WAS LEISTEN WIR (UNS) IN DER SCHULE? - JAHRESTAGUNG Georg-Eckert-Institut - Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung
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WAS LEISTEN WIR (UNS) IN DER SCHULE? LEISTUNG IN BILDUNG UND BILDUNGSMEDIEN JAHRESTAGUNG Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung 02. bis 03. September 2021
LEISTUNG IN BILDUNG UND BILDUNGSMEDIEN VORWORT Liebe Teilnehmer*innen, Leistung ist ein schillernder und ein schwer zu fassender Begriff. Während Einigkeit darüber besteht, dass Leistung eine der zentralen Kategorien in der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften und zugleich immer ein Produkt von sozialen Zuschreibungsprozessen ist, wird über vieles andere gestritten. Leben wir wirklich in einer Leistungsgesellschaft, in der sozialer Aufstieg in erster Linie von dem Nachweis individueller Leistungsfähig- keit abhängt, oder ist dieses Versprechen in Zeiten eines expandierenden privaten Bildungsmarktes, gekaufter Zugangsberechtigungen zu Eliteuni- versitäten oder unrechtmäßig erworbener Zertifikate schon lange untermi- niert worden? Führt die Orientierung am Leistungsparadigma erst zu mehr Effizienz und dann auch zu mehr Gerechtigkeit oder sorgt sie vor allem für eine Entsolidarisierung zwischen „Leistungsträgern“ und „Leistungsversa- gern?“ Kann man Leistung überhaupt individuell zurechnen oder ist sie das Produkt kollektiver Anstrengungen? Und schließlich, was soll als Leistung definiert, gefördert und ausgezeichnet werden in einer Gegenwart, in der in- telligente Maschinen mittlerweile auch in Bereichen vordringen, die lange Zeit als unumstrittene Domäne des Menschen galten – wie kreatives Schrei- ben oder Rechtsprechung? Es liegt auf der Hand, Digitalisierung und Globalisierung zwingen auch die Schule dazu, Leistungsbegriffe und Praktiken der Leistungsbewertung zu überdenken. Was brauchen wir, um Schule und Bildungsmedien zukunfts- fähig zu machen? Wie sinnvoll ist heute noch das Auswendiglernen von his- torischen Daten, wenn diese jederzeit mit einem Mausklick oder über das Smartphone nachgeschaut werden können? Welchen Stellenwert hat das Erlernen korrekter Rechtschreibung im Zeitalter der automatischen Recht- schreibkorrektur? Welche Fähigkeiten also sind wichtig für die Welt von morgen und wie kann man Schülerinnen und Schüler bestmöglich darauf vorbereiten? Schließlich: Was kann man für die Bewältigung gegenwärtiger Herausforderungen aus historischen Erfahrungen mit der Transformation von Leistungsbegriffen und Leistungspraktiken lernen? Um diese und viele weitere Fragen wird es auf der diesjährigen Jahres- tagung des Georg-Eckert-Instituts gehen. Ich wünsche Ihnen spannende Diskussionen und viele neue Erkenntnisse! Mit herzlichen Grüßen Prof. Dr. Eckhardt Fuchs Direktor, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung 2
KEYNOTE DIE MODERNE SCHULE, DAS LEISTUNGS-PARADIGMA UND DIE BEDEUTUNG PÄDAGOGISCHER BEURTEILUNG Sabine Reh Verschiedene Selbstverständlichkeiten beherrschen man sagen – setzen. Vor dem Hintergrund eigener his- heute das Gespräch über Leistung – in einer breiteren torischer wie auch ethnographischer Studien zum Pa- Öffentlichkeit wie aber auch unter Pädagog*innen. Klar radigma der Leistung und zu Praktiken der Darstellung scheint in der Öffentlichkeit mindestens dreierlei zu von Leistung und der Leistungsbeurteilung, wie sie mit sein: 1. was unter Leistung zu verstehen ist, nämlich der modernen Schule seit dem Ende des 18. Jahrhun- eine individuell zuzuschreibende und verantwortete derts in Deutschland entstanden, versucht Sabine Reh Anstrengung mit (gutem) Ergebnis, zu der jede*r mehr in ihrem Vortrag den Glauben an scheinbar naturgege- oder weniger fähig ist, 2. dass es sich bei Leistung um bene Selbstverständlichkeiten zu erschüttern. Indem einen Wert handelt, an dem sich eine gerechte Vertei- sie Herkunft und Entwicklung aber auch die Migration lung gesellschaftlicher Ressourcen bemisst und 3. aber und Transformation der Idee von Leistung und der gleichzeitig auch, dass diesem Wert in jüngster Gegen- Praktiken ihrer Darstellung aufzeigt, argumentiert sie wart wieder stärker Geltung zu verschaffen sei. Jen- sowohl gegen den undifferenzierten Glauben an die seits dessen findet sich unter Pädagog*innen oft eine mögliche Objektivität der Leistungsmessung wie aber Portion Skepsis, Skepsis gegenüber einem allgemein- auch gegen die Hoffnung auf das einfach pädagogisch gültigen Maßstab von Leistung, den sie in der Schule Gute der individuellen Beurteilung. Sie plädiert damit oft unterstellt sehen und demgegenüber sie auf eine ex- für ein Verständnis von pädagogischer Professionalität, plizit individuelle Beurteilung von Leistung und Leis- zu der beobachtende Beurteilung genauso gehört wie tungsbereitschaft, auf Individualisierung – so könnte standardisierte Leistungsmessung. Prof. Dr. Sabine Reh studierte Germanistik, Geschichte und Erziehungswissenschaft, absolvierte das 1. und 2. Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien und promo- vierte anschließend mit einer bildungs- historischen Arbeit. Nach Professuren für Schulpädagogik und Allgemeine Erzie- Foto: Matthias Otto hungswissenschaft in Freiburg, Münster und an der TU Berlin ist sie nun Profes- sorin für Historische Bildungsforschung an der Humboldt-Uni- versität zu Berlin, leitet die Bibliothek für Bildungsgeschicht- liche Forschung in Berlin und ist gleichzeitig Stellvertretende Geschäftsführende Direktorin des DIPF | Leibniz-Institut für Bil- dungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt. 3
LEISTUNGSBEGRIFFE UND -DISKURSE IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE DIE VERMESSUNG DES SCHULBUCHS. COMPUTER- LINGUISTISCHE ZUGÄNGE ZUM BEGRIFF DER „LEISTUNG“ IN DER HISTORISCHEN SCHULBUCHSAMMLUNG GEI-DIGITAL Maret Nieländer Schulbücher beinhalten Wissensbestände, die eine Ge- Der Publikationszeitraum liegt zwischen den Jahren sellschaft den nachfolgenden Generationen mitzugeben 1648 und 1921, wobei auf den Zeitraum vor 1871 ins- wünscht, und dies in einer Form, die als für die Bildung gesamt 792 Publikationen entfallen, auf die Jahre der und Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen ange- Kaiserzeit 1871 bis 1918 hingegen 4243. Die Anzahl der messen angesehen wird. Der Beitrag bietet eine Gesamt- Werke nimmt zudem im letztgenannten Zeitraum deut- schau der Vorkommen des Begriffs „Leistung“ bzw. des lich zu und hat ihren Höhepunkt in den Jahren 1910-14 Verbs „leisten“ in mehr als 5000 historischen deutsch- mit 1195 Werken. Neben einfachen und komplexen Ab- sprachigen Schulbüchern, stellt