Lehre brachten Blumen, Schokolade, Alkoholika, doch ka- bei der Luzerner Landbank sowie die men bei jeder Einladung auch viele exotische und teil- Textilfachschule in Wattwil. Jahrelang weise äusserst kitschige Gegenstände in seine Hände. war er im Verkaufsmanagement von Leo Dazu hat er im Ausland diverse Souvenirs gekauft und Bannwarts Kleiderboutiquen und der ebenfalls in die Sammlung integriert. Warenhauskette Globus tätig. Früher, Nach der Pensionierung zog Walter Zimmermann als jedermann noch ins Militär musste mit seiner Familie von Deutschland zurück nach Lu- und auf der Luzerner Allmend ein Hin- zern, in das in Familienbesitz befindliche Haus Lin- dernisparcours, schrottreife Übungs- deneck im Dreilindenquartier. «Wir hatten in Bonn panzer und Bunkeranlagen standen, einen grossen, leeren Kellerraum und als wir wieder begann die grüne Phase im Leben von nach Luzern zurückkehrten, war dieser randvoll. Mei- Walter Zimmermann. Nach der obliga- ne Frau wollte diesen Klamauk aber nicht in der Woh- torischen Rekrutenschule folgte die nung haben!» So begann Walter Zimmermann sein Ausbildung zum Offizier und damit das persönliches Reduit einzurichten, quasi als emotiona- sukzessive Abverdienen (oder Sam- ler Erinnerungsbunker und begehbares Stück Ge- meln) von Diensttagen. Auf Anraten des schichte. Es handelt sich nicht um eine militaristische bekannten Schweizer Nachrichten-Offi- Selbstdarstellung, sondern zeigt auf, dass alt Divisionär ziers Max Waibel verlängerte der junge Zimmermann den Blick für das Leben ausserhalb des Armeeangehörige seine Dienstbarkeit Militärs nie gänzlich verloren hat. In konzentrierter als technischer Waffeninstrukteur, und Form vereinen sich da auf engstem Raum unzählige daraus resultierte eine über dreissig- zeitgeschichtliche Objekte, Dienst-Erinnerungen, Feri- jährige Karriere in der Uniform, die ensouvenirs und kuriose Geschenke. Alle Objekte schliesslich in der Position als Divisionär scheinen ihren fixen Platz zu haben, sind fein säuber- (Kommandant der Geb Div 9, Bellinzona – hier legt er lich sowie wohlüberlegt inszeniert und zeugen von der Wert auf Genauigkeit) mündete, also einer der rang- philanthropischen Ader des Walter Zimmermann. höchsten Positionen der Armee. «Aber ich bin nie ein «Gestern waren die Finnen da, heute seid ihr da, mor- Militärkopf gewesen», ruft Walter Zimmermann und gen kommen die Südafrikaner. Es hat sechs Stühle, die betont, dass er zwar sehr gerne Militärdienst geleistet rasch verfügbar sind, und zwei als Reserve», kommen- habe, aber stets viel Wert auf Menschlichkeit und Fair- tiert er in militärisch adaptierter Stimmlage. Er freut ness legte. In der letzten Dienstperiode von 1989 bis sich über regen Besuch, plaudert gerne über alte Zeiten 1994 diente er als Verteidigungsattaché mit diplomati- oder lässt Tageszeitung lesend den Dingekosmos um schem Status der Schweizer Armee in Deutschland. ihn herum auf sich wirken. Gleichzeitig wirkte er in Belgien, Luxemburg, Lettland und Litauen. Mit dem Ende des Kalten Krieges kamen noch die neuen Bundesländer der ehemaligen DDR dazu. Die heisse Phase während des Falls der Berliner Mauer hat er hautnah miterlebt, und als strategischer Filmdoku über Walter Zimmermann Berater des Botschafters war er in verteidigungspoliti- Die Luzerner Künstlerin Franziska Schnell und HSLU-Master- sche Lagebeurteilungen vor Ort involviert. studentin Rebekka Friedli haben unter dem Arbeitstitel «Abtre- ten» insgesamt vier Stunden Videomaterial zu einer 40-minüti- Man kommt nicht mit leeren Händen gen Kurzdokumentation zusammengeschnitten. Darin schildert Der Verteidigungsattaché Zimmermann verfolgte in Walter Zimmermann, ausgehend von seiner Sammlung im Kitsch-Kabinett Lindeneck, sein eindrückliches Leben als Di- den jeweiligen Gastländern aber nicht nur Militäri- visionär der Schweizer Armee. Der Film befindet sich noch in sches, sondern engagierte sich mit seiner Familie auch Arbeit und wird bis Ende Jahr publiziert werden. an gesellschaftlichen und kulturellen Veranstaltun- 11
