Literatur-Rundschau - Nomos eLibrary
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Communicatio Socialis 38 (2005), Nr. 1: 93–110 Quelle: www.communicatio-socialis.de Literatur-Rundschau Hans Hafenbrack: Geschichte des genreichen Geschichtsklitterung hin: Evangelischen Pressedienstes. Evan- auf Hans Hafenbrack, 1978 bis 1981 gelische Pressearbeit von 1848 bis Redakteur und 1981 bis 1998 Chef- 1981. Bielefeld: Luther-Verlag 2004 redakteur der epd-Zentralredaktion. (= Evangelische Presseforschung, Dieser arbeitete damals noch an ei- Band 5). 664 Seiten, 42,90 Euro. nem Buch über die Geschichte des epd. Es war im Sommer 2002, als Volker Das Buch ist jetzt erschienen. Es Lilienthal, Redakteur des Evangeli- erzählt auf 664 Seiten eine lange sehe Pressedienstes (epd), in .,epd- Geschichte. Sie reicht von 1848 bis medien" Ergebnisse einer von ihm 1981 und gilt dem epd als der .,äl- durchgeführten Recherche über den testen Nachrichtenagentur Deutsch- epd in der Zeit des Dritten Reiches lands". Das Prädikat ist gerechtfer- und insbesondere über dessen dama- tigt, bezieht der Autor doch die Vor- ligen und späteren, hochangesehenen läufer mit ein, die .,Evangelische Cor- Chefredakteur Focko Lüpsen publi- respondenz für Deutschland" (1876- zierte, die in Fachkreisen - man 1879), die .,Korrespondenz für Innere verzeihe hier die abgenutzte Meta- Mission" (1898-1910) und die .,Kor- pher - wie eine Bombe einschlugen. respondenz des Evangelischen Press- Lüpsen habe, so berichtete Lilienthal, verbandes für Deutschland" (1910- im Jahr 1946 in einem Lizenzantrag 1919). Auch 1919 oder 1910 ist ein an die britische Militärregierung und stolzes Geburtsalter für eine deut- nochmals im Jahr 1950 im Kirchli- sche Agentur - die heute existieren- chen Jahrbuch für die Evangelische den verzichten wohlweislich auf eine Kirche in Deutschland die Behaup- Ahnenreihe, soweit sie denn eine tung in die Welt gesetzt, der epd sei hätten. 193 7 von der nationalsozialistischen Hafenbrack beginnt, versteht sich, Presselenkung verboten worden. In mit Johann Hinrich Wichern und Wirklichkeit konnte er, wie sich an- gliedert seinen Stoff in zehn Kapitel: hand von Bibliotheksbeständen nach- (1) Die Pressearbeit der Inneren Mis- weisen lässt, bis zur allgemeinen sion [reicht bis 1910], (2) Die erste Unterdrückung der konfessionellen Herausgeberschaft des Evangeli- Presse im Jahr 1941 weiter erschei- schen Pressedienstes [1910-1914), nen, nicht unbehelligt, aber auch (3) Die Kriegs-Korrespondenz ... nicht über die Maßen schikaniert, [1914-1918), (4) Die Blütezeit der denn die epd-Inhalte, verantwortet Öffentlichkeitsarbeit in der Ära Hin- von Lüpsen, waren brav gleichge- derer [1918-1933), (5) Sprachrohr schaltet. der Deutschen Christen im Kirchen- Lilienthai hat seine Studie noch kampf [1933/1934), (6) 1939 wird einmal sorgfältig für die .,Publizistik" die epd-Ausgabe für die Tagespresse aufgearbeitet, wo sie im Jahr 2003 eingestellt [1935-1939), (7) Zweifa- erschien. In beiden Publikationen che Zensur für den epd im Zweiten wies Lilienthai auf den eigentlichen Weltkrieg [1939-1941), (8) Der epd Entdecker der für die Historiographie unter dem Dach des westfälischen der konfessionellen Publizistik fol- Presseverbands [1946-1964), (9) https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
LI/ tHATUR-RUNDSCHAU Der EPD wird wieder Herausgeber zwar im oben erwähnten Kirchlichen des Evangelischen Pressedienstes Jahrbuch. Hier heißt es klipp und [epd; 1964-1968], (10) Der epd im klar, es sei [193'] "ein Verbot ver- Gemeinschaftswerk der Evangeli- hängt" worden, und zwar "nach einer sehen Publizistik [1968-1981]. scharfen Auseinandersetzung des Aus der Überschrift von Kapitel 9 Chefredakteurs [d.i. Lüpsen] mit dem erkennt der mit der Nomenklatur Fachschaftsleiter der Reichspresse- nicht voll vertraute Leser, dass EPD kammer". Das war August Hinderer, und epd nicht dasselbe sind. Der zugleich EPD-Vorsitzender und epd- Verband, eine Einrichtung, die es in Herausgeber, also Lüpsens politisch gleicher Funktionsfülle auf katholi- gleichgesinnter Glaubensbruder und scher Seite nie gab und auch heute Chef. nicht gibt (mehr dazu im Buch von Dem Mangel an Logik geht Hafen- Gottfried Mehnert: Evangelische brack akribisch und mit einleuchten- Presse, 1983), war über viele Jahre der Argumentationsführung nach: Träger des epd: 1910-1941 sowie Lüpsen hat nicht nur 1946 (im Li- 1964-1968. In der unmittelbaren zenzantrag), sondern 1950 auch öf- Nachkriegszeit aber arbeitete der epd fentlich geflunkert. Da er aber der unter dem Dach des westfälischen Nachkriegsgeneration (auch den Presseverbandes im Bethel. Wissenschaftlern in ihr) als Muster In diese Zeit fallen die Anstreu- an Glaubwürdigkeit galt, zog die Ver- gungen Focko Lüpsens, den 1941 botsgeschichte (und damit die NS- von den Nationalsozialisten abge- Opferrolle) ungeprüft in mehrere würgten epd wiederzubeleben. Und kommunikationsgeschichtliche Dar- damit, nämlich mit dem Lizenzan- stellungen ein. Dem Lizenzantrag trag, den er am 15. Mai 1946 an die wurde übrigens - allerdings erst am britische Besatzungsregierung rich- 15. Juli 1947- stattgegeben; der epd tete, begann auch die oben schon konnte legal wieder erscheinen, nach erwähnte Geschichte vom angeblich dem Lüpsen ihn schon 1946 ohne bereits 1937 (oder gar schon 1936) Lizenz betrieben hatte. Er selbst ging veranlassten Verbot des epd durch mit weißer Weste durch die Nach- die Presselenkung: In den Antrag an kriegsmediengeschichte, und cum die Briten schrieb er, um seine und grano salis hatte er sie wohl auch des damaligen epd Anti-Nazi-Gesin- verdient, obwohl er im Dritten Reich nung zu untermauern: "1936 wurde nicht ganz der Held gewesen war, für mir die Herausgabe des Evangeli- den er sich ausgab. schen Pressedienstes für die Tages- Hafenbrack gibt ein treffendes, der presse untersagt, da ich mich weiger- Historie gerecht werdendes Urteil da- te, mich einer Vorzensur zu unter- zu ab: "Die Behauptung des epd- werfen" (S. 308). Verbots und der Mitarbeit in der Dieser Satz, das belegt Hafen- illegalen Publizistik der Bekennen- brack stichhaltig, ist falsch: Lüpsen den Kirche haben ihren ,Sitz im war nicht Herausgeber, es gab keine Leben' in der Nachkriegszeit" (S. epd-Vorzensur, und obendrein er- 326). schien der epd - auch die Ausgabe Die Tatsache, dass (und in wel- für die Tagespresse - weiter, und cher Gestalt) die Aufdeckung der zwar unter Lüpsen als Schriftleiter. epd-Wahrheit zwei journalistische Aber Lüpsen hat die Behauptung Väter hat, nämlich Lilienthai und vom Verbot nach sorgfältiger Vorar- Hafenbrack, wird nicht ganz transpa- beit auch im Druck publiziert, und rent. Lilienthai hat zwar Hafenbrack https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