besonders prägnante fragen im Dstar-Korpusmanagementframework ist dies Beispiele vor und entwickelt Hypothesen zu Typen und vor allem das Tool DiaCollo zur Diachronen Kolloka- Wandel der damit aufgerufenen Konzepte und Para- tionsanalyse, das konzipiert wurde, um Hinweise auf digmen über die Zeit, verschiedene Schulformen, Jahr- Sprachgebrauch und Sprachwandel zu geben. In den gangsstufen und Fächer hinweg. Dabei werden me- mehr als 25 Millionen Tokens im Korpus finden sich thodische Zugänge aus der Computerlinguistik für die mehr als 49.000 Treffer für „leisten“ und knapp 9700 digital vorliegenden Quellen vorgestellt und reflektiert. für „Leistung“, allerdings auf Grund der OCR-Fehler in den Texten auch eine Reihe falschnegativer Treffer. Auf Im 2020 bis 2021 durchgeführten Projekt „DiaCollo für welche Personen(gruppen), Tätigkeiten und Konzepte GEI-Digital“ wurden 5036 Werke der digitalen histori- beziehen sich diese Erwähnungen? Gibt es auffällige schen Schulbuchsammlung GEI-Digital für korpuslin- Unterschiede zu Referenzkorpora und Binnenunter- guistische Analysen aufbereitet und die entsprechenden schiede im Schulbuchkorpus? Der Beitrag nutzt die Werkzeuge über die Webseite „http://diacollo.gei.de“ Möglichkeiten zu Zählung, Vergleich und Visualisierung zugänglich gemacht. Es handelt sich beim GEI-Digitial- bestimmter Phänomena in den Texten und reflektiert 2020-Korpus vor allem um Realienbücher, Lesebücher die Potentiale und Fallsticke dieser „Vermessung“ der und Bücher für die Fächer Geschichte und Erdkunde. Werke für die historische Bildungsmedienforschung. Dr. Maret Nieländer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Digi- tale Informations- und Forschungsinfra- strukturen (DIFI) am Georg-Eckert-Insti- tut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung (GEI). Sie studierte Kulturwissenschaften in Kiel, Oviedo und Frankfurt (Oder) und promovierte 2013 an der historischen Fakultät der Universität Heidelberg mit einer Arbeit zur Rolle des Mercedarier-Ordens in der südamerikani- schen Kolonialgesellschaft. Am GEI koordiniert sie seit 2014 die CLARIN-D-Facharbeitsgruppe „Geschichte“ und ist seit 2020 Teamleiterin des Forschungsschwerpunkts Digital Humanities. Sie testet digitale Werkzeuge und deren Usability, zuletzt im Projekt „DiaCollo für GEI-Digital“. 4
LEISTUNGSBEGRIFFE UND -DISKURSE IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE THE AVERAGE PUPIL: ZUR „NATURALISIERUNG“ NORMALVERTEILTER LEISTUNGSKATEGORIEN Bernhard Hemetsberger Der belgische Astronom und Statistiker Adolphe Que- Europa vollzogen wurde und sich sukzessive in allge- telet (1796–1874) sorgte zu Beginn des 19. Jahrhunderts meine Erwartungshaltungen und Grundlagen empiri- mit der Behauptung, die Entwicklung der sittlichen scher Untersuchungen zu Leistungen im Bildungswesen und geistigen Fähigkeiten des Menschen statistisch be- eingeschrieben hat (Lawn 2013), soll Gegenstand des stimmen zu können (Quetelet 1838: 411), für Aufsehen. Beitrags sein. Die Verbindung mathematisch-statistischer Errungen- schaften, grafischer Darstellungsformen und bürgerli- cher Leistungsideologie aus der Mitte des Jahrhunderts LITERATUR • Fendler, Lynn/Muzaffar, Irfan (2008): The History of the Bell Curve. fanden sich umgehend auch im Schulwesen wieder Sorting and the Idea of the Normal. In: Educational Theory 58(1), (Hemetsberger 2021). Während Schulnoten schon weit- 63-82. aus länger „Schulkarrieren“ begleiteten wird ihre Ver- • Hemetsberger, Bernhard (2021): Leben in Leistungsstatistiken. gabewahrscheinlichkeit und auch legitime Verteilung Eine Spurensuche zur Konstruktion und zum Gebrauch gra- spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts virulent. fischer Statistiken in der Schule. In: Pädagogische Rundschau Konzepte wie jene der Normalverteilung wurden auf 75(2), 205-218. schulische Leistungserwartungen übertragen und als • Lawn, Martin (Hrsg.) (2013): The Rise of Data in Education Sys- tems. Collection, Visualization and Uses. Oxford: Symposium natürliches Verteilungsargument, wenige am oberen Books. beziehungsweise unteren Ende und die Mehrzahl im • Quetelet, Adolphe (1838): Ueber den Menschen und die Ent- sicheren Mittelfeld, zu Rate gezogen (Fendler und Muzaf- wicklung seiner Fähigkeiten, oder der Versuch einer Physik der far 2008). Wie diese „Naturalisierung“ von erwartbarer Gesellschaft. Deutsche Ausgabe hrsg. durch Riecke. Stuttgart: normalverteilter schulischer Leistung argumentativ in Schweizerbart´s Verlagshandlung. Dr. Bernhard Hemetsberger ist wissen- schaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Universität der Bundeswehr München. Er promovierte an der Universität Wien, wo er auch ein Lehramtsstudium für Geschichte, Psychologie und Philosophie abschloss. Seine Arbeits- und Forschungsinteressen sind Fragen nach gesellschaftlichen Wahrnehmungen von Krisen und ihre pädagogische Traktierung sowie die schulbezogenen Themen der Notengebung, Prüfungstechniken, Leistung und ihrer grafischen Darstellung. 5
LEISTUNGSBEGRIFFE UND -DISKURSE IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE DIE DEMOKRATISIERUNG DER LEISTUNG – ZUM VERHÄLTNIS VON DEMOKRATIE, LEISTUNG UND GESELLSCHAFT BEI ERNEST JOUHY Sebastian Engelmann Ernest Jouhy (1913–1988) war jüdischer Resistance- Um die These zu plausibilisieren, werde ich in einem Kämpfer, Lehrer an der Odenwaldschule und Begründer ersten Schritt in Leben und Werk des kritischen der an der Universität Frankfurt kurzzeitig existenten Pädagogen einführen. In einem zweiten Schritt werde Studienrichtung „Pädagogik: Dritte Welt“. Neuere Ar- ich anhand ausgewählter Texte von Jouhy historisch- beiten zeigen, dass das Werk des medienpädagogisch systematisch sein Konzept einer Demokratisierung der interessierten Pädagogen bisher nicht ausreichend Be- Leistung rekonstruieren. Und dabei einen besonderen achtung gefunden hat (Engelmann 2020a; Engelmann Fokus auf Jouhys Überlegungen zur Funktion von Bil- 2020b). Die Frage danach, von welchen gesellschaft- dungsmedien legen. In einem dritten Schritt werde ich lichen Weichenstellungen es abhängt, ob Schule in die Überlegungen Jouhys an aktuelle Diskussionen um der heutigen Gesellschaft zur Reproduktion oder zum Leistung rückbinden. Abbau von Ungleichheit beiträgt, werde ich in diesem Beitrag unter Rückbezug auf das Gesamtwerk Ernest LITERATUR Jouhys beantworten. Dieses beinhaltet nicht nur Zeit- • Engelmann, Sebastian (2020a): Eurozentrismus als pädagogi- diagnosen und Beiträge zum Status von Kindheit und sche Herausforderung – Annäherungen über Anfragen Ernest Jugend in der Krisengesellschaft, sondern auch pädago- Jouhys an die Disziplingeschichte. In: Koerrenz, Ralf (Hrsg.): gisch-psychologische Analysen der gesellschaftlichen Globales Lehren, Postkoloniales Lehren. Perspektiven für Schule im Horizont der Gegenwart. Weinheim: Beltz Juventa. Situation und Ideen zur Medienbildung im Globalen • Engelmann, Sebastian (2020b): Ernest Jouhy (1913–1988). Dia- Süden. Die These, die ich in meinem Beitrag plausibi- lectical Reasoning and the Problems of Hegemonic Culture. In: lisieren werde, ist die, dass Jouhy die Veränderung des Koerrenz, Ralf/Horn, Friederike von (Hrsg.): The Lost Mirror. Leistungsverständnisses für die Demokratisierung von Thinking about Education in the Jewish-European Tradition. Schule als notwendig erachtet. Paderborn: Schöningh. Jun.