GESUCHT FREIRAUM ORIGINALE GELD - null41
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Monatszeitschrift für Luzern und die Zentralschweiz mit Kulturkalender NO 11 November 2015 CHF 8.– www.null41.ch … GELD FREIRAUM ORIGINALE GESUCHT
dk_info-tage_15_ins_kuma_195x225.indd 1 Gestaltung: Simon Beuret, Studierender Bachelor Illustration Fiction, Hochschule Luzern – Design & Kunst 12.10.15 10:03 ANZEIGE
EDITORIAL GENTRIFIZIERT EUCH SELBER! … … stand unlängst in Graffiti auf der Fassade eines Strähl und Melk Imboden. (Seite 22) Innerschweizer Neubaus. Voraussichtlich 2016 muss das wunder- Filmschaffende haben ebenfalls ein schweres Leben: schöne, mit Ateliers, Kleinbetrieben und Musikstudios Die Filmförderung der Zentralschweiz ist seit eh und gespickte Rösslimatt-Gelände hinter der Schüür einer je in desolatem Zustand. (Seite 16) «gentrifizierenden» Neuüberbauung weichen. Und die Die Moral der Geschichten? Es tut nicht gut, wenn die Himmelrich-Zwischennutzung im August und Septem- eigene Entfaltung – und diejenige einer Gruppe oder ber hat gezeigt, dass das Bedürfnis nach alternativem, Gemeinschaft – von oben beschnitten wird. Ich denke unkompliziertem Freiraum riesig ist. Aber wohin sind daher, dass wir uns alle ab und an die Frage stellen die Kräfte verschwunden, die noch vor einigen Jahren sollten, die Trent Reznor von den Nine Inch Nails mit Sturm liefen, als die Boa schliessen musste oder die unerschütterlicher Revoluzzer-Attitüde singt: «Will you Industriestrasse auf der Kippe stand? Pirmin Bossart bite the hand that feeds?» Um dann zu antworten: hat sich mit Exponenten von Zwischennutzungen «Natürlich!» und ehemaligen Aktivisten darüber unterhalten, ob das Bedürfnis nach langfristigem Freiraum heute Gewisse Freiräume brauchen neuen Inhalt: Der Il- überhaupt noch besteht. (Seite 8) lustrator Till Lauer (24) präsentiert ab sofort auf Schon lange von der Bildfläche verschwunden sind der letzten Seite unseres Magazins ein Geheimnis zudem etliche Stadtoriginale: Menschen wie Radio der Leserschaft. Anonyme Beiträge per Post an Till Müsli oder Emil Manser sind in einer Gesellschaft Lauer, Voltastrasse 32, 6005 Luzern. Er ersetzt Niko der Angst und des Schreckens ob dem Anderen nicht Stoifbergs Kolumne «Das Leben, wie es ist», in der mehr erwünscht. Aber: Was ist das überhaupt – ein dieser zusammen mit dem Illustrator Patrick Kälin Original? Und: Wo bleiben die neuen? Pablo Haller absurde Lebenssituationen erforschte. Vielen Dank hat sich umgehört. (Seite 13) und: adieu! Den Platz räumen muss nach dem Willen der Kan- tonsregierung Luzerns auch die Fachklasse Grafik; der Studiengang, der Luzern weit über Grenzen hinaus bekannt gemacht hat, soll weggespart werden. Warum Heinrich Weingartner das ein Schnitt ins eigene Fleisch ist, erklären Urs weingartner@kulturmagazin.ch 3
INHALT 8 NACH DEM HIMMELRICH IST 18 DIE DREISTEN DREI Die Hausautorenschaft des Luzerner Theaters der Spielzeit 2015/16 schreibt, was Theater VOR DEM … sein kann. Wo bleiben die langfristigen Freiräume? 20 IM DUNKELN TAPPEND Zum noch grösstenteils unerforschten Muotataler Höhlensystem «Hölloch» erscheint eine umfassende Publikation. 21 DOPPELJUBILÄUM Hanspeter Meyer und Matthias Hofmann von 13 «DANN BIN ICH HALT EIN ORIGINAL!» Neustahl feiern gemeinsame Sache. Wo bleiben die Radio Müslis und 22 SO NICHT! Weshalb die neueste Sparmassnahme des Emil Mansers? Kantons ins eigene Fleisch schneidet. 23 UNGERECHTE GESETZESLAGE Kunstschaffende sind – was Galerieweiter- verkäufe angeht – extrem benachteiligt. Dies könnte sich bald ändern. KOLUMNEN 7 Lechts und Rinks: Herbeigezaubertes Asylchaos 24 Gefundenes Fressen: Hahnenwasser ist wertlos 41 Rolla rapportiert 43 041 – Das Freundebuch: Adrian Seeberger 74 Käptn Steffis Rätsel 79 Stille Post: Nr. 44 SERVICE 25 Kunst. Heilige Ausstellungsräume 28 Bau. Eine Sarner Villa verlottert 30 Musik. Kammermusik-Pionier 34 Kino. Die Schweiz geht den Bach ab 36 Wort. Debüt einer Korrektorin 39 Bühne. Das Duo Fellmann und Andreina 42 Vorstand IG Kultur Luzern 44 Kids. Zwei neue Kinderbücher 64 Kultursplitter. Tipps aus der ganzen Schweiz 73 Diverses. Ausschreibungen, Notizen KULTURKALENDER 45 Kinderkulturkalender 47 Veranstaltungen 67 Ausstellungen Titelbild: Raisa Durandi 48 LSO / Luzerner Theater 50 Stattkino / HSLU Musik 16 DIE ZENTRALSCHWEIZER FILM- 52 Stadtmühle Willisau / Romerohaus 56 Kleintheater /Kulturlandschaft «FÖRDERUNG» 58 Südpol / Neubad 66 Kunstmuseum Luzern Wo bleiben angemessene Beiträge für Film- 68 70 Historisches Museum / Natur-Museum Kunsthalle / Museum Bellpark schaffende? 72 Nidwaldner Museum 4
SCHÖN GESAGT «Es ist die Rückkehr in ein stummes, dummes Land der fröhlichen Wahlkampfspots und Gaga-Slogans.» CHRISTOPH FELLMANN (SEITE 7) AUFGELISTET GUTEN TAG Das Kulturteil.ch-Crowdfunding erntete grandiose 8637 Franken von GUTEN TAG, WÄHLER GUTEN TAG, SPARER geplanten 6000 – herzlichen Dank Du hast entschieden. Man sah’s kommen. Und Ro- Eure Sparmassnahmen sind oft unverständlich. an: bert Menasse bekam Recht: «Ängste machen leider Oder möglicherweise so genial weitsichtig, dass dumm.» Jens Bjørneboe schreibt, dass in Zeiten, wir das Gesamtwerk nicht sehen? Durch eure in denen die Angst steigt, die Grausamkeit es ihr Handlungen können wir jedenfalls nicht eruieren, - Dominika Jarotta gleichtut. So geht es seit Jahren, und alles auf dem was in euren Köpfen vorgeht. Deshalb fangen wir - Katharina Thalmann Buckel der Schwächsten. Hat eine Gesellschaft, die mal bei ganz banalen Dingen an. Auf Primarschul- permanent nach unten tritt, eine Zukunft? Wird niveau. Euer Lieblingstier? Das Sparschwein. Dort - Marc Wermelinger die Schweiz in den nächsten vier Jahren wie das wirft man ab und an ein paar übrige Münzen rein, - Basil Gallati Herbstwetter? Grau für alle, die nicht oben unter damit man sich an Weihnachten etwas Schönes dem feissen Sünneli stehen? Wird die Bildung kaufen kann. Eure Vorgehensweise ist jedoch ein - Tobi Gmür nämlich weggespart oder so teuer, dass sie sich nur klitzekleines bisschen anders: Ihr schliesst, streicht - Andi Schnellmann noch die Vermögenden leisten können, haben die und spart bei den Dingen, die euch überhaupt erst heutigen Wahlgewinner ihre Schäfchen so, wie in die Lage gebracht haben, «Sparschwein» richtig - Magalie Marini sie sie gerne mögen: uninformiert und dumm. zu buchstabieren. Aber vielleicht muss man das - Lea Mathis Und ängstlich. alles nicht so genau nehmen? Wir finden, jedem das seine, und haben schon eine Idee für die nächste - Christov Rolla Ratlos, 041 – Das Kulturmagazin Sparmassnahme: Wieso nicht einfach den einen - Jwan Steiner oder anderen Kanton wegsparen? Damit wir uns an Weihnachten einen neuen kaufen können? - Roman Hodel Nein? Ok. Aber passt auf, dass ihr euch nicht zu - das Treibhaus Luzern sehr an eure Sparschweine gewöhnt: Solche Viecher (speziell Timo Keller) sind nämlich schnell einmal in tausend Stücke zertrümmert … - das Uferlos Luzern - die Schüür Luzern Nach den Wahlen ist vor dem Sparen, - das Neubad Luzern 041 – Das Kulturmagazin - die 74 Spenderinnen und Spender auf wemakeit.ch ANZEIGE Musik Hug – Neu in Ebikon Entdecken Sie unsere neue Musikwelt Musik Hug | Luzernerstrasse 45 | 6030 Ebikon T +41 41 417 12 12 | musikhug.ch Ins_Ebikon_195x61mm.indd 1 20.08.15 11:48 5