pilzsaison Die Pilzsaison ist dieses Jahr besonders ertragreich. Während die meisten Pilzsamm- ler auf kulinarischen Genuss aus sind, sucht eine kleine Minderheit unter ihnen einen weniger delikaten, dafür aber sehr wirkungsvollen Pilz: den Spitzkegeligen Kahlkopf. Auf Sammeltour im Napfgebiet. Von Philippe Weizenegger Die Sonne scheint mir ins Gesicht und mit zusammengekniffenen das Geheimnis des Zauberpilzes, es ist ein natürliches Halluzino- Augen versuche ich der Strasse zu folgen. Wir fahren Richtung gen, sozusagen LSD direkt aus der Natur. Die Fahrkarte in eine Entlebuch, passieren Romoos und steuern den Napf an. Das Auto andere Welt. keucht die steilen Wege hinauf, wir gönnen ihm eine Rast. Von «Mit psychoaktiven Pilzen sieht man die Erde mit anderen Au- jetzt an geht es zu Fuss weiter. Ich und – nennen wir ihn hier – gen. Man fühlt sich verbunden mit der Natur und verschmilzt re- mein Freund marschieren Richtung Holzwegen. «Der Sommer gelrecht mit der Welt.» Ich versuche mir diese Naturverbunden- war kühl und vor allem nass, das mag der Zauberpilz», erläutert heit vorzustellen, während mein Freund mir die Eigenheiten eines mein Freund. Im Herbst macht sich der Stadtluzerner um die dreis- Pilz-Trips erläutert. «Jegliche Reize prasseln ungefiltert auf dich sig jeweils auf ins Napfgebiet, um diesen ganz speziellen Pilz zu ein. Alles, was um dich herum passiert, scheint gleich wichtig zu sammeln – hier oder im Jura kommt er nämlich besonders häufig sein. Alles ist interessant und unglaublich faszinierend, sei es ein vor. Der Zauberpilz heisst eigentlich Spitzkegeliger Kahlkopf. Oft Strohhalm, ein Sandkorn oder eine Pfütze. Es herrscht keine Wert- wird er auch Psilo oder Magic Mushroom genannt. Das kommt ordnung vor.» von seinem lateinischen Namen Psilocybe semilanceata, er ist wie Um an die Substanz Psilocybin zu kommen, müsste man nicht über 180 andere Pilzarten psilocybinhaltig. Und Psilocybin, das ist unbedingt auf Wanderschaft gehen. Seit der Schweizer LSD-Über- Der geheimnisvolle Pilz 12
Pilzsaison vater Albert Hofmann den Wirkstoff entdeckte, kann man die Na- chen die möglichen Folgen nicht auch Angst? «Nein. Wenn du bei tursubstanz vollsynthetisch herstellen, und folglich gibt es sie einem Trip Angst hast, kann der Schuss nach hinten losgehen. auch in gezüchteter Form zu kaufen. Der Anbau, Verkauf und Das Psilocybin verstärkt den momentanen Gemütszustand. Man Konsum von Psilos ist in der Schweiz allerdings strafbar – sowie sollte daher psychisch gut beieinander sein, wenn man Psilos zu auch das Sammeln von wilden Pilzen. So oder so würde mein sich nimmt», belehrt mich mein Freund. Dem pflichtet auch Ro- Freund aber keine Pilze kaufen: «Erstens vertraue ich den gezüch- ger Liggenstorfer bei: «Bei Menschen mit einer instabilen Psyche teten Psilos nicht und zweitens gehört zu einem Pilz-Trip auch das ist vom Gebrauch von Pilzen definitiv abzuraten.» Er ist der Grün- Sammeln dazu, ja die Suche danach ist eigentlich genauso wich- der des Verlags Nachtschatten, welcher sich selber als «Fachverlag tig.» für drogenmündige, unabhängige Menschen» bezeichnet. Als Als wir die ersten Wiesen überqueren, steigt in mir dieses ur- langjähriger Drogenaufklärer sind ihm keine Fälle bekannt, bei tümliche Gefühl des Sammlers hoch. Ich meine zu spüren, was welchen Konsumenten von Psilos langfristige Schäden davontru- mein Freund mit der Wichtigkeit des Sammelns meint. Obwohl gen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass der Pilzrausch eine nur Begleiter, bin ich vorfreudig nervös. Mein Blick schweift su- Randerscheinung am Drogenhorizont darstellt. Es ist eine wenig chend, aber orientierungslos umher und ich merke, wie ungeübt gesellschaftstaugliche Droge – die Partymassen suchen andere mein Auge ist. Ich erinnere mich nochmals an die Merkmale und Kicks. Und schmecken tut er übrigens überhaupt nicht, wie mir irre weiter auf der Kuhwiese umher. Denn hier, auf gut gedüng- mein Freund versichert. tem Boden, sollten wir fündig werden. Wir treffen denn auch keine anderen Zauberpilzsammler an, es dürften nur ganz wenige Leute sein, die sich im Herbst jeweils