Literatur-Rundschau - Nomos eLibrary

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Communicatio Socialis 38 (2005), Nr. 1: 93–110
                                                                           Quelle: www.communicatio-socialis.de

                        Literatur-Rundschau

Hans Hafenbrack: Geschichte des                   genreichen Geschichtsklitterung hin:
Evangelischen Pressedienstes. Evan-               auf Hans Hafenbrack, 1978 bis 1981
gelische Pressearbeit von 1848 bis                Redakteur und 1981 bis 1998 Chef-
1981. Bielefeld: Luther-Verlag 2004               redakteur der epd-Zentralredaktion.
(= Evangelische Presseforschung,                  Dieser arbeitete damals noch an ei-
Band 5). 664 Seiten, 42,90 Euro.                  nem Buch über die Geschichte des
                                                  epd.
Es war im Sommer 2002, als Volker                    Das Buch ist jetzt erschienen. Es
Lilienthal, Redakteur des Evangeli-               erzählt auf 664 Seiten eine lange
sehe Pressedienstes (epd), in .,epd-              Geschichte. Sie reicht von 1848 bis
medien" Ergebnisse einer von ihm                  1981 und gilt dem epd als der .,äl-
durchgeführten Recherche über den                 testen Nachrichtenagentur Deutsch-
epd in der Zeit des Dritten Reiches               lands". Das Prädikat ist gerechtfer-
und insbesondere über dessen dama-                tigt, bezieht der Autor doch die Vor-
ligen und späteren, hochangesehenen               läufer mit ein, die .,Evangelische Cor-
Chefredakteur Focko Lüpsen publi-                 respondenz für Deutschland" (1876-
zierte, die in Fachkreisen - man                  1879), die .,Korrespondenz für Innere
verzeihe hier die abgenutzte Meta-                Mission" (1898-1910) und die .,Kor-
pher - wie eine Bombe einschlugen.                respondenz des Evangelischen Press-
Lüpsen habe, so berichtete Lilienthal,            verbandes für Deutschland" (1910-
im Jahr 1946 in einem Lizenzantrag                1919). Auch 1919 oder 1910 ist ein
an die britische Militärregierung und             stolzes Geburtsalter für eine deut-
nochmals im Jahr 1950 im Kirchli-                 sche Agentur - die heute existieren-
chen Jahrbuch für die Evangelische                den verzichten wohlweislich auf eine
Kirche in Deutschland die Behaup-                 Ahnenreihe, soweit sie denn eine
tung in die Welt gesetzt, der epd sei             hätten.
193 7 von der nationalsozialistischen                Hafenbrack beginnt, versteht sich,
Presselenkung verboten worden. In                 mit Johann Hinrich Wichern und
Wirklichkeit konnte er, wie sich an-              gliedert seinen Stoff in zehn Kapitel:
hand von Bibliotheksbeständen nach-               (1) Die Pressearbeit der Inneren Mis-
weisen lässt, bis zur allgemeinen                 sion [reicht bis 1910], (2) Die erste
Unterdrückung der konfessionellen                 Herausgeberschaft des Evangeli-
Presse im Jahr 1941 weiter erschei-               schen Pressedienstes [1910-1914),
nen, nicht unbehelligt, aber auch                 (3) Die Kriegs-Korrespondenz ...
nicht über die Maßen schikaniert,                 [1914-1918), (4) Die Blütezeit der
denn die epd-Inhalte, verantwortet                Öffentlichkeitsarbeit in der Ära Hin-
von Lüpsen, waren brav gleichge-                  derer [1918-1933), (5) Sprachrohr
schaltet.                                         der Deutschen Christen im Kirchen-
    Lilienthai hat seine Studie noch              kampf [1933/1934), (6) 1939 wird
einmal sorgfältig für die .,Publizistik"          die epd-Ausgabe für die Tagespresse
aufgearbeitet, wo sie im Jahr 2003                eingestellt [1935-1939), (7) Zweifa-
erschien. In beiden Publikationen                 che Zensur für den epd im Zweiten
wies Lilienthai auf den eigentlichen              Weltkrieg [1939-1941), (8) Der epd
Entdecker der für die Historiographie             unter dem Dach des westfälischen
der konfessionellen Publizistik fol-              Presseverbands [1946-1964), (9)
                      https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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LI/ tHATUR-RUNDSCHAU

        Der EPD wird wieder Herausgeber                      zwar im oben erwähnten Kirchlichen
        des Evangelischen Pressedienstes                     Jahrbuch. Hier heißt es klipp und
        [epd; 1964-1968], (10) Der epd im                    klar, es sei [193'] "ein Verbot ver-
        Gemeinschaftswerk der Evangeli-                      hängt" worden, und zwar "nach einer
        sehen Publizistik [1968-1981].                       scharfen Auseinandersetzung des
           Aus der Überschrift von Kapitel 9                 Chefredakteurs [d.i. Lüpsen] mit dem
        erkennt der mit der Nomenklatur                      Fachschaftsleiter der Reichspresse-
        nicht voll vertraute Leser, dass EPD                 kammer". Das war August Hinderer,
        und epd nicht dasselbe sind. Der                     zugleich EPD-Vorsitzender und epd-
        Verband, eine Einrichtung, die es in                 Herausgeber, also Lüpsens politisch
        gleicher Funktionsfülle auf katholi-                 gleichgesinnter Glaubensbruder und
        scher Seite nie gab und auch heute                   Chef.
        nicht gibt (mehr dazu im Buch von                        Dem Mangel an Logik geht Hafen-
        Gottfried Mehnert: Evangelische                      brack akribisch und mit einleuchten-
        Presse, 1983), war über viele Jahre                  der Argumentationsführung nach:
        Träger des epd: 1910-1941 sowie                      Lüpsen hat nicht nur 1946 (im Li-
        1964-1968. In der unmittelbaren                      zenzantrag), sondern 1950 auch öf-
        Nachkriegszeit aber arbeitete der epd                fentlich geflunkert. Da er aber der
        unter dem Dach des westfälischen                     Nachkriegsgeneration (auch den
        Presseverbandes im Bethel.                           Wissenschaftlern in ihr) als Muster
           In diese Zeit fallen die Anstreu-                 an Glaubwürdigkeit galt, zog die Ver-
        gungen Focko Lüpsens, den 1941                       botsgeschichte (und damit die NS-
        von den Nationalsozialisten abge-                    Opferrolle) ungeprüft in mehrere
        würgten epd wiederzubeleben. Und                     kommunikationsgeschichtliche Dar-
        damit, nämlich mit dem Lizenzan-                     stellungen ein. Dem Lizenzantrag
        trag, den er am 15. Mai 1946 an die                  wurde übrigens - allerdings erst am
        britische Besatzungsregierung rich-                  15. Juli 1947- stattgegeben; der epd
        tete, begann auch die oben schon                     konnte legal wieder erscheinen, nach
        erwähnte Geschichte vom angeblich                    dem Lüpsen ihn schon 1946 ohne
        bereits 1937 (oder gar schon 1936)                   Lizenz betrieben hatte. Er selbst ging
        veranlassten Verbot des epd durch                    mit weißer Weste durch die Nach-
        die Presselenkung: In den Antrag an                  kriegsmediengeschichte, und cum
        die Briten schrieb er, um seine und                  grano salis hatte er sie wohl auch
        des damaligen epd Anti-Nazi-Gesin-                   verdient, obwohl er im Dritten Reich
        nung zu untermauern: "1936 wurde                     nicht ganz der Held gewesen war, für
        mir die Herausgabe des Evangeli-                     den er sich ausgab.
        schen Pressedienstes für die Tages-                      Hafenbrack gibt ein treffendes, der
        presse untersagt, da ich mich weiger-                Historie gerecht werdendes Urteil da-
        te, mich einer Vorzensur zu unter-                   zu ab: "Die Behauptung des epd-
        werfen" (S. 308).                                    Verbots und der Mitarbeit in der
           Dieser Satz, das belegt Hafen-                    illegalen Publizistik der Bekennen-
        brack stichhaltig, ist falsch: Lüpsen                den Kirche haben ihren ,Sitz im
        war nicht Herausgeber, es gab keine                  Leben' in der Nachkriegszeit" (S.