LITERATUR-RUNDSCHAU stets die Ehre des Erstentdeckers den CND bedeutete freilich nicht die gegeben, ist aber, weil er als erster Distanzierung der evangelischen Sei- publiziert hat (auf Betreiben des epd- te, sondern, wie wir aus Richardi/ Chefredakteurs Thomas Schiller), als Schwingenstein wissen, der Druck Aufdecker der Geschichte bekannt aus Köln, die Überleitung in die KNA. geworden. Neue epd-Konkurrenz kam erst ab Den Aufsatz Lilienthais in der 1970 auf, als die Evangelikalen eine "Publizistik" (Volker Lilienthal: "In eigene Agentur gründeten, den "In- die Illegalität gedrängt?" Herkunft, formationsdienst der Deutschen Tradierung, Funktion und Korrektur Evangelischen Allianz" (idea). Die der Legende vom epd-Verbot 1937. Auseinandersetzungen zwischen bei- In: Publizistik, 48. Jg. 2003, H. 2, S. den Unternehmen sind klar darge- 156-175) hat Hafenbrack offenbar stellt und gut belegt. nicht mehr vor Abschluss seines Das kann man, soweit unsere Buchmanuskripts auswerten können. Kenntnisse reichen, über das ganze Das gilt auch für das Buch von Hans- Buch sagen. Hafenbrack arbeitet, so- Günter Richardi überAlfred Schwin- weit möglich, aus den Quellen, die er genstein (Hans-Günter Richardi: Am in großer Breite ausschöpft. Die Anfang war das Ende. Das Wirken Fülle des Stoffes hat er mit einer von August und Alfred Schwingen- sorgfältigen Gliederung gebändigt, stein. München 2001). Dort findet die dem Leser als sehr stark differen- sich nämlich - aus Gründersicht - ziertes Inhaltsverzeichnis gegenüber- die Geschichte des Christlichen tritt. Es ist dies eine echte Erschlie- Nachrichtendienstes (CND), zu der ßungshilfe, denn das Buch besteht jetzt Hafenbrack die andere, die pro- aus zahlreichen "Einzelgeschichten". testantische Hälfte beiträgt. Der CND Wir haben nur zwei davon herausge- (1946-1953) war ja nicht nur einer griffen, um Anschaulichkeit zu ver- der Vorläufer der Katholischen Nach- mitteln. Der Autor verliert trotz (oder richtenagentur (KNA), sondern auch wegen) der starken Untergliederung der m.W. bislang einzige Versuch, nicht den Faden, gerrauer gesagt: die eine ökumenische Nachrichtenagen- Fäden, indem er gelegentlich mit tur zu gründen und zu betreiben. Vorausverweisen operiert. Eine um- Während die evangelischen CND- fangreiche Sammlung von Kurzbio- Mitarbeiter (unter Leitung von Chri- graphien im Anhang hilft, die drama- stoph von Imhoff) den Dienst zu tis personae zu rekapitulieren. Das einer angesehenen Quelle entwickeln Literaturverzeichnis ist eher fachspe- halfen, sah Focko Lüpsen mit seinem zifisch gehalten. Die älteren Arbeiten 1947 wiedergegründeten epd etwa von Bahr, Bühler, Klaus oder ausschließlich das Problem der Kon- Lorey liegen schon außerhalb der kurrenz. Hafenbracks Urteillässt an Aufmerksamkeit des Autors, und Deutlichkeit nicht zu wünschen üb- über den konfessionellen Zaun ge- rig: Lüpsen habe u.a. "in einem schaut wird so gut wie gar nicht (je Rundschreiben an die Schriftleitun- einmal Bringmann bzw. Hock), so- gen der kirchlichen Presse" die Kon- weit es das Literaturverzeichnis an- kurrenz-Agentur "madig" gemacht geht. und eine "Diskreditierungskampagne Dort wäre auch, jedenfalls auf dem gegen den CND" betrieben, "die engeren Feld der Nachrichtenagentu- schließlich dem epd das Monopol ren, nicht sehr viel zu holen gewesen. über die evangelische Nachrichtenar- Auf katholischer Seite gibt es in der beit sicherte" (S. 446). Das Ende für Frage der Nachrichtengebung - von https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
LI/ tKA I UK-KUNU~CHAU der "Central-Auskunftsstelle der ka- fest, dass in verschiedenen For- tholischen Presse" und den "Apolo- schungsansätzen ein theoretischer getischen Mitteilungen" bis zur KNA Zugang überhaupt fehlt und sozusa- - einiges aufzuarbeiten. Hafenbracks gen "von der Hand in den Mund" Buch sollte ein Anstoß sein. gearbeitet wird. Vor allem wird klar, Michael Schmolke dass der oft verwendete Terminus der "Medienglaubwürdigkeit" kein Synonym oder Oberbegriff für Ver- Matthias Kohring: Vertrauen in Jour- trauen sein kann, denn diese weiß nalismus. Theorie und Empirie. Kon- "weder genau, wovon sie theoretisch stanz: UVK 2004, 302 Seiten, 29,00 spricht, noch was sie empirisch tat- Euro. sächlich misst" (S. 77). Im Kapitel zwei klopft Kohring Schon wieder ein Luhmann-Jünger, verschiedene soziologische Entwürfe mögen manche sagen und vielleicht (Simmel, Weber, Luhmann) nach mit der weit verbreiteten Mär daher- dem Umgang mit Vertrauen bzw. der kommen, dass die Luhmann'sche Sy- Implementierung desselben in die je- stemtheorie mit viel theoretischem weilige Theorie ab. Am adäquatesten Aufwand ein geringes Output liefert. erscheint schließlich der Entwurf Gerade wer dieser Meinung anhängt, Luhmanns, der Vertrauen als einen sollte Matthias Kohrings Buch über Problemlösungsmechanismus von Vertrauen in Journalismus lesen, Kontingenz vor allem in zeitlicher denn es zeigt, dass dies zumindest Hinsicht (auf die kontingente Zu- nicht zwingend so sein muss. kunft hin) ansieht. Zentral hierbei ist Freilich ist das Buch nicht als die doppelte Kontingenz zwischen Beweis für die Praktikabilität der Alter und Ego, die in Luhmanns Systemtheorie geschrieben, sondern Theorieentwurf von großer Bedeu- es widmet sich mit Vertrauen in tung ist (siehe dazu sein Werk "So- Journalismus einem lange theore- ziale Systeme"). Vertrauen ist dann tisch und damit auch größtenteils eine Möglichkeit, mit Risiko (Bedro- empirisch vernachlässigten Problem. hung oder Chance gleichermaßen) Ist es wirklich so einfach zu erfassen, umzugehen. Fehlt dieses Risikobe- dass man die Publika nur fragen wusstsein, muss von Vertrautheit an- muss, wie viel sie den Sendern und stelle von Vertrauen gesprochen wer- Zeitungen glauben? Was ist über- den. haupt eine Vertrauenshandlung, die Scharf grenzt der Autor seinen der Rezipient von öffentlicher Kom- Entwurf gegen Annahmen von Ver- munikation ausführt? Kohring wen- trauen als rationaler Kalkulation ab det sich im ersten Teil seines Buches (Rational-Choice-Theorie). Vertrauen definitorischen Fragen zu, ehe er im fängt gerade dort an, wo Kalkulation zweiten Teil sein theoretisches Kon- nicht (mehr) möglich ist. Eine Ver- strukt durch umfangreiches empiri- trauensrelation liegt laut Kohring sches Überprüfen zu validieren dann vor, "wenn ein sozialer Akteur sucht. eine aus seiner Sicht kontingente Im ersten Kapitel geht es dem Selektion vornimmt, die nur durch Autor um die Kritik des bisherigen die Selektion eines anderen Akteurs Umganges mit Vertrauen in der Kam- kausal ermöglicht wird, deren Kon- munikationsforschung. Er ortet Defi- tingenz er wahrnimmt, und wenn zite in der theoretischen Erfassung dieser andere Akteur wissen kann, des Phänomens Vertrauen und stellt dass seine Selektion dergestalt ver- https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