HINGESCHAUT Im Südosten Seit drei Tagen bin ich die Ruhe selbst. Keine hässlichen Nachrichten mehr gehört, egal von welcher Seite. Bloss Wind, Herbstsonne, Fischsuppe und dann und wann ein Sauer- kirschschnaps. Mit diesen Bildern schicke ich beste Wünsche nach Nordwest. Bild und Text: Gabor Fekete 6
LECHTS UND RINKS Die Schweiz hat gegähnt Die Flüchtlingskrise konfrontiert Europa mit einigen unangenehmen Zukunftsfragen. Derweil hat die Schweiz ein neues Parlament gewählt, doch wozu? Ein Besuch in Deutschland im Oktober 2015. Im Zug habe ich einige Kapitel von «In Europa» gelesen, dem Streifzug des holländischen Journalisten und Autors Geert Mak durch Europa und seine Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es ist eine traumatische Geschichte der Gewalt, des Terrors und des Exzesses. Ein Weltkrieg, ein zweiter Weltkrieg, der Kalte Krieg, der Balkankrieg. Millionen von Getöteten, katastrophale Fluchtbewe- gungen. In Hamburg steige ich aus dem Zug und steuere das Rollköfferchen durch den wie differenziert erstens diese Probleme der vielen Hundert Köpfe, die sich auf ihren Bahnhof und die Gruppen von Flüchtlingen. beschrieben werden, selbst in den Zeitungen Plakaten als «kompetent» bezeichnen oder, Die meisten sind aus Syrien gekommen. Schon mit den grossen Titeln. Und zweitens, wie noch schlimmer, als «engagiert». Im Einzelnen morgen werden andere von ihnen dasitzen, tabulos, aber auch wie sachlich und auf welch hätten manche dieser Leute vermutlich sehr übermorgen auch und das jeden Tag. Auf dem hohem Niveau die Debatte über die deutsche wohl etwas zu sagen. Aber insgesamt war der Platz vor dem Hauptbahnhof stehen Zelte, und europäische Flüchtlingspolitik geführt Wahlkampf leer und inhaltslos. Festgarnituren und Krankenwagen. wird. Es gibt hervorragend argumentierte Interviews mit den Kritikern dieser Politik; es Die Schweiz in Europa? Kein Thema. Deutschland sei jetzt auch Flüchtlings- gibt lange, mahnende Essays über die Fehler, Die Flüchtlingskrise? Kein Thema, nachdem weltmeister, haben Schweizer Zeitungen ge- die vor 15 Jahren bei der Integration der sogar die SVP gemerkt hat, dass sich ein schrieben. Das stimmt zwar nicht, wenn schon Balkanflüchtlinge gemacht wurden. Es gibt «Asylchaos» nicht einfach so herbeizaubern müsste der Titel an eines der Nachbarländer eindrückliche, doch distanziert geschriebene lässt. Die zukünftige Einwanderungspolitik Syriens gehen. Und doch ist es beeindruckend, Porträts geflohener Syrerinnen und Syrer. Und in einem überalterten Land? Kein Thema. dass hier ein mitteleuropäisches Land die es ist tatsächlich, als zeichne sich die Qualität Die digitale Revolution aus dem Silicon Flüchtlinge nicht als etwas betrachtet, das es der Diskussion jeden Tag am Bahnhof von Valley, das längst daran arbeitet, auch den abzuwehren, auszuschaffen, auszumauern Hamburg und von vielen anderen deutschen Schweizer Bankenplatz anzugreifen? Kein gilt. Sondern als ein zwar grosses Problem, Städten ab – in dieser ruhigen, pragmatischen Thema. Es ist alles kein Thema. Es ist alles das es aber mit Anstand anzugehen gilt. Art, Menschen zu helfen. nur noch Angst. Angst und Sehnsucht, doch Beeindruckend ist nicht nur die schiere Zahl noch von der Zukunft verschont zu werden. von Flüchtlingen, die in Hamburg ankommen. Und dann fahre ich zurück in die Schweiz, Deutschland im Herbst 2015 liefert ein Beispiel Beeindruckend ist auch die Ruhe, die im ein paar Tage vor dem Wahlsonntag. Es ist die dafür, wie man die Welt und die Zukunft zur und um den Bahnhof herrscht. Unter den Rückkehr in ein stummes, dummes Land der Kenntnis nehmen könnte. Die Schweiz im Flüchtlingen, unter den Einheimischen sowie fröhlichen Wahlkampfspots und Gaga-Slogans. Herbst 2015 ist zur Wahl gegangen. Es sind unter den Ordnungskräften. Es mutet absurd Natürlich, das ist alles Rhetorik, die Politik wird jetzt neue Köpfe, welche die Dramen der an, aber man erhält den Eindruck, hier werde in diesen Wochen vor dem Urnengang nur Schweizer Politik schreiben: Darf Eveline konzentriert gearbeitet. noch virtuell geführt. Aber das passt schon zu Widmer-Schlumpf im Bundesrat bleiben? diesem Land der einmal mehr Verschonten, Was passiert mit «Roger gegen Roger»? Und Nicht, dass es in Deutschland keine in dem die wenigen syrischen Flüchtlinge von wo könnte der Staat noch ein paar Franken Probleme gäbe mit der Ankunft so vieler der grössten Partei mit einem Vorstoss begrüsst sparen? Antworten demnächst in dieser Leere. Kriegsvertriebener. Man liest darüber in werden, in dem diese sich allen Ernstes um die den Zeitungen, den lokalen Billigblättern Krätzeprävention sorgt. Die Angsthasenpolitik wie in den grossen nationalen Titeln. Doch dominiert. Niemand getraut sich über die nach wenigen Tagen in der Stadt fällt auf, Zukunft zu reden, schon gar keine und keiner Christoph Fellmann 7
FREIRAUM Noch vor fünf Jahren waren die unmittelbaren Nach- wehen der Aktion Freiraum und der Kulturoffensive zu spüren: Bewegungen, die für die junge Kultur- und Politszene mehr selbstverwaltete Freiräume einforderten und dafür auch auf die Strasse gingen. Der Verlust der Boa, die Niederwalzung der Frigorex-Liegenschaft mit dem La Fourmi und anderen Räumen sowie der künstlerisch anders gelagerte Südpol hatten für solche Bedürfnisse ein Vakuum geschaffen. Heute scheint das Thema ausgehaucht. Keine Demos mehr, keine runden Tische, kein Sponti-Aktionismus. Der Kulturoffensive sei es nicht gelungen, aufgrund der zu vielen verschiedenen Interessen einen Konsens zu finden, sagt der Musiker Sam Pirelli, der sich damals mitengagierte. Aber auch: «Im Zeitalter der ständigen Präsenz auf sozialen Medien ist man viel zu sehr mit Selbstdarstellung beschäftigt, als sich noch gemeinsam für etwas zu engagieren.» Die Kulturleistung habe sich verändert und in die digitale Welt übertragen. «Ganz abgesehen davon, dass Facebook, Twitter etc. unglaublich viel Zeit fressen.» Aktion Neubad Dennoch sind die Bestrebungen der Aktion Freiraum und der Kulturoffensive nicht spurlos versandet. Zwar spüre man im Moment nicht viel von einer politisch- gesellschaftskritischen oder auch explizit