-Prof. Dr. Sebastian Engelmann stu- dierte in Oldenburg und Jena Sozialwis- senschaften, Anglistik, Pädagogik und Angewandte Ethik. Er promovierte als Mitarbeiter am Lehrstuhl für Historische Pädagogik und Globale Bildung mit einer historisch-systematischen Arbeit zur Pä- dagogik Minna Spechts in Jena. Von 2017 bis 2021 war er an der Universität Tübingen Post Doc in der Ab- teilung Allgemeine Pädagogik. Seit April 2021 ist er Juniorprofes- sor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. 6
LEISTUNGSPRAKTIKEN IN DER SCHULE BIOGRAFIE – LEISTUNG – SCHULE. BIOGRAFISCHE LEISTUNGSKONSTRUKTIONEN VON LEHRER*INNEN UND DIE AUFGABE SCHULISCHER LEISTUNGSBEWERTUNG Franziska Piva-Scholz Die Beurteilung und Bewertung von Schülerleistungen wird mittels narrativ-biografischer Interviewverfahren gehört neben dem Unterrichten zum Kernbereich der die gesamte Biografie erhoben und analysiert, da diese Lehrer*innentätigkeiten. Dabei zeigt sich im Schulalltag, immer auch Abbild des Sozialisationsprozesses ist, in dass die Leistungsbeurteilung ganz unterschiedliche welchem das Subjekt mit unterschiedlichen Leistungs- pädagogische Funktionen erfüllt und keineswegs allein konzepten konfrontiert wird. Im Vortrag wird am Bei- fachliche Leistungen zur Legitimation von Bewertungen spiel einer Lehrerin gezeigt, wie Leistung als Abarbeiten herangezogen werden (Zaborowski et al. 2011). Aus einer und Überwinden von institutionellen Erwartungshal- solchen praxistheoretischen Konzeption von Unterricht tungen in der Spanne zwischen biografischem Erfolg und ist die Leistungsbewertung weit mehr als eine möglichst biografischem Scheitern in der biografischen Erzählung unverzerrte Messleistung, bedenkt man insbesondere mit immer wieder zum Vorschein tritt und wie konstitutiv Blick auf die Lehrenden, dass diese über den Vollzug des die dabei ausgebildeten biografischen Handlungssche- gesellschaftlichen Selektionsauftrages ein schulisches mata für das eigene professionelle Orientierungssystem Leistungsprinzip nicht nur vermitteln, sondern auch im Rahmen der Aufgabe der Leistungsbewertung sind. selbst internalisieren müssen. Diesbezüglich ist davon auszugehen, dass sich diese Internalisierung auch vor LITERATUR dem Hintergrund eigenbiografischer Erfahrungen mit • Rabenstein, Kerstin/Strauß, Svenja (2018): Leistungsbewer- Leistung konstituiert. Mit Hilfe des Biografiekonzepts tung als pädagogische Praktik. Zur sozialen Konstruktion von gelingt es, die dem Lehrerhandeln attestierte Eigenlogik Leistung in Schülerselbsteinschätzungen in Lernentwicklungs- im Rahmen der Aufgabe der Leistungsbewertung auch gesprächen. In: Reh, Sabine/Ricken, Norbert (Hrsg.): Leistung als Paradigma. Zur Entstehung und Transformation eines päda- außerhalb ihrer institutionellen Einbettung (vgl. Zabo- gogischen Konzeptes. Wiesbaden: Springer VS, 329-346. rowski et al. 2011; Rabenstein/Strauß 2018) genauer in • Zaborowski, Katrin Ulrike/Meier, Michael/Breidenstein, Georg den Blick zu nehmen und die Relevanz biografischer (Hrsg.) (2011): Leistungsbewertung und Unterricht. Ethnogra- Erfahrungen hinsichtlich der Aufgabe schulischer Leis- phische Studien zur Bewertungspraxis in Gymnasium und tungsbewertung empirisch fassbar zu machen. Hierfür Sekundarschule. Wiesbaden: Springer VS. Franziska Piva-Scholz, M.Ed., arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Angewandten Erziehungswissenschaft der Universität Hildesheim. Sie studierte Lehr- amt für das Gymnasium an der Universität Leipzig und war im Anschluss als wissen- schaftliche Mitarbeiterin an der Professur Erziehungswissenschaft Methoden der Bil- dungsforschung der TU Chemnitz tätig. Neben ihrer Promotions- arbeit „Biografische Leistungskonstruktionen von Lehrerinnen und Lehrern“ forscht sie zu Bildungsprozessen in Medienbiografien von Kindern und Jugendlichen. Dabei arbeitet sie überwiegend mit qualitativ-rekonstruktiven Methoden. 7
LEISTUNGSPRAKTIKEN IN DER SCHULE SPURENSUCHE FÜR EINEN DIVERSITÄTSSENSIBLEN LEISTUNGSBEGRIFF AN SCHULEN Sabine Harter-Reiter Der Beitrag verhandelt die Frage nach Verengungen sensiblen und pluralitätsfähigen Diskurs zu weiten. eines gängigen Leistungsbegriffs an Schulen sowie Eine Spurensuche, die unter anderem Überlegungen deren Konsequenzen und sucht Handlungsspielräume einbringen möchte, die der steten Maximierungsidee im Kontext einer diversitätssensiblen Schule. „je mehr desto besser“ die Idee eines „Optimums“ im Sinne eines „nicht zu viel und nicht zu wenig“ (Patry Schule hat nicht nur eine bestimmte Vorstellung von 1991: 303) entgegenhält und dahingehend die Möglich- Leistung und damit verbunden ganz bestimmte An- keiten für ein verändertes Leistungsparadigma auslotet. forderungs-, Erfassungs- und Bewertungspraxen für Leistung entwickelt – Leistung gilt in ihr „als eine Art LITERATUR undiskutiertes ‚historisches apriori’“ (Reh/Berdelmann/ • Patry, Jean-Luc (1999): Educational research and practice from Scholz 2015: 37). Der breit geführte wissenschaftliche a critico-rationalist point of view. In: Zecha, Gerhard (Hrsg.): Diskurs sowie der vielfältige praktische Zugang zur Fas- Critical Rationalism and Educational Discourse. Amsterdam: sung und Bestimmung des Leistungsbegriffs machen Rodopi, 191–209. jedoch deutlich, dass trotz seiner Apriori-Verankerung • Reh, Sabine/Berdelmann, Kathrin/Scholz, Joachim (2015): Der Ehrtrieb und unterrichtliche Honorierungspraktiken im Schul- nicht eindeutig ist, was unter Leistung im schulischen wesen um 1800. In: Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (Hrsg.): Kontext exakt verstanden werden kann (Schäfer 2018: Leistung. Paderborn: Schöningh, 37–60. 53). Der Beitrag versucht Verengungen des gängigen • Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane (Hrsg.) (2015): Leistung. schulischen Leistungsbegriffs für einen diversitäts- Paderborn: Schöningh. Dr.in Sabine Harter-Reiter ist Hochschul- lehrende im Fachbereich Allgemeine Erzie- hungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Salzburg am Institut für Bil- dungswissenschaften und Forschung. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Leistungskultur, Alternative Lehr- und Lernformen und Inklusive Hochschule. Sie ist Koordinatorin des inklusiven postsekundären Hochschul- programms BLuE. 8