        epd-Vorzensur, und obendrein er-                     326).
        schien der epd - auch die Ausgabe                        Die Tatsache, dass (und in wel-
        für die Tagespresse - weiter, und                    cher Gestalt) die Aufdeckung der
        zwar unter Lüpsen als Schriftleiter.                 epd-Wahrheit zwei journalistische
        Aber Lüpsen hat die Behauptung                       Väter hat, nämlich Lilienthai und
        vom Verbot nach sorgfältiger Vorar-                  Hafenbrack, wird nicht ganz transpa-
        beit auch im Druck publiziert, und                   rent. Lilienthai hat zwar Hafenbrack

                  https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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LITERATUR-RUNDSCHAU

stets die Ehre des Erstentdeckers                den CND bedeutete freilich nicht die
gegeben, ist aber, weil er als erster            Distanzierung der evangelischen Sei-
publiziert hat (auf Betreiben des epd-           te, sondern, wie wir aus Richardi/
Chefredakteurs Thomas Schiller), als             Schwingenstein wissen, der Druck
Aufdecker der Geschichte bekannt                 aus Köln, die Überleitung in die KNA.
geworden.                                        Neue epd-Konkurrenz kam erst ab
   Den Aufsatz Lilienthais in der                1970 auf, als die Evangelikalen eine
"Publizistik" (Volker Lilienthal: "In            eigene Agentur gründeten, den "In-
die Illegalität gedrängt?" Herkunft,             formationsdienst der Deutschen
Tradierung, Funktion und Korrektur               Evangelischen Allianz" (idea). Die
der Legende vom epd-Verbot 1937.                 Auseinandersetzungen zwischen bei-
In: Publizistik, 48. Jg. 2003, H. 2, S.          den Unternehmen sind klar darge-
156-175) hat Hafenbrack offenbar                 stellt und gut belegt.
nicht mehr vor Abschluss seines                      Das kann man, soweit unsere
Buchmanuskripts auswerten können.                Kenntnisse reichen, über das ganze
Das gilt auch für das Buch von Hans-             Buch sagen. Hafenbrack arbeitet, so-
Günter Richardi überAlfred Schwin-               weit möglich, aus den Quellen, die er
genstein (Hans-Günter Richardi: Am               in großer Breite ausschöpft. Die
Anfang war das Ende. Das Wirken                  Fülle des Stoffes hat er mit einer
von August und Alfred Schwingen-                 sorgfältigen Gliederung gebändigt,
stein. München 2001). Dort findet                die dem Leser als sehr stark differen-
sich nämlich - aus Gründersicht -                ziertes Inhaltsverzeichnis gegenüber-
die Geschichte des Christlichen                  tritt. Es ist dies eine echte Erschlie-
Nachrichtendienstes (CND), zu der                ßungshilfe, denn das Buch besteht
jetzt Hafenbrack die andere, die pro-            aus zahlreichen "Einzelgeschichten".
testantische Hälfte beiträgt. Der CND            Wir haben nur zwei davon herausge-
(1946-1953) war ja nicht nur einer               griffen, um Anschaulichkeit zu ver-
der Vorläufer der Katholischen Nach-             mitteln. Der Autor verliert trotz (oder
richtenagentur (KNA), sondern auch               wegen) der starken Untergliederung
der m.W. bislang einzige Versuch,                nicht den Faden, gerrauer gesagt: die
eine ökumenische Nachrichtenagen-                Fäden, indem er gelegentlich mit
tur zu gründen und zu betreiben.                 Vorausverweisen operiert. Eine um-
    Während die evangelischen CND-               fangreiche Sammlung von Kurzbio-
Mitarbeiter (unter Leitung von Chri-             graphien im Anhang hilft, die drama-
stoph von Imhoff) den Dienst zu                  tis personae zu rekapitulieren. Das
einer angesehenen Quelle entwickeln              Literaturverzeichnis ist eher fachspe-
halfen, sah Focko Lüpsen mit seinem              zifisch gehalten. Die älteren Arbeiten
1947 wiedergegründeten epd                       etwa von Bahr, Bühler, Klaus oder
ausschließlich das Problem der Kon-              Lorey liegen schon außerhalb der
kurrenz. Hafenbracks Urteillässt an              Aufmerksamkeit des Autors, und
Deutlichkeit nicht zu wünschen üb-               über den konfessionellen Zaun ge-
rig: Lüpsen habe u.a. "in einem                  schaut wird so gut wie gar nicht (je
Rundschreiben an die Schriftleitun-              einmal Bringmann bzw. Hock), so-
gen der kirchlichen Presse" die Kon-             weit es das Literaturverzeichnis an-
kurrenz-Agentur "madig" gemacht                  geht.
und eine "Diskreditierungskampagne                   Dort wäre auch, jedenfalls auf dem
gegen den CND" betrieben, "die                    engeren Feld der Nachrichtenagentu-
schließlich dem epd das Monopol                  ren, nicht sehr viel zu holen gewesen.
über die evangelische Nachrichtenar-             Auf katholischer Seite gibt es in der
beit sicherte" (S. 446). Das Ende für             Frage der Nachrichtengebung - von
                      https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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LI/ tKA I UK-KUNU~CHAU

         der "Central-Auskunftsstelle der ka-                  fest, dass in verschiedenen For-
         tholischen Presse" und den "Apolo-                    schungsansätzen ein theoretischer
         getischen Mitteilungen" bis zur KNA                   Zugang überhaupt fehlt und sozusa-
         - einiges aufzuarbeiten. Hafenbracks                  gen "von der Hand in den Mund"
         Buch sollte ein Anstoß sein.                          gearbeitet wird. Vor allem wird klar,
                             Michael Schmolke                  dass der oft verwendete Terminus
                                                               der "Medienglaubwürdigkeit" kein
                                                               Synonym oder Oberbegriff für Ver-
         Matthias Kohring: Vertrauen in Jour-                  trauen sein kann, denn diese weiß
         nalismus. Theorie und Empirie. Kon-                   "weder genau, wovon sie theoretisch
         stanz: UVK 2004, 302 Seiten, 29,00                    spricht, noch was sie empirisch tat-
         Euro.                                                 sächlich misst" (S. 77).
                                                                  Im Kapitel zwei klopft Kohring
         Schon wieder ein Luhmann-Jünger,                      verschiedene soziologische Entwürfe
         mögen manche sagen und vielleicht                     (Simmel, Weber, Luhmann) nach
         mit der weit verbreiteten Mär daher-                  dem Umgang mit Vertrauen bzw. der
         kommen, dass die Luhmann'sche Sy-                     Implementierung desselben in die je-
         stemtheorie mit viel theoretischem                    weilige Theorie ab. Am adäquatesten
         Aufwand ein geringes Output liefert.                  erscheint schließlich der Entwurf
         Gerade wer dieser Meinung anhängt,                    Luhmanns, der Vertrauen als einen
         sollte Matthias Kohrings Buch über                    Problemlösungsmechanismus von
         Vertrauen in Journalismus lesen,                      Kontingenz vor allem in zeitlicher
         denn es zeigt, dass dies zumindest                    Hinsicht (auf die kontingente Zu-
         nicht zwingend so sein muss.                          kunft hin) ansieht. Zentral hierbei ist
            Freilich ist das Buch nicht als                    die doppelte Kontingenz zwischen
         Beweis für die Praktikabilität der                    Alter und Ego, die in Luhmanns
         Systemtheorie geschrieben, sondern                    Theorieentwurf von großer Bedeu-
         es widmet sich mit Vertrauen in                       tung ist (siehe dazu sein Werk "So-
         Journalismus einem lange theore-                      ziale Systeme"). Vertrauen ist dann
         tisch und damit auch größtenteils                     eine Möglichkeit, mit Risiko (Bedro-
         empirisch vernachlässigten Problem.                   hung oder Chance gleichermaßen)
         Ist es wirklich so einfach zu erfassen,               umzugehen. Fehlt dieses Risikobe-
         dass man die Publika nur fragen                       wusstsein, muss von Vertrautheit an-
         muss, wie viel sie den Sendern und                    stelle von Vertrauen gesprochen wer-
         Zeitungen glauben? Was ist über-                      den.