antikapita- listischen Haltung in der Kulturszene und scheine sich mit den Gegebenheiten arrangieren zu wollen, sagt der ehemalige Boa-Präsident Thomas Burri, «aber einige der Energien der Aktion Freiraum sind sicher vom Projekt Neubad gebündelt worden». SP-Kantonsrat David Roth sieht es ähnlich: «Dass das Thema Zwischennutzung bei der Stadt überhaupt in die Köpfe kam und ein Neubad möglich wurde, ist wesentlich den Forderungen der Aktion Freiraum zu verdanken.» Umgekehrt habe auch das Neubad seinerseits wieder die Allgemeine Baugenossenschaft Luzern (ABL) inspi- riert, ihre spektakuläre Zwischennutzung im Himmel- rich aufzugleisen, doppelt Aurel Jörg, Co-Präsident des Vereins Neubad, nach. Auch er bezweifelt nicht, dass einige Anliegen, die von der Aktion Freiraum aufs Tapet gebracht wurden, ins Neubad eingeflossen sind: «Das Neubad ist wohl massentauglicher, aber es leistet reale Aufbauarbeit. Wir bringen die Themen Alternativkultur und Zwischennutzungen in die öffentliche Diskussion ein. Das Neubad zeigt in aller Deutlichkeit, dass wir Freiräume benötigen.» Jörg vergleicht das Neubad mit einer Dampfwalze, die den Weg bahnt. «Das Neubad macht es möglich, dass die Bedürfnisse der nicht eta- blierten Kulturszene überhaupt wieder zum Ausdruck 8
Die viertägige Kreativ-Explosion in der ABL-Wohnsiedlung Himmelrich hat das Thema Zwischennutzung neu in den Köpfen verankert. So cool und urban müsste Luzern sein, sagten alle, die dabei waren. Man kann auch einwenden: Die Zwischennutzung passt zur unverbindlichen Häpplikultur. Hat denn niemand mehr ein Bedürfnis nach längerfristigen Freiräumen? Von Pirmin Bossart, Fotocollagen: Raisa Durandi Lieber zwischennutzen als von Freiräumen träumen
FREIRAUM kommen. Und es zeigt, dass sie sehr breit verankert gab einen Geschmack, wie das Leben in Luzern auch sind. So können sie sich längerfristig auch wieder unter noch sein könnte. David Roth: «Es ist ein riesiges Fenster veränderten Vorzeichen manifestieren.» aufgegangen, was alles in der Stadt möglich wäre, wenn Tatsächlich ist das Neubad die bisher nachhaltigste es solche Freiräume gäbe.» Dass rund 240 relativ gut Manifestation in der jungen Geschichte der Zwischen- erhaltene Wohnungen abgerissen werden, in denen sich nutzung in Luzern. Im ehemaligen Hallenbad ist eine die Szene nach einem klar bemessenen Fahrplan für engagierte Crew am Werk und Bedürfnisse werden mit eine kurze Zeit vergnügen konnte, war der politische Ateliers, Co-Working Spaces und der Einbindung von Wermutstropfen, der heutzutage halt geschluckt wird. Quartiertreff-Funktionen äusserst vielfältig abgedeckt. Hauptsache, man kann feiern? Betriebswirtschaftliche Überlegungen sind weniger ideologiebefrachtet als in der Boa. Man kommt nicht Neben den beiden Zwischennutzungs-Polen Neubad ohne ein Minimum an Drittmitteln aus, erzielt aber und Himmelrich sind in den letzten Jahren mit dem die wesentlichen Einnahmen mit Vermietungen, dem Tatort Bernstrasse, dem Gewerbegebäude an der Trib- sehr gut laufenden Gastrobetrieb und Beiträgen von schenstrasse, dem Uferlos oder der einsam konsequent Mitgliedern, Gönnern und Stiftungen. Mit der professio- gebliebenen Industriestrasse weitere mehr und weniger nalisierten Betriebsführung und der in Aussicht gestellten temporäre Nischen entstanden, in denen die Kultur Verlängerung des Betriebs bis 2020 gleicht das Neubad lebt und die Treffpunktcharakter haben. Das läuft mal immer weniger einer klassischen Zwischennutzung. mehr auf Basis von Freiwilligenarbeit, mal mehr mit Es ist de facto ein neues Kulturhaus und könnte nach kommerziellen Absichten. Diese Grenzen verwischen Meinung vieler Nutzer eigentlich auch so bleiben. sich, wie das etwa die Nutzungen im Gewerbegebäude offenlegen: Im einen Raum ist Idealismus am Werk, Exploit Zwischenrich im anderen eher Gewinnstreben angesagt. So oder Eine radikal kurze und umso heftigere Zwischennutzung anders: Zwischennutzungen beginnen sich in Luzern ermöglichte die ABL in der Wohnsiedlung Himmelrich. zu etablieren. Auch die ABL ist laut Koch weiterhin für «Zwischenrich» war eine Explosion an Kreativität und solche Projekte offen, sobald sich eine gute Gelegenheit urbanem Lebensgefühl, wie es in dieser Intensität – bietet. Eine weitere kulturell-gewerblich-pädagogische ein paar hässliche Vandalenakte eingeschlossen – in Zwischennutzung der ABL an der Sagenmattstrasse ist dieser Stadt noch nie zu erleben war. Für die ABL war bereits im Gang (siehe Kasten). es auch ein «einmaliges Kommunikationsprojekt», wie Geschäftsführer Bruno Koch bestätigt. Für die «Solange man keinen permanenten Kulturszene ein Happening, an dem sich Hunderte von Kunstschaffenden, Veranstalter und kulturnahe Gastro- Ort als Freiraum hat, sind Zwischennut- betriebe temporär einrichten konnten. «Zwischenrich» zungen sicher die zweitbeste Variante.» David Roth 10
FREIRAUM Eingedenk dieser neuen Möglichkeiten, aber auch in Luzern deswegen abgenommen hätte. «Das Neubad, angesichts des vergilbten Charmes der Boa und nach das eigentlich gar keine Zwischennutzung im engeren erlahmtem Kampf der Aktion Freiraum stellt sich die Sinne mehr ist, zeigt das mit aller Deutlichkeit auf.» Frage, ob das Bedürfnis nach weiteren Freiräumen überhaupt noch vorhanden ist. Der grüne Kantonsrat Aurel Jörg vom Neubad sieht das Phänomen Zwi- Hans Stutz kommt zum Schluss, dass zurzeit das Angebot schennutzungen differenziert. «Zwischennutzungen von Kulturräumen für die Nicht-Repräsentativ-Kultur sind Ausdruck unserer Zeit, die auf Flexibilisierung offenbar reicht. «Und diese Zeit könnte so lange andauern, und Unverbindlichkeit setzt. Viele sehen nicht, dass ein wie das Neubad-Projekt besteht. Ausser es entsteht eine fester Ort an und für sich ein politisches Zeichen ist. völlig neue Jugendbewegung, die sich an noch unbe- Gleichzeitig darf man aber nicht vergessen, dass eine kannten Inhalten und Formen orientiert.» Sowieso, sagt gewisse Beschränkung Kreativität freisetzen kann.» Stutz: «Freiräume können nicht (staatlich) geschaffen, Differenziert ist auch der ehemalige Boa-Aktivist Burri: sie müssen zivilgesellschaftlich beansprucht werden.» «Es ist sicher besser, Häuser zwischenzunutzen, als sie Sein Wunsch an Regierung, Parlament(smehrheit) einfach auf Vorrat abzureissen, wie man das in den und Verwaltung: «Man soll solchen Aktivistinnen und 1980ern gemacht hat.» Andererseits würden sich die Aktivisten nicht bewusst Steine in den Weg legen.» Leute mit Zwischennutzungen auf etwas Befristetes einstellen und weniger leidenschaftlich für den Erhalt Zweitbeste Variante einer Sache kämpfen. «Von daher können Zwischennut- Was sind die Vorteile von Zwischennutzungen? Leisten sie zungen auch längerfristige Engagements verhindern.» der