LEISTUNGSPRAKTIKEN IN DER SCHULE AKZEPTANZ UND EINSATZ ALTERNATIVER FORMEN DER LEISTUNGSBEWERTUNG AN GRUNDSCHULEN Horst Zeinz, Henrike Kopmann, Magdalena Kaul Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskon- Schüler*innenselbstbewertungen, während Gruppenar- vention 2009 begann eine verstärkte Umsetzung von beitsergebnisse insgesamt als eher ungeeignet bewer- Inklusion an deutschen Schulen. Damit einhergehend tet wurden. Zusammenhänge zwischen Akzeptanz und stellt sich zunehmend die Frage nach adäquaten Me- Einsatzhäufigkeit der verschiedenen Formen werden thoden zur Diagnose und Unterstützung der indivi- berichtet. Limitationen und mögliche Implikationen der duellen Leistung von Heranwachsenden. Alternative Studie für weitere Forschungsvorhaben, für die Ausbil- Formen der Leistungsbeurteilung spielen hierbei eine dung von Lehrkräften und für die Schulpraxis werden entscheidende Rolle. Im vorliegenden Beitrag wird u. a. diskutiert. eine Studie vorgestellt, in der untersucht wird, inwie- fern verschiedene alternative Formen bei Grundschul- LITERATUR lehrkräften bekannt sind und wie diese den Einsatz u. a. • Bohl, Thorsten (2019): Leistungsbewertung, Notengebung und Al- für Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbe- ternativen zur Notengebung. In: Kiel, Ewald/Herzig, Bardo/Maier/ darf einschätzen. Die Fragebogenstudie wurde mit 40 Uwe/Sandfuchs, Uwe (Hrsg.): Handbuch Unterrichten an allge- Lehrkräften von 13 Grundschulen durchgeführt. Insge- meinbildenden Schulen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 414-425. samt wurden alle untersuchten alternativen Formen der • Von Bargen, Imke (2017): Zum Leistungsverständnis von Lehr- kräften im inklusiven Alltag. Einblicke in eine qualitative Leistungsbewertung als geeignet für die Leistungsbe- Längsschnittstudie. In: Textor, Annette/Grüter, Sandra/Schier- urteilung von Schüler*innen eingestuft. Lernportfolios meyer-Reichel, Ines/Streese, Bettina (Hrsg.): Leistung inklusive? wurden als besonders geeignet für Schüler*innen mit Inklusion in der Leistungsgesellschaft. 2. Unterricht, Leistungs- sonderpädagogischem Förderbedarf angesehen. Eben- bewertung und Schulentwicklung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, falls positiv eingeschätzt wurden Kompetenzraster und 148-156. Prof. Dr. Horst Zeinz ist Professor für Er- Dr. Magdalena Kaul studierte Kunstpäd- ziehungswissenschaft mit dem Schwer- agogik (B.A.) in Leipzig und Heilpädago- punkt Grundschulpädagogik an der Uni- gik (M.A.) in Münster und promovierte an versität Münster. Zuvor war er u.a. als der Westfälischen Wilhelms-Universität Lehrer an Grundschulen tätig. Seine For- Münster im Bereich der Erziehungs- und schungsschwerpunkte sind Empirische Sozialwissenschaften zum Thema tierge- (Grund-)schulforschung: Optimierung von stützte Interventionen und Inklusion. Sie Lehr-/Lernprozessen sowie Professiona- arbeitet als Heilpädagogin und Fachkraft lisierung von Lehrkräften und Pädagogische Begleitforschung für tiergestützte Interventionen mit Menschen mit besonderem (Schulentwicklung). Unterstützungsbedarf. Dr. Henrike Kopmann studierte Psycho- logie an der Universität Osnabrück. Nach der Promotion (2017) und Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin (2016) arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungs- wissenschaft der Universität Münster und als Verhaltenstherapeutin. Zu ihren For- schungsschwerpunkten zählen: Einstellungen und Kompetenzen von Lehrpersonen in inklusiven Lernsettings sowie die Förderung von Schüler*innen mit besonderem Unterstützungsbedarf. 9
PODIUMSDISKUSSION PAUKEN, PRÜFEN, MESSEN? DIE LEISTUNG DER SCHULE IN DER LEISTUNGSGESELLSCHAFT Moderation: Julia Pfinder Wenn Leistung immer das Produkt historisch wandel- Was für Leistungsanforderungen stellen wir an Schü- barer sozialer Zuschreibungen ist, sind Gesellschaften ler*innen? Welches Wissen und welche Kompetenzen gut beraten, von Zeit zu Zeit darüber nachzudenken, was brauchen Schüler*innen, um in der Welt von Morgen be- im Angesicht ständigen gesellschaftlichen Wandels als stehen zu können, in der „intelligente“ Maschinen den Leistung gefördert, ausgezeichnet und honoriert wer- Menschen aus immer mehr Arbeitsbereichen verdrän- den soll. Es liegt auch auf der Hand, dass das Ergeb- gen? Wie sinnvoll ist beispielsweise die Abfrage von nis solcher gesellschaftlicher Verständigungsprozesse Lateinvokabeln oder historischen Daten, wenn diese unmittelbar Rückwirkungen auf Leistungspraktiken in jederzeit nachgeschaut werden können? der Schule als einer zentralen Institution der Leistungs- gesellschaft haben muss. Wir haben in der Vergangen- Was leisten unsere Leistungspraktiken? Macht das per- heit viele solcher Diskussionen und Veränderungen manente Überprüfen und Abfragen von Leistung Krea- erlebt, beispielsweise die durch den Pisa-Schock ausge- tivität und damit Innovationsfähigkeit kaputt? Welche löste Debatte darum, dass es in der Schule mehr um die alternativen Praktiken der Leistungsbewertung sind Vermittlung von Kompetenzen und nicht so sehr um die denkbar, welche umsetzbar? Abfrage von Wissen gehen müsse. Aus früheren Refor- men wissen wir aber auch, dass es immer auch zu nicht Was soll Schule für die Gesellschaft leisten? Wessen intendierten Nebenwirkungen kommt, wenn man an kulturelle Traditionen sollen in zunehmend heteroge- empfindlichen gesellschaftlichen Stellschrauben dreht nen Gesellschaften vermittelt werden? Müssen Schü- und etwa schulische Leistungspraktiken verändert. Vor ler*innen auch in Deutschland heute im Zweifelsfall diesem Hintergrund möchten wir darüber diskutieren, mehr über das ökonomisch und zunehmend auch poli- was die aktuellen technologischen und gesellschaft- tisch dominante China als über die griechische Antike lichen Veränderungen für den Ort der Schule in der wissen? Soll die Schule vor allem auf sich verändernde Leistungsgesellschaft bedeuten. Dabei wollen wir drei Arbeitsmärkte vorbereiten oder hat sie einen davon un- Fragekomplexe in den Blick nehmen: abhängigen Bildungsauftrag? Prof. Dr. Silvia-Iris Beutel ist Professorin für Seit 2006 ist er Professor für Didaktik der Alten Sprachen an der Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik Humboldt-Universität zu Berlin; u.a. war er Vorsitzender des mit dem Schwerpunkt Lehr-Lernprozesse Deutschen Altphilologenverbandes und Gründungsdirektor der und empirische Unterrichtsforschung an der Professional School of Education der Humboldt-Universität zu TU Dortmund. Ihre Forschungsinteressen Berlin. Momentan ist er Dekan der Sprach- und Literaturwissen- sind u.a. lern- und entwicklungsgerechte schaftlichen Fakultät. Leistungsbeurteilung, digitale Lernorga- nisation und Lernbegleitung, Bildungs- Prof. Dr. Jan Schnellenbach ist seit 2014 übergänge und Demokratiepädagogik. Sie ist Mitglied in der Aus- Professor für Volkswirtschaftslehre, ins- wahljury des Deutschen Schulpreises und im Programmteam der besondere Mikroökonomik an der BTU Deutschen Schulakademie. In der Deutschen Akademie für Pädago- Cottbus-Senftenberg. Zuvor wurde er 2003 gische Führungskräfte (DAPF) beschäftigt sich mit Professionalisie- an der Universität St. Gallen promoviert rungsformaten für das mittlere Führungsmanagement an Schulen. und erhielt im Jahr 2009 an der Univer- sität Heidelberg die Lehrbefugnis für Prof. Dr. Stefan Kipf studierte Klassische Volkswirtschaftslehre. Von 2012 bis 2014 Philologie in Berlin (FU) und Austin/USA war er geschäftsführender Forschungsreferent am Walter Eucken und wurde an der FU im Jahr 1997 mit Institut in Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf einer Arbeit zu Herodot als Schulautor den Gebieten der öffentlichen Finanzen, der Verhaltensökonomik promoviert. 2005 habilitierte er sich dort und der Wirtschaftspolitik. mit einer Studie zur Geschichte des alt- sprachlichen Unterrichts in der BRD. 10
DIE GESELLSCHAFTLICHE LEISTUNG VON SCHULEN I: DIE UMSETZUNG DES BILDUNGSAUFTRAGES DER ZUSAMMENHANG ZWISCHEN MERITOKRATIE UND BERUFLICHER BILDUNG: EINE IDEALTYPISCHE BETRACHTUNG Vera Braun Das Leistungsprinzip ist ein zentrales Prinzip bil- Phasen, in welchen die zunehmende Durchsetzung des dungsbasierter Meritokratien. Oftmals verdrängen in Leistungsprinzips bei gleichzeitiger Förderung der leistungsorientierten Ländern allgemeine bzw. aka- Chancengleichheit zu einer Abwertung der beruflichen demische Bildungsgänge solche, die (berufs-)fachlich Bildung und praxisnaher Bildungsinhalte führt. Diese qualifizieren, weil es die Zertifikate allgemeiner bzw. Entwicklung korrespondiert unter anderem mit einer akademischer Bildungsgänge sind, die als Ausweis einer bestimmten idealtypischen Wertlogik, die kognitiv- hohen Leistungsfähigkeit gelten. In der berufs- und intellektuelle Leistung über eher praktische Leistung wirtschaftspädagogischen Literatur wird bereits seit stellt, und strukturellen Gegebenheiten des Bildungs- einiger Zeit davon ausgegangen, dass eine Ausrichtung systems, die explizit benannt werden. an der meritokratischen Denkfigur eine Geringschät- zung beruflicher Bildung hervorruft (Deißinger 2001; Frommberger 2012; Ott 2015). Jedoch lag bislang keine LITERATUR systematische Analyse des Zusammenhangs zwischen • Deißinger, Thomas (2001): Zur Frage nach der Bedeutung des beruflicher Bildung und Meritokratie vor. Berufsprinzips als „organisierendes Prinzip“ der deutschen Be- rufsausbildung im europäischen Kontext. Eine deutsch-franzö- In einem Dissertationsprojekt, das im Rahmen des sische Vergleichsskizze. In: Tertium comparationis 7(1), 1–18. Konferenzbeitrags vorgestellt werden soll, wurde mit- • Frommberger, Dietmar (2012): Von der Berufsbildung in die Hochschulbildung (Dritter Bildungsweg). In: Zeitschrift für hilfe einer Literatur- und Dokumentenanalyse anhand Berufs- und Wirtschaftspädagogik 108(2), 169–193. Japans und Frankreichs, zweier als meritokratisch be- • Ott, Mariska (2015): Lernwegoffenheit in der französischen kannter Länder, ein Idealtypus des genannten Zusam- Berufsbildung. Zum Potenzial von Outcome-Orientierung. Wies- menhangs konstruiert. Er beschreibt insgesamt drei baden: Springer VS. Vera Braun, M.Sc., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirt- schaftspädagogik I der Universität Kons- tanz. Ihre Forschungsinteressen gelten der vergleichenden Berufsbildungsforschung und der gesellschaftlichen Bedeutung der beruflichen Bildung. Sie arbeitete im Eras- mus+-Projekt ITE-VET (Improving teacher education for applied learning in the field of VET in Ukraine) mit und promovierte über den Zusammenhang zwischen Meritokratie und beruflicher Bildung allgemein und am Beispiel der Ukraine. 11
DIE GESELLSCHAFTLICHE LEISTUNG VON SCHULEN I: DIE UMSETZUNG DES BILDUNGSAUFTRAGES MEDIENKOMPETENZ ALS SCHULISCHE LEISTUNG? SCHULE IM SPANNUNGSVERHÄLTNIS ZWISCHEN VERMITTLUNGSAUFTRAG UND GESELLSCHAFTLICHEM WANDEL Janina Becker, Francine Meyer Der rasante Wandel digitaler Medientechnologien be- zehn Dimensionen von Medienkompetenz, die mit z. B. einflussen diverse Lebensbereiche, wodurch sich Kom- Teamwork und Cybermobbing über Baackes Modell petenzen verändern. Hinsichtlich deren Vermittlung hinausweisen, jedoch nicht alle der zahlreichen in der steht Schule als Institution mit Bildungsauftrag in KMK-Strategie genannten Aspekte abdecken. Die Schü- Verantwortung. Doch was kann Schule in einer bereits ler*innen sprechen den Lehrkräften Medienkompetenz digitalisierten Welt überhaupt leisten? ab, sie holen sich Unterstützung innerhalb der Familie. Auch die Lehrkräfte stellen die schulische Vermittlung Bedingt durch den Wandel gibt es keine klare Defini- hinsichtlich des Schutzes in und mit digitalen Medien tion, was Medienkompetenz (MK) beinhaltet (Step- in Frage. Angesichts der wahrgenommenen Unsicher- puhn 2019). Zusätzlich können sich politischer Rahmen heiten bedarf es eines eindeutigen Vermittlungsauf- (KMK-Strategie 2017) und wissenschaftliche Grundlage trags, der zeigt, was Schule leisten kann und soll. (Baacke 1996) unterscheiden. Auch werden Perspektiven vermittelnder und lernender Akteur*innen meist außer LITERATUR Acht gelassen. Auf diese Aspekte geht unser Beitrag un- • Baacke, Dieter (1996): Medienkompetenz – Begrifflichkeit und ter Berücksichtigung folgender Fragen ein: In welchem sozialer Wandel. In: Rein, Antje von (Hrsg.): Theorie und Praxis Verhältnis stehen der politische und wissenschaftliche der Erwachsenenbildung. Medienkompetenz als Schlüsselbe- Rahmen zu den Beschreibungen der Lehrkräfte? Welchen griff. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 112–124. Akteur*innen schreiben Lehrkräfte und Schüler*innen • Kultusministerkonferenz (KMK) (2017): Bildung in der digitalen Welt. Strategien der Kultusministerkonferenz. https://www. die Vermittlung von Medienkompetenz zu? Dafür wur- kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018/ den Interviews von 24 Lehrkräfte und dreizehn Schü- Digitalstrategie_2017_mit_Weiterbildung.pdf (30.04.2021). ler*innen mittels strukturierter Inhaltsanalyse nach • Steppuhn, Detlef (2019): SmartSchool. Die Schule von morgen. Mayring (2015) ausgewertet. Lehrkräfte berücksichtigen Wiesbaden: Springer. Janina Becker, M.A., ist seit Oktober 2019 Francine Meyer, M.A., ist seit Februar 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Georg- wissenschaftliche Mitarbeiterin am Insti- Eckert-Institut in der Abteilung Mediale tut für Kommunikationswissenschaft an Transformationen. Hier arbeitet sie als der TU Braunschweig. Im Rahmen ihrer Medienpädagogin an der Konzeption von Dissertation beforscht Francine Meyer die The Basement, dem Digital Lab des GEI Anforderungen der Digitalisierung in Hin- mit. Sie entwickelt Formate, die u.a. als blick auf vermittlungsrelevante Aspekte. Transferangebote auf den Forschungs- Gegenstand der Untersuchung ist hierbei ergebnissen des GEI basieren. Zuvor war sie als Lektorin des u. a. das bundesweite Schulprojekt „Make Your School – Eure Ideen- Departement for Foreign Languages and Cultures der Xiamen Uni- werkstatt“, ein Projekt von Wissenschaft im Dialog. Zuvor war sie versität, China, tätig. als Lehrkraft an der Berufsbildende Schule V in Braunschweig tätig. 12
DIE GESELLSCHAFTLICHE LEISTUNG VON SCHULEN I: DIE UMSETZUNG DES BILDUNGSAUFTRAGES LEISTUNG FÖRDERN?! ZUM ZUSAMMENHANG VON BILDUNGSPOLITIK, ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT UND EINZELSCHULENTWICKLUNG IM PROJEKT LEMAS Katharina Weiand, Gabriele Weigand Sich verändernde schulische Leistungskulturen und und evaluiert. Im Beitrag wird zunächst ein historischer -verständnisse sowie die Frage, was Schule leisten soll, Überblick über Veränderungen des Begabungskon- gehen nicht nur mit erziehungswissenschaftlichen Dis- strukts gegeben und Leistung im Begabungsdiskurs ver- kursen (vgl. u.a. Reh/Ricken 2018), sondern auch mit ortet. Begabung und Leistung werden weiterhin in der politischen Reaktionen einher (BMBF/KMK, 2016). In anthropologischen Theorie der Person verankert und dem Vortrag geht es um den Zusammenhang der beiden Leistung als multidimensionales und entwicklungs- sozialen Konstrukte Begabung und Leistung und darum, bezogenes Phänomen eingeordnet. wie ihre bildungstheoretische Verortung Schule und Unterricht pädagogisch begründen kann. Wir skiz- zieren das Vorgehen einer bildungstheoretisch fun- LITERATUR dierten Praxisforschung an Einzelschulen im Rahmen • BMBF/KMK (2016): Gemeinsame Initiative von Bund und Ländern der Bund-Länder-Initiative „Leistung macht Schule“ zur Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leis- (BMBF/KMK, 2016; Weigand et al. 2020), innerhalb derer tungsfähiger Schülerinnen und Schüler. https://bit.ly/3vmkcz6 (25.04.2021) der gleichnamige Forschungsverbund (Akronym: LemaS) • Reh, Sabine/Ricken, Norbert (Hrsg.) (2018): Leistung als Paradig- den Leistungsbegriff im Kontext der Begabungsfor- ma. Zur Entstehung und Transformation eines pädagogischen schung verortet und Konzepte, Strategien und Maß- Konzepts. Wiesbaden: Springer VS. nahmen zur Begabungs- und Leistungsförderung in Zu- • Weigand, Gabriele/Fischer, Christian/Käpnick, Friedhelm et al. sammenarbeit mit 300 Schulen bundesweit erarbeitet (Hrsg.) (2020): Leistung macht Schule. Bad Heilbrunn: Beltz. Katharina Weiand, M. A., ist seit November Prof. Dr. Gabriele Weigand ist Professorin 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am für Allgemeine Erziehungswissenschaft an Institut für Allgemeine und Historische der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Erziehungswissenschaft der Pädagogi- Seit 2018 ist sie Leiterin des BMBF-ge- schen Hochschule Karlsruhe. Im BMBF- förderten Forschungsverbunds „Leistung geförderten Forschungs- und Schulent- macht Schule“ (LemaS) und Teilprojekt- wicklungsprojekt „Leistung macht Schule“ leiterin in den Bereichen begabungs- und (LemaS) arbeitet sie in Teilprojekt I zur leistungsfördernde Schulentwicklung und Entwicklung von schulischen Leitbildern mit Ausrichtung auf Netzwerkbildung. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte eine leistungsfördernde Schulentwicklung. sind: Anthropologie und Theorien der Person, Schultheorie und Schulentwicklungsforschung, Begabungs- und Biografieforschung, Institutionelle und Interkulturelle Pädagogik. 13
LEISTUNGSFÄHIGKEIT VON BILDUNGSMEDIEN EIN ANSATZ ZUR FÖRDERUNG DER SELBSTÄNDIGEN UND VIELSEITIGEN REFLEXION? ZUR LEISTUNG DER JAPANISCHEN SCHULBÜCHER FÜR DAS LEHRFACH „MORAL“ Toshiko Ito Diese Arbeit prüft die Tauglichkeit der japanischen Schul- übel des alten Lehrfachs „Moralkunde“, der Indoktrina- bücher im kürzlich etablierten Lehrfach „Moral“. Es geht tion zu einer bestimmten Ideologie, vorgebeugt werden darin um die Leistung der Bildungsmedien für eines der soll. Die Schulbücher für das Lehrfach werden produziert „weichen“ Lehrfächer, die nach Dietrich Benner (2016) von acht privaten Verlagen nach Vorgaben der nationalen mit der Vermittlung ethisch-moralischer Grundkennt- Lehrpläne. Sie erscheinen mit je einem Buch für das erste nisse und der Förderung der Urteils- und Handlungs- bis zum neunten Schuljahr, unterliegen der staatlichen entwurfskompetenz zur öffentlichen Bildung beitragen. Autorisation und werden an der Grundschule seit 2018 und an der Mittelschule seit 2019 eingesetzt. Das Lehrfach „Moralkunde“, das bis zum Ende des Zwei- ten Weltkriegs ein Zentralfach der japanischen Lehrpläne Diese Arbeit geht der Frage nach, ob und inwieweit die gewesen war, verschwand 1945, weil es von der amerika- Schulbücher für das Lehrfach „Moral“ die Schüler und nischen Besatzungsmacht für die Verbreitung der imperi- Schülerinnen zu selbständigem und vielseitigem Re- alistischen Ideologie während der Kriegszeit verantwort- flektieren befähigen. Die Gegenstände der Analyse sind lich gemacht wurde. Nach dem Ende der amerikanischen vornehmlich die Vorschläge und Fragen, die den Lese- Besatzungszeit wurde zwar zur Förderung der schuli- materialen zur Förderung der Urteilskompetenz beige- schen Moralerziehung eine wöchentliche „Moral-Stunde“ fügt sind. Herangezogen werden 48 Grundschulbücher eingerichtet, dies aber nicht als Lehrfach, sondern bloß für das Lehrfach „Moral“, die von den acht Verlagen als „Aktivität“. Nach einem Dreivierteljahrhundert kehrte 2020 publiziert wurden. „Moral“ als Lehrfach 2018 an die Grundschule und 2019 an die Mittelschule zurück. Gemäß der nationalen Lehr- LITERATUR pläne soll dieses neue Lehrfach die Schüler und Schü- • Benner, Dietrich/Nikolova, Roumiana (2016): Ethisch-moralische lerinnen befähigen, das Wesen der Moral in Diskussion Kompetenz als Teil öffentlicher Bildung. Paderborn: Schöningh. und Aufsätzen über das Erlebnis und das Problem selb- • Japanisches Kultusministerium (2017): Die nationalen Lehrpläne: ständig und vielseitig zu reflektieren, womit dem Grund- Moral. Tokyo: Kultusministerium. Prof. Dr. Toshiko Ito promovierte 1992 an der Universität Bern, Schweiz, mit der Dissertation „Die Kategorie der An- schauung in der Pädagogik Pestalozzis“. Sie wurde an der Universität Mie, Japan, 1996 als außerordentliche Professorin für Allgemeine Pädagogik berufen, dann 2008 ebenda als ordentliche Professorin. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen: Historische Bildungsforschung, insbesondere Wirkungsgeschichte und Rezeptionsgeschichte der Erziehungsideen im Zeitalter der Aufklärung und im Zeitalter der reformpädagogischen Bewegung. 14