         haupt eine Vertrauenshandlung, die                       Scharf grenzt der Autor seinen
         der Rezipient von öffentlicher Kom-                   Entwurf gegen Annahmen von Ver-
         munikation ausführt? Kohring wen-                     trauen als rationaler Kalkulation ab
         det sich im ersten Teil seines Buches                 (Rational-Choice-Theorie). Vertrauen
         definitorischen Fragen zu, ehe er im                  fängt gerade dort an, wo Kalkulation
         zweiten Teil sein theoretisches Kon-                  nicht (mehr) möglich ist. Eine Ver-
         strukt durch umfangreiches empiri-                    trauensrelation liegt laut Kohring
         sches Überprüfen zu validieren                        dann vor, "wenn ein sozialer Akteur
         sucht.                                                eine aus seiner Sicht kontingente
            Im ersten Kapitel geht es dem                      Selektion vornimmt, die nur durch
         Autor um die Kritik des bisherigen                    die Selektion eines anderen Akteurs
         Umganges mit Vertrauen in der Kam-                    kausal ermöglicht wird, deren Kon-
         munikationsforschung. Er ortet Defi-                  tingenz er wahrnimmt, und wenn
         zite in der theoretischen Erfassung                   dieser andere Akteur wissen kann,
         des Phänomens Vertrauen und stellt                    dass seine Selektion dergestalt ver-

                  https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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wendet wird, und dies akzeptiert                  tivität, in Faktenselektivität, in die
oder ihm die Akzeptanz zugemutet                  Richtigkeit der Beschreibung und in
werden kann" (S. 139). Vertrauen                  die journalistische Bewertung zu-
kann man aber nicht nur in ein                    sammensetzt.
menschliches Gegenüber, sondern                      In Kapitel fünf und sechs sind das
auch in soziale Systeme haben, wie                methodische Vorgehen (Faktoren-
der Journalismus eines ist. "System-              analyse) und die Durchführung dreier
vertrauen ist empirisch betrachtet                umfangreicher Befragungen in Berlin
Leistungsvertrauen" (S. 139f.), also              und Schwerirr beschrieben. Da Ver-
Vertrauen darauf, dass das System                 trauen ein latentes Phänomen ist,
seine Leistung erbringt.                          das sich dem direkten Zugang ent-
    Kapitel drei fügt den zahlreichen             zieht, wurde die Befragung zum The-
systemtheoretischen Entwürfen von                 ma Arbeitslosigkeit geführt und be-
Journalismus bzw. Öffentlichkeit                  handelte Fragen nach der Medienbe-
(Luhmann, Marcinkowski, Scholl/                   richterstattung dieses aktuellen The-
Weischenberg, Görke usw.) einen                   mas. Die repräsentativen Umfragen
weiteren hinzu, wobei - ähnlich zu                stützen das theoretische Modell von
Alexander Görkes Entwurf- Journa-                 Vertrauen in Journalismus dahinge-
lismus als ein Leistungssystem des                hend, dass unter den vier Faktoren
Funktionssystems Öffentlichkeit ge-               eine hohe Interdependenz besteht
sehen wird. Der einzige grundlegende              und diese Faktoren das Phänomen
Unterschied zu Görke liegt in den                 Vertrauen in Journalismus gut be-
Codewerten, die Kohring mit "mehr-                schreiben. Es zeigte sich auch, dass
systemzugehörig" bzw. "nicht-mehr-                mit einem höheren Vertrauen in
systemzugehörig" benennt. Die Un-                 Journalismus auch die aus ihm gezo-
terscheidung zwischen Funktion und                genen Konsequenzen bei den Rezipi-
Leistung von Systemen, wie sie Luh-               enten bedeutsamer werden.
manns Systemtheorie eigen ist, wird                   Zu den größten Pluspunkten in
zwar implizit aufgegriffen, leider je-            Kohrings Arbeit zählen die theoreti-
doch nicht weiter ausgeführt.                     sehe Fundierung und Definition des
    In Kapitel vier bringt der Verfas-            Vertrauensbegriffes vor der Imple-
ser schließlich die systemtheoreti-               mentierung in die Journalismustheo-
schen Konzepte von Vertrauen und                  rie und die ausgezeichnete Operatio-
Journalismus zusammen. Vor allem                  nalisierbarkeit seines Ansatzes für
ist es ein Vertrauen in die journalisti-          die empirische Prüfung. Mit dem
sche Selektivität. Dimensionen des                ersten Punkt füllt der Autor eine
Vertrauens dürfen laut Kohring nicht              Lücke in der Kommunikationsfor-
von Gründen für das Vertrauen abge-               schung, mit dem zweiten Punkt er-
leitet werden. Vertrauen in die Kom-              füllt er eine zentrale Anforderung an
petenz eines Journalisten z.B. gibt es            alle aktuellen Kommunikationstheo-
in diesem Sinne nicht: Der Rezipient              rien. Die Verwendung von Luhmanns
vertraut darauf, dass der Akteur                  Systemtheorie (und insbesondere der
 (Journalist) seine Aufgabe kompe-                speziellen Aspekte des Vertrauens
tent erfüllt. Die Kompetenz ist ledig-            und der Journalismustheorie) tragen
lich ein Grund für das Vertrauen                  nicht unwesentlich zur Klarheit und
darauf, dass der Journalist seine Lei-            Schlüssigkeit von Kohrings Thesen
stung adäquat erbringt. Stattdessen               bei. Der empirischen Überprüfung
entwirft Kohring ei~ Faktorenmodell               steht die Systemtheorie in keiner
von Vertrauen in Journalismus, das                Weise im Wege.
sich aus Vertrauen in Themenselek-                    Die einzige Frage, die sich auf-
                       https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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        drängt, ist die, ob ein weiterer sy-                  Bedeutung gewinnt, schafft dieser
        stemtheoretischer Entwurf von Jour-                   Band einen willkommenen Über-
        nalismus und Öffentlichkeit für diese                 blick.             o
        Arbeit notwendig war, wo doch aus                        Vor allem vor dem Hintergrund
        den zahlreichen bisher veröffent-                     der geplanten Vereinheitlichung der
        lichten Vorschlägen ein solches Kon-                  universitären Ausbildung in Europa -
        zept adäquat zu übernehmen gewe-                      Stichwort "Bologna-Prozess" - zeigt
        sen wäre. Sosehr einige der bisheri-                  er einen wichtigen Punkt auf: Der
        gen einschlägigen Beiträge die Theo-                  viel beschworene "westliche Kultur-
        riediskussion entscheidend weiterge-                  kreis" kennt zwar vergleichbare
        bracht haben (insbesondere Frank                      Maßstäbe für die journalistische Ar-
        Marcinkowskis Konzept von 1993),                      beit, hat aber eine Vielzahl verschie-
        scheint es mir nicht hilfreich, bei                   dener Ansätze zur Ausbildung für
        jeder sich bietenden Gelegenheit das                  diesen Beruf hervorgebracht. Diese
        "Rad neu zu erfinden".                                verschiedenen Traditionen aufzuzei-
           Trotzdem: Matthias Kohring ist                     gen und zu systematisieren ist Ziel
        ein Pionierwerk gelungen, dem zahl-                   des Buches. Der Ansatz ist dabei
        reiche Folgeforschung zu wünschen                     soziologisch geprägt: Wichtig ist den
        ist (vor allem auch deshalb, weil die                 Autoren, jeweils nicht nur die gerade
        Arbeit sie ermöglicht).                               aktuelle Ausbildungssituation in den
                              Heinz Niederleitner             verschiedenen Ländern zu beleuch-
                                                              ten, sondern auch den geschichtli-
                                                              chen und gesellschaftlichen Kontext
        Romy Fröhlich I Christina Holtz-                      zu beschreiben, aus dem jedes Sy-
        Bacha (Hg.): Journalism Education in                  stem erwachsen ist.