zunehmenden Tendenz nach Event- und Häpplikultur Trotzdem ist auch Burri der Ansicht, dass es nicht genug Vorschub? Werden gesellschaftskritische Positionen Freiräume geben kann – ob zwischengenutzt oder nicht. bedeutungsloser? David Roth schliesst das nicht aus. «Jede Brache sollte man zur Diskussion stellen, notfalls «Man kann hingehen, sirachen und wieder gehen. Das auch besetzen.» macht das Ganze auch unpolitisch.» Doch Roth möchte die Zwischennutzungen nicht schlechtreden. «Solange Auch wenn der Druck auf neue und vielleicht länger- man keinen permanenten Ort als Freiraum hat, sind sie fristige Freiräume zurzeit weniger akut zu sein scheint: sicher die zweitbeste Variante.» Er geht auch nicht davon Das kann sich schnell wieder ändern. «Was passiert, wenn aus, dass das Bedürfnis nach einem langfristigen Freiraum die Leute, die in der Teiggi, in den SBB-Güterschuppen oder im Neubad ihre Räume und Ateliers haben, plötzlich wieder auf der Strasse stehen?», sagt Mario Stübi, Co- «Ich möchte nicht, dass es wieder Präsident Neubad und SP-Grossstadtrat. Er hofft, dass chlöpft. So weit muss es nicht kommen, sich die Stadt frühzeitig um solche Nachfolgeregelungen wenn man prospektiv handelt.» zu kümmern beginnt und begreift, dass sich hier reale Mario Stübi 11
FREIRAUM Bedürfnisse abzeichnen, die man ernst nehmen müsse. «Ich möchte nicht, dass es wieder chlöpft. So weit muss Wo wird aktuell es nicht kommen, wenn man prospektiv handelt.» Es sei schliesslich auch eine Frage der Anerkennung, was zwischengenutzt? in diesen Szenen geleistet werde. «Welche Firma oder welches KMU würde sich ständig von Provisorium zu Tatort Bernstrasse Provisorium herumschieben lassen?» Junge Künstlerinnen und Künstler toben sich seit Sommer 2013 in der zum Atelierhaus und Ausstellungsraum umfunktionierten Es gibt noch Freiräume Bernstrasse 94 aus. Die Allgemeine Baugenossenschaft Luzern Ob das Neubad mit seinen (zu) teuren Unterhaltskos- (ABL) ist mit ihrer Planung der dortigen Neuüberbauung weit ten einmal als solches oder allenfalls als Teil eines fortgeschritten, Ende 2016 wird diese Zwischennutzung deshalb Neubauvorhabens ein Freiraum-Definitivum werden beendet. könnte, steht in den Sternen. Wichtiger erscheint, dass www.tatortbernstrasse.ch die Szene, die weiterhin ihre Freiräume fordert, an der Stadtentwicklung aktiver teilnimmt und sich einmischt, Sagenmattstrasse wenn es darum geht, die letzten Nischen dem Profit Ebenfalls involviert ist die ABL an der Sagenmattstrasse 7, wo zu opfern. Genau das hat die kürzlich gegründete IG sie das Druckereigebäude als Baulandreserve erworben und für Stadtentwicklung im Sinn, die von Aktivisten der In- die kommenden zehn Jahre für Zwischennutzungen freigegeben dustriestrasse und jungen Politikern ins Leben gerufen hat. Die 2000 Quadratmeter für Kunst, Kultur und Gewerbe sind wurde. «Wir wollen ein Auge darauf behalten, was bereits weitgehend vermietet. mit diesen Arealen geschieht», sagt Roth. «Was zum www.abl.ch Beispiel die SBB mit der Rösslimatte vorhaben, das geht für Luzern nicht. Das muss man stoppen.» Neubad Das frühere städtische Hallenbad an der Bireggstrasse hat nach Im Gespräch mit den befragten Protagonisten fallen zwei Jahren Betrieb unlängst die Verlängerung bis mindestens immer wieder – auch zentrumsnahe – Örtlichkeiten, 2020 erhalten. Der Verein bietet Atelier- und Co-Working-Flächen, die für die nähere Zukunft als potenzielle Freiräume Sitzungszimmer, Urban Gardening, Veranstaltungen im Pool und betrachtet werden. Räume, in denen auch eine kultu- einen Gastrobetrieb. rell und kreativwirtschaftlich aktive Szene ihren Platz www.neubad.org einfordern könnte: Industriestrasse, Areal ewl, SBB- Projekt Güterschuppen/Rösslimatte, CKW-Shedhalle Teiggi Reussbühl, Graggentor/Altstadt oder Rössligasse/Altstadt. Für die umfangreiche Krienser Zentrumsüberbauung wird auch Als besonders heisser Kandidat gilt das Luzerner Theater, das Areal der früheren Teigwarenfabrik umgestaltet. Dort finden für das Tom Burri schon vor drei Jahren ein Konzept seit 2013 um die 50 Kleingewerbler, Künstler und Bands Unter- als «Luzerner Volkshaus» in die Diskussion gegeben hat. schlupf, koordiniert durch die Baugenossenschaft Wohnwerk. Hier könnten, falls die Salle Modulable nicht an Ort Aktueller Auszugstermin ist Sommer 2016. und Stelle gebaut wird, unter einem Dach und mitten www.teiggi-kriens.ch im Zentrum mehrere Anliegen der nicht etablierten Kulturszene gebündelt und aktiviert werden. Rösslimatt Das Gelände zwischen Werft und Schüür wird in den kommenden Diese Meinung teilt auch Mario Stübi. «Das Luzerner Jahren durch die Besitzerin SBB komplett neu gestaltet. Die Theater mag für gewisse Ansprüche nicht mehr genügen. erste Bauphase betrifft die Holzschuppen an der Güterstrasse, Aber es weist immer noch eine Infrastruktur auf, die wo derzeit befristet Ateliergemeinschaften, Kleingewerbe und für andere Kulturbedürfnisse weitaus reichen würde.» ein Trainingsraum eingemietet sind. Voraussichtlich Ende 2016 Trotzdem möchte der junge Politiker nicht auf Biegen müssen sie draussen sein. und Brechen einen fixen Freiraum fordern. Wichtiger findet er, die Nischen auszunutzen und zu bewirtschaften. Gewerbegebäude Daraus könne sich immer noch eine Dauerhaftigkeit Der Heimatschutz musste diesen wichtigen Zeugen des Neuen ergeben, wenn das tatsächlich gewünscht werde. Und Bauens vor Jahren aufgeben, schon oft stand der Abriss der Trib- er grinst. «Warum immer fix, fix? Nichts ist fix. Fix ist schenstrasse 51 zugunsten einer neuen Überbauung unmittelbar nur, was unter Denkmalschutz steht.» bevor. Trotzdem haben die wenigen Nutzenden bislang immer wieder Vertragsverlängerungen erhalten. Baustart weiterhin unklar. (red) 12