LITERATUR-RUNDSCHAU wendet wird, und dies akzeptiert tivität, in Faktenselektivität, in die oder ihm die Akzeptanz zugemutet Richtigkeit der Beschreibung und in werden kann" (S. 139). Vertrauen die journalistische Bewertung zu- kann man aber nicht nur in ein sammensetzt. menschliches Gegenüber, sondern In Kapitel fünf und sechs sind das auch in soziale Systeme haben, wie methodische Vorgehen (Faktoren- der Journalismus eines ist. "System- analyse) und die Durchführung dreier vertrauen ist empirisch betrachtet umfangreicher Befragungen in Berlin Leistungsvertrauen" (S. 139f.), also und Schwerirr beschrieben. Da Ver- Vertrauen darauf, dass das System trauen ein latentes Phänomen ist, seine Leistung erbringt. das sich dem direkten Zugang ent- Kapitel drei fügt den zahlreichen zieht, wurde die Befragung zum The- systemtheoretischen Entwürfen von ma Arbeitslosigkeit geführt und be- Journalismus bzw. Öffentlichkeit handelte Fragen nach der Medienbe- (Luhmann, Marcinkowski, Scholl/ richterstattung dieses aktuellen The- Weischenberg, Görke usw.) einen mas. Die repräsentativen Umfragen weiteren hinzu, wobei - ähnlich zu stützen das theoretische Modell von Alexander Görkes Entwurf- Journa- Vertrauen in Journalismus dahinge- lismus als ein Leistungssystem des hend, dass unter den vier Faktoren Funktionssystems Öffentlichkeit ge- eine hohe Interdependenz besteht sehen wird. Der einzige grundlegende und diese Faktoren das Phänomen Unterschied zu Görke liegt in den Vertrauen in Journalismus gut be- Codewerten, die Kohring mit "mehr- schreiben. Es zeigte sich auch, dass systemzugehörig" bzw. "nicht-mehr- mit einem höheren Vertrauen in systemzugehörig" benennt. Die Un- Journalismus auch die aus ihm gezo- terscheidung zwischen Funktion und genen Konsequenzen bei den Rezipi- Leistung von Systemen, wie sie Luh- enten bedeutsamer werden. manns Systemtheorie eigen ist, wird Zu den größten Pluspunkten in zwar implizit aufgegriffen, leider je- Kohrings Arbeit zählen die theoreti- doch nicht weiter ausgeführt. sehe Fundierung und Definition des In Kapitel vier bringt der Verfas- Vertrauensbegriffes vor der Imple- ser schließlich die systemtheoreti- mentierung in die Journalismustheo- schen Konzepte von Vertrauen und rie und die ausgezeichnete Operatio- Journalismus zusammen. Vor allem nalisierbarkeit seines Ansatzes für ist es ein Vertrauen in die journalisti- die empirische Prüfung. Mit dem sche Selektivität. Dimensionen des ersten Punkt füllt der Autor eine Vertrauens dürfen laut Kohring nicht Lücke in der Kommunikationsfor- von Gründen für das Vertrauen abge- schung, mit dem zweiten Punkt er- leitet werden. Vertrauen in die Kom- füllt er eine zentrale Anforderung an petenz eines Journalisten z.B. gibt es alle aktuellen Kommunikationstheo- in diesem Sinne nicht: Der Rezipient rien. Die Verwendung von Luhmanns vertraut darauf, dass der Akteur Systemtheorie (und insbesondere der (Journalist) seine Aufgabe kompe- speziellen Aspekte des Vertrauens tent erfüllt. Die Kompetenz ist ledig- und der Journalismustheorie) tragen lich ein Grund für das Vertrauen nicht unwesentlich zur Klarheit und darauf, dass der Journalist seine Lei- Schlüssigkeit von Kohrings Thesen stung adäquat erbringt. Stattdessen bei. Der empirischen Überprüfung entwirft Kohring ei~ Faktorenmodell steht die Systemtheorie in keiner von Vertrauen in Journalismus, das Weise im Wege. sich aus Vertrauen in Themenselek- Die einzige Frage, die sich auf- https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb I Q7
LITERATUR-RUNDSCHAU drängt, ist die, ob ein weiterer sy- Bedeutung gewinnt, schafft dieser stemtheoretischer Entwurf von Jour- Band einen willkommenen Über- nalismus und Öffentlichkeit für diese blick. o Arbeit notwendig war, wo doch aus Vor allem vor dem Hintergrund den zahlreichen bisher veröffent- der geplanten Vereinheitlichung der lichten Vorschlägen ein solches Kon- universitären Ausbildung in Europa - zept adäquat zu übernehmen gewe- Stichwort "Bologna-Prozess" - zeigt sen wäre. Sosehr einige der bisheri- er einen wichtigen Punkt auf: Der gen einschlägigen Beiträge die Theo- viel beschworene "westliche Kultur- riediskussion entscheidend weiterge- kreis" kennt zwar vergleichbare bracht haben (insbesondere Frank Maßstäbe für die journalistische Ar- Marcinkowskis Konzept von 1993), beit, hat aber eine Vielzahl verschie- scheint es mir nicht hilfreich, bei dener Ansätze zur Ausbildung für jeder sich bietenden Gelegenheit das diesen Beruf hervorgebracht. Diese "Rad neu zu erfinden". verschiedenen Traditionen aufzuzei- Trotzdem: Matthias Kohring ist gen und zu systematisieren ist Ziel ein Pionierwerk gelungen, dem zahl- des Buches. Der Ansatz ist dabei reiche Folgeforschung zu wünschen soziologisch geprägt: Wichtig ist den ist (vor allem auch deshalb, weil die Autoren, jeweils nicht nur die gerade Arbeit sie ermöglicht). aktuelle Ausbildungssituation in den Heinz Niederleitner verschiedenen Ländern zu beleuch- ten, sondern auch den geschichtli- chen und gesellschaftlichen Kontext Romy Fröhlich I Christina Holtz- zu beschreiben, aus dem jedes Sy- Bacha (Hg.): Journalism Education in stem erwachsen ist. Europe and North America. An Inter- Zwölf Kapitel des Bandes beschäf- national Comparison. Cresskill, NJ: tigen sich mit der jeweils spezifi- Hampton Press 2003, 349 Seiten, schen Ausbildungstradition eines 27,95 Euro. einzigen Landes; ergänzt und abge- schlossen wird er durch zwei verglei- Man kann mehrere Dinge an diesem chende Kapitel (zur Ausbildungssi- Buch kritisieren, an einer Tatsache tuation in Osteuropa und zur Idee ändert dies nichts: Für die Journa- eines "Europajournalismus") und ei- listik war eine solche Publikation ne Zusammenfassung durch die Her- schon lange überfällig, und sie ist ein ausgeberinnen. Fröhlich und Holtz- gelungener erster Schritt, eine ekla- Bacha haben für dieses Buch