LEISTUNGSFÄHIGKEIT VON BILDUNGSMEDIEN WIE WIRKEN SCHULBÜCHER IN DEN KÖPFEN DER SCHÜLER*INNEN REVISITED ? NEUERE BEFUNDE ZU IHRER LEISTUNGSFÄHIGKEIT AM BEISPIEL DES FACHES GESCHICHTE Marcel Mierwald Obgleich das gedruckte Schulbuch weiterhin als Leit- pliziten Gegenwartsbezug aus einem realen Schulbuch medium des Geschichtsunterrichts betrachtet werden und derselbe Verfassertext angereichert mit einem ex- kann und dort vielfältige Verwendung findet, lassen em- pliziten Gegenwartsbezug auf die geschichtsbezogenen pirische Befunde an seiner Leistungsfähigkeit zweifeln. Relevanzüberzeugungen von 57 Studierenden auswir- Nach Borries (2010) können ältere Befunde zur Wirkung ken. In beiden Studien zeigte sich, dass herkömmliche von Schulgeschichtsbüchern dahingehend zusammen- Schulbücher anderen Lernmaterialien bezogen auf die fasst werden, dass diese zu voraussetzungsreich, zu un- untersuchten Variablen unterlegen waren. Ausgehend verständlich und zu komplex für die Lernenden sind. von diesen medienvergleichenden Befunden lassen sich Dieser Vortrag fragt nach der Leistungsfähigkeit von einige Entwicklungspotenziale in der Schulbuchgestal- Schulbüchern exemplarisch im Fach Geschichte anhand tung zur lernwirksamen Optimierung aufzeigen. neuerer geschichtsdidaktischer Lehr-/Lernforschung. Einem medienvergleichenden Ansatz folgend, der davon LITERATUR ausgeht, dass die Frage der Leistungsfähigkeit am ehes- • Borries, Bodo von (2010): Wie wirken Schulbücher in den Köp- ten durch den Vergleich unterschiedlicher Bildungsme- fen der Schüler? Empirie am Beispiel des Faches Geschichte. In: dien hinsichtlich ihrer Wirkung auf kognitive und affek- Fuchs, Eckert/Kahlert, Joachim/Sandfuchs, Uwe (Hrsg.): Schul- tive Variablen beurteilt werden kann (Zahn 2016), werden buch konkret. Kontexte – Produktion – Unterricht. Bad Heil- ausgewählte Befunde aus zwei Studien vorgestellt. In der brunn: Klinkhardt, 102-117. ersten Studie wurde die Wirkung unterschiedlich wissen- • Mierwald, Marcel (2020): Historisches Argumentieren und episte- schaftsnaher Lernmaterialien, darunter ein gedrucktes mologische Überzeugungen. Eine Interventionsstudie zur Wirkung von Lernmaterialien im Schülerlabor. Wiesbaden: Springer VS. Schulbuch, auf kognitive Variablen wie Argumentations- • Zahn, Carmen (2016): Medienspezifische kognitive Verarbei- fähigkeit, Wissenszuwachs und epistemologische Über- tungs- und Lernprozesse. In: Krämer, Nicola C./Schwan, Stephan/ zeugungen von 161 Schüler*innen im Fach Geschichte Unz, Dagmar/Suckfüll, Monika (Hrsg.): Medienpsychologie. untersucht (Mierwald 2020). In der zweiten Studie wur- Schlüsselbegriffe und Konzepte. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer, de erforscht, wie sich ein Verfassertext mit einem im- 198-205. Dr. Marcel Mierwald ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Ruhr-Universität Bo- chum. Im Projekt „Menschen im Bergbau“ untersucht er, wie ein kritisch-reflektierter Umgang mit Zeitzeug*innen-Interviews durch die digitale Lernplattform MiBLa- bor gefördert werden kann. Zuvor absol- vierte er sein Referendariat und promovierte mit einer Studie zur Wirkung von Lernmaterialien im Schülerlabor. Seine Forschungs- interessen umfassen u.a. das Lernen mit Medien, die empirische Unterrichtsforschung und die Sprachbildung im Fach Geschichte. 15
LEISTUNGSFÄHIGKEIT VON BILDUNGSMEDIEN CONVEYING SOCIETAL VALUES THROUGH HOLOCAUST EDUCATION IN GERMANY? Melanie Carina Schmoll Learning about the past means conveying identity and ideas of judgement and prevention and why these ideas values by using certain topics which are embedded in failed in current times. Also, I will present possible curricula in university teaching as well as in school solutions for a different view on history classes and curricula. Therefore, teaching and education show what Holocaust Education in Germany, on the basis of my societies want to preserve, initiate and pass along. This own work as an academic and researcher and author is very much true when it comes to the Holocaust and for school textbooks. Holocaust Education. Based on Adornos postulate re- garding an “education after Auschwitz” in 1966, state schools in Germany served as society´s central location LITERATUR for memory and learning. Although the impact of his- • Borries, Bodo von (2011): Geschichtslernen und Menschen- tory classes on the youth and their development regar- rechtsbildung: Auswege aus einem Missverhältnis? Normative Überlegungen und praktischen Beispiele. Schwalbach: Wochen- ding the main values are neither proven nor disproved schau. (Gautschi 2008), history classes are still understood in • Gautschi, Peter (2008): Der Beitrag des Geschichtsunterrichts the sense of prevention. They shall show how human zur Entwicklung von Einstellungen. In: Bauer, Jan-Patrick/ beings have to act, what is right or wrong and what kind Mever-Hamme, Johannes/Körber, Andreas (2008): Geschichts- of consequences the wrong behaviour might have. The lernen – Innovationen und Reflexion: Geschichtsdidaktik im concept of “Historisches Lernen” is based on judgement. Spannungsfeld von theoretischen Zuspitzungen, empirischen But, do German schools still convey societal values, Erkundungen, normativen Überlegungen und pragmatischen especially in history classes and Holocaust Education? Wendungen. Kenzingen: Centaurus, 289–307. • Meseth, Wolfgang/Proske, Matthias/Radtke, Frank-Olaf (2004): Based on different studies (Borries 2011; Meseth et al. Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Ge- 2004; Zülsdorf-Kersting 2007) the answer has to be “no”. schichtsunterrichts. Frankfurt a. M.: Campus. • Zülsdorf-Kersting, Meik (2007): Sechzig Jahre danach: Jugend- Within my paper I would like to present a state of the liche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozi- art of Holocaust Education in Germany based on the alisation. Berlin: Lit. Melanie Carina Schmoll, Ph. D., is research fellow at the Finkler Institute of Holocaust Research, Bar Ilan University, Israel and independent author. She is a political scientist and historian. Dr. Schmoll recei- ved her doctorate from the University of Hamburg, Germany. She holds a MA´s and BA´s degree in the fields of Political Scien- ce, History and Philosophy. Her main research focuses on Israel, specifically security issues and Holocaust Education. Dr. Schmoll speaks frequently in the US, Canada and Israel. She also works as an author for textbooks and educational material as well as an advisor and expert on textbooks. 16