ORIGINALE Originale gibt es, seit es Menschen gibt. Man denke an den Kyniker Diogenes von Sinope, auch als Diogenes in der Tonne bekannt, im vierten Jahrhundert vor Christus. Diogenes lebte freiwillig in Armut und anerkannte bloss die Elementarbedürfnisse nach Essen, Trinken, Kleidung, Be- hausung und Geschlechtsverkehr. Von ihm sind zahlreiche Anekdoten überliefert. Etwa, dass er auf dem Marktplatz onaniert haben soll oder als Alexander der Grosse ihm einen Wunsch gewährte, antwortete: «Geh mir aus der Sonne!» Auch Till Eulenspiegel und Robin Hood gelten als frühe Originale. Schweizer Originale Und so gibt es auch für die Schweiz einige landesweit bekannte «Nationaloriginale», wie beispielsweise den legendären Berner Coiffeurmeister Karl Tellenbach, der von Mani Matter besungene Dällebach Kari mit seiner Hasen- scharte und den Witzen, die «chutzele» und «bisse». Und sich dann «himmutrurig» das Leben nahm. Er erkrankte an Krebs und stürzte sich in die Aare. Im Abschiedsbrief schrieb er: «Ich suche eine bessere Welt auf.» Oder der Mann mit Rauschebart und weisser Fahne, der Zücher Max Daetwyler, erster Schweizer Kriegsdienstverweigerer, Pazifist und Anhänger der Abstinenten-Bewegung. Mit seiner weissen Fahne zog der selbsternannte «Doktor des gesunden Menschenverstands» von Brandherd zu Brandherd auf der Welt. Die Bundesräte nannte er: «Die sieben Angestellten.» Originale In Luzern gibt es die Güüggali-Zunft, die sich seit 1978 den Originalen in Luzern annimmt und ihr Andenken bewahrt. Sie wurde am 31. Januar, zwei Tage vor dem Schmutzigen Donnerstag, am Tag der Usgüüglete, gegründet. braucht Im Wappen haben sie ein Güügali, das daran erinnert einen Bierhumpen, mit dem man die Freundschaft pflegt und ein Güggeli, das immer am 12. Dezember von den aktiven Zünftlern in gebratener Form verspiesen wird. Entgegen landläufiger Meinung sind die Originale keine Mitglieder die Stadt! der Zunft. Aber: Was macht eigentlich ein Original aus? Wo kippt es? Konsultiert man den Brockhaus, scheint es eine einfache Definition zu geben: Auch Menschen werden Originale genannt, Wir leben in Zeiten, wo jeder individuell wenn sie sich durch Originalität ihrer Denkungsart oder ihres Benehmens auf eigenthümliche und auffallende Weise vom Gewöhn- sein will und alle immer gleicher werden. lichen entfernen; dies kann jedoch ebenso gut durch Seltsamkeit So verschwanden mit dem Tod von Emil und Thorheit, wie durch edle und vortreffliche Eigenschaften Manser und Marcel «Radio Müsli» Schön- geschehen. Menschen also, die sich vom Gewöhnlichen entfernen. Die sich von der ordinären Welt des Durch- garth Stadtoriginale weitgehend vom Radar. schnitts abstossen, sich auf ihr «Eigenes», «Originales» Wer wären neue und warum wollen sie kei- besinnen. Eine andere Definition findet man in Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch von 1798: Figürlich ne sein? nennt man auch ein ausserordentliches Genie, eine Person, welche Von Pablo Haller, Illustrationen: Stefanie Dietiker in ihrer Art Selbsterfinder ist, ein Original; da denn auch wohl 13
ORIGINALE in weiterer Bedeutung ein seltsamer Kopf, ein Sonderling, den die Reuss stürzte. Welche Ähnlichkeit mit Tellenbachs Nahmen eines Originales, nehmlich der Thorheit, des Seltsamen, Tod. Auch das Kulturmagazin widmete den Originalen bekommt. Es gibt diesen Spruch: «Jeder wird als Original eine von Herbert Fischer recherchierte und geschriebene geboren, aber die meisten sterben als Kopie.» Nummer. Seither taucht nur noch zuweilen ein Artikel Aber wo kippt es? Ab wann bleibt einer ein Original? auf, wo denn die Originale blieben. Und warum wollen die meisten keines sein? Hat sich die Gesellschaft, die Zeit dermassen gewandelt, dass was vor «Ein Stempel der Verrücktheit» einigen Jahren noch in einem Rahmen war, heute total Marco Liembd, ehemaliger Musikchef von Radio 3fach, ausserhalb ist? 1988 und 1998 leistete sich die Güüggali- «Sounds!»-Macher auf SRF3, Zentral-Plus-Redaktor sowie Zunft ein Jubiläumsbuch, jeweils geschrieben von Adolf langjähriges Vorstandsmitglied des Kick ’n’ Rush und der Alois Steiner, der 2015 verstarb. Seither erschien kein grosses IML und heute zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit im Werk mehr über die Luzerner Originale. 2005 kam das Südpol, schrieb einen solchen Artikel. Er erzählt: «Angy Thema nochmal ganz gross in den Medien, in Verbindung Burri, der als lebender Indianer eigentlich alle Vorgaben mit dem Freitod Emil Mansers. «Krebs – wählte Abkürzung erfüllte, wehrte sich sein Leben lang, als Original aufge- in Himmel», schrieb er auf einen grossen Karton, den er nommen zu werden. Denselben Effekt erlebte ich bei Sam an das Geländer des Rathausstegs lehnte, bevor er sich in Pirelli, der bei mir durchaus als Katzenvater durchgehen könnte. Mit beiden hatte ich mich ausgetauscht und nach einem Gespräch mit Adolf Portmann (Vizepräsident der «Ok, ich mag ein bunter Hund Güüggali-Zunft, Anm. d. Red.) stellte ich fest: man will heute kein Original mehr sein. Es ist ein Stempel der sein und durch meine vielen Verrücktheit, zwar völlig unverdient aufgedrückt, aber Aktivitäten auf vielen Hochzei- gestempelt ist gestempelt.» Ich erinnere mich an eine Episode mit Emil Manser ten tanzen, aber das macht aus meiner frühen Jugend. Wir hatten ein bisschen was getrunken und uns mit ihm unterhalten. Auf einmal fuhr mich nicht zum Original. er uns an: «Würdest du mir auch Du sagen, wenn ich nicht aussähe, wie ich aussehe?» War das auch ein Aufblitzen Marco Liembd dieses Stempels? Ein klarer, schonungsloser Moment, wo er dagegen war, dass er für viele bloss eine Lachnummer war? Dass ihm zu wenig Respekt entgegengebracht wurde? In dieselbe Richtung denkt auch Sam Pirelli. Korrektor, Musiker, bunter Hund. Und eifriger Internet-Kommentator gegen rechte Verblödung: «Den Begriff ‹Original› empfinde ich als Schublade. Dort wird man versorgt und braucht nicht mehr ernst genommen zu werden. Damit bezeichnet man die schrägen, auffälligen Leute ohne Macht und Geld, denn die anderen nennt man allenfalls ‹exzentrisch›. Ich denke, das ist seit je schon so – aber natürlich grad in Lu- zern.» Und fährt fort: «Der Begriff beinhaltet eine gewisse Eindimensionalität – man hat dann ein Ding, das einen als Original kennzeichnet, und darauf wird man dann fixiert respektive fixiert sich selbst. Man hatte auch vor der staatlichen Sozialhilfe keine andere Wahl; wenn die Leute über dich lächeln, empfinden sie dich nicht als Bedrohung und sperren dich nicht weg. Viele der klassischen Originale hatten entsprechend harte Lebenswege. Das Originalsein wird so zum Selbstzweck.» «Originell sind nur wenige» Thurry Schläpfer, der Maler, Fotograf, Velofahrer und Poet findet das Thema provinziell: «Schon in Mailand oder dann spätestens Paris falle ich nicht mehr auf.» Und 14