eine tante Forschungslücke zu schließen. Reihe ausgewiesener Experten ver- Der von Romy Fröhlich und Christina sammelt, die auf jeweils 15 bis 30 Holtz-Bacha herausgegebene Sam- Seiten die Besonderheiten ihres Lan- melband "Journalism Education in des herausarbeiten. Die Struktur der Europe and North America" stellt Artikel folgt dabei weitgehend dem- den erstmaligen Versuch dar, einen selben Muster: Jeder Autor be- internationalen Vergleich - "An In- schreibt die Entwicklung des Berufs- ternational Comparison", wie der Un- zugangs, die gegenwärtige Situation tertitel verspricht - der verschiede- der Ausbildungsinstitutionen und nen journalistischen Ausbildungs- schließt mit einer Prognose für die systeme der westlichen Welt anzu- zu erwartende Entwicklung in naher stellen. In einer Zeit, in der das Zukunft. Schlagwort Internationalisierung in Hier wird ein Problem des Buches Forschung und Lehre immer mehr an offensichtlich. Wer die jahrzehnte- https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
LITERATUR-RUNDSCHAU lange Diskussion um die Verortung en nicht trennscharf sind und man der Journalistenausbildung allein in einige Länder auch in eine andere Deutschland verfolgt hat, die Frage "Schublade" stecken könnte - vor nach der Akademisierung des Beru- dem Hintergrund der vielen Facetten fes, das Ob überhaupt und vor allem der Journalistenausbildung, die in Was studiert werden solle, dem dieser Gegenüberstellung offenbar dürfte klar sein, dass der Platz kaum werden, sind sie ein willkommener ausreichend ist, das Thema einge- Wegweiser und zudem ein praktika- hend darzustellen. Grundsätzlich ge- bler Versuch, die verschiedenen Tra- ben jedoch alle Kapitel einen guten ditionen voneinander abzugrenzen. Überblick, und besonders die den Abgesehen von dieser in der Zu- Artikeln jeweils nachgestellte Litera- sammenfassung von den Herausgebe- turliste stellt für den außenstehen- rinnen noch einmal dezidierter be- den Leser, der sich vielleicht zum schriebenen Einteilung, sind die Be- ersten Mal mit dem jeweiligen Land leuchtung der Ausbildungsentwick- befasst, ein praktisches Sprungbrett lung in Osteuropa durch Ray Hiebert für die eingehendere Beschäftigung und Peter Gross und das Kapitel zum mit dem Thema dar. "Eurojournalismus" von Gerd G. Ein Wermutstropfen ist, dass sich Kopper als im eigentlichen Sinne die meisten Kapitel nur mit jeweils "vergleichende" Beiträge hervorzuhe- einem Land beschäftigen, das Buch ben. also, wie die Herausgeberinnen es Hiebert und Gross widmen sich ausdrücken, nicht "vergleichend im der Beschreibung der dramatischen eigentlichen Sinne" sei. Das bedeu- Veränderungen des Journalismus im tet: Der im Untertitel versprochene Zuge der Demokratisierung der ost- "internationale Vergleich" muss nach europäischen Staaten nach 1989. Sie ausgiebiger Lektüre vom Leser selbst gehen vor allem auf die Entwicklung vorgenommen werden. journalistischer Ausbildungspro- Eine Hilfestellung geben Fröhlich gramme an Universitäten in Rumä- und Holtz-Bacha, indem sie die ein- nien, Bulgarien, Ungarn, Polen, zelnen Länder nach ihrer maßgeb- Tschechien, Slowenien, der Slowakei, lichen Ausbildungstradition zu Grup- den baltischen Staaten, der Ukraine pen zusammenfassen: Länder mit und Russland ein und weisen auf das vornehmlicher "Academic Tradition", dort entstehende, für die Region also einer an Universitäten institutio- "neue" Journalismusverständnis hin. nalisierten Journalistenaus bild ung Einer Art neuem Journalismus wid- (Finnland, Spanien, USA und Kana- met sich auch Kopper, wenn er da- da), "Nonacademic Tradition", einer nach fragt, ob es in Zukunft einen Ausbildung vornehmlich an Journali- europäischen Journalismus geben stenschulen (Italien, Niederlande, wird und wie dieser (und die dazu- Dänemark), "Academic as weil as gehörige Ausbildung) aussehen Nonacademic Tradition" (Frankreich, könnte. Portugal und Deutschland), und Auf dem Weg zu einer Internatio- schließlich Länder mit einer "Trai- nalisierung der Journalismusfor- ning-on-the-Job"-Tradition, in denen schung ist der erste Schritt das die Ausbildung hauptsächlich in Wissen um die verschiedenen Aus- "Media Organizations and/or prägungen und Traditionen dieses Schools" stattfindet (England und Berufsfeldes auf der Welt. Einen Österreich). Man kann darüber hin- Überblick in Bezug auf den wichtigen weg sehen, dass diese vier Kategori- Bereich der Journalismusausbildung https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
LITERATUR-RUNDSCHAU kann man sich mit diesem Buch Rias-Funkuniversität unter Gerhard erarbeiten. Es ist ein gelungenes Löwenthai und auf Gerhard Szczes- Nachschlagewerk, denn es ermög- nys Nachtstudio "beim Bayerischen licht dem interessierten Wissen- Rundfunk ein. All diese Sendungen schaftler einen wichtigen ersten waren zu jener Zeit so etwas wie Blick über den Tellerrand des eige- Kult, und um ihre Redaktionsleiter nen Ausbildungssystems. Wie Fröh- gruppierten sich journalistische Mit- lich und Holtz-Bacha es ausdrücken: arbeiter, die deutsche Rundfunk- "it is a necessary first step towards a geschichte schrieben: um Jürgen systematic comparison" (S. 309). Schüddekopf (Hamburg) z. B. Hans Michael Harnischmacher Egon Holthusen, Gregor von Rezzori, Albrecht Goes, Peter Bamm, Axel Eggebrecht; um Alfred Andersch, die Monika Boll: Nachtprogramm. Intel- womöglich zentrale Figur im west- lektuelle Gründungsdebatten in der deutschen Kulturradio der Nach- frühen Bundesrepublik. Münster: LIT kriegszeit (Frankfurt, später Harn- Verlag 2004, 270 Seiten, 34,90 Euro. burg, danach Stuttgart), z. B. Walter Kolbenhoff, Heinz Friedrich, Eugen Das Radio in der deutschen Nach- Kogon, Walter Dirks, Hans Magnus kriegszeit - es hatte eine Bedeutung, Enzensberger, Helmut HeißenbütteL die heute kaum mehr vorstellbar ist. Andersch war es auch, so die Langsam wird es zum Forschungsge- Legende, der in seinem Büro Anfang genstand, selten allerdings in der 1950 eine Begegnung mit "einem Kommunikationswissenschaft. Die kleinen, nicht rundlichen, doch [... ] vorliegende Studie stammt denn auch überall abgerundeten Herrn" hatte, von einer Historikerin, was am der "in vollkommen abgerundeten manchmal recht großzügigen Um- und gegliederten Sätzen, mit einer gang mit Begriffen und Schlussfolge- Stimme von seltsam zierlicher Schär- rungen deutlich wird. So tritt bei- fe" auf ihn in pausenloser Diktion spielsweise der sogenannte "Zeit- einzureden begann: Theodor W. geist" des öfteren als imaginäre