        Europe and North America. An Inter-                      Zwölf Kapitel des Bandes beschäf-
        national Comparison. Cresskill, NJ:                   tigen sich mit der jeweils spezifi-
        Hampton Press 2003, 349 Seiten,                       schen Ausbildungstradition eines
        27,95 Euro.                                           einzigen Landes; ergänzt und abge-
                                                              schlossen wird er durch zwei verglei-
        Man kann mehrere Dinge an diesem                      chende Kapitel (zur Ausbildungssi-
        Buch kritisieren, an einer Tatsache                   tuation in Osteuropa und zur Idee
        ändert dies nichts: Für die Journa-                   eines "Europajournalismus") und ei-
        listik war eine solche Publikation                    ne Zusammenfassung durch die Her-
        schon lange überfällig, und sie ist ein               ausgeberinnen. Fröhlich und Holtz-
        gelungener erster Schritt, eine ekla-                 Bacha haben für dieses Buch eine
        tante Forschungslücke zu schließen.                   Reihe ausgewiesener Experten ver-
        Der von Romy Fröhlich und Christina                   sammelt, die auf jeweils 15 bis 30
        Holtz-Bacha herausgegebene Sam-                       Seiten die Besonderheiten ihres Lan-
        melband "Journalism Education in                      des herausarbeiten. Die Struktur der
        Europe and North America" stellt                      Artikel folgt dabei weitgehend dem-
        den erstmaligen Versuch dar, einen                    selben Muster: Jeder Autor be-
        internationalen Vergleich - "An In-                   schreibt die Entwicklung des Berufs-
        ternational Comparison", wie der Un-                  zugangs, die gegenwärtige Situation
        tertitel verspricht - der verschiede-                 der Ausbildungsinstitutionen und
        nen journalistischen Ausbildungs-                     schließt mit einer Prognose für die
        systeme der westlichen Welt anzu-                     zu erwartende Entwicklung in naher
        stellen. In einer Zeit, in der das                    Zukunft.
        Schlagwort Internationalisierung in                       Hier wird ein Problem des Buches
        Forschung und Lehre immer mehr an                     offensichtlich. Wer die jahrzehnte-

                  https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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lange Diskussion um die Verortung                 en nicht trennscharf sind und man
der Journalistenausbildung allein in              einige Länder auch in eine andere
Deutschland verfolgt hat, die Frage               "Schublade" stecken könnte - vor
nach der Akademisierung des Beru-                 dem Hintergrund der vielen Facetten
fes, das Ob überhaupt und vor allem               der Journalistenausbildung, die in
 Was studiert werden solle, dem                   dieser Gegenüberstellung offenbar
dürfte klar sein, dass der Platz kaum             werden, sind sie ein willkommener
ausreichend ist, das Thema einge-                 Wegweiser und zudem ein praktika-
hend darzustellen. Grundsätzlich ge-              bler Versuch, die verschiedenen Tra-
ben jedoch alle Kapitel einen guten               ditionen voneinander abzugrenzen.
Überblick, und besonders die den                     Abgesehen von dieser in der Zu-
Artikeln jeweils nachgestellte Litera-            sammenfassung von den Herausgebe-
turliste stellt für den außenstehen-              rinnen noch einmal dezidierter be-
den Leser, der sich vielleicht zum                schriebenen Einteilung, sind die Be-
ersten Mal mit dem jeweiligen Land                leuchtung der Ausbildungsentwick-
befasst, ein praktisches Sprungbrett              lung in Osteuropa durch Ray Hiebert
für die eingehendere Beschäftigung                und Peter Gross und das Kapitel zum
mit dem Thema dar.                                "Eurojournalismus" von Gerd G.
    Ein Wermutstropfen ist, dass sich             Kopper als im eigentlichen Sinne
die meisten Kapitel nur mit jeweils               "vergleichende" Beiträge hervorzuhe-
einem Land beschäftigen, das Buch                 ben.
also, wie die Herausgeberinnen es                    Hiebert und Gross widmen sich
ausdrücken, nicht "vergleichend im                der Beschreibung der dramatischen
eigentlichen Sinne" sei. Das bedeu-               Veränderungen des Journalismus im
tet: Der im Untertitel versprochene               Zuge der Demokratisierung der ost-
"internationale Vergleich" muss nach              europäischen Staaten nach 1989. Sie
ausgiebiger Lektüre vom Leser selbst              gehen vor allem auf die Entwicklung
vorgenommen werden.                               journalistischer Ausbildungspro-
    Eine Hilfestellung geben Fröhlich             gramme an Universitäten in Rumä-
und Holtz-Bacha, indem sie die ein-               nien, Bulgarien, Ungarn, Polen,
zelnen Länder nach ihrer maßgeb-                  Tschechien, Slowenien, der Slowakei,
lichen Ausbildungstradition zu Grup-              den baltischen Staaten, der Ukraine
pen zusammenfassen: Länder mit                    und Russland ein und weisen auf das
vornehmlicher "Academic Tradition",               dort entstehende, für die Region
also einer an Universitäten institutio-           "neue" Journalismusverständnis hin.
nalisierten Journalistenaus bild ung              Einer Art neuem Journalismus wid-
(Finnland, Spanien, USA und Kana-                 met sich auch Kopper, wenn er da-
da), "Nonacademic Tradition", einer               nach fragt, ob es in Zukunft einen
Ausbildung vornehmlich an Journali-               europäischen Journalismus geben
stenschulen (Italien, Niederlande,                wird und wie dieser (und die dazu-
Dänemark), "Academic as weil as                   gehörige Ausbildung) aussehen
Nonacademic Tradition" (Frankreich,               könnte.
Portugal und Deutschland), und                       Auf dem Weg zu einer Internatio-
schließlich Länder mit einer "Trai-               nalisierung der Journalismusfor-
ning-on-the-Job"-Tradition, in denen              schung ist der erste Schritt das
die Ausbildung hauptsächlich in                   Wissen um die verschiedenen Aus-
"Media Organizations and/or                       prägungen und Traditionen dieses
Schools" stattfindet (England und                 Berufsfeldes auf der Welt. Einen
Österreich). Man kann darüber hin-                Überblick in Bezug auf den wichtigen
weg sehen, dass diese vier Kategori-              Bereich der Journalismusausbildung
                      https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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        kann man sich mit diesem Buch                         Rias-Funkuniversität unter Gerhard
        erarbeiten. Es ist ein gelungenes                     Löwenthai und auf Gerhard Szczes-
        Nachschlagewerk, denn es ermög-                       nys Nachtstudio "beim Bayerischen
        licht dem interessierten Wissen-                      Rundfunk ein. All diese Sendungen
        schaftler einen wichtigen ersten                      waren zu jener Zeit so etwas wie
        Blick über den Tellerrand des eige-                   Kult, und um ihre Redaktionsleiter
        nen Ausbildungssystems. Wie Fröh-                     gruppierten sich journalistische Mit-
        lich und Holtz-Bacha es ausdrücken:                   arbeiter, die deutsche Rundfunk-
        "it is a necessary first step towards a               geschichte schrieben: um Jürgen
        systematic comparison" (S. 309).                      Schüddekopf (Hamburg) z. B. Hans
                       Michael Harnischmacher                 Egon Holthusen, Gregor von Rezzori,
                                                              Albrecht Goes, Peter Bamm, Axel
                                                              Eggebrecht; um Alfred Andersch, die
        Monika Boll: Nachtprogramm. Intel-                    womöglich zentrale Figur im west-
        lektuelle Gründungsdebatten in der                    deutschen Kulturradio der Nach-
        frühen Bundesrepublik. Münster: LIT                   kriegszeit (Frankfurt, später Harn-
        Verlag 2004, 270 Seiten, 34,90 Euro.                  burg, danach Stuttgart), z. B. Walter
                                                              Kolbenhoff, Heinz Friedrich, Eugen
        Das Radio in der deutschen Nach-                      Kogon, Walter Dirks, Hans Magnus
        kriegszeit - es hatte eine Bedeutung,                 Enzensberger, Helmut HeißenbütteL
        die heute kaum mehr vorstellbar ist.                     Andersch war es auch, so die
        Langsam wird es zum Forschungsge-                     Legende, der in seinem Büro Anfang
        genstand, selten allerdings in der                    1950 eine Begegnung mit "einem
        Kommunikationswissenschaft. Die                       kleinen, nicht rundlichen, doch [... ]
        vorliegende Studie stammt denn auch                   überall abgerundeten Herrn" hatte,
        von einer Historikerin, was am                        der "in vollkommen abgerundeten
        manchmal recht großzügigen Um-                        und gegliederten Sätzen, mit einer
        gang mit Begriffen und Schlussfolge-                  Stimme von seltsam zierlicher Schär-
        rungen deutlich wird. So tritt bei-                   fe" auf ihn in pausenloser Diktion
        spielsweise der sogenannte "Zeit-                     einzureden begann: Theodor W.