ORIGINALE noch mehr: «Ich würde es eher als beleidigend empfinden, mich als Original zu betiteln. Ein Zeichen, dass wir in der Provinz leben, mit eng gesteckten Normen, die so schnell und ohne Mühe überschritten werden. Originell kann ja «Ich würde es eher als beleidigend gut sein, ein Original ist oft der Dorftrottel.» Und er kommt empfinden, mich als Original zu ins Philosophieren: «Jeder Mensch ist einzigartig, keine Kopie. Dann sind wir eigentlich alle Originale. Originell betiteln.» sind aber nur wenige.» Die Gesellschaft habe sich verändert, meint Liembd: Thurry Schläpfer «So sehr es immer weniger Platz und Akzeptanz für die Originale gibt – Müsli hatte mehr Beizenverbote, als er noch wo reindurfte – wollen sich mögliche Originale nicht als solche bezeichnen. Wie auch. War es früher eine Ehre und Auszeichnung, sind heute die Assoziationen mit einem Original diametral versetzt. ‹Lustiger› Kauz war vielleicht mal ein Kompliment, heute ist es das irgendwie nicht mehr.» So verwundert es Liembd denn auch, dass er von vielen als Original gesehen wird: «Ok, ich mag ein bunter Hund sein und durch meine vielen Aktivitäten auf vielen Hochzeiten tanzen, aber das macht mich nicht zum Original. Marcel hatte seine Radioshows oder selbstgeschriebenen Hefte, der Festredner Peter hält eben seine Rede, der Schwanenvater schaute zu den Schwänen und Joe ‹Hau den Lukas› sitzt Tag für Tag als Wächter an der Baselstrasse. Was wäre denn da mein Verdienst? Ein bisschen Kultur organisieren, wie das rund 100 andere in dieser Stadt auch tun, und von denen ganz sicher viele besser?» «Dann bin ich halt ein Original!» Herbert Fischer, journalistisches Urgestein und umtriebiger Gründer und Redaktor von Lu-Wahlen.ch ist aus der Luzerner Medienlandschaft nicht wegzudenken. Ob er mit seinem Fischergilet und den obligaten zwei Kameras um den Hals auf Pirsch geht, um zu fotografieren – den Begriff «fötele» lehnt er vehement ab. Ob er an Pressekonferenzen auf dem Land den Saal verlässt, um im Laden nebenan neues Bier einzukaufen. Ob er sich von der Luzerner Polizei verhaften lässt, nachdem er eine andere Festnahme dokumentieren wollte («Si hend mer id Eier gingget!»). Auch ihn sehen viele Leute als Original. «Es gibt da kein Muster, keinen Parameter, wann jemand als Original gilt. Aber ich beobachte, dass immer weniger Leute den Mut haben, sich selber zu sein. Wenn es für die heutige Zeit schon genügt, nicht nur an der Fasnacht, sondern auch unter dem Jahr ein Original zu sein, dann bin ich halt eines.» Sagts und trinkt seinen Kaffee aus. Während er seinen olivgrünen Mantel festzurrt und in die kalte Nacht verschwindet, erinnere ich mich an einen Gedanken von Liembd: «Müslis Welt wäre eine bessere als jene Welt, der wir täglich wie Hamster im Rad versuchen, gerecht zu werden.» Fehlt uns Bünzlis nicht allzu oft der Mut, so zu sein, wie wir gern wären? Dass wir Originale zuweilen belächeln – ist das etwa Neid? 15
FILMFÖRDERUNG Immer Ärger mit der Filmförderung Markus Föhn zeigte vor knapp zwei Jahren in unserem Heft auf, dass die Zentral- schweizer Filmförderung in desolatem Zustand ist. Zwei Jahre später hat sich et- was getan, aber die Grundsituation ist dieselbe geblieben. In Zeiten von Sparrun- den müssen Filmemacherinnen und Filmemacher offensichtlich hinten anstehen. Von Heinrich Weingartner Film ist als Ausdrucksform zentral und kann der Welt einen Anstieg reicht aber noch immer nicht, um das obige Spiegel auf eine Art und Weise vorhalten, wie es die Literatur, Förderdilemma zu lösen. Und weitere Erhöhungen die Musik oder die Kunst nicht tun können. Populär, breit sind – wie zu erwarten – laut Wyss in naher Zukunft verständlich und sinnesübergreifend. Zentralschweizer undenkbar: «In der aktuellen Finanzsituation ist Film soll das auch tun können, und wenn die Mittel dazu eine weitere Erhöhung der Luzerner Beiträge an fehlen, dann kann er es eben weniger gut oder gar nicht. Zentralschweizer Filmprojekte quasi ein Ding Filmschaffende aus unserer Region stören sich seit der Unmöglichkeit, stehen in den kommenden Jahren daran, dass die Innerschweizer Kantone die tiefste Jahren doch über alle Departemente hinweg Filmförderquote in der ganzen Schweiz haben. 2014 gaben harte Sparmassnahmen an.» die Kantone Luzern, Uri, Obwalden, Nidwalden, Zug und Gute Neuigkeiten stellen die ab 2015 res- Schwyz insgesamt 541 000 Franken für die Herstellung von pektive 2016 ausgeschriebenen Filmförderprei- Filmen aus, der Kanton Luzern allein 283 000 Franken. Das se der Albert Koechlin Stiftung (AKS) dar, der ist zwar leicht höher als in den Jahren davor; im Vergleich «Innerschweizer Nachwuchs-Kurzfilmwett- mit anderen Kantonen belegen die Zentralschweizer jedoch bewerb» und der «Innerschweizer Filmpreis». den letzten Platz. Zum Vergleich: Die Zürcher Filmstiftung Im bereits gestarteten, jährlich stattfindenden förderte 2014 77 Projekte mit insgesamt 10,7 Millionen Nachwuchs-Kurzfilmwettbewerb werden Franken. Die geringen Fördermittel in der Zentralschweiz maximal 110 000 Franken gesprochen. Der führen dazu, dass bei lokalen Projekten Gratisarbeit an der ab 2017 alle zwei Jahre vergebene Filmpreis Tagesordnung ist und professionelle Filmproduzenten rar fördert rund zwölf Filme mit einer Preissumme sind. Zudem wandern viele Talente nach Zürich, Basel, von maximal 600 000 Franken (zusätzliche Bern oder in die Romandie ab. 45 000 Franken werden in Form von Spezial- Benötigt die Zentralschweiz überhaupt eine höhere preisen vergeben). Die AKS engagiert sich damit Quote? Für die kleine Zentralschweiz genügt doch knapp erstmals systematisch in der Filmförderung und eine halbe Million? Das Problem dabei: Eine Erhöhung operiert in diesem Fall nicht wie in anderen der regionalen Fördermittel vergrössert die Chance, dass Wettbewerbsverfahren unter einem Eingabemotto Produktionen aus der Innerschweiz auch vom Bundesamt (wie beispielsweise «Sehnsucht» oder «Barocker für Kultur entsprechend höher unterstützt würden. «Je Mai»). Martino Froelicher, Projektleiter der AKS, mehr die regionale Förderung in ein Filmprojekt investiert, begründet die Lancierung der beiden Wettbewerbe desto höher fällt auch die nationale Subventionierung aus», wie folgt: «Unter anderem hat uns der Planungsbericht steht in einer in diesem Jahr herausgegebenen Broschüre über die Kulturförderung des Kantons Luzerns gezeigt, dass des Vereins Film Zentralschweiz. Der Verein bündelt seit in diesem Feld Handlungsbedarf besteht, und so wollen sechs Jahren die Kräfte der Filmschaffenden in der Zent- wir auf die schwierigen hiesigen Rahmenbedingungen für ralschweiz und ist Anlaufstelle für deren Anliegen. Mit der Filmschaffende reagieren.» Will man also dem Kanton tiefen Quote schneiden sich die Innerschweizer Kantone Luzern und weiteren Innerschweizer Kantonen bei der also ins eigene Fleisch … Filmförderung unter die Arme greifen? Froelicher winkt ab: «Wir wollen keinesfalls die öffentliche Hand entlasten, Auf dem richtigen Weg … deren deklarierte Filmförderungsziele bleiben auf der «Im Jahre 2014 konnte die Filmförderung trotz starkem Agenda. Aber da derartige Wettbewerbe in naher Zukunft Spardruck die Gesamtbeiträge um einen Drittel erhöhen», so von den Kantonen nicht lanciert worden wären, haben Reto Wyss, Regierungspräsident des Kanton Luzerns. Dieser wir uns für diese Form des Engagements entschieden. 16