Per- Adomo. Dieser verfolgte seine Rund- sonifizierung auf, aber auch "die" funkkarriere ungeheuer zielstrebig Modeme oder "der" gesellschaftliche und ist rückblickend ganz entschei- Diskurs. Es handelt sich hier offen- dend dafür mitverantwortlich, dass bar eher um metaphorische Instru- das Kulturradio jener Jahre sich der mente zur Strukturierung des empiri- Soziologie öffnete. schen Materials, das allerdings in Neben den traditionellen Themen derart überwältigender Fülle und aus Literatur, Kunst und Musik fand Präzision aufbereitet und gedeutet die Gesellschaftsreflexion der sich wird, dass sich die Lektüre außer- wieder etablierenden Soziologie ihren ordentlich informativ und spannend Platz in der Programmgestaltung. gestaltet. Die Vertreter dieser soziologischen Mit den Abend- und Nachtpro- Gründergeneration, Remigranten wie grammen der Hörfunksender Harn- Adomo, Max Horkheimer, Helmuth burg, Frankfurt und Baden-Baden Plessner und Rene König, aber auch zwischen 1945 und dem Beginn der Wissenschaftler wie Amold Gehlen Sechzigerjahre hat sich die Autorirr und Helmut Schelsky, die während die damals berühmtesten Kultursen- der NS-Zeit an deutschen Universitä- dungen für ihre Analyse herausge- ten gelehrt hatten, sorgten dank sucht. Sie geht aber auch auf die vielfältiger Initiativen der Hörfunk- https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
LITERATUR-RUNDSCHAU redaktionen für eine auffassende des westdeutschen Hörfunks in ihrer Medienpräsenz der Soziologie. Ihre Phase soziologischer Ausrichtung theoretischen, zumeist übrigens phi- mag durchaus die Rede sein. Aber ob losophischen Prämissen waren teil- es sich dabei zugleich um einen weise höchst unterschiedlich. Unter- Diskurswechsel "des" intellektuellen schiedlich waren auch oft ihre politi- Selbstverständnisses in der Bundes- schen Präferenzen. Daraus entwik- republik handelte, darf bezweifelt kelten sich kontroverse Gespräche werden. In letzter Instanz verweisen und Diskussionen auf hohem intel- öffentliche bzw. veröffentlichte Dis- lektuellem Niveau, die sicherlich kurse eigentlich immer nur auf ihre nicht ohne Wirkung blieben. Urheber allein und können deshalb Wie weit reichte diese Wirkung? kaum als gesellschaftlich repräsenta- Die Kernthese der Autorirr ist, dass tiv gelten. aus dem ursprünglich apolitischen, Dessen ungeachtet bietet die Stu- nur den Künsten verpflichteten Kul- die von Monika Boll eine Fundgrube turverständnis der frühen intellektu- für alle, die an Hörfunkgeschichte ellen Elite Westdeutschlands, deren interessiert sind. Es ist eindrucks- "Kulturemphase", in Auseinanderset- voll, mit welcher Umsicht sie die zung mit dem neuen, soziologischen enorme Materialfülle im Zusammen- Gesellschaftsverständnis jene beson- hang ihrer Soziologisierungsthese dere Gemengelage entstand, welche nach allen möglichen Seiten entfaltet, für die im Titel genannten "Grün- bündelt und interpretiert. So ent- dungsdebatten" der Bundesrepublik stand ein detailliertes Bild von den charakteristisch gewesen sei. Erst- intellektuell anspruchsvollsten Seg- mals habe sich damals "eine öffent- menten der Hörfunköffentlichkeit in liche Selbstwahrnehmung der bun- der Bundesrepublik der Fünfziger- desrepublikanischen Gesellschaft" jahre. Das waren keine "Bildungspro- ereignet (S. 131), welche nicht mehr gramme", wie die Autorirr wiederholt durch die Dominanz restaurativer betont, sondern "Programme für Ge- Kulturauffassungen gekennzeichnet bildete". war, sondern vielmehr durch ver- Verena Blaum schiedene Varianten dezidierter Kul- turkritik, etwa seitens der Frankfur- ter Schule. Walter van Rossum: Meine Sonntage Die Autorirr spricht von einem mit "Sabine Christiansen". Wie das "Umbruch innerhalb des intellektuel- Palaver uns regiert. Köln: Kiepenheu- len Selbstverständnisses", "dem der er und Witsch, 185 Seiten, 8,90 Euro. Begriff des Diskurswechsels durch- aus gerecht wird. Denn es handelte Für Minister, Staatssekretäre etc. - sich dabei nicht bloß um einen Aus- kurz für das politische Establishment tausch bestimmter Inhalte und The- - und die Polit-Journalisten gehört men innerhalb eines bestehenden Be- sie zum Pflichtprogramm: die Talk- zugssystems der Selbstwahrnehmung show "Sabine Christiansen". Die in in der Bundesrepublik, sondern um Berlin produzierte Sendung, benannt die Änderung des Systems als sol- nach der Moderatorin, gehört zu den chem" (S. 153). Diese Aussagen er- quotenstärksten publizistischen Of- scheinen aus sozialwissenschaftli- ferten im deutschen Fernsehen. Im eher Sicht eher fraglich. Von einem Segment der politischen Gesprächs- Diskurswechsel innerhalb der wich- runden ist sie Marktführer. Kein . . tigsten Abend- und Nachtprogramme Wunder also, dass sich gerne hoch- https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb I 1n1
LITERATUR-RUNDSCHAU rangige Politiker und Verbands- Techniken dieses Palavers zu be- funktionäre jeden Sonntag um 21.45 schreiben und das Weltbild, das sich Uhr bei "Sabine Christiansen" ver- dabei beim Spreclten verfertigt." sammeln, um ein im weitesten Sin- Grundlage der Sprachrituale bzw. ne (gesellschafts-)politisches Thema des sonntäglichen Palavers ist nach zu diskutieren: Arbeitslosigkeit, Auffassung van Rossums ein Dogma. Steuer-, Gesundheits- und Rentenre- Unter den beteiligten Akteuren des form, Krieg. Wer eine Botschaft ins Polit-Talks herrsche Konsens dar- Land zu tragen hat, wer glaubt, über, dass "wir uns diesen Wohl- Position beziehen zu müssen, der fahrtsstaat nicht mehr leisten kön- nutzt die Chance, sich vor einem neu" (S. 12). Hier setzt das zweite Millionenpublikum zu den großen Vorhaben des Autors an. Er will Fragen der Gegenwart zu äußern. zeigen, wie marginal die Beweis- Eine Einladung in die Sendung führung für die Rechtfertigung dieses gleicht einem Adelsschlag. Dogmas ist, um dann darzustellen, Die Popularität der Sendung, aber wie die "Propaganda der Dogmati- auch ihre eigene Prominenz hat der ker" die zentrale Frage verdeckt: Moderatorirr einen fragwürdigen Sta- Kann sich diese Republik diese Wirt- tus verliehen. In der Boulevardpresse schaft noch leisten? wird sie als "Queen" des Polit-Talks Das Buch ist in drei Hauptkapitel bezeichnet. Das ruft zahlreiche Kriti- unterteilt. Gemeinsam ist ihnen eine ker auf den Plan. Zu ihnen gehört vor jeweils provozierende Überschrift. allem Walter van Rossum. Der erste Abschnitt mit dem Titel Dabei geht es dem Autor nicht "Unsere Systemüberwinder oder ,Wir speziell um die Person der Moderato- müssen