        geist" des öfteren als imaginäre Per-                 Adomo. Dieser verfolgte seine Rund-
        sonifizierung auf, aber auch "die"                    funkkarriere ungeheuer zielstrebig
        Modeme oder "der" gesellschaftliche                   und ist rückblickend ganz entschei-
        Diskurs. Es handelt sich hier offen-                  dend dafür mitverantwortlich, dass
        bar eher um metaphorische Instru-                     das Kulturradio jener Jahre sich der
        mente zur Strukturierung des empiri-                  Soziologie öffnete.
        schen Materials, das allerdings in                       Neben den traditionellen Themen
        derart überwältigender Fülle und                      aus Literatur, Kunst und Musik fand
        Präzision aufbereitet und gedeutet                    die Gesellschaftsreflexion der sich
        wird, dass sich die Lektüre außer-                    wieder etablierenden Soziologie ihren
        ordentlich informativ und spannend                    Platz in der Programmgestaltung.
        gestaltet.                                            Die Vertreter dieser soziologischen
           Mit den Abend- und Nachtpro-                       Gründergeneration, Remigranten wie
        grammen der Hörfunksender Harn-                       Adomo, Max Horkheimer, Helmuth
        burg, Frankfurt und Baden-Baden                       Plessner und Rene König, aber auch
        zwischen 1945 und dem Beginn der                      Wissenschaftler wie Amold Gehlen
        Sechzigerjahre hat sich die Autorirr                  und Helmut Schelsky, die während
        die damals berühmtesten Kultursen-                    der NS-Zeit an deutschen Universitä-
        dungen für ihre Analyse herausge-                     ten gelehrt hatten, sorgten dank
        sucht. Sie geht aber auch auf die                     vielfältiger Initiativen der Hörfunk-

                  https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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redaktionen für eine auffassende                 des westdeutschen Hörfunks in ihrer
Medienpräsenz der Soziologie. Ihre               Phase soziologischer Ausrichtung
theoretischen, zumeist übrigens phi-             mag durchaus die Rede sein. Aber ob
losophischen Prämissen waren teil-               es sich dabei zugleich um einen
weise höchst unterschiedlich. Unter-             Diskurswechsel "des" intellektuellen
schiedlich waren auch oft ihre politi-           Selbstverständnisses in der Bundes-
schen Präferenzen. Daraus entwik-                republik handelte, darf bezweifelt
kelten sich kontroverse Gespräche                werden. In letzter Instanz verweisen
und Diskussionen auf hohem intel-                öffentliche bzw. veröffentlichte Dis-
lektuellem Niveau, die sicherlich                kurse eigentlich immer nur auf ihre
nicht ohne Wirkung blieben.                      Urheber allein und können deshalb
    Wie weit reichte diese Wirkung?              kaum als gesellschaftlich repräsenta-
Die Kernthese der Autorirr ist, dass             tiv gelten.
aus dem ursprünglich apolitischen,                   Dessen ungeachtet bietet die Stu-
nur den Künsten verpflichteten Kul-              die von Monika Boll eine Fundgrube
turverständnis der frühen intellektu-            für alle, die an Hörfunkgeschichte
ellen Elite Westdeutschlands, deren              interessiert sind. Es ist eindrucks-
 "Kulturemphase", in Auseinanderset-             voll, mit welcher Umsicht sie die
zung mit dem neuen, soziologischen               enorme Materialfülle im Zusammen-
 Gesellschaftsverständnis jene beson-            hang ihrer Soziologisierungsthese
dere Gemengelage entstand, welche                nach allen möglichen Seiten entfaltet,
für die im Titel genannten "Grün-                bündelt und interpretiert. So ent-
dungsdebatten" der Bundesrepublik                stand ein detailliertes Bild von den
charakteristisch gewesen sei. Erst-              intellektuell anspruchsvollsten Seg-
mals habe sich damals "eine öffent-              menten der Hörfunköffentlichkeit in
liche Selbstwahrnehmung der bun-                 der Bundesrepublik der Fünfziger-
desrepublikanischen Gesellschaft"                jahre. Das waren keine "Bildungspro-
ereignet (S. 131), welche nicht mehr             gramme", wie die Autorirr wiederholt
durch die Dominanz restaurativer                 betont, sondern "Programme für Ge-
Kulturauffassungen gekennzeichnet                bildete".
war, sondern vielmehr durch ver-                                         Verena Blaum
schiedene Varianten dezidierter Kul-
turkritik, etwa seitens der Frankfur-
ter Schule.                                       Walter van Rossum: Meine Sonntage
    Die Autorirr spricht von einem                mit "Sabine Christiansen". Wie das
 "Umbruch innerhalb des intellektuel-             Palaver uns regiert. Köln: Kiepenheu-
len Selbstverständnisses", "dem der               er und Witsch, 185 Seiten, 8,90 Euro.
Begriff des Diskurswechsels durch-
aus gerecht wird. Denn es handelte               Für Minister, Staatssekretäre etc. -
sich dabei nicht bloß um einen Aus-              kurz für das politische Establishment
 tausch bestimmter Inhalte und The-              - und die Polit-Journalisten gehört
 men innerhalb eines bestehenden Be-             sie zum Pflichtprogramm: die Talk-
 zugssystems der Selbstwahrnehmung               show "Sabine Christiansen". Die in
 in der Bundesrepublik, sondern um               Berlin produzierte Sendung, benannt
 die Änderung des Systems als sol-               nach der Moderatorin, gehört zu den
 chem" (S. 153). Diese Aussagen er-              quotenstärksten publizistischen Of-
 scheinen aus sozialwissenschaftli-              ferten im deutschen Fernsehen. Im
 eher Sicht eher fraglich. Von einem             Segment der politischen Gesprächs-
 Diskurswechsel innerhalb der wich-              runden ist sie Marktführer. Kein . .
 tigsten Abend- und Nachtprogramme               Wunder also, dass sich gerne hoch-
                      https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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        rangige Politiker und Verbands-                       Techniken dieses Palavers zu be-
        funktionäre jeden Sonntag um 21.45                    schreiben und das Weltbild, das sich
        Uhr bei "Sabine Christiansen" ver-                    dabei beim Spreclten verfertigt."
        sammeln, um ein im weitesten Sin-                        Grundlage der Sprachrituale bzw.
        ne (gesellschafts-)politisches Thema                  des sonntäglichen Palavers ist nach
        zu diskutieren: Arbeitslosigkeit,                     Auffassung van Rossums ein Dogma.
        Steuer-, Gesundheits- und Rentenre-                   Unter den beteiligten Akteuren des
        form, Krieg. Wer eine Botschaft ins                   Polit-Talks herrsche Konsens dar-
        Land zu tragen hat, wer glaubt,                       über, dass "wir uns diesen Wohl-
        Position beziehen zu müssen, der                      fahrtsstaat nicht mehr leisten kön-
        nutzt die Chance, sich vor einem                      neu" (S. 12). Hier setzt das zweite
        Millionenpublikum zu den großen                       Vorhaben des Autors an. Er will
        Fragen der Gegenwart zu äußern.                       zeigen, wie marginal die Beweis-
        Eine Einladung in die Sendung                         führung für die Rechtfertigung dieses
        gleicht einem Adelsschlag.                            Dogmas ist, um dann darzustellen,
            Die Popularität der Sendung, aber                 wie die "Propaganda der Dogmati-
        auch ihre eigene Prominenz hat der                    ker" die zentrale Frage verdeckt:
        Moderatorirr einen fragwürdigen Sta-                  Kann sich diese Republik diese Wirt-
        tus verliehen. In der Boulevardpresse                 schaft noch leisten?
        wird sie als "Queen" des Polit-Talks                     Das Buch ist in drei Hauptkapitel
        bezeichnet. Das ruft zahlreiche Kriti-                unterteilt. Gemeinsam ist ihnen eine
        ker auf den Plan. Zu ihnen gehört vor                 jeweils provozierende Überschrift.