Geschichtenumwobenes Gewächs auf diese Pilzsuche der anderen Art machen. Mein Freund plau- Der Drang, sich von Pilzen berauschen zu lassen, existiert schon dert währenddessen frei von der Leber. Als ich ihn frage, warum seit Urzeiten. Der Ruswiler Ethnologe Kurt Lussi ist Autor ver- er sich mithilfe von Psilos überhaupt in eine andere Dimension schiedenster Bücher über den Volksglauben und die Volksmedizin katapultieren will, hält er kurz inne: «Es gibt verschiedene Grün- im Alpenraum und weiss von Pilzritualen aus der italienischen de, wieso ich mir gelegentlich den Magen vergifte. Ich kann die Neusteinzeit: «Im Val Camonica in der Lombardei fand man Natur, meine Mitmenschen und mich selbst völlig anders wahr- Steinritzzeichnungen aus der Zeit um 6000 bis 3000 v. Chr. Sie nehmen. Vorgegebene Strukturen unserer Gesellschaft lösen sich zeigen Schamane oder Priester zusammen mit Darstellungen, die im Rausch auf und ich verbinde mich mit der Natur, mit der Erde, als Spitzkegelige Kahlköpfe interpretiert werden. Sie deuten da- aus welcher wir alle stammen.» rauf, dass die Pilze offenbar schon in der Steinzeit kultisch ver- Schweissperlen bahnen sich auf meinem Gesicht einen Weg. wendet wurden.» Aus der Schweiz gibt es keine direkten Belege Ich gönne mir einen Schluck Wasser und scanne weiter den Bo- für schamanische Rituale mit Pilzen. Dafür gibt es aber andere den ab. Und da, plötzlich. Ganz unschuldig steht er da, dieser ge- Spuren, die auf den Gebrauch von Pilzen hinweisen. «In verschie- heimnisvolle Pilz. Der Spitzkegelige Kahlkopf. Die Fahrkarte in denen Märchen und Sagen mit Zwergen finden wir Parallelen zu eine andere Welt. einem Pilz-Trip», sagt Lussi. «Der Zwerg kann mit seiner roten Mütze und seinem Bart als Fliegenpilz gedeutet werden, der von einem Vegetationsdämon beseelt ist. Ein Zwerg wird in den Er- zählungen auch als Wächter von Höhlen beschrieben. Nur mit seiner Hilfe kommt der Mensch, der in eine andere Bewusstseins- dimension reist, durch einen Tunnel in die lichterfüllte Kristall- höhle.» Dieses Muster erkenne man regelmässig in verschiedens- ten schweizerischen und europäischen Märchen. Lussi ist daher überzeugt, dass diese Märchen poetische Umschreibungen von Realerfahrungen mit Pilzen sind. Der Zauberpilz inspirierte auch in neuerer Zeit zu literarischen Erzeugnissen, so etwa Martin Suters Roman «Auf der dunklen Seite des Mondes» (2000). Er handelt vom Wirtschaftsanwalt Urs Blank, dessen Persönlichkeit sich nach einem Pilztrip drastisch verändert und der schliesslich das Leben eines Wilden im Wald führt. Auch wenn diese Geschichte wohl nicht realistisch ist, birgt der Pilzkonsum natürlich Risiken. Es kann zu Panikattacken kommen, und wie alle psychoaktiven Substanzen birgt auch Psi- locybin die Gefahr, Psychosen auszulösen. Fachliteratur zu Psilos: Nicht im Trend Kurt Lussi: Im Reich der Geister und tanzenden Hexen. AT Verlag, Aarau 2002. Roger Liggenstorfer/Christian Rätsch (Hrsg.): Maria Sabina – Botin der heiligen An diese negativen Wirkungen von Psilos zu denken, fällt beim Pilze, vom traditionellen Schamanentum zur weltweiten Pilzkultur. Wandern durch die schönen Hänge des Napfs schwer. Aber ma- Nachtschattenverlag, Solothurn 1998. 13
Vom Mozart würde sich wälzen im Grab, wenn er erführe, was sich allabendlich am Bahnhof des St. Galler Örtchens Heerbrugg zuträgt. Die Melodien aus sei- Palast nem umfangreichen Werk, die dort zwi- schen 19 und 22 Uhr aus den Lautspre- chern erklingen, werden nämlich nicht ge- in die spielt, um Liebhaber der Wiener Klassik zu beglücken – sondern um herumlungernde Jugendliche zu vertreiben. Es klappt sogar: Statt sich am Bahnhof von Mozart be- Garage? schallen zu lassen, treffen sich die Ju- gendlichen nun lieber auf einem gut 50 Meter entfernten Parkplatz. Am Bahnhof von La Chaux-de-Fonds führte klas- sische Musik diesen Frühling gar zu Sachbeschädi- gung. Die SBB testeten die Wirkung von Opern von Georges Bizet und Antonio Vivaldi auf Jugendliche und Randständige, die angeblich das Sicherheitsgefühl der Reisenden beeinträchtigen. Nach wenigen Tagen