FILMFÖRDERUNG Die Wettbewerbe stellen eine gezielte Ergänzung zum Gewicht – und damit auch mehr Fördermittel – zu erhalten. Engagement der öffentlichen Hand dar.» Auf einen solchen Schritt arbeiten wir weiter hin.» Albin Auch Maria Müller, Präsidentin des Vereins Film Zen- Bieri, der in der Kulturförderung des Kantons Luzern tralschweiz, findet die Lancierung der Wettbewerbe eine unter anderem für Film zuständig ist, weist auch darauf gute Sache: «Die Vergabe eines Innerschweizer Filmpreises, hin, dass sich die Innerschweizer Kantone mittlerweile an dem auch der geförderte Nachwuchssiegerfilm gezeigt auf gemeinsame Förderrichtlinien und höhere Beiträge wird, kann dazu beitragen, das Bewusstsein von Poli- pro Sparte geeinigt haben. Zudem nimmt er Filmema- tikerinnen und Politiker für das hiesige Filmschaffen cherinnen und Filmemacher in die Pflicht: «Die Filme zu stärken und sie für den Nutzen höherer Beiträ- müssen qualitativ ein hohes Niveau erreichen und Erfolge ge zu sensibilisieren.» Und: «Ich verstehe nicht, im Kino, an Festivals und in Online-Medien verbuchen. dass der politische Wille fehlt, genauer über den Nur so werden auch die Budget-Verantwortlichen in den volkswirtschaftlichen Ertrag der investierten Zentralschweizer Kantonen sehen, dass sich Filmförderung Mittel nachzudenken und entsprechend zu lohnt.» Und den Verein Film Zentralschweiz: «An Zent- handeln. Der Rückfluss an Filmfördermitteln ralschweizer Premieren beispielsweise müsste der Verein in die Zentralschweiz kann, wie das in einer bzw. die vielen Mitglieder mehr Präsenz zeigen und die Potentialanalyse durchgerechnete Beispiel Filme aktiver bewerben.» des Filmes ‹Stationspiraten› zeigt, bis zu 170 Darauf arbeiten Maria Müller und Corina Schwingruber, Prozent der investierten Gelder ausmachen.» beide renommierte Zentralschweizer Filmemacherinnen Müller ist wie Froelicher der Meinung, dass und aktiv im Vorstand des Vereins Film Zentralschweiz, das Engagement der AKS nicht als Kompensa- hin: Gemeinsam sind sie daran, eine Vermittlungsstelle tion der öffentlichen Hand angesehen werden für das hiesige Filmschaffen aufzubauen, die zwischen dürfe: «Das kulturelle Engagement der AKS Politik, Behörden und Filmschaffenden vermitteln kann, stellt ganz klar eine Ergänzung zu jenem der politische Lobbyarbeit betreibt und eben zum Beispiel auch Kantone dar.» Premierenanlässe mit Filmgesprächen organisiert. Diese Ausschreibungen können natürlich Roman Hodel, der vor knapp einem Jahr das Studium die Abwanderung in andere Kantone bremsen, in Video an der Hochschule Luzern abgeschlossen und aber auf die vom BAK fliessenden Gelder hat mit der Ambulanz-Doku «Blaulicht» (zusammen mit das Engagement der AKS leider keinen Einfluss. Lena Mäder) den zweiten Platz beim diesjährigen «Upco- ming Film Makers» erhalten hat, meint, dass die niedrige … und doch nicht Filmförderung nur ein Faktor sei: «Zürich wird immer Eine Studie zur Zentralschweizer Filmförderung Filmhauptstadt bleiben. Unsere Filmemacherinnen und von Rachel Schmid und Sven Wälti (2012) zeigte Filmemacher wandern nicht nur ab, weil ihnen die Förde- auf, dass erhebliches Potenzial im Zusammenschluss rung nicht genügt, sondern weil die ganze Infrastruktur in der Mittel aller Kantone bestünde. Die Innerschwei- Zürich fürs Filmemachen idealer ist. Kameraverleihfirmen, zer Projekte würden den Anschluss an die anderen Produktionsfirmen, Schauspielerinnen und Schauspieler Kantone nicht verlieren und würden allenfalls Zugang etc.: Das ist alles in Zürich.» Pablo Callisaya, porträtiert in zu höherer Förderung des Bundesamts für Kultur erhalten. der März-Ausgabe dieses Jahres, sieht die Sache so: «Das Dies wollten jedoch nicht alle Kantone, weshalb die Bil- Problem liegt eher darin, dass die staatliche Kulturförderung dungsdirektorenkonferenz der Zentralschweizer Kantone schlussendlich auch nur eine Gruppe von Leuten ist, die 2013 beschloss, dass kein gemeinsamer Filmförderfonds über ein Projekt entscheidet und somit für Filmschaffende eingerichtet wird. manchmal sehr demotivierend sein kann.» So sollten sich Bis heute konnte die Idee für einen gemeinsamen laut ihm Filmemacherinnen und Filmemacher nicht nur auf Filmförderfonds der Zentralschweiz nicht realisiert werden. die öffentliche Hand verlassen. Bleibt zu hoffen, dass allen Reto Wyss verspricht jedoch, dieses Ziel weiterzuverfolgen: Beteiligten klar ist, dass ein Filmstandort Zentralschweiz «Die Filmförderung braucht sicherlich mittelfristig einen nur durch Wechselwirkungen von öffentlicher Hand, stärkeren Verbund der Zentralschweizer Kantone, um politischem Engagement, hochqualitativem Output und auch in der eidgenössischen Filmförderung ein stärkeres ausgebauter Infrastruktur entstehen kann. 17
HAUSAUTOREN Das Fuck Irony! Den Regeln Spiegelkabinett «Welcome to SVP» heisst der Wahl-Spot entsprechen der SVP: Selbstironisch schwimmt Blocher Ich verliebte mich letztens in einen Mör- im Swimmingpool, selbstironisch pützelt Ich habe keine Ahnung. Ich habe schon der. Er stand auf der Theaterbühne und Mörgeli ein Skelett und selbstironisch lange nicht mehr geschrieben. Ich würde trug mir sein Leben vor. Natürlich verlieb- steht Bundesrat Maurer neben schlen- gerne wieder schreiben. Wenn ich schrei- te ich mich nicht in den Schauspieler, also kernden Titten in einem Träger-Shirt mit be, schreibe ich nicht Theater, sondern in die Person hinter der Figur – falls es dem Aufdruck «88», was in der rechten Geschichten, und die sind dann Theater. so etwas gibt –, denn diese Person kenne Szene für «Heil Hitler» steht. Und jetzt soll Es gibt nicht Theatertexte oder nicht The- ich nicht. Hingegen hatte ich das Gefühl, ich einen Text über die Zukunft des Thea- atertexte, sondern nur gute und schlechte den Mörder zu kennen. Wenigstens einen ters schreiben. Und ich schreibe: Texte. Moment lang. Ich erhielt Zugang zur Ich stand neulich auf der Strasse und sah Ich weiss es nicht. Meine Funktion könnte Brüchigkeit dieses (fiktiven) Menschen vor mir einen Geländewagen; ein Mann sein, dass ich in eine Art Regietätigkeit und verliebte mich sofort. Die Musik, das sass darin, sass in dem Geländewagen und gehe. Mit Texten von mir oder anderen. Licht, alles stimmte. Aber es war eine sah hinunter, sah hinunter auf die Strasse, Oder dass ich sie selber eine Art spiele. Das Verliebtheit von kurzer Dauer. Für die hinunter auf die Paare und Passanten, hi- darf man natürlich nicht überstrapazie- Dauer eines Abends, denn danach gab es nunter auf die Mofas, die Velos, die Autos, ren. Wenn du dich so in Rollen begibst – sie nicht mehr, die Figur. hinunter auf die Schilder, die Pfeile, die und das machst du als Schriftsteller ja so- Was ist das für ein Ort, wo man sich po- Zeichen, und fuhr – in aller Überheblich- wieso – kriegst du viel mehr mit, was die tenziell in Mörder verliebt? Und warum keit – über alle und alles hinweg. anderen Leute machen. Das ist alles, was entwickelt man überhaupt