        allem Walter van Rossum.                              Der erste Abschnitt mit dem Titel
            Dabei geht es dem Autor nicht                     "Unsere Systemüberwinder oder ,Wir
        speziell um die Person der Moderato-                  müssen endlich .. .' eine Kolchose
        tin. Es geht ihm auch nicht per se                    errichten" enthält vier eigenständige
        um die Sendung "Sabine Christian-                     Teile. Das erste Unterkapitel beinhal-
        sen". In der Einführung, die die                      tet eine stellenweise sehr zynische
        Überschrift "Vorspiel auf dem Sofa"                   Beschreibung der Protagonisten des
        trägt, legt van Rossum die an-                        sonntäglichen Geschwätze-Schwa-
        spruchsvolle Zielsetzung seines Bu-                   ders. Den Gästen wirft van Rossum -
        ches vor. Seine Intention ist es, am                  zu Recht - die Verbreitung von Wort-
        Beispiel der genannten Talkshow                       hülsen vor. Anschaulich deklassiert
        "eine Studie über die Macht der                       er die Sprechblasen der Akteure, die
        aktuellen Sprachrituale (vorzulegen),                 bis zur Austauschbarkeit verkom-
        die den Raum, den man einst Öf-                       men. Er zitiert in Auszügen die Bei-
        fentlichkeit nannte, heute schier mo-                 träge von Angela Merkel, Olaf Scholz
        noton beschallen" (S. 12). Und er                     und Heinrich von Pierer und fordert
        fährt fort: "In den Zeremonien des                    den Leser auf, die jeweiligen Namen
        Palavers, die so beispielhaft wie bei-                den Wort-Spendern zuzuordnen. Am
        spiellos bei ,Sabine Christiansen'                    Ende des Kapitels erfolgt die Auf-
        aufgeführt werden, reguliert sich je-                 lösung in Fußnoten. Die weiteren
        ner Konsens, der dann von Bild-                       Unterkapitel beschäftigen sich mit
        Zeitung bis FAZ, von SPD bis CDU,                     den thematischen "Dauerbrennern"
        von Arbeitgeberverbänden bis Ge-                      bei "Sabine Christiansen": Wirt-
        werkschaften an die jeweilige Klien-                  schaft, Arbeitslosigkeit und Steuer-
        tel weitergereicht wird." Seine Vor-                  problematik. Im folgenden Hauptka-
        geheusweise beschreibt der Autor                      pitel mit der Überschrift "Wie Sabine
        mit den Worten: "In einer Art kon-                    Christiansen dabei half, den Irak zu
        kreter Ethnologie versuche ich die                    befreien" widmet sich der Verfasser

                  https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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               102
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der in der Talkshow geführten Debat-            für ausfindig machen? Der Autor
te über den zweiten Irak-Krieg. Der             vernachlässigt in seiner Evaluation
letzte Abschnitt ist mit "Unsere Lan-           der Talkshow "Sabine Christiansen"
desverweser" überschrieben. Hier                die Beachtung der Eigengesetzlich-
geht es, u. a. am Beispiel von Jürgen           keiten der Medien. Eine kritische
W. Möllemann und Florian Gerster,               Analyse der Sendung, die stellvertre-
um die Nutzung von Medien in Kri-               tend für zahlreiche gleiche Formate
senzeiten bzw. die mediale Aufberei-            steht, muss sich eingehender mit der
tung von Konflikten.                            Frage beschäftigen, wie Politikver-
   In der Einleitung stellt van Ros-            mittlung in der Mediendemokratie
sum fest, dass es seiner Beobachtung            funktionieren kann. Er legt keinen
nach keine Medientheorie gibt, die              überzeugenden Gegenentwurf vor.
umfassend darlegt, wie Öffentlichkeit           Zwar zeigt der Verfasser eindrucks-
in der Mediengesellschaft wirklich              voll (polemisch) an zahlreichen Bei-
funktioniert. Um es gleich vorweg zu            spielen auf, dass Sabine Christiansen
nehmen: Auch der Autor liefert kein             als kritische Fragerirr versagt. Das
theoretisches Konzept. Zugegeben,               aber ist nichts Neues. Seit der ersten
das ist auch nicht sein Anliegen. Van           Ausstrahlung der Sendung im Jahr
Rossums Buch hat essayistischen                 1998 wird dies der Leiterin der
Charakter, seine Aussagen beruhen               sonntäglichen Gesprächsrunde mit
auf Beobachtungen der Sendungen                 gutem Grund vorgeworfen.
über mehrere Monate. Die Rück-                      Neu ist auch nicht van Rossums
schlüsse, die der Autor zieht, basie-           Kritik am Redaktionsteam der Sen-
ren daher nicht auf einer analyti-              dung: "Sabine Christiansen hat es
schen Auswertung nach strengen                  zur Meisterschaft darin gebracht, Po-
empirischen Kriterien. Das ist zwar             litik als geschlossenen Kreislauf dar-
legitim, aber eben doch bei diesem              zubieten. Die Wahmehmung der Re-
Thema zu wenig. Zugespitzt formu-               daktion beschränkt sich einzig und
liert kann man dem Autor vorwerfen,             allein darauf, das wahrzunehmen,
dass er gerrau das tut, was er den              was die Pressestellen der parlamen-
Protagonisten der Sendung - den                 tarischen Vernunft lancieren" (S.
Westerwelles, Eichels und Kochs -               30). Und letztlich ist auch nicht neu,
vorhält: Er verliert sich zu oft in             dass bei "Sabine Christiansen"
Worthülsen und Allgemeinplätzen.                Scheingefechte ausgetragen werden:
    Van Rossum gefällt sich in der              "Doch diese Pseudodebatten haben
Rolle des kritischen Beobachters                nur die Funktion, die Grenzen zu
fernab der politischen Mitte. Das               markieren, innerhalb derer man
macht er rhetorisch geschickt, stel-            überhaupt diskutieren kann. Also ei-
lenweise sogar höchst interessant.              gentlich gar nicht. Denn die Differenz
Seine Schreibe ist bissig, seine Ana-           zwischen Merkel und Müntefering
lyse hingegen (leider) zu ungenau. Er           mehrt nicht gerade den Zauber der
bleibt dem Leser Antworten und                  Demokratie. Kurz, die Gesellschaft
Erklärungen schuldig. Van Rossum                verwandelt sich für die Politik in eine
scheitert an seinen eigenen                     Art komplexe Liegenschaftsverwal-
Ansprüchen. Er hat in der Einleitung            tung. Da gibt es nicht viel zu gestal-
anspruchsvolle und spannende Ziele              ten" (S. 29).
formuliert. Das schürt Erwartungen                  Zu kurz kommt auch die Ausein-
beim Rezipienten, d~nen er nur unzu-            andersetzung mit den Zuschauern.
reichend gerecht wird.                          Warum erfreut sich diese Sendung so
    Welche Ursachen lassen sich da-             großer Beliebtheit? Vorsichtig, viel
                      https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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        zu zögerlich, stellt der Autor sich                   große Chance: Denn er hat in einem
        dieser Frage. Warum begegnet er den                   185 Seiten umfassenden Buch mehr
        Rezipienten, der namenlosen und                       Möglichkeiten, ~ine Lösungsvor-
        schweigenden Masse, die in der Ar-                    schläge vorzustellen, als die von ihm
        gumentationslogik des Verfassers als                  kritisierten Akteure in der einstün-
        Systemkitt funktioniert, nicht mit                    digen Talkshow. Der Erkenntniswert
        gleichem scharfen Zungenschlag wie                    dieses Buches hält sich daher in
        den Gästen der Sendung? Denn gna-                     überschaubaren Grenzen. Davon un-
        denlos deklassiert er die Vertreter                   berührt bleibt aber der Unterhal-
        der Legislative und der Lobbyisten:                   tungswert, der durchaus gegeben ist.