landete ein von der Decke gerissener Lautsprecher auf dem Perron, und in der Zeitung «L’Express» empörte sich eine junge Frau: «Das ist diskriminierend. Sie hät- ten uns auch einfach sagen können, dass wir stören.» Das muss alles nicht repräsentativ sein, und trotz- dem drängt sich der Verdacht auf: Wenn junge Menschen auf diese Weise auf die klassische Klänge reagieren, sieht es irgend- wie nicht gut aus für die Zukunft dieser Musik. Natürlich, die europäische klas- sische Musik füllt auch nach drei Jahrhunderten weltweit noch im- mer riesige Konzertsäle. Die Sinfoniekonzerte und kürzlich zu Ende gegangene Opernaufführungen finden Sommerausgabe des Lucerne weitgehend ohne junges Festivals verzeichnete 80 000 Besucher und eine Rekord- Publikum statt. Vielleicht auslastung von 95 Prozent. lässt sich die klassische Zählt man die letztjährigen Musik aber trotzdem in die Veranstaltungen des Festi- Zukunft retten. vals an Ostern, im Sommer und Spätherbst zusammen, Von Markus Föhn kommt man auf über 137 000 Menschen, die sich für klassische Musik inter- essieren. Noch mehr sind es in Zürich: Alleine das Opern- haus registrierte im vergange- 14
klassische Musik nen Jahr eine Viertelmillion Eintritte. Offensichtlich Festivals wartete in diesem Jahr mit Figurentheatern wollen noch immer sehr viele Menschen klassische und Sitzkissenkonzerten für Kinder auf, mit Familien- Konzerte, Opern und Ballette sehen und hören. konzerten und einem Jugendkonzert, in dem Igor Nur: Es gibt auch andere Zahlen, weniger gloriose. Strawinskys «Geschichte vom Soldaten» als multime- Zum Beispiel jene der Körber-Stiftung in Hamburg, die diale Inszenierung aus Kammermusik, Erzählungen, sich unter anderem auch in der Musikvermittlung en- Tanz und Animation daherkam. gagiert. Anfang Jahr veröffentlichte sie eine Studie, die Das LSO wiederum schickt als Erweiterung seines Deutschland – immerhin das Land Bachs und Beetho- Horizonte-Programms diesen Herbst erstmals den Mu- vens – ein phänomenales Desinteresse an klassischer sikwagen durch die Zentralschweiz. Angelehnt an die Musik attestiert. 88 Prozent der Befragten halten klas- Idee einer Wanderbühne, soll er die Musik zu den Leu- sische Musik gemäss Studie zwar für ein wichtiges kul- ten bringen – vor allem zu jungen Leuten an Schulen, turelles Erbe, aber bloss 20 Prozent haben im Jahr denen der Wagen Möglichkeit sein soll, spielerisch und 2013 ein klassisches Konzert besucht. experimentell mit Musik und Musi- Bei den unter 30-Jährigen waren es kern in Berührung zu kommen. Zu- gar lediglich 10 Prozent. Die Autoren dem plant das LSO im Nachgang zu der Studie stellen fest: «Konzerthäu- Nicht die Musik ist das herkömmlichen Sinfoniekonzerten ser erreichen immer weniger Men- Problem, sondern ihre im KKL erstmals auch Nachtkon- schen, vor allem nicht die Jungen.» zerte speziell für junge Erwachsene Doch genau diese Jungen sind wich- Darbietungsweise. aus dem Klub LSO U25. Die soge- tig, wenn das heute schon stark über- nannten Cap Concerts beginnen alterte Publikum irgendwann nicht erst gegen 22 Uhr, kosten in Kombi- einfach aussterben soll. Ohne Inno- nation mit dem Sinfoniekonzert ge- vationsschub, so prognostizierte vor rade mal 10 Franken und sollen – einigen Jahren eine Studie der Uni- wenn die ergrauten Konzertbesu- versität St.Gallen, verlieren die klas- cher den Heimweg angetreten sischen Konzerte in 30 Jahren über haben – jungen Klassikfreunden ei- einen Drittel ihres Publikums. nen Austausch mit Gleichaltrigen Bei den Konzertveranstaltern ist ermöglichen. «Wir meinen, dass es die Nachricht angekommen, auch bei für Junge attraktiver ist, Konzerte jenen in der Zentralschweiz. So sagt zu besuchen, wenn das Konzert- zum Beispiel Johannes Fuchs vom haus auch zum Treffpunkt wird», Lucerne Festival: «Man kann nicht so weitermachen sagt Johanna Ludwig. Mitglieder des Klubs sollen auch wie bisher.» Fuchs leitet das Kinder- und Jugendange- bei der Entwicklung des Konzertprogramms mitreden bot des Festivals; die Reihe «Young», die dieses Jahr können. erstmals auch über ein eigenes Ensemble aus