endlich .. .' eine Kolchose tin. Es geht ihm auch nicht per se errichten" enthält vier eigenständige um die Sendung "Sabine Christian- Teile. Das erste Unterkapitel beinhal- sen". In der Einführung, die die tet eine stellenweise sehr zynische Überschrift "Vorspiel auf dem Sofa" Beschreibung der Protagonisten des trägt, legt van Rossum die an- sonntäglichen Geschwätze-Schwa- spruchsvolle Zielsetzung seines Bu- ders. Den Gästen wirft van Rossum - ches vor. Seine Intention ist es, am zu Recht - die Verbreitung von Wort- Beispiel der genannten Talkshow hülsen vor. Anschaulich deklassiert "eine Studie über die Macht der er die Sprechblasen der Akteure, die aktuellen Sprachrituale (vorzulegen), bis zur Austauschbarkeit verkom- die den Raum, den man einst Öf- men. Er zitiert in Auszügen die Bei- fentlichkeit nannte, heute schier mo- träge von Angela Merkel, Olaf Scholz noton beschallen" (S. 12). Und er und Heinrich von Pierer und fordert fährt fort: "In den Zeremonien des den Leser auf, die jeweiligen Namen Palavers, die so beispielhaft wie bei- den Wort-Spendern zuzuordnen. Am spiellos bei ,Sabine Christiansen' Ende des Kapitels erfolgt die Auf- aufgeführt werden, reguliert sich je- lösung in Fußnoten. Die weiteren ner Konsens, der dann von Bild- Unterkapitel beschäftigen sich mit Zeitung bis FAZ, von SPD bis CDU, den thematischen "Dauerbrennern" von Arbeitgeberverbänden bis Ge- bei "Sabine Christiansen": Wirt- werkschaften an die jeweilige Klien- schaft, Arbeitslosigkeit und Steuer- tel weitergereicht wird." Seine Vor- problematik. Im folgenden Hauptka- geheusweise beschreibt der Autor pitel mit der Überschrift "Wie Sabine mit den Worten: "In einer Art kon- Christiansen dabei half, den Irak zu kreter Ethnologie versuche ich die befreien" widmet sich der Verfasser https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb 102
LITERATUR-RUNDSCHAU der in der Talkshow geführten Debat- für ausfindig machen? Der Autor te über den zweiten Irak-Krieg. Der vernachlässigt in seiner Evaluation letzte Abschnitt ist mit "Unsere Lan- der Talkshow "Sabine Christiansen" desverweser" überschrieben. Hier die Beachtung der Eigengesetzlich- geht es, u. a. am Beispiel von Jürgen keiten der Medien. Eine kritische W. Möllemann und Florian Gerster, Analyse der Sendung, die stellvertre- um die Nutzung von Medien in Kri- tend für zahlreiche gleiche Formate senzeiten bzw. die mediale Aufberei- steht, muss sich eingehender mit der tung von Konflikten. Frage beschäftigen, wie Politikver- In der Einleitung stellt van Ros- mittlung in der Mediendemokratie sum fest, dass es seiner Beobachtung funktionieren kann. Er legt keinen nach keine Medientheorie gibt, die überzeugenden Gegenentwurf vor. umfassend darlegt, wie Öffentlichkeit Zwar zeigt der Verfasser eindrucks- in der Mediengesellschaft wirklich voll (polemisch) an zahlreichen Bei- funktioniert. Um es gleich vorweg zu spielen auf, dass Sabine Christiansen nehmen: Auch der Autor liefert kein als kritische Fragerirr versagt. Das theoretisches Konzept. Zugegeben, aber ist nichts Neues. Seit der ersten das ist auch nicht sein Anliegen. Van Ausstrahlung der Sendung im Jahr Rossums Buch hat essayistischen 1998 wird dies der Leiterin der Charakter, seine Aussagen beruhen sonntäglichen Gesprächsrunde mit auf Beobachtungen der Sendungen gutem Grund vorgeworfen. über mehrere Monate. Die Rück- Neu ist auch nicht van Rossums schlüsse, die der Autor zieht, basie- Kritik am Redaktionsteam der Sen- ren daher nicht auf einer analyti- dung: "Sabine Christiansen hat es schen Auswertung nach strengen zur Meisterschaft darin gebracht, Po- empirischen Kriterien. Das ist zwar litik als geschlossenen Kreislauf dar- legitim, aber eben doch bei diesem zubieten. Die Wahmehmung der Re- Thema zu wenig. Zugespitzt formu- daktion beschränkt sich einzig und liert kann man dem Autor vorwerfen, allein darauf, das wahrzunehmen, dass er gerrau das tut, was er den was die Pressestellen der parlamen- Protagonisten der Sendung - den tarischen Vernunft lancieren" (S. Westerwelles, Eichels und Kochs - 30). Und letztlich ist auch nicht neu, vorhält: Er verliert sich zu oft in dass bei "Sabine Christiansen" Worthülsen und Allgemeinplätzen. Scheingefechte ausgetragen werden: Van Rossum gefällt sich in der "Doch diese Pseudodebatten haben Rolle des kritischen Beobachters nur die Funktion, die Grenzen zu fernab der politischen Mitte. Das markieren, innerhalb derer man macht er rhetorisch geschickt, stel- überhaupt diskutieren kann. Also ei- lenweise sogar höchst interessant. gentlich gar nicht. Denn die Differenz Seine Schreibe ist bissig, seine Ana- zwischen Merkel und Müntefering lyse hingegen (leider) zu ungenau. Er mehrt nicht gerade den Zauber der bleibt dem Leser Antworten und Demokratie. Kurz, die Gesellschaft Erklärungen schuldig. Van Rossum verwandelt sich für die Politik in eine scheitert an seinen eigenen Art komplexe Liegenschaftsverwal- Ansprüchen. Er hat in der Einleitung tung. Da gibt es nicht viel zu gestal- anspruchsvolle und spannende Ziele ten" (S. 29). formuliert. Das schürt Erwartungen Zu kurz kommt auch die Ausein- beim Rezipienten, d~nen er nur unzu- andersetzung mit den Zuschauern. reichend gerecht wird. Warum erfreut sich diese Sendung so Welche Ursachen lassen sich da- großer Beliebtheit? Vorsichtig, viel https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
LITERATUR-RUNDSCHAU zu zögerlich, stellt der Autor sich große Chance: Denn er hat in einem dieser Frage. Warum begegnet er den 185 Seiten umfassenden Buch mehr Rezipienten, der namenlosen und Möglichkeiten, ~ine Lösungsvor- schweigenden Masse, die in der Ar- schläge vorzustellen, als die von ihm gumentationslogik des Verfassers als kritisierten Akteure in der einstün- Systemkitt funktioniert, nicht mit digen Talkshow. Der Erkenntniswert gleichem scharfen Zungenschlag wie dieses Buches hält sich daher in den Gästen der Sendung? Denn gna- überschaubaren Grenzen. Davon un- denlos deklassiert er die Vertreter berührt bleibt aber der Unterhal- der Legislative und der Lobbyisten: tungswert, der durchaus gegeben ist. "Der vordringliche Sanierungsfall im Ute Stenert angeblichen Sanierungsgebiet Deutschland ist die intellektuelle Verfassung der Sanierer selbst." (S. Vera Bücker: Nikolaus Groß. Polit- 22) scher Journalist und Katholik im Wi- Die Fernsehgemeinde nimmt er derstand des Kölner Kreises. Münster: hingegen in Schutz. Doch dabei de- LIT Verlag 2003, 296 Seiten, 17,90 gradiert er, ohne es vermutlich zu