        "Der vordringliche Sanierungsfall im                                             Ute Stenert
        angeblichen Sanierungsgebiet
        Deutschland ist die intellektuelle
        Verfassung der Sanierer selbst." (S.                  Vera Bücker: Nikolaus Groß. Polit-
        22)                                                   scher Journalist und Katholik im Wi-
           Die Fernsehgemeinde nimmt er                       derstand des Kölner Kreises. Münster:
        hingegen in Schutz. Doch dabei de-                    LIT Verlag 2003, 296 Seiten, 17,90
        gradiert er, ohne es vermutlich zu                    Euro.
        wollen, den Zuschauer zum unkriti-
        schen Beobachter der sonntäglichen                    Die Seligsprechung von Nikolaus
        Scheindebatten. Man habe ihm seit                     Groß am 7. Oktober 2001 hat weit
        Jahren zu verstehen gegeben, dass es                  über die katholische Welt hinaus den
        keine Alternativen gibt: "Die Impera-                 Fokus auf einen Mann geworfen, der
        tive des Systems erlauben nur Wahl-                   zu den profihertesten Persönlich-
        möglichkeiten im Bereich der bis zur                  keiten des Widerstandes gegen das
        kompletten Austauschbarkeit ähn-                      Nazi-Regime gehörte. Vieles ist über
        lichen Programme, die bei Sabine                      die Vergangenheit von Groß ge-
        Christiansen kunstvoll als Kontrover-                 schrieben worden, vor allem in sei-
        sen dargeboten werden" (S. 37).                       nem Wirken für die Katholische Ar-
           Van Ross um hingegen glaubt an                     beitnehmerbewegung und später in
        die Alternativen im politisch-öko-                    seiner Eigenschaft als Gewerk-
        nomischen System. Das ist ihm nicht                   schaftssekretär. Jetzt hat Vera
        vorzuhalten. Im Gegenteil: Der Autor                  Bücker, die tlen Seligsprechungspro-
        versucht, mit einfachen Fragen den                    zess von Nikolaus Groß wissen-
        gängigen Erklärungsmustern für                        schaftlich begleitete, eine umfassen-
        Wachstum und Arbeit entgegenzu-                       de Monographie über das Leben des
        steuern. Er legt auch in Fragmenten                   - so in der Lehre der Kirche -
        einen Gegenentwurf vor. Die Bruch-                    Märtyrers vorgelegt. Didaktisch be-
        stücke aber überzeugen nicht. Da-                     ginnt die Autotin mit dem Abdruck
        durch macht sich der Verfasser an-                    der wichtigsten Quellen über Groß,
        greifbar. Er nimmt zu den oben ge-                    die gleichzeitig ein repräsentativer
        nannten zentralen Themen Stellung.                    Querschnitt sind und so auf wenigen
        Doch dabei verharrt er an der Ober-                   Seiten komprimiert das Drama des
        fläche. Statt einer detaillierten Argu-               bekennenden Katholiken zusammen-
        mentationskette, die durch Fakten                     fassen.
        gestützt wird, stülpt van Rossum                         Während die Jugend- und Fami-
        sein Weltbild über die Probleme un-                   lienjahre eher knapp dargestellt wer-
        serer Gesellschaft. Das ist seine                     den, widmet sich Bücker in einem
        Form des Sprachrituals.                               zentralen Teil ihrer Arbeit dem Jour-
            Damit vergibt der Verfasser eine                  nalisten Nikolaus Groß. Dabei ruft

                  https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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sie parallel vieles Bekannte in Erin-           sehen Reife und Urteilsfähigkeit"
nerung, was aber für eine Einord-               (89).
nung in das Engagement und den                      Der Autorirr gelingt es, die Fülle
Mut von Groß unerlässlich ist. So               von journalistischen Beiträgen Groß'
sind beispielsweise die Ausführungen            in einen Gesamtzusammenhang zu
zu den Parteien der Weimarer Repu-              stellen. Das gilt auch für die Zeit als
blik oder die Zusammenfassung zum               Redakteur im Dritten Reich (1933 -
nationalsozialistischen Presserecht             1938). Hier legt Bücker die Entwick-
solche Lesehilfen. Das eigentlich               lung der KAB-Zeitung dar und ver-
spannende und wissenschaftlich sau-             gleicht sie eingängig mit anderen
ber aufgearbeitete ist das Profil von           Verbandsorganen. Sie zeichnet ein
Nikolaus Groß selbst. Dessen Hal-               klares Bild der wachsenden Schere
tungen zu den Parteien der Weimarer             von Freiraum und Einschränkung
Zeit, sein inneres Ringen als Journa-           und skizziert einen Nikolaus Groß,
list bei der KAB-Zeitung von 1927               der bis in feinfühlige Formulierungen
bis 1933 und die vielfältigen Korn-             hinein versuchte, sich gegen den
mentare aktueller Gesetzestexte wer-            nationalsozialistischen Untergangs-
den von Bücker aufbereitet.                     apparat zu stellen - aber nur so weit,
    Der Journalist Groß war kein Zau-           wie es ihm die journalistische Frei-
derer, die Sozialdemokratie bezeich-            heit erlaubte, um die Freiheit der
nete er als etwas, dass zum .. Nur-             Zeitung zu garantieren. Bücker bleibt
Irdischen" ausgerichtet sei, hingegen           nicht bei allein politisch-historischen
schöpfe die Katholische Arbeitneh-              Fakten aus Groß' Leben stehen, son-
merbewegung aber aus dem Glauben:               dern sie bemüht sich, ein - wenn
.,Für sie hat der Mensch neben Dies-            auch nicht in allen Quellen ausge-
seitsaufgaben und -rechten auch                 schöpftes - Mosaik zu entwickeln,
höhere Jenseitsziele" (S. 69).                  das den Handlungsrahmen für Groß
    Bei ihrem Versuch, ein objektives           darstellte: Sie analysiert das Ver-
Bild zu zeichnen, spart die Autorirr            hältnis von Kirche und Staat, insbe-
auch nicht mit berechtigt kritischen            sondere die Haltung der Bischöfe, die
Einschätzungen, so wenn sie zum                 für Groß' redaktionelle Arbeit letzt-
Beispiel daran erinnert, dass Groß              lich von großer Bedeutung waren.
die .. partielle parlamentarische Zu-           Das wird am Beispiel des Reichskon-
sammenarbeit von Zentrum und                    kordats aufgezeigt. Obwohl er privat
NSDAP recht positiv" beurteilte oder            eine - so Bücker - kritische Haltung
auch der Rechtsruck von Prälat Dr.              dazu gehabt haben soll, wird die
Ludwig Kaas im Zentrum mit                      Kommentierung der Kirchenpolitik -
unterstützte. Groß ging es in seinem            gleichsam loyal - für die Bischöfe
Wirken immer um die Frage, wie viel             positiv bewertet und der Regierung
Spielraum das Zentrum brauche, um               Vertrauenswürdigkeit beigemessen.
überleben zu können. Deshalb wur-                   Der Familienvater wusste sich
den die Kommentare des Journali-                auch in bedrängten Zeiten zu seiner
sten mit der Zeit wesentlich deutli-            Kirche gehörig, denn die Bewahrung
cher. Schon 1929 schrieb er über den            des Christlichen und der Grundlagen
Wahlerfolg der NSDAP bei den Kom-               des katholischen Glaubens erwiesen
munalwahlen: .. Hier zeigt sich eine             sich als Hauptanliegen in seiner Zeit-
bedenkliche Entwi~dung. Dass ein                 schrift: .,So erteilte die KW (Ketteler
so großer Teil Wähler dieser poli-              Wacht) allen Geistesströmungen eine
tisch ideenlosen Gruppe ihre Stimme             Absage, die die Religion zur Privatsa-
zuwandte, zeugt vonhttps://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93,
                        keiner politi-          che erklärten,        und griff
                                                                am 13.09.2021,        besonders
                                                                               08:51:56
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        diejenigen an, die sich nicht damit                   hebt ihn aus der Masse der Normal-
        begnügten, sie zur Nebensache zu-                     bürger heraus, unterscheidet ihn
        rückzustufen, sondern sie darüber                     ebenso von der offlziellen Kirche. Mit
        hinaus auch aus dem privaten Leben                    seinem Hineinwachsen in den akti-
        verdrängen wollten" (S. 153).                         ven Widerstand trägt er zur Ehren-
           Im zweiten großen Teil ihres Bu-                   rettung der katholischen Kirche in
        ches stellt Bücker dann Groß als                      Deutschland bei" (S. 243).