DIE GESELLSCHAFTLICHE LEISTUNG VON SCHULEN II: LEISTUNG UND GESELLSCHAFTLICHE UNGLEICHHEIT „AUFSTIEG DURCH BILDUNG“. AUSPRÄGUNG UND VERBREITUNG EINES ERWARTUNGSMUSTERS (1850–1930) Alexander Mayer In gegenwärtigen politischen Debatten wie auch in der Ein gravierendes Hindernis für die Ausbreitung schul- Erwartung vieler Menschen erscheint das Bildungs- bezogener Aufstiegsorientierung stellten weit verbrei- system als Motor sozialer Mobilität und im besten Falle tete Praktiken des Berufseinstiegs und der Familienöko- als zentraler Pfeiler einer chancengerechten „Leistungs- nomie dar. Hemmend wirkte zudem die ausgeprägte gesellschaft“. kulturelle Distanz zwischen „Studierten“ und unteren sozialen Schichten. Bevor diese Hürden durch ein stei- Der Beitrag befasst sich mit der Frage, inwieweit sich gendes unteres Bildungsniveau, ökonomischen Wandel, die Erwartung, durch schulische Leistungen sozial auf- Einkommenszuwächse und wohlfahrtsstaatliche Maß- steigen zu können, bereits vor der Bildungsexpansion nahmen abgesenkt wurden, begünstigten allerdings seit den 1950er Jahren in verschiedenen sozialen Milieus mehrere Faktoren eine Wahrnehmung von schulischer ausbreitete. Der Beitrag folgt dabei einem praxistheo- Bildung als Aufstiegskanal. Eine wichtige Rolle spielten retischen Ansatz, der es erlaubt, habitualisierte Dis- auch Praktiken der schulischen Leistungsbewertung, positionen, Alltagspraktiken sowie materielle und in- vor allem die hierarchische Sitzordnung in Volksschu- stitutionelle Voraussetzungen herauszuarbeiteten, die len, und Lehrer sowie Pfarrer als Vermittlungsfiguren eine Ausbreitung des Erwartungsmusters „Aufstieg zwischen Bildungssystem und Herkunftsmilieu. Beob- durch Bildung“ begünstigten oder hemmten. Als Quel- achten lassen sich außerdem kulturelle Transfers, bei lengrundlage dienen autobiographische Aufzeichnun- denen Dispositionen aus anderen Berufs- und Bildungs- gen von Männern und Frauen der Geburtsjahrgänge traditionen auf das Schulsystem übertragen wurden. Zu von 1850 bis 1920 aus der Unterschicht und der unteren nennen sind ferner Deprivationserfahrungen der Eltern, Mittelschicht. insbesondere abgebrochene Bildungskarrieren. Dr. Alexander Mayer lehrt und forscht als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Histo- rischen Institut der Universität der Bun- deswehr München. Aktuell verfolgt er ein Forschungsprojekt zur Kulturgeschichte der Leistungsgesellschaft (1850-1975). Er wurde 2018 an der Ludwig-Maximilians Universität München promoviert mit einer Arbeit zum Thema „Universitäten im Wettbewerb. Deutschland von den 1980er Jahren bis zur Exzellenzinitiative“. 17
DIE GESELLSCHAFTLICHE LEISTUNG VON SCHULEN II: LEISTUNG UND GESELLSCHAFTLICHE UNGLEICHHEIT DAS „WETTRENNEN“ VON SCHULE UND TECHNISCHEM FORTSCHRITT UND DIE AUSWIRKUNGEN AUF DIE EINKOMMENSUNGLEICHHEIT Sandra Tauer Seit Beginn der 1970er Jahre stiegen die Löhne und Ge- heißt dass hier ein Marktversagen vorliegt, so dass der hälter der gut ausgebildeten, abhängig Beschäftigten Staat an dieser Stelle eingreifen sollte (Mankiw 2017). schneller als die der gering qualifizierten. Die relative Nachfrage nach Fachkräften nahm im Verhältnis zur In jüngster Zeit verlangsamte sich der Anstieg des durch- Nachfrage an ungelernten Arbeitskräften stetig zu, wäh- schnittlichen Bildungsniveaus aber, während techno- rend einfache Tätigkeiten zunehmend durch Maschinen logische Fortschritte im Bereich der Digitalisierung an ersetzt wurden. Die Erfordernisse an höhere Bildung Tempo gewannen. In den letzten 40 Jahren ist die gene- durch den technischen Fortschritt führten demnach zu relle Einkommensungleichheit weltweit gestiegen. So- einer gestiegenen Entlohnung der Fachkräfte (Mankiw lange „Schule“ den Wettlauf für sich entscheiden konnte, 2017). wurden auch ihre Absolvent*innen als leistungsfähig wahrgenommen; Schule ermöglichte sozialen Aufstieg Während eines Großteils des letzten Jahrhunderts wur- und die gesellschaftliche Entwicklungen rechtfertigten de der qualifikationsorientierte, technologische Wandel die staatlichen Subventionen im Bildungssystem. Je we- durch Fortschritte der Bildungsanstrengungen über- niger „leistungsfähig“ das Bildungssystem wahrgenom- kompensiert. Der Arbeitsmarkt verlangte nach besser men wird, desto stärker sollte die theoretische Annahme ausgebildeten Arbeitnehmer*innen. Den Bildungssyste- von Bildung als meritorisches Gut überdacht werden. men in Westeuropa und den USA gelang es, diese noch schneller auszubilden und damit das Angebot an Fach- LITERATUR kräften zu erhöhen. Für die USA werden der Beginn der • Goldin, Claudia/Katz, Laurence F. (2008): The race between Finanzierung öffentlicher Schulen als entscheidende education and technology. Cambridge, Mass: Harvard University Komponente auf dem Weg zu stärkerer Gleichverteilung Press, 139–149. gesehen (Goldin et al. 2008). Dabei wird davon ausgegan- • Mankiw, Gregory (2017): Makroökonomik, 7. Aufl. Stuttgart: gen, dass Schulbildung ein meritorisches Gut ist, das Schäffer-Poeschel. Dr. Sandra Tauer studierte Volkswirt- schaftslehre und Geschichte an der Uni- versität Heidelberg und International Stu- dies an der University of Sydney. Hier- nach promovierte sie, gefördert von der Friedrich-Ebert-Stiftung, an der Univer- sität Freiburg. Berufliche Erfahrung sam- melte sie zunächst im Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung, bevor sie zwei Jahre als Fellow der gemeinnützigen Bildungsinitiative Teach First an einer Werk- realschule unterrichtete. Heute ist sie freiberufliche Dozentin und unterrichtet an Dualen Hochschulen, Fachhochschulen und Bil- dungsakademien. 18
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