Euro. wollen, den Zuschauer zum unkriti- schen Beobachter der sonntäglichen Die Seligsprechung von Nikolaus Scheindebatten. Man habe ihm seit Groß am 7. Oktober 2001 hat weit Jahren zu verstehen gegeben, dass es über die katholische Welt hinaus den keine Alternativen gibt: "Die Impera- Fokus auf einen Mann geworfen, der tive des Systems erlauben nur Wahl- zu den profihertesten Persönlich- möglichkeiten im Bereich der bis zur keiten des Widerstandes gegen das kompletten Austauschbarkeit ähn- Nazi-Regime gehörte. Vieles ist über lichen Programme, die bei Sabine die Vergangenheit von Groß ge- Christiansen kunstvoll als Kontrover- schrieben worden, vor allem in sei- sen dargeboten werden" (S. 37). nem Wirken für die Katholische Ar- Van Ross um hingegen glaubt an beitnehmerbewegung und später in die Alternativen im politisch-öko- seiner Eigenschaft als Gewerk- nomischen System. Das ist ihm nicht schaftssekretär. Jetzt hat Vera vorzuhalten. Im Gegenteil: Der Autor Bücker, die tlen Seligsprechungspro- versucht, mit einfachen Fragen den zess von Nikolaus Groß wissen- gängigen Erklärungsmustern für schaftlich begleitete, eine umfassen- Wachstum und Arbeit entgegenzu- de Monographie über das Leben des steuern. Er legt auch in Fragmenten - so in der Lehre der Kirche - einen Gegenentwurf vor. Die Bruch- Märtyrers vorgelegt. Didaktisch be- stücke aber überzeugen nicht. Da- ginnt die Autotin mit dem Abdruck durch macht sich der Verfasser an- der wichtigsten Quellen über Groß, greifbar. Er nimmt zu den oben ge- die gleichzeitig ein repräsentativer nannten zentralen Themen Stellung. Querschnitt sind und so auf wenigen Doch dabei verharrt er an der Ober- Seiten komprimiert das Drama des fläche. Statt einer detaillierten Argu- bekennenden Katholiken zusammen- mentationskette, die durch Fakten fassen. gestützt wird, stülpt van Rossum Während die Jugend- und Fami- sein Weltbild über die Probleme un- lienjahre eher knapp dargestellt wer- serer Gesellschaft. Das ist seine den, widmet sich Bücker in einem Form des Sprachrituals. zentralen Teil ihrer Arbeit dem Jour- Damit vergibt der Verfasser eine nalisten Nikolaus Groß. Dabei ruft https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
LITERATUR-RUNDSCHAU sie parallel vieles Bekannte in Erin- sehen Reife und Urteilsfähigkeit" nerung, was aber für eine Einord- (89). nung in das Engagement und den Der Autorirr gelingt es, die Fülle Mut von Groß unerlässlich ist. So von journalistischen Beiträgen Groß' sind beispielsweise die Ausführungen in einen Gesamtzusammenhang zu zu den Parteien der Weimarer Repu- stellen. Das gilt auch für die Zeit als blik oder die Zusammenfassung zum Redakteur im Dritten Reich (1933 - nationalsozialistischen Presserecht 1938). Hier legt Bücker die Entwick- solche Lesehilfen. Das eigentlich lung der KAB-Zeitung dar und ver- spannende und wissenschaftlich sau- gleicht sie eingängig mit anderen ber aufgearbeitete ist das Profil von Verbandsorganen. Sie zeichnet ein Nikolaus Groß selbst. Dessen Hal- klares Bild der wachsenden Schere tungen zu den Parteien der Weimarer von Freiraum und Einschränkung Zeit, sein inneres Ringen als Journa- und skizziert einen Nikolaus Groß, list bei der KAB-Zeitung von 1927 der bis in feinfühlige Formulierungen bis 1933 und die vielfältigen Korn- hinein versuchte, sich gegen den mentare aktueller Gesetzestexte wer- nationalsozialistischen Untergangs- den von Bücker aufbereitet. apparat zu stellen - aber nur so weit, Der Journalist Groß war kein Zau- wie es ihm die journalistische Frei- derer, die Sozialdemokratie bezeich- heit erlaubte, um die Freiheit der nete er als etwas, dass zum .. Nur- Zeitung zu garantieren. Bücker bleibt Irdischen" ausgerichtet sei, hingegen nicht bei allein politisch-historischen schöpfe die Katholische Arbeitneh- Fakten aus Groß' Leben stehen, son- merbewegung aber aus dem Glauben: dern sie bemüht sich, ein - wenn .,Für sie hat der Mensch neben Dies- auch nicht in allen Quellen ausge- seitsaufgaben und -rechten auch schöpftes - Mosaik zu entwickeln, höhere Jenseitsziele" (S. 69). das den Handlungsrahmen für Groß Bei ihrem Versuch, ein objektives darstellte: Sie analysiert das Ver- Bild zu zeichnen, spart die Autorirr hältnis von Kirche und Staat, insbe- auch nicht mit berechtigt kritischen sondere die Haltung der Bischöfe, die Einschätzungen, so wenn sie zum für Groß' redaktionelle Arbeit letzt- Beispiel daran erinnert, dass Groß lich von großer Bedeutung waren. die .. partielle parlamentarische Zu- Das wird am Beispiel des Reichskon- sammenarbeit von Zentrum und kordats aufgezeigt. Obwohl er privat NSDAP recht positiv" beurteilte oder eine - so Bücker - kritische Haltung auch der Rechtsruck von Prälat Dr. dazu gehabt haben soll, wird die Ludwig Kaas im Zentrum mit Kommentierung der Kirchenpolitik - unterstützte. Groß ging es in seinem gleichsam loyal - für die Bischöfe Wirken immer um die Frage, wie viel positiv bewertet und der Regierung Spielraum das Zentrum brauche, um Vertrauenswürdigkeit beigemessen. überleben zu können. Deshalb wur- Der Familienvater wusste sich den die Kommentare des Journali- auch in bedrängten Zeiten zu seiner sten mit der Zeit wesentlich deutli- Kirche gehörig, denn die Bewahrung cher. Schon 1929 schrieb er über den des Christlichen und der Grundlagen Wahlerfolg der NSDAP bei den Kom- des katholischen Glaubens erwiesen munalwahlen: .. Hier zeigt sich eine sich als Hauptanliegen in seiner Zeit- bedenkliche Entwi~dung. Dass ein schrift: .,So erteilte die KW (Ketteler so großer Teil Wähler dieser poli- Wacht) allen Geistesströmungen eine tisch ideenlosen Gruppe ihre Stimme Absage, die die Religion zur Privatsa- zuwandte, zeugt vonhttps://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, keiner politi- che erklärten, und griff am 13.09.2021, besonders 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