        Mitglied des Kölner Kreises im Wi-                       Die Autorin hat zu diesem objekti-
        derstand dar, erläutert seine Klein-                  ven Urteil beigetragen. Um so merk-
        schriften und Reisetätigkeiten und                    würdiger mutet das dem Buch voran-
        die für die Kirche zunehmende politi-                 gestellte Essay vom Sohn des Mär-
        sche Veränderung der inneren Hand-                    tyrers, Alexander Groß, an. Zwar ist
        lungsfreiheit. Spannend sind die Kon-                 der Text über die Briefe aus dem
        takte zu lesen, die Groß mit Alfred                   Gefängnis ein wichtiger weiterer Be-
        Delp hatte. Aufschlussreich sind die                  standteil, um das wissenschaftliche
        Passagen über den Kölner Kreis des                    Verdienst Bückers umfassend ein-
        Widerstands. Bücker beurteilt Groß                    ordnen zu können, aber Alexander
        dabei als einen, der "an den Vorbe-                   Groß bleibt bei seiner - bekannten -
        reitungen des zivilen Widerstandes,                   einseitigen Verurteilung des deut-
        eine Nach-Hitler-Regierung zu pla-                    schen Episkopats. Leider nennt er
        nen, aktiv beteiligt war und sich im                  nur die durchaus begangenen Verfeh-
        Rahmen seiner Möglichkeiten inten-                    lungen kirchlicher Würdenträger und
        siv engagierte" (S. 212). Der 20. Juli                der Hierarchie, aber die positiven und
        1944 war für Gross die tragische                      nicht nur im katholischen Archiv
        Wende, denn schon bald wurde er                       ordentlich aufgearbeiteten Beispiele
        nach dem gescheiterten Hitler-Atten-                  werden gar nicht erst erwähnt. Das
        tat verhaftet. Die Autorin legt nüch-                 wirft einen Schatten auf das sonst so
        tern und offen den Prozess und die                    objektive Buch, von Alexander Groß
        Hinrichtung des bekennenden Katho-                    hätte man sich in einer solchen Mo-
        liken dar, der auch in der Haftzelle                  nographie mehr und Differenzierteres
        nicht von seinen Ansichten abwich.                    erwartet. Seiner konkreten Kommen-
           Bücker kommt zu zwei Schlüssen:                    tierung der väterlichen Briefe tut dies
        Unter journalistischem Aspekt wür-                    allerdings keinen Abbruch.
        digt sie Groß, dass "er seine redak-                     Das Leben eines Menschen, der
        tionelle Aufgabe, die Glaubensvertie-                 den Glauben nach christlichem Vor-
        fung, gut erfüllte ... Er unterließ                   bild beispielhaft in der Medienarbeit
        zwar, den religiösen Bereich zu über-                 und damit verbunden im politischen
        schreiten und in den politischen                      Widerstand einsetzte, ist von Vera
        Raum im Sinne politischer Oppositi-                   Bücker eindrucksvoll nachgezeichnet
        on vorzudringen. Teilanpassung als                    worden. Das Buch verdient Beach-
        Preis für das lange Erscheinen kann                   tung - und hätte vom Verlag eine
        aus heutiger Sicht als ungewollte,                    bessere Behandlung verdient: Man-
        partielle Stabilisierung der NS-Herr-                 gelhaftes Lektorat, springende Zei-
        schaft beurteilt werden, aber gemes-                  lenabstände und ein Übermaß an
        sen am damaligen Auftrag als Haupt-                   Schrifttypen erschweren die Lektüre
        schriftleiter, zur Glaubensfestigung                  über eine wichtige Person in der
        und -Vertiefung beizutragen, hat er                   Vielfalt katholischen Widerstands.
        diesen voll erfüllt" (S. 169). In ihrer                                          Matthias Kopp
        allgemeinen Einschätzung hält sie
        fest: "Sein konsequentes Handeln
                  https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
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Elisabeth Hurth: .. Alle Toten auf ihre              tung dann auch noch einmal ganz
Plätze!" Die mediale Inszenierung des                ausdrücklich durch.
Todes. Mainz: Matthias-Grünewald-                        Die Berechtigung zu einer solchen
Verlag 2004, 144 Seiten, 14,80 Euro.                 Positionsbestimmung gegenüber dem
                                                     untersuchten Gegenstand soll nicht
Was Elisabeth Hurth im Vorwort                       bestritten werden. Sie ist grund-
ihres Buches feststellt, kann jeder                  sätzlich legitim. Im Falle der
Fernsehzuschauer bestätigen: Über-                   Überlegungen von Hurth zeigt sich
all ist der Tod als visuelles Phäno-                 hier aber doch eine Grenze im analy-
men präsent. Diese Tatsache ist der                  tisch möglichst vorurteilsfreien Um-
Ausgangspunkt und bietet den Un-                     gang mit den untersuchten Todesbil-
tersuchungsgegenstand für die Über-                  dem. Hurth vermisst letztlich näm-
legungen von Hurth. Sie will in ihrem                lich in den medialen Darstellungen
Buch den Todesbildern nachgehen,                     des Todes jene Dimensionen, nach
wie sie im Infotainment und in der                   der durch die Erfahrung personaler
fiktionalen Inszenierung des Fernse-                 Liebe, wie sie im Anschluss an Mar-
hens gezeigt werden.                                 cel meint, eine Hoffnung über die
    Das geschieht im einzelnen unter                 Todesgrenze hinaus geöffnet wird.
folgenden Kapitelüberschriften: Der                  "Im Vollzug von Treue und Liebe
medikalisierte Tod: Todesbilder in                   zeigt sich die Unvergänglichkeit des
Arzt- und Krankenhausserien; Der                     geliebten Menschen an. Der Tod be-
Tod als Mord: Todesbilder im Krimi;                  deutet damit nicht primär die Tren-
Der Tod als Schicksal: Todesbilder in                nung von einem geliebten Menschen,
Daily Soaps und Talkshows. Vorge-                    er bietet vielmehr auch die Möglich-
schaltet sind diesen Abschnitten eine                keit des Naheseins. Der Tod ist
längere Reflexion über den Tod im                    gerade nicht das Ende der Liebe, er
Spektrum zwischen Information und                    verliert seine schreckenerregende
Unterhaltung sowie drei eigene Ab-                   Maske und wird zum ,Tor der Hoff-
schnitte mit philosophischen und                     nung"'(S. 52).
kulturgeschichtlichen Überlegungen,                      Die Tragfähigkeit dieser These ist
die helfen sollen, die Genese unter-                 nicht unbedingt von vomherein ein-
schiedlicher Todesbilder zu erhellen.                sichtig. Man kann wohl mit gleichem
    Hurth deckt mit diesen vorge-                    Recht den Tod auch ganz anders
schalteten Abschnitten gleichzeitig                  verstehen. Bei einem so zugespitzten,
ihren Deutungshorizont für die da-                   christlich getönten existenzialisti-
nach besprochenen medialen Todes-                    sehen Todesverständnis als Hinter-
bilder auf. Während sie sich in der                  grundannahmewundert es jedenfalls
Beschreibung des Wandels der To-                     nicht, dass die Autorirr bei ihren
desbilder besonders auf Philippe                     Einzelanalysen der medialen Todes-
Aries beruft, verfolgt sie in der philo-             bilder praktisch durchgängig zu kriti-
sophischen Todesdeutung eine exi-                    schen Einschätzungen gelangt. Und
stenzialistische Richtung über Kier-                 dass sie dort, wo beispielsweise im
kegaard, Heidegger und Marcel, wo-                   Fernsehen in Personal-Help-Shows
bei sie sich in kritischer Wendung                   oder in Sendungen wie "Herzblatt"
gegen Heidegger für eine christlich-                 Liebesbeziehungen zum Thema wer-
existenzialistische Deutung des To-                  den, ihren eigenen Liebesbegriff nicht
des entscheidet. r.n_ abschließenden                 wiederentdeckt, muss ebenfalls nicht
Kapitel ihres Buches über Todesbil-                  unbedingt verwundern. Die Klage
der im Bann von Endlichkeit und                      darüber durchzieht das Schlusskapi-
Romantisierung schlägt         diese     Deu-        tel  und bestätigt noch einmal jene
                       https://doi.org/10.5771/0010-3497-2005-1-93, am 13.09.2021, 08:51:56
                           Open Access –         - http://www.nomos-elibrary.de/agb
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