jungen Alles schön und gut. Die Frage ist bloss: Lässt sich Musikerinnen und Musikern verfügt, richtet sich mit so die klassische Musik hinüberretten in die Zukunft? ihren Veranstaltungen auch an ein Publikum, das sich Einen Versuch ist es wahrscheinlich wert. Immerhin vom Alter her eher in Discos und Clubs herumtreibt als lassen mehrere Befragungen in verschiedenen Län- an klassischen Konzerten. Und Johanna Ludwig, beim dern den Schluss zu, dass sich keineswegs sämtliche Luzerner Sinfonieorchester (LSO) zuständig für die Jugendlichen von Mozart, Bizet und Vivaldi in die Musikvermittlung, glaubt: «Wir müssen dem jungen Flucht schlagen lassen; ein Interesse an klassischer Publikum aufzeigen, dass klassische Musik ein Erbe Musik scheint durchaus zu bestehen. Kulturwissen- ist, das wir nicht einfach übernehmen müssen, son- schaftler wie Martin Tröndle von der Zeppelin-Uni- dern selber gestalten können.» versität in Friedrichshafen glauben daher: Nicht die Musik ist das Problem – sondern ihre Darbietungswei- Nachtkonzerte, Musikwagen und Figurentheater se. Das klassische Konzert, wie es seit gut hundert Jah- Die meisten grossen Orchester, Konzerthäuser und ren unverändert abläuft. 90 Minuten lang im feinen Festivals tun mittlerweile einiges, um einem jungen Tuch dasitzen und schweigen, auf keinen Fall zwi- Publikum zu demonstrieren, was sich mit diesem Erbe schen den Akten klatschen. Schon gar nicht schnell alles anstellen lässt. Die Reihe «Young» des Lucerne rausgehen und wieder reinkommen, geschweige denn, 15
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klassische Musik ein Getränk mit in den Saal nehmen. Ein Applaus am ten – mit Choreografen, Literaten, Galerien. «Bindet Schluss, mehr lässt das enge Regelkorsett nicht zu. man eine zusätzliche Kunstrichtung ein, hat man plötzlich neue Interessengruppen im Konzertraum», Neue Konzertformate gesucht sagt Schnider. «Leute, die sonst vielleicht nie auf die Dies mag den Gepflogenheiten des Publikums entspro- Idee gekommen wären, sich ein solches Konzert anzu- chen haben, das Ende des 19. Jahrhunderts in die neu hören, finden dann plötzlich: Klingt spannend.» eröffneten Opernhäuser strömte – in die opulenten Musik verlässt ihre angestammten Häuser und fin- Musikpaläste, die überall in der westlichen Welt zum det so neue Hörer – dass das klappen kann, zeigt auch Identifikationsforum eines selbstbewussten, kulturin- das Beispiel der aus Zug stammenden Violinistin De- teressierten Bildungsbürgertums wurden. Doch wäh- borah Marchetti. Die 35-Jährige hatte in so gut wie rend sich die Konzertformen zuvor immer wieder ver- allen grossen Sälen Europas und Japans ihre Solo-Auf- ändert hatten, erstarrte das klassische Konzert in die- tritte; seit rund zwei Jahren jedoch spielt sie ihr Reper- sen Sälen zu jener Form, die wir toire von Barock bis hin zu neuer noch heute kennen. Und die kommt Musik auch an ungewöhnlichen reichlich verknöchert und uncool Orten: in einer Garage, im Rappers- daher für junge Menschen, die mit Alles schön und gut. wiler Elektrizitätswerk, im alten Pop- und Rockmusik sozialisiert Die Frage ist bloss: Botanischen Garten Zürichs oder wurden und für die die Opern- und im Plaza Club, einem Ausgehlokal Konzerthäuser jegliche Repräsentati- Lässt sich so die klassi- mitten im Zürcher Kreis 4. Das Pub- onsfunktion verloren haben. Kultur- sche Musik hinüberret- likum dabei: zu einem grossen Teil wissenschaftler Tröndle plädiert da- sehr jung, sehr hip, sehr begeistert. her dafür, «die Kunstform Konzert ten in die Zukunft? Vielleicht steht es also gar nicht als ästhetisch-soziale Präsentations- so schlecht um die Zukunft der form zeitgemäss weiterzuentwi- klassischen Musik. Johannes Fuchs ckeln» – nur so lasse sich der «Muse- vom Lucerne Festival jedenfalls ist alisierung des Konzerts» und der einigermassen optimistisch. «Es «steten Veralterung des Publikums» gibt eine neue Generation von Mu- entgegenwirken. sikern mit klassischer Ausbildung, Vera Schnider weiss, wie sich das die sich mit den bestehenden Wer- Konzert weiterentwickeln liesse, sie ken nicht