LITERATUR-RUNDSCHAU diejenigen an, die sich nicht damit hebt ihn aus der Masse der Normal- begnügten, sie zur Nebensache zu- bürger heraus, unterscheidet ihn rückzustufen, sondern sie darüber ebenso von der offlziellen Kirche. Mit hinaus auch aus dem privaten Leben seinem Hineinwachsen in den akti- verdrängen wollten" (S. 153). ven Widerstand trägt er zur Ehren- Im zweiten großen Teil ihres Bu- rettung der katholischen Kirche in ches stellt Bücker dann Groß als Deutschland bei" (S. 243). Mitglied des Kölner Kreises im Wi- Die Autorin hat zu diesem objekti- derstand dar, erläutert seine Klein- ven Urteil beigetragen. Um so merk- schriften und Reisetätigkeiten und würdiger mutet das dem Buch voran- die für die Kirche zunehmende politi- gestellte Essay vom Sohn des Mär- sche Veränderung der inneren Hand- tyrers, Alexander Groß, an. Zwar ist lungsfreiheit. Spannend sind die Kon- der Text über die Briefe aus dem takte zu lesen, die Groß mit Alfred Gefängnis ein wichtiger weiterer Be- Delp hatte. Aufschlussreich sind die standteil, um das wissenschaftliche Passagen über den Kölner Kreis des Verdienst Bückers umfassend ein- Widerstands. Bücker beurteilt Groß ordnen zu können, aber Alexander dabei als einen, der "an den Vorbe- Groß bleibt bei seiner - bekannten - reitungen des zivilen Widerstandes, einseitigen Verurteilung des deut- eine Nach-Hitler-Regierung zu pla- schen Episkopats. Leider nennt er nen, aktiv beteiligt war und sich im nur die durchaus begangenen Verfeh- Rahmen seiner Möglichkeiten inten- lungen kirchlicher Würdenträger und siv engagierte" (S. 212). Der 20. Juli der Hierarchie, aber die positiven und 1944 war für Gross die tragische nicht nur im katholischen Archiv Wende, denn schon bald wurde er ordentlich aufgearbeiteten Beispiele nach dem gescheiterten Hitler-Atten- werden gar nicht erst erwähnt. Das tat verhaftet. Die Autorin legt nüch- wirft einen Schatten auf das sonst so tern und offen den Prozess und die objektive Buch, von Alexander Groß Hinrichtung des bekennenden Katho- hätte man sich in einer solchen Mo- liken dar, der auch in der Haftzelle nographie mehr und Differenzierteres nicht von seinen Ansichten abwich. erwartet. Seiner konkreten Kommen- Bücker kommt zu zwei Schlüssen: tierung der väterlichen Briefe tut dies Unter journalistischem Aspekt wür- allerdings keinen Abbruch. digt sie Groß, dass "er seine redak- Das Leben eines Menschen, der tionelle Aufgabe, die Glaubensvertie- den Glauben nach christlichem Vor- fung, gut erfüllte ... Er unterließ bild beispielhaft in der Medienarbeit zwar, den religiösen Bereich zu über- und damit verbunden im politischen schreiten und in den politischen Widerstand einsetzte, ist von Vera Raum im Sinne politischer Oppositi- Bücker eindrucksvoll nachgezeichnet on vorzudringen. Teilanpassung als worden. Das Buch verdient Beach- Preis für das lange Erscheinen kann tung - und hätte vom Verlag eine aus heutiger Sicht als ungewollte, bessere Behandlung verdient: Man- partielle Stabilisierung der NS-Herr- gelhaftes Lektorat, springende Zei- schaft beurteilt werden, aber gemes- lenabstände und ein Übermaß an sen am damaligen Auftrag als Haupt- Schrifttypen erschweren die Lektüre schriftleiter, zur Glaubensfestigung über eine wichtige Person in der und -Vertiefung beizutragen, hat er Vielfalt katholischen Widerstands. diesen voll erfüllt" (S. 169). In ihrer Matthias Kopp allgemeinen Einschätzung hält sie fest: "Sein konsequentes Handeln https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
LITERATUR-RUNDSCHAU Elisabeth Hurth: .. Alle Toten auf ihre tung dann auch noch einmal ganz Plätze!" Die mediale Inszenierung des ausdrücklich durch. Todes. Mainz: Matthias-Grünewald- Die Berechtigung zu einer solchen Verlag 2004, 144 Seiten, 14,80 Euro. Positionsbestimmung gegenüber dem untersuchten Gegenstand soll nicht Was Elisabeth Hurth im Vorwort bestritten werden. Sie ist grund- ihres Buches feststellt, kann jeder sätzlich legitim. Im Falle der Fernsehzuschauer bestätigen: Über- Überlegungen von Hurth zeigt sich all ist der Tod als visuelles Phäno- hier aber doch eine Grenze im analy- men präsent. Diese Tatsache ist der tisch möglichst vorurteilsfreien Um- Ausgangspunkt und bietet den Un- gang mit den untersuchten Todesbil- tersuchungsgegenstand für die Über- dem. Hurth vermisst letztlich näm- legungen von Hurth. Sie will in ihrem lich in den medialen Darstellungen Buch den Todesbildern nachgehen, des Todes jene Dimensionen, nach wie sie im Infotainment und in der der durch die Erfahrung personaler fiktionalen Inszenierung des Fernse- Liebe, wie sie im Anschluss an Mar- hens gezeigt werden. cel meint, eine Hoffnung über die Das geschieht im einzelnen unter Todesgrenze hinaus geöffnet wird. folgenden Kapitelüberschriften: Der "Im Vollzug von Treue und Liebe medikalisierte Tod: Todesbilder in zeigt sich die Unvergänglichkeit des Arzt- und Krankenhausserien; Der geliebten Menschen an. Der Tod be- Tod als Mord: Todesbilder im Krimi; deutet damit nicht primär die Tren- Der Tod als Schicksal: Todesbilder in nung von einem geliebten Menschen, Daily Soaps und Talkshows. Vorge- er bietet vielmehr auch die Möglich- schaltet sind diesen Abschnitten eine keit des Naheseins. Der Tod ist längere Reflexion über den Tod im gerade nicht das Ende der Liebe, er Spektrum zwischen Information und verliert seine schreckenerregende Unterhaltung sowie drei eigene Ab- Maske und wird zum ,Tor der Hoff- schnitte mit philosophischen und nung"'(S. 52). kulturgeschichtlichen Überlegungen, Die Tragfähigkeit dieser These ist die helfen sollen, die Genese unter- nicht unbedingt von vomherein ein- schiedlicher Todesbilder zu erhellen. sichtig. Man kann wohl mit gleichem Hurth deckt mit diesen vorge- Recht den Tod auch ganz anders schalteten Abschnitten gleichzeitig verstehen. Bei einem so zugespitzten, ihren Deutungshorizont für die da- christlich getönten existenzialisti- nach besprochenen medialen Todes- sehen Todesverständnis als Hinter- bilder auf. Während sie sich in der grundannahmewundert es jedenfalls Beschreibung des Wandels der To- nicht, dass die Autorirr bei ihren desbilder besonders auf Philippe Einzelanalysen der medialen Todes- Aries beruft, verfolgt sie in der philo- bilder praktisch durchgängig zu kriti- sophischen Todesdeutung eine exi- schen Einschätzungen gelangt. Und stenzialistische Richtung über Kier- dass sie dort, wo beispielsweise im kegaard, Heidegger und Marcel, wo- Fernsehen in Personal-Help-Shows bei sie sich in kritischer Wendung oder in Sendungen wie "Herzblatt" gegen Heidegger für eine christlich- Liebesbeziehungen zum Thema wer- existenzialistische Deutung des To- den, ihren eigenen Liebesbegriff nicht des entscheidet. r.n_ abschließenden wiederentdeckt, muss ebenfalls nicht Kapitel ihres Buches über Todesbil- unbedingt verwundern. Die Klage der im Bann von Endlichkeit und darüber durchzieht das Schlusskapi- Romantisierung schlägt diese Deu- tel und bestätigt noch einmal jene https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56 Open Access – - http://www.nomos-elibrary.de/agb
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