Gefühle für Und ich dachte: Scheint sich noch nicht meine künstlerische Welt ausmacht. Ich fiktive Figuren? überall herumgesprochen zu haben, dass stelle mir immer vor, dass ich in diesen Ich weiss nicht, was das Theater ist. Ist es wir im post-karbonen Zeitalter sind. Situationen wäre, die ich herbeischreibe. ein Ort der Simulation? Ist es ein Ort der Ich war neulich im Theater und sah vor Für die Schauspieler wird es mühsam, Illusion? Ist es ein Ort der Authentizität? mir die Bühne; ein Mann stand auf der wenn zwei Regie führen. Aber wenn ich Ich weiss nur, solange ich nicht weiss, Bühne, stand auf der Bühne und sah hi- mit einer Regisseurin arbeiten würde, was das Theater ist, solange wird es mich nunter, sah hinunter auf die Zuschauer, könnte ich mir alles besser vorstellen. weiterhin fesseln – in all seiner Absurdität hinunter auf «seine» Rolle, hinunter auf Für mich gibt es drei Funktionen, die und Unerklärbarkeit. Wie ein Spiegelkabi- die Geschichte, hinunter auf «seinen» mich im Theater interessieren: Was macht nett: Man meint, man habe den richtigen Text, hinunter auf die Fragen, die Prob- die Stimme, die präsent ist? Wie verhält Weg eingeschlagen, dabei begeht man leme, um die es an diesem Abend hätte sich der Körper, aus dem die Stimme stets den Falschen und gruselt sich, weil gehen können und fuhr – in aller Über- kommt? Wie verhalten sich Ruhe und man plötzlich vor Wänden steht, die vor- heblichkeit – über alle und alles hinweg. Stille? her nicht da waren und in denen man sich Und ich dachte: Scheint sich noch nicht Theater ist Aufführung und muss den bloss nur immer selbst spiegelt oder den überall herumgesprochen zu haben, dass Regeln der Aufführung genügen. Die Kopf kräftig daran anstösst. wir im post-ironischen Zeitalter sind. Aufführung ist dann gut, wenn die Leute, die sie machen, sie bei aller Kritik, die sie Ariane Koch Dominik Busch gegen sich richten, für gut befinden. Man muss sehr kritisch mit sich sein, aber auf Ariane Koch ist Autorin, bildende Künstlerin und Ver- Dominik Busch ist Bassist, Autor und promovierter legerin. Sie schreibt in verschiedenen Kollaborationen Philosoph. Er schreibt Theaterstücke, Libretti und niemanden anderes hören, es sei denn, Theater- und Performancetexte. Ausserdem gibt sie Prosa und realisierte am Südpol Luzern zusammen mit man möchte es freien Herzens. das «Lasso» heraus, ein Magazin für Kunst und Lite- der freien Gruppe Zell:stoff die Produktion «Draussen ratur. die Stadt». Zuletzt inszenierte er in der Himmelrich- Zwischennutzung «Heim#1». Michael Fehr (aufgezeichnet von Pablo Haller) Michael Fehr ist Lyriker, Dramatiker, Schlagzeuger und Schauspieler. Er ist u. A. Schweizer Kurator für Babelsprech zur Förderung junger deutschsprachiger Poesie. «Kurz vor der Erlösung» und «Simeliberg» sind seine Buchpublikationen. Ariane Koch, Dominik Busch und Michael Fehr: die Ideenschmiede des Luzerner Theaters 2015/16. Bild: Ingo Höhn 18
Ariane Koch, Michael Fehr und Dominik Busch schreiben das Luzerner Theater durch die Spielzeit 2015/16. Von den drei Hausautoren wollten wir wissen, was die Zukunft des Theaters sein soll. Entstanden sind drei so verschiedene wie inspirieren- Triologie de Texte, die Kostproben ihrer Schreibe geben. der Theaterzukunft 19
HÖHLENFORSCHUNG Das Hölloch im schwyzerischen Muotatal ist die zweitgrösste Höhle Europas. Das 200 Kilometer lange Höhlensystem wird seit 115 Jahren systematisch erforscht – und noch längst ist nicht alles entdeckt. Von Philippe Weizenegger Erforschung einer verborgenen Welt Alles ist dumpf. Nur das Knirschen des Schnees unter den Füssen durchbricht die Stille. Der Weg zum Hölloch ist von Tan- nen, überhängenden Felsen und Eiszapfen gesäumt. Nur im Winter ist die Höhle frei von Überschwemmungen und somit gefahr- los begehbar. Nach einem kurzen Marsch steht man vor einer unwirklichen Spalte. Verschmitzt lächelt die Pforte des Höllochs. Es ist der Eingang in eine andere Welt. Eine Welt der Dunkelheit, des Unbekannten und des Urtümlichen. Das Hölloch ist ein Höhlensystem im Muotatal mit unterirdischen Seen, Bächen und riesigen Hallen. Dieses System erstreckt sich über 200 Kilometer. Seit über 100 Jah- ren werden die dunklen Gänge erforscht – und ein Ende ist noch immer nicht in Draussen regnete es während ihrer Expe- mer Wagemutige in die Tiefe locken. Denn Sicht. Diese unterirdische Welt zog immer dition ununterbrochen und so schwollen das Hölloch ist nur ein Exempel für den wieder die unterschiedlichsten Menschen im Innern die Bäche und Seen stark an. schon immer bestehenden und darum wohl an. Wissenschaftler, Bergsteiger oder Unter- Nach 24 Stunden untertags realisieren die fortwährenden Wissensdurst und die Aben- nehmer versuchten ihr Glück im Muotatal. Forscher, dass sie eingeschlossen sind. Wäh- teuerlust der Menschen. So wollte zum Beispiel 1904 ein belgisch- rend die Eingeschlossenen warten, bis das schweizerisches Unternehmen die Höhle in Wasser wieder abfliesst, wird draussen eine Im Oktober ist beim Hier und Jetzt Verlag eine eine Touristenattraktion verwandeln. Das Rettungsaktion gestartet. Selbst das Militär umfangreiche Publikation zum Hölloch erschie- Hölloch wird ausgebaut und damit kommt eilt zu Hilfe und täglich berichten Radio und nen. Herausgegeben wurde das Buch von der auch der technische Fortschritt, wie zum Zeitung vom Höhlendrama. Nach zehn Tagen Luzernerin und ehemaligen Radio 3fach-Mar- Beispiel Stromleitungen, ins Schwyzer Tal. können die Abenteurer schliesslich aus eige- ketingleiterin Angela Meier und vom freischaf- Doch das Vorhaben, aus dem Hölloch Profit ner Kraft die Höhle wieder verlassen. Doch fenden Luzerner Grafiker Kaj Lehmann. Simon Rüegg (Layout) und Raphael Schön (Infogra- zu schlagen, scheiterte spätestens dann, als «die Erleichterung, das Höhlengefängnis fiken), beides ehemalige Luzerner Grafikstu- 1910 ein Hochwasser die Einrichtungen im verlassen zu haben, wich der Angst, durch denten, haben mit ihm zusammen das Buch ausgebauten Teil der Höhle zerstörte. diese Gefangenschaft finanziell ruiniert gestaltet. Philippe Weizenegger, Autor dieses zu sein», wie Prof. Dr. Alfred Bögli, einer Beitrags, hat für die Publikation Texte beige- Teure Rettungsaktion der Eingeschlossenen, die Aktion später steuert. Ein Hochwasser war es auch, welches das beschrieb. Im Hölloch – Erforschung einer verborge- Hölloch schweizweit bekannt machte. Ei- Auch heute ist es noch immer unklar, nen Welt. Hier und Jetzt Verlag, Baden 2015. ne Forschungsgruppe wollte im Sommer wie viele unentdeckte Stollen im Dunkeln 260 Seiten. Fr. 60.– 1952 verschiedene Höhlengänge vermessen. schlummern. So wird der Untergrund im- 20
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