einfach zufrieden gibt, hat Erfahrungen mit verschiedenen sondern sie weiterentwickeln will», Formaten. Die 28-jährige Harfenis- sagt er. «Und es gibt Leute, die für tin, die in Luzern studiert hat und diese Weiterentwicklung empfäng- heute in Bern lebt, spielt einerseits an lich sind.» Irgendwann, glaubt er, klassischen Konzerten für das Luzer- werden die Impulse, die diese jun- ner Sinfonieorchester oder das Zür- gen Musiker aussenden, auf die Pa- cher Kammerorchester. Andererseits läste der klassischen Musik über- tritt sie mit Formationen wie dem springen: «Das war beim Theater Ensemble Proton auf, das sich zeitgenössischer Musik auch so – was die freie Szene jahrelang machte, kam verschrieben hat, mit Werken, die Komponisten expli- irgendwann auch bei den etablierten Stadttheatern an zit für das Ensemble schreiben. «Wir sprechen mit die- und hatte einen Innovationsschub zur Folge.» ser Art von Musik keine Menschenmassen an. Aber indem wir bewusst die klassische Konzertgestaltung Tröstliche Aussichten also. Tröstlich auch, dass sich aufbrechen, gelingt es uns, ein neugieriges, junges Pu- der Gemeinderat des St. Galler Örtchens Heerbrugg blikum anzuziehen.» nicht ganz sicher ist, ob es tatsächlich Mozart ist, der Die Konzertgestaltung aufbrechen, das heisst: Zum die Jugendlichen vom Bahnhof vertreibt. Seit Beginn Beispiel an Orten auftreten, an denen an anderen der Beschallungsaktion schaut dort nämlich auch die Abenden auch Jazz oder Rockmusik gespielt wird, um Polizei öfters mal vorbei. die Hemmschwelle möglichst tief zu halten. Und: Mit Vertretern anderer Kunstrichtungen zusammenarbei- Vorschau LSO-Jahresprogramm siehe Seite 27 17
«Viele Lesungen finde ich langweilig» Aber selbst liest Patti Smith immer noch gerne. Jetzt kommt die legen- däre Rock’n’Roll-Poetin erstmals nach Luzern. Patti Smith Man nennt sie Godmother of Punk, sie ist Poetin, Song- writerin, Künstlerin und Sängerin. 1946 geboren, in New Jersey aufgewachsen, zog es Patti Smith schon früh nach New York. Schnell fand sie Anschluss bei Aussen- seitern aller Art – und in der rebellischen Atmosphäre der Sechzigerjahre ein optimales Biotop für ihre künst- lerische Ambition. Mit der LP «Horses» (1975) gelang ihr ein stilbildendes Werk. Sie brachte es zwar nie zum Massenerfolg, doch gewann sie eine Anhängerschaft, die ihr über Jahrzehnte die Treue hielt. Nach vier LPs zog sie sich 1979 zurück, heiratete Fred «Sonic» Smith von den legendären Band MC5, zog zwei Kinder auf. 1996, nach dem Tod ihres Mannes, kam es mit «Gone Again» zum Comeback. Seither ist sie präsent mit Konzerten, Lesungen und ihren Büchern. Abseits des Mainstreams erhebt sie ihre engagiert-kritische Stimme, wo immer sie Ungerechtigkeiten wittert. Während sich Rockmusik im- mer mehr zum Background-Sound unserer Gesellschaft entwickelt hat, blieb sie dem ursprünglichen Charakter des Rock’n’Roll treu: wild, unangepasst, rebellisch. Bild: Robert Mapplethorpe/zvg
Woerdz Was steht für Sie am Anfang: Wort oder Klang, Was können wir von Ihrem Auftritt in Luzern Sprache oder Musik? erwarten? Neue Gedichte, neue Songs? Immer das Wort. Ich bin nicht wirklich eine «Jede Generation Am Woerdz werde ich voraussichtlich Ge- Musikerin. Ich wollte immer eine Schrift- stellerin sein. hat auf neue For- dichte vortragen, aus meinem Buch lesen und singen. Die Leute sollen sich nicht zu men gewartet und viele Texte anhören müssen, umso mehr als In welcher Beziehung stehen bei Ihnen Poesie und es ja nicht ihre erste Sprache ist. Aber ich Musik? Gehört das zusammen? sie bekommen – von bin nicht der Typ, der alles plant. Ich lasse Viele meiner Songs beginnen mit einem Text, mit einem Gedicht, und gehen dann Rimbaud oder Jim die Leute, den Ort auf mich einwirken, viel- leicht etwas, das ich an diesem Tag erlebe. über in Musik: Gloria zum Beispiel mit «Je- Morrison oder eben Ich versuche spezifisch auf die Situation sus died for somebody’s sins, but not mine …» und so weiter. Oder Land und Birdland. diesen Dichtern der einzugehen, lasse die Energie der Stadt, die Energie der Menschen einfliessen. Das in- Als ich die schrieb, war ich 21 und habe sehr Achtzigerjahre.» spiriert mich dann, to choose the one road or viel improvisiert. Und ich mag das immer the other. Ich wollte übrigens unbedingt an noch. Natürlich ist da eine starke Verbin- diesem Festival in Luzern dabei sein, ob- dung zur Musik. Lyrik zu schreiben ist für wohl ich noch andere Verpflichtungen habe mich sehr schwierig, ich tue mich schwer und die Organisation ziemlich kompliziert damit. Manchmal schlägt etwas wie ein Ge- Nun, ich habe wahrscheinlich während war. dankenblitz ein, aber das ist sehr selten. Ich rund 50 Jahren Gedichte gelesen und Le- schrieb einen kleinen Song für Amy Wine- sungen gehört. In diesem Sinne war das et- Wie und wann schreiben Sie an Ihren Texten? house, This Is The Girl, den hab ich sehr was Vertrautes. Ich habe Allen Ginsberg ge- Ich stehe am Morgen früh auf, setze mich in schnell geschrieben. Meistens dauert es län- hört, William S. Burroughs und all diese Po- ein möglichst leeres Café und schreibe dann ger. eten. Neue Energie ist eingeflossen und eine etwa eine Stunde lang in mein Notizbuch. neue Generation hat ihre Art der Perfor- Später übertrage ich es auf meinen Compu- Sie leben in Manhattan. Wie wichtig ist die Stadt, mance von Poesie entwickelt. Ein natürli- ter. Ich schreibe jeden Tag in der einen oder in der Sie leben, für Sie und Ihre Arbeit? cher Prozess, jede Generation hat auf neue andern Form. Songs dagegen schreibe ich Nicht sehr wichtig. Sie war wichtig, als ich Formen gewartet und sie bekommen – von nicht sehr viele, die sind rar. noch jünger war. Alle meine Freunde Rimbaud oder Jim Morrison oder eben die- wohnten in New York. Nun sind die meisten sen Dichtern der Achtzigerjahre. Ja, Jim Woran arbeiten Sie im Moment? Ist eine neue CD tot oder weggezogen. Die Stadt hat sich sehr Morrison war so ein Poet, der spürte, dass es zu erwarten? verändert, sie ist sehr teuer geworden, sehr nötig war, die Dinge voranzutreiben. Nein, zurzeit arbeite ich an einem Buch, materialistisch, sie ist nicht mehr dieselbe. und bin daran, es zu beenden. Ich schreibe Und ich reise ja viel herum. Ich brauche Was ziehen Sie vor, Lesungen oder Konzerte? überhaupt sehr viel. Vielleicht werde ich auch nicht viel, nur etwas Licht und einen Persönlich finde ich viele Lesungen lang- mich im Winter wieder mit einer neuen CD kleinen Schreibtisch. Es genügt ein Platz in weilig. Mich spricht zwar die Poesie an und befassen. einem Zug, ein Hotelzimmer oder ein Café. ich lese gerne Gedichte, aber Lesungen von New York ist sicher immer noch eine gross- Gedichten finde ich nicht zwangsläufig at- Können Sie uns etwas verraten über dieses Buch? artige Stadt, aber heute bin ich eine Art traktiv. Deshalb hab ich ja mit dem Es ist schwierig zu erklären. Es ist anders als Weltbürgerin, das ist ein Teil meines Lebens. Rock’n‘Roll angefangen, weil mich das blosse mein letztes Buch (Just Kids, über ihre Vorlesen angeödet hat. Ich musste in eine Freundschaft mit dem Fotografen Robert Fühlten Sie sich als Teil der Spoken-Word-Szene, andere Dimension ausbrechen. Also ich mag Mapplethorpe). Es enthält zwar auch Erin- als diese in den Achtzigerjahren aufkam? Lesungen, aber ich mache nicht so viele in nerungen, aber es ist mehr auf die Gegen- Nein. In den Achtzigern bin ich ja nicht auf- Amerika, sondern mehr im Ausland. Aber wart ausgerichtet. Ich habe es vor ein paar getreten. Ich lebte zurückgezogen in Detroit da ist auch ein Problem: Ich spreche nur Jahren begonnen, dann die Arbeit unter- und zog meine Kinder auf. Ich war mit die- Englisch, und obwohl in Europa viele Leute brochen, um zu sehen, in welche Richtung ser Szene nicht verbunden. Ich habe zwar Englisch verstehen, ist es doch nicht ihre es sich entwickelt. Nun bin ich daran, es ab- immer geschrieben, das war sehr wichtig Muttersprache. Und meine Gedichte sind zuschliessen. Es ist wie eine Fahrt mit dem für mich, aber als Autorin, weniger als Per- manchmal ziemlich kompliziert. Deshalb Zug, ich bin da mal eingestiegen, habe mich formerin. bringe ich dazwischen Songs. Songs sind treiben lassen, nun ist die Zugfahrt bald zu universeller, verständlicher. Ich lese gern, Ende. War diese Spoken-Word-Szene für Sie etwas Neu- aber ich ziehe vor, beides zu tun, lesen und es oder etwas Vertrautes, Selbstverständliches? singen. Interview: Meinrad Buholzer 19
Woerdz Am Klingen hängt, zum Klange drängt es die Sprache, ja Sprache ist Klang. Darauf beruft sich die Lautpoesie. Ein Essay zum Luzerner Spoken-Word-Festival Woerdz. Von Beat Mazenauer gadji beri bimba glandridi N och immer ist sich die Forschung uneins, was erhalten dichterische Weihen durch ihren lyrischen Vor- am Ursprung der menschlichen Sprache gestan- trag, der das laute Publikum der stillen Leserschaft vor- den haben mag: der Schrei nach der Mutter, die zieht. In ihren Songs und Liedern tritt die Literatur in Imitation von Tierlauten, das Singen des Blues bei der Dialog mit der Musik. Wesentlich dabei ist, dass die bei- Feldarbeit. Auf jeden Fall waren es Laute, die sich all- den Ausdrucksformen einander ebenbürtig sind. Aus ih- mählich zu einer sinnfälligen, komplexen Sprache form- rem Zusammenklang entsteht eine neue Form: synerge- ten und verdichteten. Die Menschen verliehen ihr je eige- tisch, synthetisch, synästhetisch. Vergleichbares gilt ne Stimmen. Unter ihnen auch die Dichter. Sie neigten auch, wenn sich eine Autorin wie Melinda Nadj Abonji mit ihrer Kunst ganz natürlich zu Klang und Vielstim- mit der «Human Beat Box» Jurczok 1001 zum Duett for- migkeit. Die Rhapsoden besangen die Götter par cœur, miert; wenn eine Dichterin wie Nora Gomringer ihren etwas später überbrachten Minnesänger ihre Liebesbot- eigenen Texten klangliches und gestisches Volumen ver- schaft zum Klang der Laute, endlich deklamierten die leiht; oder wenn ein Dichter-Komponist wie Gerhard Dadaisten 1916 im Cabaret Voltaire ihre Unsinnspoesie, Rühm das weite Klangspektrum seiner Sprechgedichte um damit das gutbürgerliche Literaturempfinden zu mit der Präzision eines Metronoms intoniert und zele- traktieren. Lied, Gedicht, Spoken Word und Rap haben briert. Dann erfüllen Texte auf einmal neue Räume, sie also eine lange Geschichte. wecken verblüffende Eindrücke. Aus dem performativ- Über die Poesie hat Lawrence Ferlinghetti, einer der literarischen Dialog entsteht etwas Drittes, das im kollek- legendären Beatnik-Dichter, vor Jahren einmal gesagt, tiven Hörgenuss aufgeht. dass sie «neue Welten und Wertvorstellungen in uns er- N öffnet und ihre Offenbarung eine Revolution unseres In- ichts anderes will auch der «Poetry Slam», der nenlebens und Geistes anstrebt». Um diese Botschaft der Legende nach 1985 in der «Get Me High auch sinnlich fühlbar zu machen, haben die Beat-Revol- Lounge» in Chicago seine Taufe durch Marc teure der Fünfzigerjahre wilde Rezitationsformen entwi- Smith erlebte. Nicht allein, dass dieser poetische Wett- ckelt: poetry performances. Eindringlich klingt Allen streit meist bestens unterhält, sein Reiz liegt vor allem im Ginsbergs «Howl» aus jenen Jahren nach. Zeitlich paral- gemeinsamen Literaturerleben. Schreibende haben et- lel verkündete in Wien H.C. Artmann seine «Acht-Punk- was zu sagen, deshalb wenden sie sich ans Publikum. Je te-Proklamation des poetischen Actes», in der er das poe- nach Gelegenheit und Stil sucht sich diese «Botschaft» tische Handeln über das Schreiben setzte. Davon beein- leise, laute, witzige Ausformungen. druckt dichtete Ernst Jandl seine «Sprechgedichte», Gegen den Poetry Slam wird gerne vorgebracht, dass deren Vortrag – «schtzngrmm t-t-t-t» – heute fast schon seine Inszenierung im Wettstreit um die Publikumsgunst Kultursport geworden ist. zum Kalauer neige. Manchmal wohl wahr. Das konzen- trierte Lesen zu Hause bietet den Texten wie den Lesen- Aus diesem Blickwinkel betrachtet, weitet sich un- den mit Sicherheit grössere geistige Freiheit. Dafür ver- willkürlich der poetische Raum. Bob Dylan oder Mani mag die öffentliche Darbietung intensiver zu packen. Matter treten neben Heinrich Heine und Paul Celan. Sie Beides ergänzt sich, wie der Dadaist Hugo Ball festhielt: 20
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